Leseprobe Stürmische Zeiten | Die historische Familiensaga im 20. Jahrhundert

Kapitel 1

Kolberg, Ostsee, Weihnachten 1940

Mit Tränen in den Augen und unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, stand Vroni eine gefühlte Ewigkeit am dunklen Bahndamm und blickte in die Richtung, wo sie eben noch das dröhnende Echo des Dampfpfeifensignals und das rhythmische Stampfen der Lokomotive wahrgenommen hatte. Das Zischen des Dampfes verlor sich langsam in der eisigen Nacht, und das letzte Rattern der Waggons verklang in der Ferne. Der schwere Geruch von Kohle und Eisen hing noch in der Luft, als wären sie die letzten greifbaren Zeichen von Karls Abreise. Doch mit jedem Herzschlag fühlte sie, wie die Grausamkeit des Abschieds sich tiefer in ihr Bewusstsein grub, und sie wusste, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Eine endlose Weile glaubte sie sich in einen schlechten Film versetzt. Alles fühlte sich unwirklich an. Nur die kleinen, warmen Hände ihrer beiden Kinder, die sie links und rechts fest in den ihren hielt, ließen sie in die unbarmherzige Realität zurückfinden. Die Kälte, die sich unter ihren Füßen erstreckte, spiegelte die plötzliche Leere in ihrem Herzen wider, doch die Nähe ihrer Kinder verlieh ihr die Stärke, die sie in diesem Moment so dringend benötigte.

Vroni sah dem Zug noch lange nach, der sich in der Ferne verlor. Die Welt um sie herum schien stillzustehen, als wäre die Zeit selbst von der Schwere des Abschieds angehalten worden. Doch das Leben wartete nicht, und sie wandte sich zur Seite, um ihren Kindern die Tränen von den Wangen zu wischen und ihnen ein Lächeln zu schenken, das mehr Mut versprach, als sie selbst fühlte. „Kommt Kinder!“, ordnete sie mit fester Stimme an. „Wir haben noch ein ganzes Stück Weg vor uns.” Hand in Hand verließen die drei den nunmehr menschenleeren, zugigen Bahnsteig, bereit, sich den Herausforderungen zu stellen, die ihnen das Schicksal auferlegte.

Es wurde ein einsames, trauriges Weihnachtsfest, auch wenn Vroni es der Kinder wegen liebevoll und so normal wie möglich gestalten wollte. Wie in den vergangenen Jahren hatte sie auch dieses Mal eine große Schüssel Kartoffelsalat zubereitet und ließ die Würstchen in einen Topf gleiten, um sie auf dem Herd zu erwärmen. Johanna summte Weihnachtslieder, während sie Vroni half, den Tisch zu decken. Eine blütenweiße Damast-Tischdecke schmückte den einfachen, quadratischen Holztisch und verlieh ihm ein festliches Aussehen. Aus dem Volksempfänger erklang das Weihnachtslied Stille Nacht, Heilige Nacht, das den Menschen in diesen Zeiten ein leises Gefühl von Normalität vermitteln sollte.

Der kleine, schief gewachsene Weihnachtsbaum, den Karl erst vor wenigen Tagen auf einem Markt erworben hatte, stand in der Wohnküche auf einem Beistelltisch, liebevoll mit bunten Kugeln aus Glas und Metall geschmückt. Doch selbst dieser festliche Anblick konnte die Trauer über den heutigen Abschied von ihrem geliebten Mann nicht verdrängen. Vroni versuchte, ihre wahre Gesinnung zu verbergen. Sie bedachte ihre beiden Kinder mit einem Lächeln, wenngleich es auch ein wehmütiges Lächeln war. Doch die Kleinen schienen es nicht zu bemerken. Schnell ließen sie sich von ihren Geschenken ablenken. Mit leuchtenden Augen packte Johanna das kleine, holzgeschnitzte und bunt lackierte Pferd aus und wiegte es begeistert in den Armen. Als Vroni das Glück in Johannas Augen erblickte, musste sie mit Macht ihre Tränen zurückdrängen. Auch Lydias Freude über die warmen, von Vroni gestrickten Handschuhe und den passenden Wollschal war groß, und sie zog sie sofort an. „Danke, Mutti!“, flüsterten beide Mädchen wie aus einem Mund und gaben Vroni links und rechts einen Kuss auf die Wange. Sie seufzte und blickte auf den Berg Geschirr, der sich auf der Anrichte stapelte. Dieser würde sie wohl eine Weile von den Gedanken an Karl und der damit verbundenen Leere in ihrem Herzen ablenken. Doch so recht konnte sie sich nicht auf den Abwasch konzentrieren. Zu viele Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf: Ob Karl inzwischen gut in Nest angekommen war? Ob er sie auch bereits jetzt so vermisste? Hoffentlich würde er ein wenig Ruhe finden an diesem besonderen Abend. Fragen, auf die es keine Antworten gab, und Vroni fürchtete, dass sie sich in der nächsten Zeit mit diesem schalen Gefühl der Unsicherheit würde anfreunden müssen …

Nachdem Vroni die Kinder ins Bett gebracht und mit ihnen das Abendgebet gesprochen hatte, ließ sie sich erschöpft und mit einer Tasse Tee im Wohnzimmer auf das Kanapee sinken. Nach einer Weile erhob sie sich wieder und nahm das gerahmte Hochzeitsfoto, das auf dem Wohnzimmerschrank stand, in ihre Hände und betrachtete es liebevoll, während sie in der Erinnerung an die unbeschwerten, glücklichen Tage in München schwelgte. Eine heile Welt, die nun Stück für Stück zerbrach, dachte sie voll Melancholie. Wie unter einem Zwang begab sie sich ins Schlafzimmer und holte ihre Zither aus dem Schrank. Zurück im Wohnzimmer setzte sie sich in ihren Lieblingsstuhl und begann leise, verträumte Melodien aus vergangenen Tagen zu spielen. Die sanften Klänge erfüllten den Raum und brachten ein wenig Trost in die stille, heilige Nacht. Vroni schloss die Augen und ließ die Musik ihre Gedanken zu ihrem fernen Liebsten tragen, während draußen der Schnee leise fiel und die Welt in eine weiße Decke hüllte.

Die Kinder schliefen ruhig in ihren Betten, und die Zeit schien still zu stehen. Vroni wusste, dass die kommenden Tage schwer werden würden, aber in diesem Augenblick empfand sie Frieden und Hoffnung in ihrer Musik und in ihren schönen Erinnerungen an glücklichere Tage.

***

In den darauffolgenden Tagen versuchte sie, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Mit der Unsicherheit umzugehen, fiel ihr schwer. Aber auch im öffentlichen Leben gab es zunehmend Veränderungen und Einschränkungen, die durch den Krieg verursacht waren. Überall auf den Straßen und öffentlichen Plätzen war die Präsenz des Militärs spürbar. Lebensmittel wurden rationiert, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und Lebensmittelmarken wurden ausgegeben, die es ermöglichten, bestimmte Mengen an Brot, Fleisch, Zucker, Kartoffeln und andere wichtige Güter zu kaufen. Die Ernährung war daher stark von der Notwendigkeit geprägt, mit den verfügbaren Mitteln sparsam umzugehen. Vroni gelang es dennoch, aus den wenigen zur Verfügung stehenden Zutaten, leckere Mahlzeiten zu zaubern. Meist kochte sie einfache und sättigende Gerichte wie Eintöpfe, Suppen oder Mehlspeisen für sich und die Kinder. An die Verwendung von Milchpulver anstelle echter Frischmilch wollte sie sich jedoch nicht recht gewöhnen. Doch einer fehlte stets am Tisch: Karl!

Etwas Ablenkung fand Vroni bei den unregelmäßigen Kaffeekränzchen, die sie und ihre Nachbarin, Fanny Schörner, abwechselnd bei sich zu Hause veranstalteten. Frau Schörner und ihr Mann, Generaloberst Ferdinand Schörner, wohnten unter ihnen. Sie trug gerne weiße Rüschenblusen, die ihre elegante Erscheinung vorteilhaft unterstrichen. Der gemeinsame Glaube der Frauen an eine bessere Zukunft und das Festhalten an positiven Gedanken half ihnen, ihre Hoffnung aufrechtzuerhalten.

An diesem Nachmittag hatte Fanny Schörner frisch gebackenen, lauwarmen Streuselkuchen mitgebracht, den Vroni so sehr liebte. Frau Schörner war nicht nur eine elegante Dame, sondern auch eine exzellente Bäckerin und darüber hinaus eine aufmerksame Zuhörerin. Vroni begann, Kathreiner Kaffee zu kochen, den sie inzwischen nicht mehr täglich, sondern nur noch bei besonderen Gelegenheiten, wie den Kaffeekränzchen mit ihrer Nachbarin, servierte. In diesen Tagen musste man sparen, wo man konnte. Manchmal verwendete sie den Kaffeesatz sogar ein zweites Mal, indem sie ihn in einem Topf mit kochendem Wasser erneut überbrühte. Fanny Schörner deckte inzwischen den Tisch.

Dabei sprachen die beiden Frauen über ihre Sorgen und Hoffnungen. Vroni erzählte von den Herausforderungen ihres Alltags und von den kleinen Freuden, die sie mit ihren Kindern erlebte. Fanny Schörner hörte aufmerksam zu und teilte ihre eigenen Gedanken und Geschichten. Diese Momente des Austauschs waren für Vroni von unschätzbarem Wert, da sie ihr halfen, die schwierige Zeit gemeinsam zu überstehen.

Als der Kaffee fertig war und der Duft des Streuselkuchens den Raum erfüllte, setzten sich die beiden Frauen an den Tisch. Sie genossen die warme Atmosphäre und die seltenen Augenblicke der Ruhe und des Friedens. Ihre Freundschaft und gemeinsame Hoffnung gaben ihnen Halt.

„Willst du Lydia denn nicht doch in den Kindergarten schicken? Erst letztes Jahr hat die Volkswohlfahrt zwischen der Schule und dem Kreishaus einen eröffnet. Bedenk doch, dann hättest du wesentlich mehr Zeit für dich. Gerade jetzt, wo Karl nicht da ist und du alleine auf dich gestellt bist. Außerdem könntest du dich auch besser um euren Kleingarten kümmern.“

Vroni zuckte mit den Schultern. Man sah ihr die Anstrengung der letzten Zeit deutlich an. Sie war blass, ihr Gesicht war schmaler und kantiger geworden, und ihre Schultern hingen erschöpft nach unten. „Der Garten hat im Augenblick zwar Winterpause, aber du hast recht, Fanny.“

Glücklicherweise hatten Vroni und Karl vor gut einem Jahr in der Gartenkolonie Kolberg, die sich am Stadtrand befand, eine Parzelle gepachtet, nachdem sie schon Monate zuvor einen Antrag beim örtlichen Kleingartenverein gestellt hatten. Der Garten war für Vroni nicht nur eine Quelle frischer Lebensmittel, sondern auch ein Ort der Ruhe und des Rückzugs. Sie liebte es, in der Erde zu wühlen und die Pflanzen wachsen zu sehen. Doch in letzter Zeit hatte sie kaum die Energie gefunden, sich darum zu kümmern.

Viele Familien in der Gegend bauten eigenes Gemüse an und hielten Kleintiere, um ihre Ernährung zu ergänzen. Auch Vroni und Karl hatten im Vorjahr begonnen, Gemüse zu pflanzen und ein paar Hühner zu halten. Die frischen Eier und das selbst angebaute Gemüse waren eine wertvolle Ergänzung zu ihrer Ernährung und halfen ihnen, über die Runden zu kommen. Dort konnten sie zudem die Sorgen des Alltags für eine Weile vergessen.

Trotz allem fand Vroni immer wieder Momente der Freude, wenn sie sah, wie die ersten Triebe aus der Erde sprossen oder die Hühner fröhlich im Gehege scharrten. Diese kleinen Erfolge gaben ihr die Kraft, weiterzumachen. Der Garten war ein Ort, an dem sie und ihre Familie neue Energie schöpfen konnten.

Die Natur rund um die Gartenkolonie war atemberaubend. Im Frühling erblühten die Obstbäume in einem Meer aus Rosa und Weiß, und die Bienen summten geschäftig von Blüte zu Blüte. Die Vögel sangen ihre Lieder, und das sanfte Rauschen der Blätter im Wind brachte eine beruhigende Melodie in den Alltag. Im Sommer wuchsen die angrenzenden Felder und Wiesen üppig, und die warmen Sonnenstrahlen tauchten die Landschaft in ein goldenes Licht. Die Kinder spielten oft am nahe gelegenen Bach, dessen klares Wasser über die Steine plätscherte.

Im Herbst färbten sich die Blätter in leuchtenden Rot-, Gelb- und Orangetönen, und die Erntezeit brachte eine Fülle von Früchten und Gemüse. Selbst im Winter, wenn der Schnee die Landschaft in eine stille, weiße Decke hüllte, hatte die Natur ihren eigenen, friedlichen Charme. Die klare, kalte Luft und die funkelnden Eiskristalle an den Ästen erinnerten daran, dass nach jeder harten Zeit wieder ein neuer Frühling kommen würde.

„Vielleicht hast du recht“, meinte Vroni schließlich. „Lydia würde es im Kindergarten sicher gefallen, und ich könnte mich ein wenig erholen und den Garten wieder auf Vordermann bringen. Es wäre schön, dass alles in Ordnung ist, wenn Karl zurückkommt.“

Fanny nickte zustimmend. „Und du hättest wieder etwas Zeit für dich selbst. Ein bisschen Entlastung würde dir guttun.“

Vroni lächelte schwach. „Ja, das klingt fantastisch. Ich werde darüber nachdenken.“

In diesem Moment kam Johanna hustend und schniefend aus dem Kinderzimmer gelaufen. Vroni legte ihr besorgt die Hand auf die Stirn, um zu prüfen, ob sie Fieber hatte. „Ich hoffe, sie kann nach den Ferien wieder in die Schule gehen“, sagte sie mit einem Seufzer.

Fanny Schörner sah Johanna aufmerksam an und bemerkte die geröteten Augen und die laufende Nase des Mädchens. Dann schnippte sie mit dem Zeigefinger, als hätte sie eine plötzliche Eingebung. „Versuch es doch mal mit Zwiebelbonbons“, schlug sie vor. „Ich mache sie regelmäßig meinen Kindern, wenn sie an einer Erkältung leiden. Die Zwiebeln wirken entzündungshemmend und helfen, den Husten zu lindern. Ich gebe dir das Rezept für die Zubereitung.“

Vroni nickte dankbar. „Das ist eine gute Idee, Fanny.“ Sie wandte sich wieder Johanna zu und strich ihr sanft über das Haar.

Während Vroni in die Küche ging, um für die Nachbarin Bleistift und Papier zu holen, setzte sich Frau Schörner zu Johanna und begann, ihr eine Geschichte zu erzählen, um sie abzulenken. Johanna lauschte aufmerksam, und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, trotz ihrer Erkältung.

„Weißt du, Johanna“, sagte Fanny Schörner, „als ich ein kleines Mädchen war, hat meine Mutter mir auch immer Zwiebelbonbons gemacht, wenn ich krank war. Sie haben mir immer geholfen, schnell wieder gesund zu werden.“

Nachdem Frau Schörner schließlich das Rezept aufgeschrieben hatte, las sie es noch einmal laut vor.

„Man nehme ein halbes Kilo Zucker und eine klein gehackte, frische Zwiebel. Den Zucker mit etwas Wasser und der Zwiebel langsam bei geringer Hitze schmelzen lassen. Dann unter ständigem Rühren den Sud kurz aufkochen lassen. Das Ganze wird ein sehr klebriger, weicher Brei. Wenn man die Zwiebeln nicht in den Bonbons haben möchte, lässt man den Brei durch ein Sieb auf ein Blech laufen und schüttet die Zwiebeln weg. Das Blech wird kaltgestellt, bis der Brei fast fest geworden ist. Dann schneidet man mit einem Messer quadratische Würfel aus der Masse und lässt sie trocknen. Fertig sind die Zwiebelbonbons. Diese Bonbons sind karamellisiert und sehr hart und schmecken intensiv nach Zwiebel. Man muss sie langsam im Mund zergehen lassen. Sie sind wohltuend bei Husten und Heiserkeit, auch wenn der Geschmack doch recht gewöhnungsbedürftig ist.“

„Vielen Dank, Fanny. Ich werde es gleich mit diesem Hausmittel versuchen. Johannas Husten ist oft sehr hartnäckig. Und die Volksschule beginnt ja schon übermorgen wieder.“

„Wer weiß, wie lange die Schulen überhaupt noch geöffnet sind. Ach Gottchen, wann hört dieser Wahnsinn denn endlich auf?“ Frau Schörner schüttelte den Kopf und machte ein besorgtes Gesicht.

„Wir schaffen es, auch wenn die Unsicherheit und Angst uns alle belastet. Wir werden es überstehen, wenn wir zusammenhalten, Fanny. Im Haus gibt es eine gute Gemeinschaft. Wir unterstützen uns gegenseitig und spenden uns Trost. Es ist wichtig, dass wir uns ein Stückchen Normalität bewahren, zumindest ein Gefühl von Normalität.“ Vroni lächelte schief. „Wie recht du hast, Vroni. Was täte ich ohne dich?“ Fanny Schörner stand auf und umarmte sie herzlich. „Und was täten wir beide ohne unsere Kaffeekränzchen?“, fragte Vroni mit gespielt ernstem Gesicht. Dann lachten beide schallend.

„Nun muss ich leider gehen, Vroni. Meine Kinder sind bei Betty, meiner Schwester. Ihre Tochter wird heute sieben, und sie halten eine kleine Geburtstagsfeier. Ich muss Elisabeth und Hedwig, meine beiden Kleinen, noch abholen.“ Ihr Blick streifte prüfend die Wanduhr in Vronis Wohnküche, nachdem sie aufgestanden war. „Vielen Dank, meine Liebe, für den Kaffee.“ Vroni bedankte sich ebenso für den köstlichen Kuchen und strich dabei zufrieden über ihren Bauch. Mit Wohlwollen betrachtete sie ihre Nachbarin, die in ihrem Kostüm eine umwerfende Figur machte. Seit der Geburt ihrer beiden Kinder hatte sie, Vroni, etwas an Gewicht zugenommen. Sie fand jedoch, dass es ihr stand und ein wenig auch von Wohlstand zeugte.

Vroni grübelte noch eine Weile unentschlossen darüber, ob sie Lydia in den NSV-Kindergarten schicken sollte. Die Entscheidung fiel ihr schwer, da sie die möglichen Auswirkungen auf ihre Tochter nicht abschätzen konnte. Sie wollte diese Entscheidung nicht alleine treffen und würde erst noch mit Karl darüber sprechen. Schließlich wandte sie sich dem Abwasch des Kaffee- und Kuchengeschirrs zu. Vroni war eine ordentliche Frau und konnte es nicht leiden, wenn benutztes Geschirr lange herumstand. Mit routinierten Griffen spülte sie die Tassen und Teller ab, während ihre Gedanken immer wieder zu der schwierigen Entscheidung zurückkehrten.

Kapitel 2

Karl war nun über zwei Wochen fort, als Vroni endlich eine Nachricht von ihm erhielt. In einem kurzen Brief teilte er ihr mit, dass er derzeit seine dreimonatige Grundausbildung im Fliegerhorst Nest absolvierte. Danach würde er zu den Fliegerhorsten Henningsholm bei Stettin und Briest bei Berlin versetzt werden, teilte er weiter mit und erwähnte, dass er für die Planung neuer Kriegsflughäfen zuständig sei, was ihn sehr beanspruche. Er erkundigte sich liebevoll nach Vronis Wohlergehen und dem der Kinder und betonte, wie sehr er sie alle liebte und vermisste. Zum Schluss nannte er ihr eine Telefonnummer, unter der er in dringenden Fällen erreichbar war.

Vroni las den Brief mehrmals. Sie spürte eine Mischung aus Erleichterung und Sorge und hoffte, dass die Zeit der Trennung schnell vorübergehen würde. Sie erinnerte sich an die gemeinsamen Abende, und wie sie zusammen über die Zukunft ihrer Familie gesprochen hatten. Johanna und Lydia fragten oft nach ihrem Vater, und Vroni versuchte, ihnen zu erklären, dass er bald wieder bei ihnen sein würde.

Während sie den Brief sorgfältig zusammenfaltete und in einer Schublade verstaute, dachte sie darüber nach, wie sehr sich ihr Leben in den letzten Wochen verändert hatte. Die Verantwortung für Haushalt und Kinder lag nun allein auf ihren Schultern, und sie bemühte sich, den Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Doch in stillen Momenten, wenn die Kinder schliefen und es ruhig war, überkam sie eine tiefe Sehnsucht nach Karl und die Hoffnung, dass er sicher zurückkehren würde.

***

Damit die Zeit schneller verging und keine Langeweile aufkam, beschäftigte Vroni sich mit Aufgaben wie Nähen, Lesen oder Handarbeiten. Gemeinsame Rituale und das Spielen von Gesellschaftsspielen mit ihren Kindern stärkten ihre Moral und den Glauben und die Hoffnung an eine bessere Zukunft. Sie erzählte ihnen Geschichten, sang mit ihnen Kinderlieder, und sie bastelten Papierpuppen mit Papierkleidern. Dadurch entwickelten sie einen starken Gemeinschaftssinn. Auch die Nachbarn standen einander bei, und lokale Veranstaltungen wurden organisiert.

An den langen, kalten Winterabenden versammelten sich die Bewohner des Deli-Hauses das ein oder andere Mal um ein Lagerfeuer im Innenhof, und sie lachten gemeinsam, schmiedeten Pläne für die Zukunft und sprachen sich gegenseitig Mut zu. Die Kinder spielten sorglos draußen, auch wenn der Schnee hoch lag, und ihre fröhlichen Rufe erfüllten die kalte Luft. Es waren diese kleinen Momente der Freude und der nachbarschaftlichen Begegnung, die ihnen halfen, die schweren Zeiten zu meistern und den Zusammenhalt in der Gemeinschaft zu spüren.

Johanna ging inzwischen in die 2. Klasse der Volksschule im Stadtzentrum. Nach den Winterferien hatte die Schule wieder begonnen, und Vroni war froh, dass noch immer Unterricht gehalten wurde. Die „Zwiefelzeltl“, wie Vroni sie liebevoll nannte, halfen Johanna binnen weniger Tage bei ihrer Erkältung. Johannas Husten löste sich, und sie konnte wie gewohnt den Unterricht besuchen. Sie ging jeden Tag mit den Nachbarskindern begeistert in die Schule und fertigte ihre Hausaufgaben sauber und gewissenhaft an.

Es war für Vroni sehr schwierig, in den Geschäften einzukaufen. Sobald sie ihre Lebensmittelmarken erhalten hatte, musste sie losrennen, um Milch, Brot und das Nötigste zu ergattern, denn lange Schlangen bildeten sich vor den Geschäften und die Regale waren im Handumdrehen leer. Trotzdem schaffte sie es jedes Mal, den dringendsten Bedarf zu decken.

Es gab auch eine Reichskleiderkarte, die ein ganzes Jahr Gültigkeit hatte. Sie war wegen der zunehmenden Ressourcenknappheit zu Kriegsbeginn eingeführt worden. Vroni hatte sich längst daran gewöhnt, nicht mehr so unbeschwert wie früher Kleidung kaufen zu können. Der Bezugsschein bestand aus 100 Punkten, die beim Kauf von Textilien verrechnet wurden. Ein Paar Strümpfe kostete 4 Punkte, ein Pullover 25 Punkte, ein Damenkostüm 45 Punkte. Für Vroni war es selbstverständlich, dass ihre Kinder vorrangig von dieser Kleiderkarte profitieren sollten.

Sie selbst besaß aus der Zeit in München noch ein paar wenig getragene Sommerkleider und Kostüme, wenngleich diese an den Hüften zwischenzeitlich etwas knapp geworden waren und umgenäht werden mussten. Sie erinnerten Vroni an vergangene Zeiten, als sie unbeschwert durch die Münchner Geschäfte bummeln konnte, ohne sich Gedanken über Punkte oder Rationen machen zu müssen. Doch diese Erinnerungen erschienen ihr nun wie aus einer fernen Welt.

Kolberg, April 1941

An einem regnerischen und kalten Morgen Anfang April suchte Vroni, nachdem sie Johanna zur Schule gebracht hatte, das Postamt auf, das sich in der Kolberger Innenstadt in einem Klinkergebäude am Kaiserplatz befand. Der Wind hatte aufgefrischt und trug unangenehmen Fischgeruch vom Meer herüber. Sie musste unbedingt mit Karl telefonieren, denn sie wollte ihm eine erfreuliche Nachricht mitteilen. Bisher hatte sie es vermieden, bei ihm anzurufen, denn sie wollte ihn auf keinen Fall bei seiner wichtigen Arbeit stören.

Ihr Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie das Gebäude betrat und dort von einer warmen, aber geschäftigen Atmosphäre empfangen wurde. Das Postamt war ein zentraler Ort für die Kommunikation, besonders in diesen Kriegstagen. Die Menschen standen in einer langen Schlange, um ihre Briefe und Pakete aufzugeben oder um ein Telefonat zu führen.

Vroni stellte sich bei den Wartenden für die Telefonzellen an. Man musste sich an das Fräulein vom Amt wenden, eine Telefonistin, welche die Verbindung manuell herstellte. Vroni erreichte schließlich den Schalter und erklärte der freundlichen Dame, dass sie ihren Mann Karl anrufen wolle, der kürzlich seine dreimonatige Grundausbildung im Fliegerhorst Nest beendet hatte.

Die Telefonistin nahm den Hörer ab und steckte die entsprechenden Kabel in die Buchsen des Vermittlungsschrankes. „Hier Amt, was beliebt?“, fragte sie förmlich. Vroni nannte die Nummer des Fliegerhorstes und wartete geduldig, während das Fräulein die Verbindung herstellte. Es dauerte einige Minuten, bis die Verbindung stand, und Vroni konnte endlich Karls Stimme am anderen Ende der Leitung hören.

„Karl, ich bin’s, Vroni!“, rief sie erleichtert. „Wie geht es dir?“ Die beiden sprachen einige Minuten, tauschten Neuigkeiten aus und machten sich gegenseitig Mut.

Vroni erzählte Karl, dass seine Schwester Käthe aus Passau wieder schwanger war und dass es ihr sehr gut ging. Karl äußerte offen seine große Freude darüber. „Das sind wunderbare Neuigkeiten! Ich freue mich so für die liebe Käthe“, antwortete er mit einem Lächeln in der Stimme. „Ich freue mich auch für deine Schwester und hoffe von Herzen, dass diesmal bei ihr alles gut geht!“ Vroni erinnerte sich an den Besuch ihrer Schwägerin seinerzeit in Oberföhring und an Käthes Schwächeanfall auf dem Oktoberfest, bei dem Fritz Becker ihr zu Hilfe gekommen war. Für einen Moment presste sie die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Dann drängte sie die Erinnerung an den jungen Münchener Musiker und Komponisten mit Macht beiseite.

Karl berichtete ihr im Anschluss von der bevorstehenden Verlegung seiner Kompanie nach Ostpolen an die russische Grenze bei Jesecic und Zabzo, die Ende April stattfinden sollte. „Aber mach‘ dir deswegen keine Sorgen, Vroni“, fügte er schnell hinzu. „Ich muss zum Glück nicht mit an die Front, weil sie mich hier als Bauingenieur für andere Dinge brauchen.

Vroni atmete hörbar auf. „Das ist eine große Erleichterung, Karl. Ich habe mir eben schon Sorgen gemacht.“

Zum Schluss fragte Vroni ihn noch, ob sie Lydia in den NSV-Kindergarten schicken sollte. „Wie denkst du darüber, Karl?“

Karl befürwortete dies entschieden. „Das ist angesichts der derzeitigen Lage bestimmt keine schlechte Idee. Dort wird sie gut aufgehoben sein, hat sportliche Ertüchtigung, und dir beschert es darüber hinaus ein paar Stunden Entlastung.“ Natürlich wusste Vroni, dass die Kinder dort nach den Idealen des Regimes geformt und zu treuen Anhängern des nationalsozialistischen Staates erzogen wurden.

Aber sie musste das Gespräch mit Karl kurzhalten, da die Gebühren pro Minute berechnet wurden und das Telefonieren teuer war. Nachdem sie sich mit lieben Worten verabschiedet hatten, legte Vroni den Hörer auf und verließ das Postamt mit einem warmen Gefühl der Verbundenheit, trotz der Distanz und der Ungewissheit, ob und wann sie Karl wiedersehen würde.

***

Die Tage wurden länger und milder. Vroni nutzte jede freie Minute, um mit den Kindern zum Strand zu spazieren. Das Wasser war noch kalt und die See oft rau, doch die lange Mole war für sie ideal zum Fangenspielen. Regelmäßig führte sie ihr Spaziergang auch zum alten Leuchtturm im Kolberger Hafen, der Johanna und Lydia besonders faszinierte. Mit gespannter Neugier verfolgten die beiden das Tuten der vielen Schiffe, die täglich einfuhren und ablegten. Woher sie wohl alle kamen und wohin sie fuhren?

Am Hafen gab es immer Interessantes zu beobachten. Am liebsten sahen die drei den Ostseefischern zu, wenn sie ihren Fang direkt am Strand verkauften. Vroni blickte dabei oft aufs Meer hinaus, während die steife Brise ihre Haare zerzauste. Sie atmete die salzhaltige Luft tief ein und spürte ein wohliges Gefühl im Bauch, das sie an die Freiheit vergangener Zeiten erinnerte, an den Klang der Freiheit.

Manchmal, wenn sie im Radio Lieder aus der Münchener Zeit hörte, musste sie unwillkürlich an Fritz Becker denken, und sie fragte sich, wie es ihm wohl erging. Oft war dies auch der Auslöser, dass sie spontan ihre Zither hervorholte und begann, ein paar alte Lieder darauf zu spielen. Seit Jahren hatte sie jedoch nichts von Fritz gehört. Das Einzige, was sie von Karls Schwester Käthe erfahren hatte, war, dass er in einer Mädchenschule in Passau bis zu Kriegsbeginn unterrichtet hatte.

Auch wenn sie Karl sehr vermisste, gestattete sie sich ab und zu an die seltenen gemeinsamen Momente zurückzudenken, die sie mit Fritz verbracht hatte. Fritz war ein feinfühliger Mensch gewesen, der stets ein offenes Ohr für sie und ihre gemeinsame Begeisterung für die Musik gehabt hatte.

Sie erinnerte sich an die wenigen Briefe, die sie von ihm erhalten hatte, bevor der Kontakt abbrach. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie ihn wiedersehen würde und ihm all die Geschichten erzählen könnte, die sie in der Zwischenzeit erlebt hatte.

Trotz ihrer diffusen Empfindungen hatte Vroni nie das Gefühl, Karl zu betrügen. Sie fragte sich, ob es nicht möglich war, zwei Menschen auf unterschiedliche Weise zu lieben, ohne dabei jemanden zu verletzen. Die Liebe zu Karl war tief und beständig, geprägt von den gemeinsamen Erlebnissen und dem Alltag mit ihren beiden Kindern, den sie miteinander teilten. Doch die Erinnerung an Fritz hatte einen ganz anderen Platz in ihrem Herzen. Sie empfand für ihn eine Art von Zuneigung, die Hoffnung und unerfüllte Träume in ihr nährte.

Diese Gedanken beschäftigten Vroni besonders in den stillen Stunden, wenn die Kinder schliefen und sie alleine in ihrem Zimmer saß und sich einsam fühlte. Sie versuchte, einen Weg zu finden, mit dieser inneren Zerrissenheit umzugehen. In jedem Fall musste sie stark bleiben – für sich selbst und der Kinder wegen. Und nicht zuletzt für Karl.

Über all dies fand Vroni Trost in der Natur. Die Spaziergänge am Strand, das Rauschen der Wellen und die frische Meeresluft halfen ihr, Klarheit zu finden. Sie erinnerte sich, dass das Leben oft kompliziert und unvorhersehbar war, aber dass es auch Momente der Schönheit und des Friedens gab, die es wert waren, gelebt zu werden.

Sie wollte sich auf die Gegenwart konzentrieren und die Zeit mit ihren Kindern genießen.

Die beiden Mädchen liebten es, am Strand zu spielen, und sie versuchten, die Möwen zu fangen, die über ihren Köpfen kreisten. Gern sammelten sie Muscheln am Strand oder bauten große Sandburgen, während Vroni ihnen Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend erzählte. Diese Ausflüge waren für alle drei eine willkommene Abwechslung vom Alltag und boten Momente der Freude und des Zusammenhalts.

Vroni wusste auch, dass die Antworten auf ihre Fragen vielleicht nicht sofort kommen würden, aber sie vertraute darauf, dass sie ihren Weg finden konnte. Die Zuneigung, die sie sowohl für Karl als auch für Fritz empfand, war ein Teil von ihr geworden, und sie würde lernen müssen, mit diesen beiden Gefühlen zu leben.

Ihre Beziehung zu Karl war von einer tiefen Verbundenheit und gegenseitigem Respekt geprägt. Sie hatten über elf Jahre miteinander verbracht und eine Familie gegründet. Dadurch wurde ihre gegenseitige Bindung noch stärker und intensiver. Karl war ein zuverlässiger und liebevoller Partner und Vater, der stets bemüht war, das Beste für seine Familie zu tun, um sie und die Kinder glücklich zu machen. Die gemeinsamen Jahre hatten ihre Beziehung vertieft. Sie hatten große Herausforderungen gemeistert, aber auch viele schöne Augenblicke geteilt.

Ihre Beziehung begann in einer Zeit, als sie noch jung und voller Träume waren. Oft waren sie stundenlang beisammengesessen und hatten Pläne für die Zukunft geschmiedet. Karl war immer an ihrer Seite gewesen und half ihr, wann immer sie ihn brauchte.

Diese Unterstützung gab Vroni ein beruhigendes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

***

Ende April, Karl war noch im Fliegerhorst Nest stationiert, begann Vroni, ihre Parzelle in der Kolberger Kleingartenanlage wieder zu bewirtschaften und nahm ihre Zither immer seltener zur Hand. Die Natur war zum Leben erwacht, was sie dazu inspirierte, sich, so oft die Zeit es zuließ, hingebungsvoll um den Garten zu kümmern. Vroni fand in der Gartenarbeit eine willkommene Ablenkung von den Sorgen des Alltags und den quälenden Gedanken an Karl und Fritz. Sie sog die frische, klare Luft tief ein und genoss den modrigen Geruch der Erde unter ihren Fingern. Es war eine beruhigende Tätigkeit, die ihr half, ihre Gedanken zu ordnen.

Mit Eifer pflanzte sie Gemüse in die Beete und bunte Blumen als Umrandung des Gärtchens. Johanna und Lydia halfen zuweilen mit, sie säten Samen, gossen die Pflanzen und beobachteten gespannt, wie allmählich alles wuchs und prächtig gedieh. Die gemeinsamen Stunden im Garten waren für Vroni und die Kinder eine wertvolle Zeit des Zusammenhalts und der Freude.

Sie erinnerte sich gerne an eine Geschichte, die ihr Großvater über das Gärtnern erzählt hatte. Er hatte ihr beigebracht, wie man die Erde vorbereitet, die Samen sät und die Pflanzen richtig pflegt. Diese Erinnerungen gaben ihr das Wissen und die Zuversicht, dass sie es schaffen würde, einen schönen und ertragreichen Garten anzulegen.

Zu sehen, wie aus kleinen Samen kräftige Pflanzen heranwuchsen, vermittelte ihr ein Gefühl, dass auch in ihrem Leben alles gut werden konnte. Sie wusste, dass es Zeit und Geduld brauchte, aber sie war bereit, diese Herausforderung anzunehmen.

Wenn Vroni von der anstrengenden Gartenarbeit eine Pause machte, dachte sie oft an Karl und hoffte, dass er bald und sicher nach Hause kommen würde. Der kleine Garten war ein Fleckchen, an dem sie ihre Sorgen vorübergehend vergessen und sich auf die positiven Dinge im Leben besinnen konnte. Bisweilen sang sie leise das Lied vor sich hin, das Fritz ehedem für sie geschrieben und vertont hatte, während die Arbeit in ihren Händen flott voranschritt. Die vertraute Melodie half ihr, die Gedanken an die unsichere Zukunft zu verdrängen und die augenblickliche Situation zu akzeptieren. Der modrige Duft der feuchten Erde und das fröhliche Zwitschern der Vögel in den Bäumen wirkten beruhigend auf sie, und sie atmete immer wieder tief durch. Darüber hinaus hatte sich die Entscheidung, Lydia in den Kindergarten zu schicken, als richtig erwiesen. Vroni hatte unerwartet schnell einen freien Platz für ihre Kleine bekommen, und Lydia war von Anfang an begeistert. Schon bald hatte sie sich gut unter den anderen Kindern eingelebt.

Kolberg, Juni 1941

Es war der 22. Juni, nur wenige Wochen nach Karls 39. Geburtstag, als sie ein weiteres Mal mit ihm telefonierte.

Vroni betrat das Postamt und ließ sich mit ihm verbinden. Nach einigen Minuten hörte sie endlich seine vertraute Stimme. „Karl, wie geht es dir? Ich hoffe, du bist wohlauf?”, fragte sie besorgt.

„Mir geht es gut, Vroni. Es ist hier ruhig, aber heute Morgen gab es große Neuigkeiten“, antwortete Karl.

Vroni spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. „Was ist passiert?”, fragte sie erregt.

„Um 3:30 Uhr sind unsere Truppen in Russland einmarschiert. Obwohl ich nicht mit an der Front bin, habe ich hier in Nest durch Berichte im Rundfunk und Gespräche mit den Kameraden alles mitbekommen”, erklärte er trocken.

„Das muss aufregend und beängstigend zugleich sein. Wie fühlst du dich dabei?”, wollte Vroni wissen.

„Es ist eine seltsame Mischung aus Stolz und Sorge. Wir bekommen ständig Informationen über die Entwicklung an der Front, und es ist schwer, längere Zeit nicht daran zu denken”, gab Karl zu.

Vroni seufzte leise. „Das kann ich verstehen. Pass bitte gut auf dich auf, Karl. Wir alle denken ständig an dich.”

„Danke, Vroni. Es tut gut, deine Stimme zu hören. Ich werde vorsichtig sein”, versprach er.

Karl hatte den Einmarsch der deutschen Truppen in Russland zum Glück nur aus der Ferne miterlebt, resümierte Vroni am Ende der Unterhaltung. Dennoch hatte er durch die Kommunikation mit seinen Kameraden die Ereignisse hautnah mitverfolgen können. Die Verständigung innerhalb der Wehrmacht war offenbar gut organisiert, und Neuigkeiten über wichtige militärische Ereignisse verbreiteten sich rasend schnell. Persönliche Briefe und Telefonate trugen ebenfalls dazu bei, dass Karl stets über alles informiert blieb.

Vroni war besorgt, nachdem sie von Karl die Information über den Einmarsch erhalten hatte. Sie konnte die Angst um seine Sicherheit nicht verbannen. Die Nachricht trug die Realität des Krieges noch näher in ihr Leben hinein.

Trotzdem wollte sie ihre Sorgen Karl nicht zeigen, um ihn nicht zusätzlich zu belasten. Vielmehr sprach sie ihm Mut zu und versicherte ihm, dass sie an ihn glaubte und von Herzen hoffte, dass dieser Albtraum bald ein Ende finden würde. In ihrem Herzen wuchs stetig die Sehnsucht nach einem friedlichen Leben ohne die ständige Bedrohung des Krieges. Obwohl sie versuchte, ihn zu ermutigen, stark zu bleiben bis zum Ende dieses verhassten Krieges, verrieten ihre leisen, zitternden Worte die tiefe Angst, die sie um ihn hatte. Sie wusste sehr wohl, dass der Krieg nicht nur an der Front tobte, sondern auch in den Herzen derer wütete, die zu Hause auf Nachrichten warteten.

Sie bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. „Ich glaube an dich, Karl. Wir werden das gemeinsam durchstehen.” Doch Karl spürte sehr wohl, dass ihre Gedanken bei jeder Nachricht von der Front um seine Sicherheit kreisten.

Schließlich ließ er Vroni wissen, dass er davon ausging, im August auf Urlaub nach Hause zu kommen. Seine Worte ließen ihr Herz aufjubeln, aber die Angst um ihn war Tag und Nacht ihr ständiger Begleiter. Der Krieg war unberechenbar, und Versprechen waren in diesen Zeiten oft nur schwer einzuhalten. Umso mehr klammerte sie sich an seine Worte, sie waren wie ein Rettungsanker in einem stürmischen Meer.

„Ich werde auf dich warten, Karl”, flüsterte sie, ihre Stimme voller Sehnsucht und Liebe. „Ich freue mich so sehr auf dich.”

Karl musste die Last ihrer Sorgen gespürt haben. „Ich werde alles tun, um sicher zurückzukehren”, sagte er fest. „Wir werden das gemeinsam durchstehen.”

Mit gemischten Gefühlen verließ sie nach dem Gespräch das Postgebäude. Inzwischen war es Zeit geworden, Lydia vom Kindergarten abzuholen.