Kapitel 1
Jetzt
ER war der Ansicht, es wäre ein Trugschluss, zu glauben, dass Zorn blind machte. Ganz im Gegenteil. Gerechter Zorn schärfte die Sinne und wer wie ER ein Schwert führte, war darauf angewiesen, keine Fehler zu begehen oder Schwächen zu zeigen. Die anderen hatten Schwächen. ER kannte sie und wusste, wie man ihre Gedanken und Handlungen an unsichtbare Fäden knüpfte, die ER nach Belieben bewegen konnte – wie ein Puppenspieler, nur war es kein Spiel. In Herbert Schachers Fall stimmte das nicht nur im übertragenen Sinn, denn es waren Fäden, nicht aus Seide gesponnen, obwohl Schachers Leben nur noch geschätzte vier Stunden daran hängen würde. Er hatte sich in ihnen verstrickt, in einem Netz, das grenzenlose Freiheit versprach. Überall hin durfte sich die Marionette darin bewegen, geheime Begierden stillen, doch das Geflecht aus Kupfer- und Glasfaser war löchrig. ER wusste, wie man sich das zunutze machte und wo ER suchen musste. Der Chatraum, in den ER sich zwangsläufig hatte begeben müssen, war eine Art Einwohnermeldeamt für Homosexuelle und bot die Möglichkeit nach bestimmten Filtern zu suchen, für IHN ausschlaggebend nach Alter und Vorlieben. Aber das allein reichte nicht, denn was sollte man schließlich mit der Aussage „Tagsüber Saubermann und nachts perverse Sau“ anfangen? Davon gab es auf diesem Portal SEINER Einschätzung nach einige. Das Zauberwort hieß Umkreissuche und schon hatten sich die sogenannten im richtigen Alter auf nur zwei ausgedünnt. Einer der Männer hatte keine Gesichtsfotos auf diesem Portal eingestellt, aber aufgrund der von Schacher abweichenden Statur, seiner in Leder und Lack gepressten Glieder war nur noch die andere Person infrage gekommen. Eine Kontaktaufnahme somit möglich, doch die durfte natürlich keine Spuren hinterlassen. Ein eigenes Profil hinterließ sie, sobald man den Chatraum betrat. Über zehn Ecken fand einen jedoch niemand. Dafür gab es anonyme VPN-Server, die Rechneridentitäten aus aller Welt vortäuschten. Der junge Inder in der Nähe des Bahnhofs hatte seine Geräte nicht geschützt. Jeder konnte daran herumspielen. Es war daher ziemlich einfach gewesen, die Software zur Anonymisierung per USB-Stick an einem dieser Rechner zu nutzen und mit Herbert Schacher in Kontakt zu treten, einzutauchen in seine Welt, die aus Schmerz, Demütigung und Lust bestand. Schachers Codename war Asphyx3, was IHM die Überlegung abnahm, wie er sterben sollte. ER selbst hatte, nachdem ER Schacher auf dem Portal gefunden hatte, SEINEN Profilnamen in Asphyxlover geändert, jedoch mit einem für das Spiel unabdingbaren Unterschied: Asphyx3 hatte seinen Haken bei „sub“ gesetzt. ER bei „top“. Wie füreinander geschaffen, und dennoch hatte es drei Tage gedauert, bis Asphyx3 endlich als Kontaktanfrage auf SEINEM Profil erschienen war.
Fotos real? Haste mehr Pics?
Auch mit Asphyx3s Misstrauen hatte ER gerechnet. Anscheinend gab es in dieser Welt viele Faker, die sich gegenseitig explizite Fotos schickten, um zu masturbieren, während sie sich in einem kleinen Chatfenster in Halbsätzen Obszönitäten zuwarfen. „Cyberwichser“ nannte man das. Der Begriff war bei den ersten Probeläufen im Chatraum oft genug gefallen. Natürlich hatte ER rein vorsorglich weitere Fotos parat, von athletisch gebauten nackten Männern aus verschiedenen Blickwinkeln, die in etwa SEINER Statur entsprachen. Asphyx3 geriet sicher bereits ins Träumen.
OV okay? Muss ich mir Sorgen machen? Ich meine gesundheitlich.
Asphyx3 hatte sich anscheinend längst ausgemalt, IHN oral zu befriedigen.
Ich hab mich erst testen lassen. Keine Sorge.
ER hatte damit gerechnet, mit dieser Information Schachers letzte Skepsis aus dem Weg zu räumen, doch dann erinnerte ER sich daran, dass Schacher seine Leidenschaft nicht aus der realen Welt nährte, in der man vernunftgesteuert über gesundheitliche Aspekte sprach. Es verwunderte ihn daher nicht, dass Asphyx3 nun zögerte, IHM zu antworten. Falsche Wortwahl – ein Tick zu rational. Damit weckte man keine Begehrlichkeiten.
Geh in seine Welt!, ermahnte ER sich. Höchste Zeit, wieder am richtigen Faden zu ziehen:
Keine Sorge. Ich stopf dir schon dein Maul, du geile Sau.
Wie pathetisch und unappetitlich, doch letztlich hatte dieses Argument mehr Zugkraft als ein negativer HIV-Test, dem ER sich mangels Notwendigkeit bisher noch nie unterzogen hatte. Dann biss Asphyx3 endlich an.
Pünktlich zu sein, schaffte Vertrauen. Besser früher da sein und etwas warten, zumal ER sich vorgenommen hatte, den Wagen auf dem Großparkplatz eines Einkaufszentrums in der Nähe abzustellen. Das war unabdingbar, weil Schachers Haus in einem reinen Wohngebiet lag. Fenster hatten Augen, auch wenn es schon kurz vor elf Uhr abends und dementsprechend dunkel war. Asphyx3 war sehr an Diskretion gelegen. Somit hatten sie eine Gemeinsamkeit, wenngleich aus anderen Gründen. Dass er in einem Haus wohnte, das nach Geld roch, war alles andere als verwunderlich. ER hatte es sich schon gestern angesehen, als harmlos vorbeischlendernder Passant. Die Betonkonstruktion, die hinter den Hecken hervorragte, wirkte kalt. Die Wände waren großflächig verglast, als ob Schacher nichts zu verbergen hätte. Ausgerechnet Schacher! Schick und Upperclass wollte er also sein. Blumen oder blühende Sträucher gab es im Garten der Schachers nicht. Der Rasen wirkte perfekt getrimmt. Vermutlich engagierten die Schachers einen Gärtner. Niemand sonst, den ER kannte, hatte so einen gepflegten Rasen. Der Jaguar in einer der beiden Garagen rundete das Bild, das ER von Herbert Schacher hatte, ab.
Nicht klingeln
hatte IHN Schacher noch wissen lassen. Die Türglocke sei so laut, dass man sie bis auf die Straße hören würde – und gegenüber lag ein Mehrparteienwohnhaus. Dieser Umstand war Grund genug, um einen Hut zu tragen und den Kragen SEINER Jacke hochzustellen. Schachers Nummer hatte ER bereits vor Abfahrt auf dem Handy eingespeichert. Es musste schnell gehen.
Ich bin’s. Machst du auf?
ER bemühte sich, SEINEM autoritären Tonfall einen Hauch Wärme zu verleihen. Schließlich spielten sie noch nicht. Erst wenn Schacher IHN hineingelassen hätte.
Ein kaum vernehmbarer Summton folgte. Die Gartentür sprang leichtgängig auf und fiel mit einem leisen Klick hinter IHM in Schloss.
Aus dem Halbdunkel des Hauseingangs schälte sich eine Hand, die IHN hastig hereinwinkte. Es wunderte IHN ganz und gar nicht, dass SEIN Gastgeber auf helle Beleuchtung verzichtete. Die ein Stockwerk darüber brennende Lampe streute aber noch genug Licht, um zu erkennen, dass Asphyx3 falsche Profilbilder eingestellt hatte – verständlicherweise. Prompt meldete sich das schlechte Gewissen des Gastgebers.
„Und. Passt es?“ Schacher wollte sich dessen vergewissern.
Dass es umgekehrt so war, konnte ER in seinen Augen lesen.
Der Mann transpirierte. Dass seine Hand zitterte vor Erregung, war kaum zu übersehen.
„Ja“, erwiderte ER knapp, aber glaubwürdig, wenngleich die Lüge aus einem ganz anderen Grund eine war, denn selbst wenn ER Neigungen verspürt hätte, sich dem gleichen Geschlecht hinzugeben, war Schacher ein Typ, der nichts Attraktives an sich hatte: Halbglatze, ein Bauchansatz, den das weit geschnittene Hemd nicht verbergen konnte, und ein ovales Gesicht, das an ein Opossum erinnerte. Ein Schwertträger durfte keine Fehler begehen, sagte ER sich. Daher das überzeugende „Ja“.
„Wohin gehen wir?“, fragte ER.
Sein Gegenüber deutete auf die Marmortreppe, die in den Keller führte.
ER folgte ihm schweigend. Das hatten sie so vereinbart. Angeblich würde jegliche normale Konversation zuvor die Fantasie zerstören, das Rollenspiel beeinträchtigen. Schacher habe es schon einmal erlebt, dass er jemanden zu sympathisch gefunden habe, um das zu machen, was er sich nun erhoffe. Diese Verabredung kam IHM sehr entgegen.
Schummriges Flackerlicht am Ende des Flurs wies den Weg. Ein paar Teelichter brannten auf zwei Kisten in einem spärlich eingerichteten Raum.
„Zieh dich aus!“ ER musste SEINER Stimme erneut Autorität verleihen, um SEINEN Plan zu verwirklichen. Schacher hatte es sich zudem so gewünscht: gleich zur Sache kommen.
Schacher nickte prompt und knöpfte sein Hemd auf.
„Schneller!“, fuhr ER ihn an.
Schacher gehorchte. Hemd und Hose flogen nun im Eiltempo auf den Kellerboden. Der Tonfall war Teil des Spiels, wie verabredet. Es nannte sich Demütigung.
„Nimm das Seil. Die Beine zuerst“, befahl ER ihm, nachdem Schacher sich auch noch die Unterhose und die Socken vom Körper gestreift hatte. Dass Asphyx3 nun vollends in die Fantasie eingetaucht war, ließ sich an seiner Erektion, seiner schweren Atmung und der Geschwindigkeit, mit der er mit zitternden Händen seine Beine am Stuhl fixierte, ablesen.
Das Spiel war nun nicht mehr zu stoppen. Schacher würden von nun an kleine Planänderungen nicht mehr stören. Das war wichtig, denn ER würde einen Teufel tun und irgendeines seiner bereitgelegten Folterwerkzeuge, die Schacher „Spielsachen“ genannt hatte, auch nur anzufassen. Sie hatten abgesprochen, dass ER ihm Klemmen an die Brustwarzen setzen sollte, die mit einem Gleichstromgerät verbunden waren. Zwei runde, mit Schrauben und Metallkontakten versehende Holzplatten warteten ebenfalls auf ihren Einsatz an Schachers Genitalien.
Nun musste ER nur noch die am Boden liegenden losen Seilenden nach oben verlängern und ihn an den Armen fesseln, um fortan mit Schacher machen zu können, was ER wollte.
Er war schnell fixiert. Das Seil reichte, um es zwei Mal um Schachers Oberkörper zu spannen und mit einem doppelten Knoten festzuzurren.
ER trug Handschuhe, doch jede Bewegung zu viel könnte Haut- oder Haarschuppen ablösen, irgendeine Spur hinterlassen. Zu gefährlich. Am besten, ER brächte es schnell zu Ende. Die transparente Tüte lag griffbereit. Sie diente dem Zweck, ihrer beider Chatnamen zur Ehre zu gereichen.
„Erst nachher. Es ist dann geiler.“
Dass Schacher nun protestierte, spielte keine Rolle mehr. Er war unfähig, sich zu bewegen.
„Vertrau mir. Gleich jetzt. So ist alles intensiver“, versprach ER, obwohl ER nicht wusste, ob dem im Normalfall so war.
Schacher glaubte IHM jedenfalls, weil er seinen Kopf zurücklehnte und die Augen schloss. Seine anhaltende Erektion sprach Bände. Er wollte es. Umso besser.
Die transparente Tüte glitt nahezu geräuschlos über seinen Kopf. Es kostete keine Mühe, sie zu verschließen. Ein Kabelbinder war schnell um Schachers Hals gelegt. Er diente dem Zweck, die Tüte luftdicht zu befestigen. ER zog erst leicht daran, damit sich die gezackte Schlinge komplett um Schachers Hals legen konnte. Zwei weitere Zacken ließ ER mit vernehmbarem Knacken einrasten, indem ER am hervorstehenden Ende des Kabelbinders zog.
Schacher öffnete nun die Augen. Obwohl die Tüte von seinem Atem bereits beschlagen war, hatte ER den Eindruck, als würde er IHN fragend ansehen. Das war nicht verwunderlich, denn den Kabelbinder hatte ER mitgebracht.
Knack. Es durfte nicht zu schnell gehen, nicht nach Gewalteinwirkung von außen aussehen. Zu fest und zu rasch zu ziehen, könnte auffällige Druckstellen oder blaue Flecken verursachen, denn noch konnte Schacher seinen Kopf widerwillig bewegen, gegen sein Schicksal aufbegehren. Das würde bei einem Spiel dieser Art normalerweise nicht passieren.
Schacher versuchte bereits, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, doch die Fesselung an der Armlehne hielt.
Knack – ganz vorsichtig, und dann gleich drei Mal.
Schacher wand sich. Seine Atmung wurde panisch. Er schnappte nach Luft, aber der Sauerstoffgehalt dürfte im Inneren der Tüte mittlerweile drastisch gesunken sein. Das beschlagene Plastik klebte bereits auf seinem Gesicht. Die Tüte stülpte sich im Rhythmus seiner Schnappatmung nach innen in seine Mundhöhle.
Knack – weiter durfte ER den Kabelbinder nicht zuziehen.
Warten.
Die Tüte lag nun an wie eine zweite Haut. Asphyx3 litt sichtlich. Seine Erektion ließ aber nicht nach. Erstaunlich. Gurgelnde Geräusche begleiteten das Schauspiel. Es konnte nicht mehr lange dauern – hoffentlich, denn bald musste ER die Fesselung der Arme lösen. Asphyx3 zerrte zu stark daran. Das Seil schnitt ins Fleisch. Außerdem sollte es so aussehen, als ob er sich wieder hätte befreien wollen.
Zu diesem Zweck löste ER die Fesselung der Arme.
Schacher griff sofort panisch an den Kabelbinder, versuchte, ihn nach vorne zu ziehen, um wenigstens etwas Luft zu bekommen, doch vergeblich, denn die Schlinge war bereits so eng, dass er sie mit seinen Fingern nicht mehr zu fassen bekam.
Zufrieden stellte ER fest, dass die Striemen der Fesselung an Schachers Armen noch nicht zu tief waren. Sie würden verblassen, bis man ihn fand.
ER wandte sich ab und lauschte der Todesmelodie, die Schacher von sich gab. Währenddessen kramte ER aus SEINER Hosentasche ein Streichholzetui hervor. Zwei Verdachtsmomente zu streuen, konnte nicht schaden. Angenommen ER wäre Schachers Vorstellungen gefolgt und hätte sich ebenfalls entkleidet, die Hose hätte ER sicherlich auf eine der Kisten gelegt. Dabei könnte das Etui herausgefallen sein. ER legte es daher daneben, zwischen der Wand und der Kiste, damit es nicht wie drapiert aussah. Sie würden es trotzdem finden. Fertig. Es gab nichts mehr zu tun.
Ein gutturales Krächzen hinter SEINEM Rücken löste die gurgelnden Laute ab. Es verlor sich. Nur noch das leise Summen des Heizkessels erfüllte den Raum. Urplötzlich klatschte etwas gegen einen harten Gegenstand. ER erschrak und drehte sich abrupt um. Es war einer von Schachers Armen, der leblos auf die Stuhllehne gefallen war. Der andere fiel auf seinen Schritt, was IHN auf die Idee brachte, Schachers Hand um dessen Glied zu legen. Es sah dann so aus, als ob er dabei masturbiert hätte.
ER betrachtete sich SEIN Werk. Irgendetwas fehlte. Ach ja, eines hätte ER ja fest vergessen: die Nagelschere. Die zog ER ebenfalls aus der Hosentasche und legte sie vom Stuhl aus gesehen in denkbare Griffweite auf eine der Kisten. Zu dumm, dass Schacher sie nicht mehr hatte erreichen können. Unfälle dieser Art passierten nun mal. Vielleicht war auch ein Partner in Panik nach einem missglückten Spiel einfach davongelaufen. Dank der Streichhölzer mit Aufschrift war das ebenso denkbar.
Es war vorbei, was IHN aufatmen ließ.
Das Schwert hatte diesmal bereits leichter in der Hand gelegen, als beim ersten und zweiten Mal. Alles, was so sein sollte, was richtig war, gelang, doch eigentlich hatte Schacher es gar nicht verdient, einen seiner Träume auszuleben, wenngleich nur kurz. Den Tod hatte er jedoch verdient – zweifelsohne.
***
Das Erste, was Emelie an diesem Morgen sah, war die Skyline von New York – aber leider nur auf Papier. Das Poster an der Wand über ihrem Bett wühlte sie auf. Es weckte Sehnsüchte nach der Stadt, in der sie nach Abschluss ihres Psychologiestudiums ein aufregendes Jahr hatte verbringen dürfen – und das nicht nur in kriminalistischer Hinsicht. Sie vermisste ihre Kollegen aus dem Kurs, dem zusammengewürfelten verrückten Haufen aus aller Welt, künftige Profiler beziehungsweise Fallanalytiker, wie sich das hierzulande etwas profaner nannte. Immer wenn sie sich an einen ihrer Kollegen und Kolleginnen erinnerte, fielen ihr witzige Episoden ein, von gemeinsamen Ausflügen quer durch die USA an freien Tagen, bis hin zu Theaterbesuchen am Broadway – von den langen Nächten in unzähligen Nachtklubs ganz zu schweigen.
Ein schlaftrunkenes melancholisches Lächeln löste sich in ihrem Gesicht. Es fror jedoch gleich wieder ein, weil sie das Poster zugleich daran erinnerte, in ihrem ehemaligen Kinderzimmer zu hausen. Zumindest vorübergehend, bis sich eine ihrer Ausbildung entsprechende Stelle als Profilerin auftat und für die Zwischenzeit eine Wohnung, die ihr gefiel und die finanzierbar war, ohne sich von Vater weitere Geldspritzen verpassen zu lassen. Der Posten bei der Kripo in Offenburg war schließlich nichts weiter als ein wenig befriedigender Einstieg in ihre Karriere, sowohl arbeitstechnisch als auch in Sachen Gehalt.
Emelie richtete sich auf. Sechs Uhr morgens war eine unchristliche Zeit. Man gewöhnte sich komischerweise recht schnell an den Schichtdienst. Während ihrer Ausbildung bei der Offenburger Kripo bereits erlebt. Anders konnte Emelie es sich nicht erklären, in den letzten Tagen stets, kurz bevor der Wecker unbarmherzig klingelte, von allein aufzuwachen, was aber nicht hieß, flott aus dem Bett zu kommen. Dafür bedurfte es heute noch eines weiteren Posters – eine Luftaufnahme vom Alex mitten in Berlin. Das zog nach vorne. Dort warteten jede Menge Aufgaben für einen Profiler wie sie, sprich Gewaltverbrechen, sofern sie bei der Offenburger Kripo nichts versemmelte. Selbst eine Stelle in Frankfurt oder Stuttgart würde sie mit Handkuss nehmen. Die mussten aber erst einmal frei werden. Die Offenburger Kripo hatte jedenfalls keine. Zur Aufklärung von allem anderen außer Mord, meist Diebstähle und Einbrüche, von denen es in der Ortenau reichlich gab, brauchte man keine Profiler.
„Du bist erst siebenundzwanzig! Die Welt steht dir offen.“ Vaters Worte. Er hatte ja recht, doch dieser Einsicht wollte sich ihre Ungeduld nicht beugen. Diese Tugend hatten ihre Eltern ihr nämlich nicht in die Wiege gelegt. Genährt wurde sie von Frust, denn Offenburg, Kehl und all die Käffer an der deutsch-französischen Grenze waren eher beschaulich bis gemütlich – sprich die Heimat, der sie ja just aus diesen Gründen den Rücken hatte kehren wollen. Andererseits: besser einen Job in Warteposition als gar keinen. Der Verstand wusste das. Ihr Herz hingegen trotzte wie ein Kind. Der wiederkehrende Ärger darüber schaffte es jeden Morgen, den Kreislauf letztlich doch in Schwung zu bringen. Die anschließende Dusche, abwechselnd heiß und kalt, tat ihr Übriges.
Vielleicht hatten ihre Kollegen ja recht. Den Spitznamen „Küken“ bekam man nicht ohne Grund. Und ihrer lag jeden Morgen in ihrem Spiegelbild. Zu dumm, wenn man jünger wirkte, als man war. Ihr langes, brünettes Haar machte es nicht besser – es fiel in weichen Wellen über ihre Schultern und verstärkte den unschuldigen Eindruck auch noch. Um dem entgegenzuwirken, trug sie es vor allem bei Außeneinsätzen im Dienst, bei denen längere Haare störten, streng zurückgebunden. Generell stylte sie es aber mit etwas Volumen, um mehr Reife auszustrahlen. Ein Hauch von Lippenstift und dezentem Lidschatten mussten sein – nur so schaffte sie es, den Teenager in ihrem Gesicht ein wenig zur Frau zu machen. Ihre blauen Augen bekamen dadurch mehr Tiefe, weniger jugendliche Unbekümmertheit. „Küken.“ Emelies grimmiger Laut klang wie eine Kampfansage. Auf in die dritte Woche.
Emelies Vater saß wie jeden Morgen bereits am Frühstückstisch ihres teilverglasten Wintergartens mit Blick auf den Garten, die Obstbäume und ein in letzter Zeit etwas vernachlässigtes Blumenbeet. Gartenzwerge lachten ihr von einem kleinen schilfumflochtenen Teich entgegen, den ihre Mutter genau wie die Rosensträucher vor vielen Jahren angelegt hatte.
„Moin. Na?“
Mehr brachte Vater morgens kaum heraus. Das lag nicht daran, dass er ein Morgenmuffel war, sondern weil er sich beim Frühstück auf seine Fälle vorbereitete. Gleich drei Akten lagen rechts von seiner Müslischale. Ihre stand gegenüber, neben einer Kaffeekanne und einem Tetrapack Milch. Auch das vermisste sie: Bacon and Eggs, doch weder sie noch ihr Vater hatten Lust darauf, sich frühmorgens an den Herd zu stellen und die Bude mit Bratfett zu verpesten.
Emelie konnte ihm ansehen, wenn er schlecht gelaunt war. Die graue Eminenz wirkte an solchen Tagen immer besonders steif. Seine seit Mutters Tod sowieso schon verhärteten Gesichtszüge, sahen heute aus wie in Stein gemeißelt. Die Trennung von ihr hatte er verkraftet, ihren Tod nicht. Versuchte er dann noch, mit seinem antik anmutenden Nasenzwicker zu lesen, der ihm wohl den Anschein von aristokratischer Erhabenheit vor Gericht verleihen sollte, sah er aus wie ein in Bronze gegossenes Relikt aus vergangenen Tagen. Robert Wojciechowski – die lebende Statue und seines Zeichens allseits respektierter Richter am Landgericht Offenburg.
„Und du? Gut geschlafen?“, fragte Emelie. Das war nicht weniger wortkarg, aber immerhin der denkbare Anfang einer morgendlichen Konversation.
Er nickte nur stumm vor sich hin.
„Lies das Zeug doch abends.“ Ein gemeinsames Frühstück stellte sich Emelie anders vor. Hatte er sich nicht sogar darauf gefreut? „Wenn du hier bist, dann können wir viel zusammen machen und glaub mir, Berlin klappt schon noch“, hatte es geheißen. Gemacht hatten sie so gut wie nichts, außer einmal in Straßburg essen zu gehen.
„Bin abends zu müde …“, erklärte er, ließ dann aber doch von den Akten ab. Die Brille zog er von der Nase und legte sie zur Seite.
„Wie mich das langweilt …“, sagte er wohl mehr zu sich.
Emelie wunderte das nicht. Es war für sie nahezu unvorstellbar, sich tagein- tagaus mit Wirtschaftsdelikten zu beschäftigen – brottrocken das Ganze. Ihr Vater hatte bisher jedoch immer Gefallen daran gefunden, sich in Paragrafenketten zu verstricken und sich mit gewieften Anwälten zu duellieren, die ihm Grundsatzurteile um die Ohren schlugen. Heute wohl nicht. Interesse zu signalisieren, besserte vielleicht etwas seine Laune.
„Scheiß Fall? Verzwickte Insolvenz? Patente?“, fragte sie, während sie sich Kaffee einschenkte und das Müsli in Milch ertränkte.
Ihr Vater gab nur einen verächtlichen Laut von sich. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf. „Reinhard hat sich den Fuß verstaucht … Der ganze Mist hier … Strafrecht.“
Daher wehte also der Wind. Wenn Vater für einen Richterkollegen einspringen musste, war er ungenießbar. Die Gefilde des Strafrechts kamen noch erschwerend mit dazu – nicht sein Ding, wie Emelie wusste. Das interessierte sie jedoch umso mehr. „Um was geht es?“
„Tätlicher Angriff nach einem Streit. Das Opfer hat sich eine Kopfverletzung zugezogen“, erläuterte er.
Emelie wunderte sich, was daran so komplex oder schwierig sein sollte. „Dann bucht ihn halt ein“, sagte sie lapidar.
„Ihn? … Sie!“, gab er zurück.
„Ehestreit?“ Emelie sah schon einen fliegenden Teller vor sich, der dem Gatten an den Kopf flog – bereits während einer ihrer Einsätze erlebt.
„Nein. Mit dem Zahnarzt.“ Vater verdrehte dabei die Augen.
„Wie? Etwa in der Praxis?“ Nun wollte Emelie es aber genau wissen.
„Im Aufzug. Sie war mit der Behandlung unzufrieden, hat ihm aufgelauert und ihm so eine gescheuert, dass er mit dem Kopf gegen die Schaltleiste des Lifts knallte. Gehirnerschütterung und eine pfenniggroße Wunde. Vorbestraft ist sie auch noch. Die Frau hat bereits vier Männer verprügelt.“
„Wo ist dann das Problem?“ Zwei Semester Strafrecht in ihrem Vorleben reichten, um diesen Fall als einfach einzustufen.
„Meinig will eine Bewährungsstrafe. Alleinerziehend. Russin. War im Heim. Vor Jahren zur Prostitution gezwungen“, führte Vater aus.
„Das Übliche … Greift doch endlich mal durch.“ Emelie konnte die schuldmindernden Umstände schon gar nicht mehr hören. Stichwort Täterschutz. Komisch daran war nur, dass Meinig, der Staatsanwalt, von sich aus ein so mildes Strafmaß forderte. War dieser Meinig sonst nicht eher eine harte Nuss?
„Geht nicht. Reinhard hat mir geraten, darauf einzugehen, und vermutlich hat er vorher mit Meinig gesprochen“, erklärte ihr Vater.
„Warum das denn?“
„Jemand hat Reinhards Auto schrottreif mit einem Vorschlaghammer demoliert, weil er sie beim letzten Mal nicht freigesprochen hat“, sagte Vater.
„Was geht dich das an?“
„Die Beklagte gehört offenbar zu einer Sippe, die gerne zu solch drakonischen Maßnahmen greift. Außerdem kannst du denen nichts nachweisen. Weder Meinig noch ich haben Lust auf Ärger … Klar müsste ich sie aus dem Verkehr ziehen, aber wenn die in den Knast wandert, zünden sie uns die Bude an.“
Emelie konnte kaum glauben, was sie da hörte. „Du lässt dich darauf ein? Das ist doch nicht dein Ernst.“
„Doch“, gab er knapp, aber bestimmt zurück.
„Und dafür reißen wir uns den Arsch auf, jeden Tag …, damit ihr sie davonkommen lasst?“
„Eine Verurteilung ändert sowieso nichts. Sie kommt nach kurzer Zeit wieder frei und macht weiter“, erklärte Vater.
Emelie blieb das Müsli förmlich im Hals stecken.
„Du kannst die Welt nicht verbessern“, meinte er lapidar.
Emelie fragte sich, was schlimmer war, seine Worte oder sein mitleidiger Blick. Sie brauchte nun einen großen Schluck des Kaffees. Die Müslipampe ging damit runter, die Kröte, die ihr Vater ihr gerade in den Hals gesteckt hatte, nicht.
„Du würdest das alles ganz anders sehen, wenn du Jura nicht abgebrochen hättest.“
Jetzt fing er auch noch mit den ollen Kamellen an. Emelie konnte sie schon gar nicht mehr hören. „Wozu? Um dann so zynisch zu werden wie du?“, warf sie ihm vor, jedoch in einem eher sachlichen Tonfall.
„Nein. Du würdest deutlich mehr verdienen“, kam genauso brottrocken zurück. Ein süffisantes Lächeln schälte sich aus seinem Gesicht.
Er musste ja immer das letzte Wort haben. Emelie beließ es dabei. Vor Dienstbeginn einen Streit vom Zaun zu brechen oder gar eine Grundsatzdiskussion über Gerechtigkeit zu führen, brächte sowieso nichts. Der Tag würde hart genug.
Zuvor
Emelie amüsierte sich an diesem Morgen nicht zum ersten Mal darüber, dass sie ausgerechnet in ihrer Zeit in New York damit angefangen hatte, mit dem Rad zum Dienst zu fahren. Das Geld hatte in den USA trotz Vaters Finanzspritzen hinten und vorne nicht gereicht, für ein gebrauchtes altes Rad aber schon und man kam zumindest auf kurzen Strecken schneller damit voran als mit der Subway, dem Bus oder dem Taxi, mit dem man tagsüber sowieso im Stau steckte. Brooklyn, wo sie sich ein kleines Zimmer gemietet hatte, war zudem ein Eldorado für Fahrradfahrer.
Zurück in der Heimat sah das jedoch anders aus. Die meisten Strecken waren zwar flach und an sich sehr fahrradtauglich, aber hier gab es im Gegensatz zu Brooklyn fast keine durchgängigen Fahrradwege. Es war nicht ungefährlich, sich gegen vermeintlich blinde Autofahrer auf der Straße zu behaupten, vor allem, wenn man schnell fuhr. Emelie liebte ihre morgendliche Tour trotzdem, den Fahrtwind, die Fitness, die damit einherging, und schien dann noch die Sonne, konnte ein Tag gar nicht besser beginnen. Das Einzige, was sie auf dem Weg vom Elternhaus zur Arbeit störte, war diese dämliche Ampel an einer kaum befahrenen Kreuzung, die minutenlang ohne ersichtlichen Grund auf Rot stand. Emelie hatte sich bereits dabei ertappt die Rot- und Grünphasen als Zeichen zu werten, wie der Tag wohl werden würde. Erwischte sie die Grünphase, würde der Tag gut. Heute war die Ampel, kurz bevor sie sie erreichte, auf Rot umgesprungen. In der Regel ignorierte Emelie sie, wenn die einsehbare Querstraße wie fast jeden Morgen frei war und keine Kinder unterwegs waren, denen man ein Vorbild sein musste. Tröstlich war, dass es heute noch jemanden erwischt hatte. Vermutlich einen Banker oder Versicherungsangestellten. Wer sonst fuhr im Anzug mit dem Rad zur Arbeit? Die Ampel doch ignorieren? Thema Vorbild.
Wenn er wartete, dann konnte sie es auch. Unschlüssig verlangsamte Emelie die Fahrt. Sein Anzugjackett spannte an seinen breiten Schultern. Gute Figur und ein knackiger Po auf dem Sattel, stellte sie fest. Emelies Neugier war geweckt. Sie schätzte ihn der Statur nach auf Anfang dreißig. Um einen kurzen Blick zu riskieren, lohnte es sich, dem roten Signal heute Folge zu leisten. Und wie es sich lohnte. Ein äußerst hübsches Exemplar von einem Mann stand neben ihr – noch dazu eines mit einnehmendem Lächeln. War er etwa auf Flirtkurs? Zunächst schien es so. Das war aber nicht der Blick eines Mannes, der sie musterte, weil er sie attraktiv fand. Kein verstohlener Ganzkörperscan mit Fokus auf den Reizen einer Frau. Er hatte zuerst überrascht gewirkt, ihr dann nachdenklich direkt in die Augen geschaut, ganz unverhohlen. Der Typ schien sich zudem über ihre Begegnung zu freuen. Warum lächelte er wissend? Höchst irritierend. Waren sie sich etwa schon einmal auf ihrer Strecke zum Revier begegnet?
Emelie beschloss, die Initiative zu ergreifen. „Die Ampel nervt mich jeden Morgen. Warum fahren wir nicht einfach?“, fragte sie um Beiläufigkeit bemüht.
Der Typ im Anzug lachte. Seine Grübchen waren unwiderstehlich. Er sah wirklich gut aus. Markante männliche, aber ebene Gesichtszüge, wache grüne Augen und, was ihr sofort aufgefallen war, gepflegte und doch kräftige Hände. Was war an ihrer Frage so komisch, dass er immer noch feixte? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Damit Sie mir ein Knöllchen geben?“, erwiderte er keck.
Er musste also wissen, dass sie bei der Polizei tätig war. Bestimmt sah er ihr an, wie perplex sie war. Er amüsierte sich allem Anschein nach köstlich darüber.
„Ich habe Sie mal bei Gericht gesehen. Das muss letzte Woche gewesen sein. Eheliche Gewalt. Sie mussten aussagen“, erklärte er.
Emelie erinnerte sich zwar an ihre Aussage bei der Gerichtsverhandlung, an ihn jedoch nicht.
Dann reichte er ihr auch schon die Hand. „Ich heiße Roman und Sie … lassen Sie mich überlegen. Normalerweise habe ich ein gutes Namengedächtnis. Irgendetwas mit E war es doch …“
„Emelie“, kam sie ihm zuvor.
„Die Sitzung war nicht öffentlich“, merkte Emelie an, um die näheren Umstände ihrer Begegnung zu klären.
„Ich habe Ihre Aussage protokolliert.“
„Dann haben Sie wirklich ein gutes Personengedächtnis. Ich war ja keine zwei Minuten im Gerichtssaal.“ War das jetzt Fishing for Compliments? Wollte sie hören, dass sie ihm aufgefallen war, weil er sie attraktiv fand? Ja, genau das war es und prompt ging der Wunsch in Erfüllung.
„Sie haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich war erstaunt …“, sagte er.
„Eine so junge Kommissarin zu sehen?“, hakte Emelie nach, denn noch war der Fisch nicht an der Angel.
„Das auch.“ Wieder jemand, der sie für ein Küken hielt. Nicht wirklich ein Kompliment.
„Sie waren so präzise und überzeugend. Man hat Ihnen angemerkt, dass Sie diesen Mann verabscheuen. Sie haben sich gewünscht, dass er verurteilt wird.“
Damit hatte er recht. Ein anderes Kompliment wäre ihr trotzdem lieber gewesen. „Er hat seine Frau verprügelt und das schon seit Jahren“, erinnerte sie sich.
„Wenn Sie Ihre innere Haltung nicht so klar rübergebracht hätten … Ich glaube, das hat den Richter beeindruckt. Man spürt das, aber, wenn ich ganz ehrlich bin … Sie sind die attraktivste Kommissarin, die mir bisher begegnet ist.“
Endlich. Das Kompliment. Ein Hoch auf diese Ampel. Die Rotphase hatte sich heute gelohnt. Sie konnte auf einmal gar nicht lange genug sein.
Grün! Aus der Traum.
„Na dann“, sagte er nun doch etwas verlegen.
War es ihm etwa peinlich, ihr dieses Kompliment gemacht zu haben? „Die Grünphase hält nicht lange an.“ Emelie konnte kaum glauben, dass sie das eben von sich gegeben hatte. Endlich mal ein Typ, der ihr gefiel, und sie ermutigte ihn auch noch zum Abflug – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich gerade ihr Verstand verabschiedet hatte. So verhielt sich ein junges Ding, das sich vorpubertär in jemanden verschossen hatte. Küken!
Er nickte seufzend und trat in die Pedale. „Ich fahr die Strecke oft. Man sieht sich“, rief er ihr nach.
Eine Art Sekundenlähmung schien ihre Beine befallen zu haben. Jetzt fahr schon!, befahl sie sich in Gedanken. Ging nicht. Und dann war es wieder Rot. Scheiß drauf. Wie schade, dass sie auf dem Weg zum Revier an der nächsten Kreuzung rechts abbiegen musste.
Jetzt
Obwohl bereits seit knapp über einem Monat im Dienst der Offenburger Polizei, musste Emelie sich immer noch daran gewöhnen, der Fremdkörper zu sein, sprich die Neue und Studierte aus den USA, die wieder an den „Tatort“ zurückgekehrt war. Wolfgang Stehle, ein Mitte Fünfzigjähriger mit Halbglatze, der sich in ungebügelten Hemden anscheinend am wohlsten fühlte, zugleich Leiter des Dezernats, hatte es so genannt. Mit „Tatort“ meinte er, dass Emelie hier ihre Ausbildung absolviert hatte. Ihren älteren Kollegen ging es offenbar nicht anders. Vielleicht bildete sie es sich ja auch nur ein, dass über sie getuschelt wurde. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Sie war die jüngste hoch qualifizierte Kommissarin, die das Dezernat je gesehen hatte. Das allein reichte schon, um Kompetenzstreitigkeiten mit alten Hasen vorzuprogrammieren, die ihr natürlich Jahre an Berufserfahrung voraushatten. Obwohl Emelie ihre Ausbildung zur Fallanalytikerin nicht hatte heraushängen lassen, glaubten viele vermutlich, dass sie sich für etwas Besseres hielt. Kommunizierte man das etwa nonverbal? Hatte ihr Chef sie zu überschwänglich als „die Universalwaffe gegen das Verbrechen“ angepriesen und, obwohl er es augenzwinkernd von sich gegeben hatte, ein bisschen zu dick aufgetragen? „Wir können uns glücklich schätzen, Emelie bei uns zu haben“, hatte so geklungen, als würde von nun an die Aufklärungsrate der Kapitalverbrechen steil nach oben schnellen – weil es ja so viele davon in der Ortenau gab. Die volle Ironie. Dazu kam, dass sie des Badischen zwar mächtig war, aber es selbst nicht sprach, weil in ihrem Elternhaus der lokale Dialekt nie gepflegt worden war. Vater kam aus Hannover und ihre Mutter aus dem Westfälischen. Fast all ihre Kollegen schwätzten Badisch. Immerhin bemühte sie sich um Lokalkolorit, so auch diesen Morgen, als ihr Heiner Fellner, einer der jüngeren Kollegen und jemand, der sie offenkundig mochte, am Eingang zum Präsidium begegnete. Emelie mochte das stämmige bodenständige Bärchen, Vater zweier Kinder und Gatte einer fürsorglichen Frau, die ihm jeden Tag Stullen mit zur Arbeit gab, nicht minder. Ein Glücksgriff, mit ihm als Zweiergespann zusammenarbeiten zu dürfen, vor allem in der Probezeit. Auf ihn war Verlass.
„Guten Morje“, rang sie sich deshalb ab, wie eine Zugereiste, die krampfhaft versuchte, sich zu integrieren.
Heiner grinste und erwiderte ihren Gruß. Dass er „Morje“ besonders breit aussprach, sollte wohl eine kleine Lektion des Badischen sein. Emelie lächelte wohlwollend zurück und kettete ihr Fahrrad an, während er in einen der zivilen Dienstwagen des Reviers stieg und gleich darauf den Motor anließ – ohne das übliche Schwätzchen, das hier in der Gegend so wichtig war wie die Luft zum Atmen. Vermutlich war Heiner im Einsatz oder musste auf die Schnelle etwas erledigen, sonst hätte er sicher noch ein paar Worte mit ihr gewechselt.
Einen weiteren Versuch, die Kollegen auf dem Revier auf Badisch zu begrüßen, ersparte sie sich. Ein strammes „Guten Morgen“ in die Runde von fünf männlichen Kollegen schien aber ebenfalls nicht das Richtige zu sein. Sie schreckten regelrecht auf. Das bis eben lockere Gemurmel, vermutlich privater Natur, verebbte. Auch das war nicht neu und hinterließ den unguten Beigeschmack, immer noch nicht in der Abteilung angekommen zu sein.
„Kaffee ist noch da. Extrastark“, rief Kurt, ein Mann mit typisch badischer Fülle, den man so gut wie nie ohne Schokoriegel an seinem Rechner sitzen sah.
Er war der Dienstälteste und zugleich die mit Hackerqualitäten ausgestattete digitale Spürnase des Dezernats. Kurt deutete auf eine Thermoskanne auf der kleinen Anrichte gleich neben der Tür, die mit einer Kaffeemaschine gesegnet war, weil man die Brühe aus dem Automaten im Gang nicht trinken konnte. Kurt hatte ihr noch nie einen angeboten, obwohl er sie bereits aus der Zeit ihrer Ausbildung kannte. Schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
„Irgendwelche News?“, fragte Emelie ganz unbedarft und locker in die Runde. Sich mit einem Tässchen Kaffee bewaffnet ungezwungen zu ihren Kollegen zu setzen und sich gegenseitig mit Updates über die Lage zu versorgen, war sie von ihrer New Yorker Ausbildungseinheit gewohnt und hatte dies als Morgenroutine kürzlich vorgeschlagen. Stichwort Teamspirit.
Prompt ließ sich Kurt zu einer kleinen Gesangseinlage hinreißen. Es genügte schon, dass er Sinatras „New York, New York“ nur summte, um damit alles zu sagen. Sicher nicht böse gemeint, doch die Truppe kringelte sich, was Emelie mit einem deutlich vernehmbaren Räuspern sofort im Keim zu ersticken wusste.
„Der Safe vom gestrigen Einbruch lag in der Kinzig. Das ist schon der zweite, den sie dort versenkt haben. Wir sollten nachts am Flussufer campen und Posten mit Nachtsichtgeräten aufstellen“, meinte Kurt und ging somit zum Tagesgeschäft über.
„Zwei Einbrüche in Casinos, Kehl und hier. Überwachungskameras wieder mal lahmgelegt, aber die waren zu blöd, die dritte Kamera komplett abzukleben. Einen haben wir gestern Nacht geschnappt“ führte Kurt aus.
„Und die Vergewaltigung?“, hakte Emelie nach, weil dieser Fall bisher das einzige Gewaltverbrechen gewesen war, das ihre Präsenz einigermaßen rechtfertigte.
„Die Frau wiegelt ab. Keine Aussage. Sie glaubt, wir könnten sie nicht ausreichend schützen“, erklärte Kurt.
Emelie nippte mittlerweile etwas lustlos an ihrer Tasse. Das war sie also, die Ortenau. Angeblich war das benachbarte Kehl sogar die Stadt mit deutschlandweit einer der höchsten Kriminalitätsraten, zumindest was Einbrüche und Diebstähle betraf. Eines Fallanalytikers bedurfte es auch dort wahrlich nicht. Das Morddezernat war unterbeschäftigt und zeitweise nur noch dazu da, die anderen Abteilungen zu entlasten. Frustrierend.
„Gutenberg“, tönte es plötzlich vom anderen Ende des Großraumbüros aus dem Büro des Chefs. Stehle hatte die Angewohnheit, sie grundsätzlich mit dem Nachnamen anzusprechen – geschlechtslos. Vermutlich fiel es ihm dann leichter, sie als Autoritätsperson in der Abteilung zu verkaufen. Gottlob wussten nur Kurt und Stehle aus ihrer Personalakte, dass sie die Tochter von Robert Wojciechowski war. Es war die Idee ihrer Eltern gewesen, eine Gesetzesänderung in den Neunzigern im Namensrecht zu nutzen, wonach ein Kind auch den Nachnamen der Mutter annehmen konnte. Einen polnischen Familiennamen wie Wojciechowski konnte sich eh kein Mensch merken, geschweige denn schreiben. Allerdings hätte eine Namensgleichheit Raum für Spekulation geschaffen, die Stelle nur bekommen zu haben, weil ihr Vater an gewissen Fäden gezogen hatte.
Emelie blickte fragend in die Runde, weil Stehle erneut nach ihr rief.
Karl, einer der Kollegen, der eigentlich immer über alles Bescheid wusste, zuckte ratlos mit den Schultern.
Ende des Briefings. Im Prinzip konnte sie sich angesichts der Auftragslage den Tag auch gleich freinehmen, um sich erneut auf Wohnungssuche zu begeben, doch da täuschte sie sich. Emelie kannte ihren Chef mittlerweile gut genug, um sein Verhalten richtig zu deuten. Immer wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab, schien er regelrecht unter Strom zu stehen. Sonst wirkte er wie der gemütliche Wirt eines Weinlokals. Was er ihr einschenken würde, darauf war sie gespannt.
„Morgen. Es gibt Arbeit … Ich meine richtige Arbeit“, fing er an, weil ihm ihre Frustration in Sachen Mordfälle, die ihre speziellen Fähigkeiten erforderten, natürlich nicht verborgen geblieben war.
Nicht dass Emelie sich einen Anstieg der Gewaltverbrechen in ihrem Einsatzgebiet wünschte, aber „Arbeit“ klang danach und sie hätte endlich die Gelegenheit, sich nicht nur mit ihrem Diplom zu schmücken.
„Heiner hat sich gerade gemeldet. Es geht um einen Robert Schacher. Finanzmensch. Hat Anlagen verkauft. Seine Putzfrau hat ihn heute Morgen tot aufgefunden.“
„Gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?“ Emelies Motor sprang sofort an.
Warum um alles in der Welt druckste Stehle nun herum?
„Das würde ich so nicht sagen. Er hat eine Plastiktüte über seinem Kopf und sitzt nackt gefesselt auf einem Stuhl im Keller.“
„Autoerotischer Unfall?“, schlussfolgerte Emelie ad hoc.
„Es scheint so, aber Heiner ist sich nicht sicher. Schauen Sie sich das mal besser an.“
Obwohl sich der Fall Schacher an sich nicht spektakulär anhörte und schon per Ferndiagnose ein tragischer Unfall auf der Hand lag, freute sich Emelie auf den Einsatz, trotz der makabren Umstände. Alles in allem ja doch ein guter „Morje“.
***
Jemand, der das Schwert führte, musste unerkannt bleiben, weil es sonst stumpf wurde. Man durfte sich aber nicht gänzlich in die Welt des Schwertes begeben. Sein Halter musste stets wachsam sein. ER verband die Welt des Schwertes mit der anderen Welt, in der es wirkte. Es galt dabei, die eigenen Sinne zu schärfen, genau wie die Klinge des Schwertes. Voll anwesend und doch nicht da zu sein. Um das ging es. Es fiel IHM jedoch schwer, weil ER selbst am liebsten schon in der Welt des Schwertes wäre, aber das Schwert erlaubte es nicht. Die Aufgabe drängte, ließ kein Abweichen zu, weil der Schmerz immer noch zu groß war, um sich vom Schwert loszusagen.
„Na, was lieste?“
Die vertraute Stimme des Kollegen riss IHN abrupt aus SEINEN Überlegungen. Warum wurde ER das immer wieder gefragt, als ob es verwerflich wäre, in der Mittagspause zu lesen. Es ging SEINEN Kollegen nichts an. Rein gar nichts. Dass ER las, würde aber niemandem merkwürdig vorkommen. Was ER las, hingegen schon. Um alte Bäume ging es, die man nicht verpflanzte, weil sie sonst abstarben. Ein Baum war bereits gestorben. ER wusste warum. Den anderen war es egal. Es war ja nur ein Baum gewesen. Sie spekulierten lieber darüber, was ER auf SEINEM Tablet las. ER hatte den Bildschirm mit der Hand bedecken müssen, um sich neugierigen Blicken zu entziehen.
„Er wird wieder irgend so ein Epos lesen. Du kennst ihn doch“, kam von SEINER Kollegin am Nebentisch.
Es war ratsam, sie in ihrer Annahme zu bestätigen. ER nickte daher schulterzuckend, als Eingeständnis SEINES Faibles für historische Geschichten, die ER seit Jahren in dem kleinen Café ums Eck las, in dem sie alle saßen, die Heuchler, die gar keine Schwerter führten, obwohl sie Ritter spielten. Hoffentlich setzte sie sich nicht zu IHM. Sie wollte IHN. Ihre Blicke waren eindeutig, schon seit Monaten, aber ER wollte sie nicht. Es wäre jedoch unhöflich, den Flirt nicht weiterzuführen. Man würde sich sonst fragen, was mit IHM los war. Das durfte nicht geschehen, denn wer das Schwert führte, musste unter allen Umständen verhindern, als sein Halter erkannt zu werden.
„Ja. Du kennst mich doch“, gab ER deshalb um Leichtigkeit bemüht zurück. Dabei rang ER sich ein hoffentlich glaubhaft wirkendes Lächeln ab. ER befürchtete schon seit geraumer Zeit, dass sich, seitdem ER das Schwert führte, SEINE Stimme verändert hatte, nicht mehr SEINE war. ER sprach daher nur noch wenig, doch das Lächeln, das sie erwiderte, deutete darauf hin, dass niemand Verdacht schöpfte. ER las, genau wie immer. Man verzieh IHM deshalb, dass ER sich wieder dem alten Baum zuwandte, der vor lauter Angst, verpflanzt zu werden, eingegangen war.
„Vielleicht bringt Silke heute ihren Neuen mit“, kam vom Nebentisch.
Sie unterhielten sich schon seit gut zwanzig Minuten darüber, ob Silke mit dem neuen Kollegen eine Beziehung beginnen würde und ob der Grillabend ein guter Rahmen dafür sei – und das, obwohl sie vom Schicksal des alten Baumes wussten! Sie sollten über andere Dinge nachdenken. Das war ihre Aufgabe, doch sie gingen ihr nicht nach.
Das Bild auf dem Tablet zeigte, wie der Baum dalag, leblos. Es war in einem kleinen Raum passiert. Die Schränke waren vollgestopft mit Büchern, Fotoalben und alten Schallplatten. In Vitrinen und sogar auf ihnen standen Unmengen von Geschirr und Porzellan. Das Mobiliar war alt. Es schien aus Jahrzehnten zusammengetragen zu sein. An den Wänden hingen vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografien. Einer der Männer darauf trug eine deutsche Uniform. So ähnlich hatte es in der Wohnung SEINER Großmutter ausgesehen. Ab einem gewissen Alter fing man an, seine Erinnerungen zu horten. Man hatte ja nicht mehr so viele Jahre. Sie flogen vorbei und das viel zu schnell. Es war ein Festhalten am eigenen Leben, aus dem man dann brutal gerissen werden sollte.
Man verpflanzte keine alten Bäume. Es tat IHM so leid und ER wusste, warum die Frau nun reglos dalag. Wie ein gefällter Baum, mit verdorrten Ästen, im Gesicht gezeichnet von vielen Jahren, ihr Hals stranguliert. Derjenige, der den Baum gefällt hatte, machte weiter, getrieben von dem, was alle antrieb. Kahlschlag! Was er bereits hatte, reichte ihm nicht. Unaufhaltsam war die Gier in dieser Welt, nicht aber in der Welt des Schwertes.
Kapitel 2
Jetzt
Im Einsatz blieb Emelies Fahrrad an der Kette, obwohl es bei einem nackten Toten mit Tüte über dem Kopf sicher keinen Grund zur Eile gab. Die Zeit, um mit einem Dienstwagen vom Präsidium zum Wohnort des Verstorbenen zu gelangen, nutzte sie, um schon einmal vorweg mit Heiner, der bereits auf ihr Eintreffen wartete, zu telefonieren. Im Prinzip sagte er ihr das Gleiche wie Stehle, was den Fundort der Leiche und die Umstände betraf, doch dabei blieb es nicht.
„Nach dem Einsatz bist du fällig. Flammkuchen in Ittenheim, beim Ochsen. Du bist sowieso schon überfällig“, meinte er bedeutsam und mit hörbarem Schalk im Nacken.
Emelie erinnerte sich daran, ihm das versprochen zu haben, „wenn mal Zeit war“ und als kleines Dankeschön, weil er sich in den ersten Tagen im Dezernat wirklich rührend um sie gekümmert hatte – ohne Hintergedanken, denn Heiner war glücklich verheiratet.
„Warum ausgerechnet heute?“, fragte sie nach.
„Stehle wollte zuerst Kurt mit dem Fall betreuen. Dieser Schacher hatte wohl gute Verbindungen zum Rathaus. Die Sache ist etwas heikel. Stehle will keinen Ärger. Das hast du doch bestimmt schon mitbekommen“, vernahm Emelie durch die Sprechanlage des Dienstwagens.
Stehle hatte vorhin aber anders geklungen. Hielt er sie etwa für zu unerfahren, um mit heikleren Fällen umzugehen? Und was hieß schon heikel? Leiche war Leiche – ob mit Verbindungen zum Rathaus oder nicht.
„Ich hab dich verlangt, weil wir uns nicht sicher sind, ob es ein Unfall war. Stehle hatte keine andere Wahl.“
Obwohl ihr der Appetit auf Flammkuchen augenblicklich vergangen war, hatte sich Heiner den hiermit verdient.
„Also gut. Flammkuchen.“ Sie beendete das Gespräch und parkte wenige Minuten später vor dem Haus, wo Heiner bereits auf sie wartete.
Schon als ihr Heiner die Tür zur postmodernen Behausung der Schachers öffnete, schlug ihr ein nicht gerade appetitanregender modriger Geruch entgegen. Es roch auch leicht nach einer nicht gespülten Toilette.
„Kein schöner Anblick. Wir müssen in den Keller“, meinte Heiner.
Der Geruch intensivierte sich mit jedem Schritt nach unten. Er kam aus einem Raum am Ende des Flurs. Heiners erster Einschätzung nach musste Schacher mindestens seit zehn bis zwölf Stunden tot sein. Verwesung im Anfangsstadium roch anders, eher süßlich, wie faules Obst. Je mehr es in der Nase biss und ätzte, desto weiter war der Verwesungsprozess fortgeschritten. Emelie hatte ihre Fähigkeit, den Todeszeitpunkt förmlich zu riechen, bei den New Yorker Kollegen den Spitznamen „Spürnase“ eingebracht. Es war heute aber eher der Geruch von Fäkalien und Urin, der ihr in die Nase kroch.
Das optische Erscheinungsbild des Toten und das, was er nach seinem Tod ausgeschieden hatte, passte zu Emelies Einschätzung, ebenso das vorläufige Urteil der Rechtsmedizinerin, Regina Sander, eine hagere Mittvierzigerin, die so dürr war, dass man glaubte, sie litt an Bulimie.
„Der Tod müsste zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht eingetreten sein“, diagnostizierte Sander, die Emelie bisher nur kurz im Zuge ihrer Vorstellungsrunde im Dezernat kennengelernt hatte.
Angeblich eine der besten mit jahrelanger Tätigkeit für die Gesellschaft für rechtsmedizinische Untersuchungen in Tübingen, doch der Liebe wegen wohnte sie nun in Kork, einem Kaff ganz in der Nähe. Ihr Mann war aus Stehles Verwandtschaft, wie sie von Heiner wusste. Das hatte den Vorteil, sich lange Wege zu ersparen, gleich vor Ort jemanden zurate ziehen zu können und nicht erst auf eine Obduktion in der Pathologie warten zu müssen.
Den Toten schätzte Emelie auf um die vierzig. Eine transparente Tüte, an der kondensierte Wassertropfen hingen, klebte wie eine zweite Haut auf seinem Gesicht. Sie hatte sich so weit in seinen Mundraum gestülpt, dass sie an den restlichen äußeren Hautpartien spannte. Um seinen Hals lag ein Kabelbinder, wie man ihn in jedem Baumarkt bekam. Sein linker Arm hing neben der Lehne, die rechte Hand umklammerte seinen Penis.
„Ich hatte das schon mal. Autoerotischer Unfall. Allerdings hatte sich das Opfer nicht an den Beinen gefesselt“, meinte Sander.
Emelie ging in die Hocke und betrachtete die Fesselung genauer. Sie schnitt nicht in die Haut ein, war jedoch fest. Dann besah sie sich die verknoteten Enden.
„Rein theoretisch könnte er sich auch selbst gefesselt haben“, warf Heiner ein.
Emelie kam zu dem gleichen Schluss. „Aber wieso hat sich der Idiot einen Kabelbinder um den Hals gelegt? Jeder weiß doch, dass man die Dinger nicht mehr aufkriegt“, gab Emelie zu bedenken.
Sander deutete auf eine Nagelschere, die in Griffweite auf einer der Kisten lag und neben der bereits ein Schild mit einer Nummer stand. Eines von vielen für alle Fundstücke, die der wieselgleiche Eisler, seines Zeichens Polizeifotograf, ein junger Kollege mit Borussia Dortmund-Käppi auf dem Haupt, routiniert abknipste.
„Es hat ihn angemacht, sich selbst zu fesseln. Die Fantasie, ausgeliefert zu sein, oder eine Exekutionsfantasie. Ich hatte mal einen, der wollte sich erhängen lassen, von einer Domina. Dummerweise hat sie den Strick so ungeschickt angelegt, dass er sich beim Sprung vom niedrigen Hocker gleich das Genick gebrochen hat“, wusste Sander zu berichten.
Ihre Einschätzung der Umstände, die zu Schachers Tod geführt hatten, war denkbar. Fälle dieser Art hatte Emelie in ihrer Ausbildung analysiert. Es war erstaunlich, welche Praktiken so mach einer im SM-Bereich ausübte und wie weit diese Leute dabei gingen. Bei Erstickungsspielen lag der Kick aber ihrer Kenntnis nach weniger in den Todesfantasien, sondern in einem luststeigernden Effekt, weil das Gehirn bei Sauerstoffmangel einen ganzen Cocktail an Hormonen produzieren ließ, die beim „Bagging“, wie Tütenspiele dieser Art in der US-Literatur hießen, euphorische Zustände verursachten. Viele vertrauten sich keinem Spielpartner an und legten stattdessen die eigene Hand an. Einige komplett von sich selbst dissoziiert und somit in ihrem Kopfkino Opfer und Täter zugleich. Das vor ihr liegende Szenario würde zu diesem Muster passen.
„Er wurde ohnmächtig und hat es nicht mehr geschafft, die Nagelschere zu erreichen“, schlussfolgerte Sander.
Alles soweit stimmig.
„Ich bin fertig. Alles im Kasten“, meinte Eisler und sammelte bereits seine faltbaren nummerierten Tafeln ein, die jedes vermeintliche Beweisstück verpasst bekam.
Er machte auf Emelie einen gehetzten Eindruck, als ob er nur darauf wartete, endlich gehen zu dürfen. Emelie besah sich trotzdem erst einmal den Raum. Auf einer zweiten Kiste lag allerlei an offenkundigen Sextoys herum.
„Ich möchte Aufnahmen von jedem einzelnen dieser Dinger und dann noch von der Position des Seils“, verlangte sie.
Eisler seufzte, griff widerwillig in seine Tasche und zog weitere faltbare Nummerntafeln hervor.
„Borussia spielt heut Abend in Freiburg. Er hat Karten und steht nachher sicher im Stau“, steckte ihr Heiner im Flüsterton.
„Dann hätte er eben Sportfotograf werden sollen“, gab Emelie ebenso leise zurück.
„Ich schicke Ihnen den Bericht noch heute Nachmittag. Ich werde darin vermerken, dass es wahrscheinlich ein autoerotischer Unfall war“, sagte Sander, die es anscheinend auch eilig hatte.
Emelie besah sich die Toys näher und nahm ein verschraubbares Holzgestell mit Metallkontakten an sich.
„Was ist das eigentlich?“, fragte sie an Heiner gerichtet.
„Keine Ahnung. Sieht jedenfalls ganz danach aus, als ob es wehtut. Daumenschraube?“
Sander wusste es besser. „Für die Kronjuwelen. Nennt sich Hodenpresse“, konstatierte sie trocken.
„Sie scheinen sich da ja prima auszukennen“, gab Heiner etwas konsterniert zurück.
„Fünf Jahre Notaufnahme. Was glauben Sie, was ich den Leuten schon alles abmontiert oder rausgezogen habe. Irgendwann fängt man an, im Internet nachzuschauen, was es so alles gibt. Erleichtert das Berichteschreiben. Da braucht man Fachvokabular“, erklärte Sander brottrocken.
Emelie drehte die verschraubbaren Holzstäbe etwas ratlos hin und her.
Heiner nahm ihr das Teil kurzerhand ab und steckte seinen Finger durch eine Öffnung, zwei weitere Finger durch die andere.
Emelie dämmerte nun, wie das Folterwerkzeug funktionierte. Zugleich resultierten daraus Fragen. „Warum hat er sich das nicht angelegt? Und was ist mit dem hier?“ Emelie deutete auf Krokodilklemmen, deren Enden mit einer schweren Kette verbunden waren. Allein beim Gedanken an den möglichen Zweck spürte sie ihre Brustwarzen gegen das T-Shirt reiben.
Sander und Heiner sahen sie etwas ratlos an.
„Er legt alles Mögliche bereit, aber setzt es nicht ein. Würde er das ganze Zeug nicht auch benutzen, wenn er sich schon selbst fesselt?“, fragte sie in die Runde.
Schweigen.
Heiner nickte nachdenklich.
Sander tat es ihm gleich.
„Und warum ist das Seil so lang?“ Emelie ging in die Hocke und besah sich die lose am Boden liegenden Enden.
„Es gibt keine Spuren am Oberkörper und den Armen. Eventuell finde ich Partikel des Materials auf der Haut, wenn ich ihn untersuche“, meinte Sander, die offensichtlich verstanden hatte, worauf Emelie hinauswollte.
„Warum hat er das sein lassen?“, sagte Emelie mehr zu sich.
„Vielleicht war er so geil, dass er auf das Vorspiel verzichtet hat“, überlegte Heiner laut.
Denkbar, aber wenig wahrscheinlich.
„Möglicherweise war er doch nicht allein“, mutmaßte Emelie.
„Wir haben sein Notebook, sein Tablet und das Smartphone“, sagte Heiner.
Emelie hoffte, dass sie darauf Hinweise finden würden.
„Haben wir's jetzt?“, fragte der Borussia-Fan ungeduldig und hielt Emelie die Kamera mit dem riesigen Display hin. Er zappte im Eiltempo durch seine Fotosammlung.
„Ich hoffe, Ihr Team gewinnt“, sagte Emelie, woraufhin er erleichtert nickte und sich verzog.
„Was machen wir jetzt? Unfall? Mord? Ein Dritter und trotzdem ein Unfall?“, fragte Heiner.
„Ich lass das vorläufig in meinem Bericht offen. Stehle wird sich freuen“, kommentierte Sander.
Irgendetwas stimmte nicht, dessen war sich Emelie sicher. Am Ende war der Fall Schacher ihr erster Mordfall in der Ortenau, ob das Stehle nun in den Kram passte oder nicht.
Emelie wunderte es keineswegs, dass Stehle sich bei der Privataudienz in seinem Büro gleich auf den „autoerotischen Unfall“ eingeschossen hatte. Ein kurzer Bericht würde es seiner Meinung nach tun – fertig.
„Was glauben Sie, wie viele Verrückte sich Tüten über den Kopf stülpen? Seit diesem „Shades of Grey“ nichts Ungewöhnliches. Asyphobia ist heutzutage doch schon in“, ließ Stehle verlauten.
„Asphyxie“, berichtigte Emelie ihn, obwohl sie wusste, dass sie damit in seiner Wunde herumstocherte, ihr intellektuell unterlegen zu sein - am Ende schrieb er es noch falsch in den Abschlussbericht und das halbe Dezernat machte sich über ihn lustig.
Der Ärger darüber stand ihm ins Gesicht geschrieben. Akustisch äußerte er sich in einem abfälligen Grunzlaut. Auch der war nichts Neues.
„Er hat keines der anderen Toys benutzt. Sander kennt sich bei SMlern aus. Sie meint, dass die Tüte am Schluss draufkommt, als Höhepunkt.“ Emelie versuchte, es ihm mit einfachen Worten zu erklären. Dass sie ihre eigene Intuition als Sanders Expertise ausgab, war leider unvermeidbar. Stehle glaubte der Rechtsmedizinerin bestimmt eher als dem Küken.
Immerhin geriet er nun ins Grübeln. Das sah man an seiner gerunzelten Stirn, und weil seine Nasenflügel nervös bebten.
„Die anderen Toys erzeugen Lustschmerz. Den will jemand, der wie Schacher veranlagt ist, erst einmal auskosten. Das Erstickungsspiel kann die Erektion verlängern und jede Menge Glückshormone ausschütten, was ihn den Höhepunkt viel intensiver erleben lässt“, setzte Emelie nun etwas fachmännischer nach, weil sie sich diesbezüglich im Internet schlaugemacht hatte.
„Wenn Sie das sagen. Meine Frau kann mir heute Abend ja mal eine Aldi-Tüte überziehen.“
Stehle versuchte wieder einmal, sich mit Stammtischhumor zu retten. Emelie hoffte, dass die Analyse von Schachers Smartphone, seines Tablets oder seines Notebooks weitere Indizien dafür liefern würden, dass es kein Unfall gewesen war.
Das kurze Klopfen an der Tür musste Heiner sein. Er hatte ihr versprochen, dazuzustoßen, sobald die Ergebnisse der Auswertung vorlagen.
Heiner hielt Schachers Handy in der Hand, als er eintrat – ein gutes Zeichen.
„Und?“, fragte Stehle, dem anzumerken war, dass er bereits von einem schnellen Abschluss des Falles träumte.
Heiner legte Schachers Smartphone demonstrativ auf den Tisch, bevor er Platz nahm.
„Sein Tablet und das Notebook sind passwortgeschützt. Sein Handy brauchte seinen Fingerabdruck. Ich war bei Sander und hab das Teil dann gleich entsperrt.“
Emelie nickte beeindruckt. Auf diese Weise arbeitete Schacher oder vielmehr sein Finger post mortem an der Aufklärung seines Falles mit.
„Jetzt rücken Sie schon raus mit der Sprache“, verlangte Stehle ungeduldig.
„Schacher war auf mehreren BDSM-Sexportalen fleißig unterwegs. Auf einem nannte er sich Asphyx3, was für seine mortale Leidenschaft spricht. Er hat sich mit einem Asphyxlover verabredet. Das deutet darauf hin, dass er sich tatsächlich mit jemandem getroffen hat“, führte Heiner aus.
Stehle horchte auf, doch schien sich das nicht sonderlich lange in aller Konsequenz durch den Kopf gehen zu lassen, so schnell, wie er sich dazu äußerte.
„Das heißt noch lange nicht, dass dieser ‚A…Lover' ihn umgebracht hat. Könnte trotzdem ein Unfall gewesen sein“, hielt Stehle fest, womit er Emelies Einschätzung nach nicht ganz unrecht hatte.
„Haben wir ihn? Die Provider müssen ja die Daten rausrücken“, wollte Stehle dann wissen.
„Fehlanzeige. Ich hab das Portal kontaktiert. Sein Spielpartner hat sich anonym eingeloggt, mal über einen Server in England, mal aus Holland und zuletzt aus Italien“, führte Heiner aus.
„Dann hatte er einen guten Grund dafür“, merkte Emelie an. Wer nur an Sex dieser Art interessiert war, der hatte ihrer Ansicht nach keine Anonymisierung nötig. Das passwortgeschützte Portal und ein Pseudonym boten ausreichend Schutz.
„Sein Profil existiert auch noch nicht so lange“, fuhr Heiner fort.
„Er hat es also nur angelegt, um Schacher zu treffen“, mutmaßte Emelie.
Angesichts dieser deutlichen Hinweise blieb Stehle hoffentlich nichts anderes übrig, als den Fall nun doch komplexer zu erachten, als es ihm lieb war.
„Also gut. Bleiben Sie dran!“, sagte er und nicht einmal die Spur widerwillig.
„Ich fürchte, wir müssen mit den Franzosen zusammenarbeiten“, deutete Heiner etwas kleinlaut an.
Stehle sah ihn nicht nur leidend, sondern zugleich fragend an. Emelie wusste, dass er grenzüberschreitende Ermittlungen nicht sonderlich schätzte. Zu viel Papierkram und Koordination – seine Worte.
Heiner zog daraufhin ein weiteres in Folie eingetütetes Beweisstück aus seiner Jacketttasche und legte es auf den Tisch. „Ne Straßburger Schwulenbar. Wir nehmen an, dass der Typ es verloren haben muss, mit dem sich Schacher verabredet hat. Das Teil lag neben einer der Kisten, Schachers Kleidung auf ner Kiste gegenüber. Das Etui muss entweder Schacher oder seinem Spielpartner aus der Tasche gefallen sein, als er sich ausgezogen hat.“
Emelie warf Heiner einen anerkennenden Blick zu. Gute Arbeit!
Stehle sah nicht so aus, als ob er sich darüber freuen würde.
Emelie fragte sich, warum er sich nicht versetzen ließ. Er war immerhin Chef des Dezernats und schien sich vor jedem Mordfall zu drücken. Vermutlich aus Bequemlichkeit oder er war berufsmüde und zählte die Jahre bis zu seiner Rente.
„Ich kontaktiere die Kollegen“, versicherte Stehle.
„Und Sie …? Können Sie überhaupt Französisch … Ich meine, abgesehen von dem bisschen an der Schule?“, fragte er an Emelie gewandt.
„Comme ma langue maternelle“, gab sie keck zurück. Dabei übertrieb sie maßlos, denn wie eine Muttersprachlerin beherrschte sie die Sprache nicht. Wer jedoch mehrfach am deutsch-französischen Schüleraustausch in den Ferien teilgenommen hatte, der hatte mehr als nur „ein bisschen Schule“ auf dem Kasten.
Stehle nickte schmunzelnd, was so viel heißen sollte wie „Hätte ich mir ja denken können, dass die Überfliegerin einfach alles kann.“
Der erste internationale Einsatz. Emelie freute sich darauf.
Zuvor
Es war schön, Familie zu haben, auch wenn es mit der Gründung einer eigenen nicht geklappt hatte. Roman freute sich auf den Besuch bei Peter, seinem Bruder. Der hatte mehr Glück im Leben gehabt: tolle Frau und einen Vorzeigejungen, den siebenjährigen Tobias, dem Roman zwar kein Vater, aber dafür ein Vorzeigeonkel sein konnte. Es war ihm oft genug passiert, dass Tobias ihn mit Papa angesprochen hatte. Das war kein Wunder, denn Peter und er sahen sich ähnlich, obwohl sie keine eineiigen Zwillinge waren und unterschiedliche Familiennamen trugen, weil Peter den Namen von Karin angenommen hatte. Der eine hieß Fitz, der andere Helmer. Nach dem Tod seiner Frau hatte Roman sogar darüber nachgedacht, Peter und Karin sein Haus zu überlassen. Es war viel zu groß für einen allein gewesen, aber Peter hatte das nicht gewollt. Ihn plagten offenkundig die gleichen Erinnerungen an Marianne, seine verstorbene Schwägerin. Die Offenburger Wohnung seines Bruders war jedoch für drei zu klein, kaum größer als Romans Wohnung, die er vom Erlös des Hausverkaufs erworben hatte, wenngleich sehr zentral gelegen. Nun wollten sie selbst in der Nähe bauen, weil Tobias' Schule gleich ums Eck lag und alle Einkaufsmöglichkeiten nur einen Steinwurf entfernt. Entgegen Peters ausdrücklichem Verbot kaufte Roman vor jedem Besuch im Einkaufszentrum am Ende der Straße etwas für den Kleinen, und wenn es nur Süßigkeiten waren. Und wie sich Tobias jedes Mal darüber freute. Er schien einen siebten Sinn dafür zu haben, wenn sein Onkel nach der Arbeit vorbeikam. Warum sonst schoss er ihm an der Wohnungstür als Erster entgegen?
„Papa. Onkel Roman ist da“, rief er ins angrenzende Wohnzimmer und ließ sich erst einmal kräftig umarmen.
Tobias sah ihm ähnlich - ganz der Onkel. Roman hing an ihm, als ob er sein eigenes Kind wäre. Es tat gut, wieder hier zu sein, obwohl Karin das heutige Geschenk mit einem eher missmutigen Blick kommentierte. Auch aus ihrer Sicht verwöhnte er den Jungen zu sehr. Dass sich Tobias über die Ergänzung seiner Harry Potter-Videospielsammlung wie Bolle freute, rang ihr zunächst einen Seufzer, dann ein Lächeln und schließlich eine herzliche Umarmung zur Begrüßung ab.
„Kommst du mit? Angriff der Dementoren …“ Schon zerrte der Kleine an seiner Hand, doch Karin grätschte dazwischen.
„Du machst erst deine Hausaufgaben fertig. Wir essen in einer halben Stunde.“
Tobias stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Er trollte sich trotzdem.
„Du bleibst doch zum Abendessen?“, wollte Karin wissen.
Eigentlich eine rhetorische Frage, weil er ja fast immer zum Essen blieb. Was hatte Peter nur für ein Glück, so eine großartige Frau zu haben. Sie sah auch noch verdammt gut aus. Dunkelblondes langes Haar und die schönsten braunen Augen, die man sich denken konnte - ein helles Braun. Ein Wesen voller Anmut, sanft und doch so viel Energie in sich. Halbtags Steuerkanzlei, nach der Arbeit ganz für die Familie da – das verdiente höchste Anerkennung. Roman musste sie wohl einen Tick zu lange verträumt angesehen haben.
„Was ist?“, fragte sie irritiert.
„Ach nichts“, wiegelte er ab. Hoffentlich schob sie seinen verklärten Blick nur auf die Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag im Büro.
„Soll ich dir helfen?“, fragte Roman und deutete dabei in Richtung Küche.
„Untersteh dich.“ Und weg war sie.
Normalerweise begrüßte ihn Peter noch in der Diele oder rief zumindest „Hallo Bruderherz“ aus irgendeinem der Zimmer. Tat er es nicht, schaute er Nachrichten oder war nicht sonderlich gut drauf. Der Fernseher lief nicht, also eher Letzteres. Und wenn er vor seinem Aquarium saß und auf die Fische starrte, dann war dies äußerst beunruhigend. Diese Phase kannte Roman bereits. Das war in der Zeit gewesen, bevor Peter nach einem Burn-out in seinem alten Finanzjob hatte Tabletten nehmen müssen, um seine Depressionen in den Griff zu bekommen.
„Zählst du wieder Fische“, kam Roman gleich zum Punkt, als er das Wohnzimmer betrat.
Sein Bruder sah zu ihm hoch und lächelte ertappt.
„Nichts ist beruhigender“, sagte Peter trocken, bevor er sich von seinem ledernen Lesesessel erhob und zu einer Anrichte mit Gläsern und Alkoholika ging.
„Was magst du?“, fragte sein Bruder.
„Blubberwasser oder ne Cola“, sagte Roman. Dann machte er es sich auf der Couch bequem. Vor ihm lagen die Tageszeitung und eine herausgerissene Seite. Auch so eine Eigenart seines Bruders. Seit der Pleite dieser verfluchten Firma interessierte er sich für jedwede Ungerechtigkeit, die um ihn herum passierte. Vielleicht, um sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er nicht der Einzige war, der die A-Karte im Leben gezogen hatte, oder weil sie beide einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit hatten, obwohl das Leben alles andere als gerecht war. Auch Roman hatte diese Lektion bereits gelernt. Was stieß Peter diesmal auf? Neugierig überflog Roman den Artikel: „Immobilienspekulant setzt langjährige Mieter auf die Straße“. Nichts Neues. Das passierte doch ständig.
„Du solltest so ein Zeug nicht lesen“, kommentierte Roman.
„Was?“, fragte Peter und ging zur kleinen Kammer im Flur, wo die Getränkekisten standen.
„Diese Artikel. Die ziehen einen doch nur runter“, rief er ihm hinterher.
„Ich hoffe, die kommen mit der Klage durch. Dieses Arschloch“, wetterte Peter, der mit einer Cola zurückkam und sie ihm zusammen mit einem Glas von der Anrichte reichte.
„Du regst dich schon wieder auf.“
„Na und? Du etwa nicht?“, gab sein Bruder zurück.
„Ohne Frage, aber das Leben hat doch auch schöne Seiten“, sagte Roman, obwohl er sich in dem Moment überlegte, dass er diese eigentlich an einer Hand abzählen konnte. Hier zu sein, gehörte auf alle Fälle schon mal dazu.
„Wunschlos glücklich?“, kam es überraschend von Peter, der erneut zur Anrichte mit Gläsern und alkoholischen Getränken ging, während Roman sich von der Cola einschenkte.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Die Polizistin.“
Erst jetzt erinnerte sich Roman daran, dass er Peter beiläufig am Telefon von seiner morgendlichen Begegnung erzählt hatte.
„Wurde ja auch Zeit“, gab ihm sein Bruder zu verstehen.
„Jetzt mach aber mal einen Punkt. Ich kenne die Frau ja noch gar nicht.“
„Aber du interessierst dich für sie“, stellte Peter treffsicher fest.
Seinem Bruder entging nichts und er zog stets die richtigen Schlüsse. Sie waren sich einfach zu ähnlich.
Peter griff zum Whisky und schenkte sich kräftig ein.
„Du solltest nicht wieder damit anfangen“, bedeutete Roman ihm.
Sein Bruder lachte. Das war beängstigend, denn dieses abrupte Wechselspiel aus „down“ und „up“, klassische Symptome einer manischen Depression, kannte er. Peters aufgesetztes Lächeln leider auch.
„Die Konkurssache“, meinte Peter gespielt lapidar.
Roman wusste sofort Bescheid. Sein Bruder hatte sich dazu vor etwas mehr als drei Monaten dazu verleiten lassen, Geschäftsführer einer Firma zu spielen, die Gadgets für große Unternehmen herstellte, von Firmenschildern über Werbegeschenke. Hatte nach dem großen Geld gerochen und angeblich krisensicher, weil die Industrie solche Dinge immer benötigen würde. Dummerweise war die GmbH schon seit Jahren pleite gewesen, was man ihm unter Vorlage gefälschter Zahlen verschwiegen hatte.
„Die haben mich so was von reingelegt und jetzt darf ich bluten“, sagte Peter und ließ sich kraftlos mit seinem Whiskyglas in der Hand zurück auf den Sessel bei den Fischen fallen.
„Die Berufung läuft doch noch.“ Roman versuchte, seinen Bruder aufzubauen.
„Wegen Formfehler. Das ändert aber nichts an der Sachlage.“
Peter gab sich weiterhin pessimistisch, wie schon die Wochen zuvor, seitdem der Insolvenzverwalter vorstellig geworden war und nun versuchte, ihn in die Pfanne zu hauen - ungerechtfertigterweise, denn er wusste, dass die Bilanzen gefälscht waren. Es war zum Kotzen.
„Weiß Karin schon …?“, fragte Roman leise an.
„Nicht alles. Sie freut sich doch so auf das neue Haus“, rechtfertigte Peter sich.
„Jetzt warte doch einfach mal ab.“ Am liebsten hätte Roman ihm noch geraten, wieder seinen Therapeuten aufzusuchen. Er hätte die Tabletten nicht absetzen sollen. Und warum um alles in der Welt hatte er die Kur nicht durchgezogen? Stattdessen in einer Zeitarbeitsfirma im Finanzwesen als Buchhalter „on demand“ weitergeklotzt, damit nach der Firmenpleite Geld für die Familie reinkam. Warum hatte er zuvor auch ausgerechnet in einer Firma, in der man jeden Tag Aufträgen hinterherlaufen musste – von wegen krisensicher -, als Geschäftsführer Chef spielen wollen. Stressiger war nur ein Job an der Börse. Romans Haus hatte er seinerzeit ja nicht gewollt. Er hätte es ihm für einen Apfel und ein Ei überlassen und ihre Wohnung genommen. So ein sturer Bock.
„Ich schenk mir auch einen ein“, sagte Roman, denn Peters niedergeschlagene Stimmung war ansteckend. Ein Whisky leerte das Hirn und lähmte es zugleich. Es war besser so, damit Karin nichts mitbekam.
Roman stand auf, ging zur Anrichte und füllte das Glas Cola mit Whisky auf.
„Für mich auch noch einen“, verlangte Peter.
Roman nickte. Was tat man nicht alles für die Familie. Peter konnte er sowieso keinen Wunsch abschlagen. Verdammt, er war sein Bruder.
Kapitel 3
Jetzt
Es fühlte sich an wie ein Blind Date. Die Stimme von Yan Leblanc kannte Emelie ja bereits vom Telefon. Sie war sonor und tief. Aufgrund seiner beruflichen Position bei der französischen Polizei schätzte Emelie ihn auf Mitte vierzig oder noch einen Tick älter. Beschreiben hatte er sich nicht wollen, weil er wisse, wie sie aussehe, und sie an ihrem Treffpunkt vor dem Straßburger Münster ansprechen würde. Angeblich habe er sie auf einer Facebook-Seite entdeckt. Der Mann musste gut sein, denn es gab nur wenige Aufnahmen von ihr im Netz. Eine holländische Kollegin hatte auf Facebook Fotos von der Abschlussfeier ihres Profiler-Jahrgangs eingestellt. Yan hatte sich also eingehend über sie informiert und dann Facebook nach den Absolventen der Akademie abgegrast. Respekt. Natürlich hatte sie auch nach ihm im Netz gesucht – jedoch ohne Erfolg. Emelie mochte es nicht, wenn ihr jemand um eine Nasenlänge voraus war, und schon gar nicht, wenn man auf dem Vorplatz zum Straßburger Münster dastand wie bestellt und nicht abgeholt. Fehlte nur noch die Rose als Erkennungszeichen. Dementsprechend streiften sie neugierige Blicke von überwiegend männlichen Passanten. Emelie vertrieb sich die Zeit damit, die sakralen Figuren über dem Eingangsportal der Kathedrale eingehend zu besehen, auch wenn sie sie bereits seit ihrer Kindheit kannte. Wenigstens hielt man sie dann für eine Touristin.
„Unser Münster ist wunderschön, nicht wahr?“
Die Stimme erkannte sie. Die dazu gehörige Erscheinung verblüffte sie. Eine französische Version von Adonis stand unvermittelt vor ihr. Das musste Yan sein. Offenkundig ein Athlet. Zwei Popeye-Bizepse, die aus dem Polo hervorlugten, waren nicht zu übersehen. Dazu kamen hinreißend blaue Augen eines Mannes, der höchstens Mitte dreißig war. Er musste ihre Verblüffung, die der anderen Erwartungshaltung entsprang, missinterpretieren, weil er sie wie ein Womanizer selbstgefällig angrinste. Dem Mann liefen sie sicher nach.
„Emelie Gutenberg. Enchanté.“ Ganz sachlich und formell reichte sie ihm die Hand.
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, erwiderte er.
Die Kombination aus sonorer Stimme mit seinem französischen Akzent war schier unwiderstehlich. Und dann noch dieser flirtende Blick, einen Tick zu lang und vor allem zu siegessicher, was sein souveränes Dauerlächeln untermalte. War er nun Polizist oder Gigolo? Gegen diese Art von Mann war Emelie allergisch. Am besten, sie zog ihm den Zahn sofort. „Kennen Sie La Taverne?“, fragte sie, um gleich zur Sache zu kommen. Sie waren schließlich zur Visite in diesem Schwulenklub verabredet.
„Ja, liegt in der Altstadt, aber ein bisschen versteckt. Ich war da mal mit Freunden.“
Eine Steilvorlage für Emelie, um den Charmeur etwas einzubremsen. Sie musterte ihn eingehend, was ihn erstaunlicherweise zu verunsichern schien, dann seufzte sie. „Die attraktivsten Männer sind …“ Weiter kam sie nicht.
„Nein … bin ich nicht.“
Yan reagierte wie auf Knopfdruck – schön!
„Ach?“, setzte Emelie überrascht nach. Das brachte ihn von der Rolle. Vermutlich überlegte er gerade, warum sein Siegerlächeln nicht sonderlich gut bei ihr angekommen war.
„Noch nie … echt?“ Emelie geriet in Spiellaune.
„Doch … ein Dreier … und?“
Yan bekam offenbar wieder Oberwasser und gab ihr nun das Gefühl der verklemmten Deutschen.
„Oh“, brachte Emelie gerade noch heraus, aber immerhin lächelte sie dabei souverän. „Wollen wir?“, ergänzte sie und deutete in Richtung der Altstadt.
„Am Fluss entlang? Ist eine schöne Strecke“, schlug er vor.
„Ein Flic mit einer romantischen Ader?“, wunderte Emelie sich laut.
„Das brauche ich für mein seelisches Gleichgewicht“, erwiderte Yan.
Schlagfertig war er ja und die ironische Würze, die er nun an den Tag legte, bewies, dass die Fronten nun klar abgesteckt waren. Ein wenig Romantik kurz vor dem Besuch dieser Bar konnte zudem nichts schaden – fürs „seelische Gleichgewicht“, wie er das so schön genannt hatte.
Zuvor
Der Abend bei der Familie seines Bruders unterschied sich nicht von allen anderen und genau das empfand Roman als im höchsten Maße beunruhigend. Peter spielte seine Rolle als Familienvater und Alleinunterhalter nahezu perfekt. Roman wusste, dass er sich schon beim gemeinsamen Abendessen zusammengerissen hatte, um sich ja nichts anmerken zu lassen. Er hatte für seine Verhältnisse zu viel geredet – über Belangloses, was sonst gar nicht seine Art war. Anscheinend hatte Peter den gesamten Baumarkt-Katalog parat und eine Idee nach der anderen heruntergerattert, was er alles im neuen Garten für Tobias aufbauen könnte. Auch einen Hund würde er dann bekommen. Der Kleine war dabei so aufgeblüht, dass er kaum noch ins Bett zu kriegen war – diesmal nur von Papa, der an diesem Abend angesichts so vieler Verheißungen ausnahmsweise gefragter war als sein Onkel.
Kaum hatten sich die beiden ins Kinderzimmer verzogen, schlug Karins gute Miene zum bösen Spiel in Betroffenheit um. Kummer sprach aus ihren Augen. Roman musste gar nicht mehr nachfragen, nachdem sich ihre betretenen Blicke gekreuzt hatten.
Er merkte seiner Schwägerin an, dass sie um die richtigen Worte rang.
„Er macht mir Angst, wenn er so drauf ist“, sagte sie im Flüsterton.
Karin hatte sichtlich Mühe, zu sprechen. Mit „so“ meinte sie sicherlich „manisch“. Genau das war es doch. Roman nickte nur, denn ihm ging es genauso.
„Wie vor einem Jahr … Manchmal sitzen wir zusammen und er sagt kein einziges Wort. Er rechtfertigt es damit, dass er müde ist von der Arbeit und ich mir keine Sorgen machen soll.“ Dann sah sie Roman direkt in die Augen. „Es ist wegen der Konkurssache. Hab ich recht? Er erzählt mir ja kaum noch etwas.“
Roman holte tief Luft und nickte erneut.
„Jetzt sag schon … Kommt er aus der Sache raus?“, wollte Karin wissen.
Er musste gottlob nicht lügen, denn der Ausgang der Berufung war ja noch ungewiss. „Die Chancen stehen nicht schlecht. Soviel ich weiß, wurden einige Aussagen bei der ersten Verhandlung bisher nicht berücksichtigt. Meistens läuft es sowieso auf einen Vergleich mit den Gläubigern heraus.“ Roman bereute augenblicklich, dass er sich zu dieser Bemerkung hatte hinreißen lassen.
„Vergleich? Dann sind wir auch pleite“, erwiderte Karin prompt.
Einer Steuerfachangestellten brauchte man so etwas nicht aufzutischen, um Trost zu spenden.
„Aber … es gibt Schlimmeres … Wir haben ja uns … zumindest dachte ich das immer, doch … Ich habe ihn schon einmal fast verloren, in meinem Herzen. Er ist so aggressiv. Letzte Woche kam er erst spät nachts nach Hause. Er hatte wieder getrunken und manchmal redet er so wirres Zeug“, offenbarte sie.
„Was?“, wollte Roman wissen.
„Das ganze Leben … alles sei beschissen und warum überhaupt weitermachen …“, sagte Karin mittlerweile so fertig, dass sie ihr Weinglas nicht mehr ruhig an den Mund führen konnte.
„Es wird alles gut.“ Was sollte Roman ihr sonst sagen? Dass er seinen Bruder inzwischen für einen schlafenden Vulkan hielt, der jeden Moment wieder ausbrechen könnte? Schlägereien am Arbeitsplatz? Die Küche aus Wut ramponieren? Alles schon erlebt.
„Du redest schon wie Peter … Alles wird gut … Aber was wundert mich das. Ihr seid ja aus einem Holz geschnitzt“, stellte Karin bitter fest.
Damit hatte sie recht. Und selbst Peters Zustände purer Niedergeschlagenheit konnte Roman nur allzu gut nachvollziehen. Spätestens nach dem Tod seiner Frau kannte er diese Mischung aus Wut und Verzweiflung, doch er hatte sich zusammengerissen, vielleicht aber auch nur, weil Peter ihn gebraucht hatte und er ihn nicht auch noch hatte verlieren wollen. Weitere Überlegungen darüber verloren sich, weil sein Bruder aus dem Kinderzimmer zurückkam und sich wieder zu ihnen gesellte.
Karin leerte gleich ihr Glas und riss sich sichtlich zusammen.
Roman hatte das Gefühl, dass Peter sie misstrauisch musterte. Sein Bruder hatte einen ausgeprägten Spürsinn für Stimmungen. Da konnten Roman und Karin sich noch so sehr verstellen oder Gutlaunigkeit mimen. Er ging daher lieber gleich in die Offensive. „Wir haben gerade über dich gesprochen“, sagte er deshalb an Peter gewandt.
Karin atmete dankbar auf, weil sie bestimmt ebenfalls bemerkt hatte, dass es in ihrem Mann bis eben rumort hatte.
„Ich hab Karin grad gefragt, ob sie was dagegen hätte, wenn wir mal wieder rausfahren … zur Hütte. Nur du und ich … Würde mir im Moment guttun und dir sicher auch. Was sagst du?“
Peter musste nicht lange überlegen. Roman wusste, dass er ihre Ausflüge in die Natur genoss.
Er nickte.
Karin schien nun eine noch viel größere Last von den Schultern gefallen zu sein. Ihr Lächeln wirkte nun unverkrampft und weniger maskenhaft als kurz zuvor.
Jetzt
Was für ein harmloser Name: La Taverne. Man dachte unwillkürlich an ein gemütliches Weinlokal, von denen es in der Straßburger Altstadt mehr als genug gab, und in der Tat sah es auf den ersten Blick danach aus, auch wenn weibliches Publikum fehlte. Gays aller Couleur, die Emelie zwischen dreißig und Mitte fünfzig schätzte, saßen gesellig an Bistrotischen oder an der Bar. Yan hatte ihr auf dem Weg quer durch Petit France, der malerischen Altstadt Straßburgs, jedoch gesteckt, dass es Neben- und Kellerräume gebe, in denen es zur Sache gehe, wie er von einer der Razzien wisse. Gelegentlich würden sich junge Stricher unter das Volk mischen. Weitere Nachfragen hatte sich Emelie mangels Interesse erspart. Dass Yan aufgrund seines attraktiven Äußeren in der Männerwelt gut ankam, hatte Emelie eine neuartige Erfahrung beschert. Kein einziger Mann hatte ihr Beachtung geschenkt, als sie hineingegangen waren. Das änderte sich jedoch schlagartig, als Emelie sich an die Bar begab, um nach dem Herrn auf dem Foto – eines von Schachers ausgedruckten Selfies von seinem Smartphone – zu fragen. Beachtung ja, aber zunächst machte niemand den Mund auf. Wozu doch eine Polizeimarke gut war. Sie wirkte.
„Kenn ich nicht“, hieß es vom tätowierten Barmann mit Vollbart, der angeblich alle kannte. Ihm gehörte der Laden.
„Noch nie gesehen“, kam kurz angebunden von der Bedienung.
„Wann war hier eigentlich die letzte Razzia?“, fragte Yan eher beiläufig, aber so laut, damit der Wirt es garantiert nicht überhören konnte.
Das führte prompt zu einem zweiten und viel genaueren Blick auf das Foto, jedoch blieb es selbst nach nochmaliger und gründlicherer Betrachtung dabei: Der Barmann kannte Schacher nicht, auch nicht einer der älteren Stammgäste, ein vollbärtiges Bärchen in Leder, der sich neugierig geworden zu ihnen an die Bar gesellt und auf Nachfrage des Barmanns ebenfalls einen Blick darauf geworfen hatte.
Das versöhnliche Bier, das der Tätowierte ihnen dann spendierte, wollte Emelie dienstlich genießen, indem sie sich vom Bartresen aus ein genaueres Bild der Klientel verschaffte. Schacher passte da definitiv nicht rein, noch nicht einmal in gedachten Lederklamotten oder sonstigen Fummeln, die hier getragen wurden.
„Ich glaub sowieso nicht, dass er sich hier herumgetrieben hat. Wozu dann das Internet? Ich meine, gerade bei solchen Vorlieben, da ist man doch eher um Diskretion bemüht“, fragte Emelie Yan, der neben ihr Platz genommen hatte und es glatt fertigbrachte, mit einem der jüngeren Männer, ein in Leder gepacktes Muskeltier, mit Blicken zu flirten. Dachte er am Ende an seinen „Dreier“?
Yan bejahte ihre Frage, indem er nickte.
Er schien also trotzdem noch voll bei der Sache zu sein.
„Vielleicht war er ja nur einmal hier gewesen und hat die Streichhölzer mitgenommen. Die können sich unmöglich an jedes Gesicht erinnern“, überlegte Yan laut, was Emelie unmittelbar einleuchtete.
„Außerdem war Schacher Raucher“, fügte Yan noch hinzu.
Der Mann hatte seine Hausaufgaben gemacht. „Woher wissen Sie das?“ Hatte er etwa schon den Bericht von Sander zugespielt bekommen? Untersuchte die neuerdings auch, ob jemand eine Raucherlunge hatte? Unwahrscheinlich.
„Facebook. Hat auf einer Feier ne Kippe in der Hand“, erklärte Yan.
„Sie stehen wohl auf Facebook? Kontakte knüpfen …, sich zeigen … Bestimmt viele Fotos mit nacktem Oberkörper.“ Emelie feixte, als sie das sagte.
Yan nahm es glatt als Kompliment. Wenn er doch wenigstens mit den Zähnen geknirscht hätte. Fehlanzeige. Andererseits machte ihn seine souveräne Art sympathisch.
„Wir sollten uns trotzdem noch in den anderen Bars umhören. Die sind ja alle in der Nähe“, verlangte Emelie, woraufhin Yan brav nickte, sein Bier austrank und ihr dann zum Ausgang folgte.
Wie groß war die Enttäuschung bei dem Mann, der Yan bis vor wenigen Momenten noch mit Blicken fast ausgezogen hatte.
„Er muss ihn ja nicht gleich umgebracht haben … Vielleicht war es ja wirklich nur ein Unfall und der Typ hat Panik bekommen. Ich meine, wer hätte ihm das geglaubt?“
Yans Theorie, die er auf dem Weg zur nächsten Bar geäußert hatte, war ebenso wenig von der Hand zu weisen. „Unterlassene Hilfeleistung“, gab sie zurück.
„Sie wollen unbedingt Ihren Fall“, sagte Yan.
Das überraschte Emelie allerdings. „Wie kommen Sie darauf?“ Sie wollte wissen, ob er am Ende mit Stehle unter einer Decke steckte.
„Jahrgangsbeste, dann die Profiler-Ausbildung in den USA und seit Sie in Offenburg arbeiten keine einzige Leiche, jedenfalls keine, die eines unnatürlichen Todes starb. Also, ich würde ja darauf brennen.“
Yan sagte das auch noch so charmant, dass Emelie ihm sein süffisantes Grinsen nicht einmal übel nehmen konnte. Ganz im Gegenteil. Der Mann wurde ihr immer sympathischer, obwohl er beim besten Willen nicht ihrem Beuteraster entsprach.
Auf zur nächsten Bar, auch wenn Emelie sich nach dem Bier schon an den Gedanken gewöhnte, dass es vielleicht doch nur ein Unfall gewesen war.
***
Wie zufrieden sie doch waren, wenn sie aus den Boutiquen und Warenhäusern quollen wie die Lemminge, die bunten Plastiktüten vollgestopft, vom Konsumrausch beflügelt. Wie ein Tsunami, der einem entgegenrollte. Man konnte ihm nicht ausweichen. Sie berührten einen, rempelten, schauten nicht auf den Weg. Wohin noch schreiten, wenn sich so viele Füße die Steinplatten der Fußgängerzone teilten? Sie wollten immer mehr, denn Mehr versprach Glück. Es waren so viele nichtssagende Stimmen. Sie redeten Worthülsen, ohne Sinn, Zweck oder Ziel. Wo es die schickste Boutique gebe, war wichtig. Was sie heute Abend nach welchen Rezepten kochten. Welcher Lippenstift sich besonders gut auftragen lasse. Welche Kollegin sich beim Chef einschmeichelte, um den besseren Posten zu ergattern. Wie großartig der neue Wagen sei, den man zu so günstigen Leasingraten bekommen habe.
Sah denn niemand den Bettler, der schon seit Tagen vor dem Haus neben dem Bäcker auf dem Boden kauerte? Bemerkte denn niemand, dass er keiner von denen war, die sich Geld erschwindelten? ER warf ihm wie immer, wenn ER vorbeiging, einige Münzen in den Plastikbecher, vor dem der Mann im Schneidersitz auf den harten Steinplatten saß. Noch nie zuvor in SEINEM Leben hatte ER so viel Dankbarkeit und Freude in nur einem einzigen Blick gesehen. Das kleine Glück konnte so groß sein und es kostete meist nur sehr wenig. Warum erkannte das niemand? Würden sie immer noch durch die Stadt rennen, wenn sie es wüssten? Stattdessen verschwanden sie in Cafés oder in ihren Betonkäfigen, in denen sie Kinder zeugten, die wiederum alles dafür taten, um sich eigene Betonkäfige zu kaufen und mehr von einfach allem zu haben. Es gab aber Ausnahmen. Insbesondere diejenigen, die Schmerzen erlitten, lösten sich von den Fäden, die die Mächtigen dieser Welt in der Hand hielten, um ihre Marionetten vom wahren Glück wegzuzerren. Nur wer unglücklich war, musste immer mehr haben. Und Schmerz hatte die gleiche Funktion wie das Schwert, weil es von dem trennte, was nicht gut war. Die Frau, der ER nun schon seit einer Weile durch die Innenstadt folgte, derentwegen ER die Qual auf sich genommen hatte, sich all dem auszusetzen, hatte sicherlich großen Schmerz erlitten. Es musste einen Grund geben, weshalb sie sich genau wie ER hierherschleppte. Und ER wollte wissen, wie sie mit dem Tod des Baumes umging. ER brauchte einfach Gewissheit, ob es stimmte, was man IHM zugetragen hatte.
Ihre Schritte waren schwer. Nachdem, was ER von ihr wusste, musste sie schon auf die achtzig zugehen. Sie wich genau wie ER dem entgegenkommenden Strom aus Beinen, Armen und Tüten aus.
„Hey, pass doch auf, blöde Kuh!“, keifte ein junger Mann die alte Frau an. Er tippte unachtsam auf seinem Smartphone herum, anstatt auf den Weg zu achten, und hatte sie daher angerempelt.
ER trat ihm entgegen und baute sich wie eine Wand vor ihm auf. Der junge Mann prallte dagegen und geriet ins Straucheln, doch wagte es nicht, sich mit IHM anzulegen. Es genügte, einem Träger des Schwertes direkt in die Augen zu sehen, um ihn zu fürchten.
„Idiot!“, brummelte der junge Mann kaum hörbar, als er sich trollte.
Das steckte ER weg, denn es war wichtiger, herauszufinden, ob es stimmte, was ER über den Baum gelesen hatte. Das konnte ER nur von der Frau erfahren.
Dass der junge Mann IHM auch noch „Deine Mudder!“ hinterherrief, als er sich weit genug von IHM entfernt hatte und sich in Sicherheit wog, war nicht verwunderlich. Nachdem was ER über die linguistischen Veränderungen im Kommunikationsverhalten junger Leute mit niedrigem Bildungsniveau gelesen hatte, sollte dies wohl „Hurensohn“ heißen. Schöne neue Welt, doch die interessierte IHN nicht mehr. Es war nicht mehr SEINE. Zu lange hatte ER sich Geschichten dieses Gesindels anhören müssen.
Die Frau bog in eine der Seitenstraßen. Eine andere Frau, von der ER annahm, dass sie die Tochter der älteren war, winkte ihr von einem Café aus zu. ER brannte darauf, die Wahrheit zu erfahren, und folgte ihr.
Es war ein ausgesprochen glücklicher Zufall, dass sich neben den beiden ein freier Tisch befand. Kaum hatte ER dort Platz genommen, schossen die Tränen aus den Augen der alten Frau. Die Jüngere nahm sie tröstend in den Arm.
„Ach Kind“, seufzte die Ältere. „Wie konnte er das nur tun? Wie können Menschen nur zu so etwas fähig sein?“, sagte sie.
Die Tochter brachte keinen Ton heraus und hielt ihre Mutter für einen Moment nur fest im Arm.
Die Zeit nutzte ER, um den etwa dreißigjährigen Ober herbeizuwinken. „Cappuccino“, rief ER ihm zu, woraufhin die Bedienung nickte.
Es stimmte also, was man IHM zugetragen hatte. Eigentlich könnte ER nun gleich wieder gehen, aber es lohnte sich bestimmt, hier zu verweilen, allein schon, um ihren Schmerz zu spüren. In ihm steckte so viel Wahrheit. Das erfrischte die Seele, obwohl es sie zugleich betrübte. ER wusste, dass sich die Schwester der alten Frau erhängt hatte, doch der Dämon hatte behauptet, sie sei krank gewesen. Aus Einsamkeit habe sich die Alte den Strick um den Hals gelegt, um sich am Gebälk des Dachbodens aufzuknüpfen und von einem Küchenhocker zu springen – in die Erlösung.
„Er hat ihr gedroht … meine Schwester hätte das doch sonst nie getan“, schluchzte die Alte.
„Ich weiß …“, erwiderte ihre Tochter und ER hatte nun die erhoffte Gewissheit.
„Sie hat fast ihr ganzes Leben dort verbracht, und noch die letzten Wochen allein, nachdem ihr Lebensgefährte verstorben war …“, fuhr die alte Frau fort.
„Was wirst du jetzt mit dieser Wohnung machen?“
„Räumen lassen“, erwiderte die Frau resigniert.
„Ich hoffe, er fährt zur Hölle.“
Ihr Wunsch war IHM Befehl.
Zuvor
Emelie überlegte auf dem Weg zum Dezernat, ob sie sich vielleicht unbewusst darauf konditioniert hatte, immer wenn sie mit dem Fahrrad zum Dienst fuhr, an ihre aufregende Zeit jenseits des Atlantiks zu denken. Das gab Energie und Schwung für den Tag. Heute kam jedoch noch ein zweiter Aspekt mit hinzu. Sie fragte sich, ob ihr der Typ von gestern unterwegs wieder begegnen würde. Die Wahrscheinlichkeit dafür war nicht besonders hoch, weil sie gut fünf Minuten früher als sonst von zu Hause losgefahren war. Dennoch ein verlockender Gedanke, der sie dazu bewog, einen Tick langsamer als üblich zu fahren, weil es ja sein könnte, dass sie ihn in irgendeiner der Seitenstraßen sähe. Dass sie sich die Mühe hätte sparen können, wurde spätestens klar, als sie die berühmt-berüchtigte Ampel erreichte. Sie war rot, doch das störte sie heute nicht die Bohne. Die Bäckerei mit Stehcafé am Eck der Kreuzung machte den Ärger darüber wett. Dort stand nämlich sein Fahrrad und kaum war sie da angekommen, erspähte sie ihn auch schon am Tresen des Cafés. Vermutlich kaufte er sich ein Sandwich für die Mittagspause oder frühstückte. Für einen Moment überlegte Emelie, dass sie zu spät zur Arbeit käme, falls sie dort nun auch einkehrte. Was soll‘s. Einmal zu spät im Dezernat aufzuschlagen, würde sie vielleicht von ihrem Ruf, „Mrs. Perfect“ zu sein, befreien. Es gab sowieso kein Zurück mehr, denn er hatte sie bereits erspäht und strahlte, als ob in der Bäckerei eben die Sonne aufgegangen wäre. Emelie machte sich nicht einmal mehr die Mühe, ihr Fahrrad anzuketten – ob die Gegend nun die meisten Diebstähle Deutschlands vorzuweisen hatte oder nicht.
„Guten Morgen. Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“
Diese charmante Aufforderung lehnte Emelie nicht ab. „Für mich einen Cappuccino“, verlangte sie von der Dame am Tresen, die ihm eine mit Backwaren gefüllte Tüte reichte.
Er ging damit in Richtung der Barhocker und Tische, die dem Verkaufstresen gegenüberstanden.
Roman musste schon länger hier sein, denn er setzte sich an einen Tisch, auf dem bereits eine halb geleerte Kaffeetasse stand, die er nicht zur Seite schob.
„Frühstücken Sie oft hier?“ Emelies Frage resultierte aus Verlegenheit, aber auch, weil sie wissen wollte, ob er tatsächlich auf sie gewartet hatte. Ein Mann, der am Tresen einer Bäckerei etwas bestellte und dabei immer wieder zur Straße blickte, um dann eine Frau so erleichtert und erfreut zu begrüßen, erweckte zumindest diesen Eindruck.
„Nein. Das erste Mal. Ich wollte mir die Zeit vertreiben, bis Sie kommen“, gestand er in aller Offenheit und deutlich vernehmbar, weil er seine Stimme gegen das Rattern und Zischen der Kaffeemaschine hatte anheben müssen.
„Ihr Cappuccino“, kam es vom Tresen.
Emelie war dankbar für diese kurze Denkpause. Was sollte sie ihm darauf sagen? Er war kein Aufreißertyp, seine Ehrlichkeit entwaffnend. Sie könnte „hard to get“ spielen – auch das lernte man in New York. Doch wozu? Sich für eine aufrichtige Antwort zu entscheiden, kostete trotzdem jede Menge Mut. „Auf dem Weg hierher habe ich nach Ihnen Ausschau gehalten“, sagte sie, obwohl das nicht die volle Wahrheit war. Sie hatte regelrecht gehofft, dass sie sich wiedersahen.
„Ich glaube, daran könnte ich mich gewöhnen“, erwiderte er, als sie sich mit ihrem Cappuccino neben ihm auf einen der Barhocker gesellte. Weil Roman dabei aber genießerisch an seiner Tasse nippte und den Duft der frisch gemahlenen Bohnen inhalierte, der auch in Emelies Nase stieg, war sie sich nicht sicher, ob er das gemeinsame Frühstück oder den guten Kaffee meinte.
„Der Kaffee scheint hier sehr gut zu sein.“ Emelie entschied sich für Letzteres, um sich keine Blöße zu geben, auch wenn sie sich dabei etwas albern vorkam.
„Da haben Sie recht, aber das meinte ich nicht. Eher das morgendliche Ritual.“
„Auf halber Strecke hier gemütlich frühstücken?“, fragte sie nach.
Roman nickte. „Was halten Sie davon?“
„Warum nicht?“, sagte sie leichthin. Das war die Gelegenheit, um Roman in Sachen Privatleben auf den Zahn zu fühlen, und ihm zugleich eine Frage, die in so einem Flirtgespräch zu erwarten war, abzunehmen.
„Ich kriege morgens sowieso nur Cornflakes und Müsli“, sagte sie mit Hundeblick und in der Hoffnung, dass er den Faden aufgriff. Na los, jetzt frag schon, ob ich Single bin.
„Also, wenn ich das Glück hätte, Ihnen morgens das Frühstück zu machen, würde mir mehr als nur Cornflakes einfallen“, sagte er verschmitzt.
„Das sagen Sie mal meinem Vater.“ Die Erleichterung darüber, dass sie nicht liiert war, verbarg er erst gar nicht. Ein weiterer Pluspunkt, den sein Lächeln untermalte.
„Bin auf Wohnungssuche und wohne vorübergehend in meinem Elternhaus.“ Das mit dem Kinderzimmer verkniff sich Emelie. „Und Sie? Macht Ihnen niemand das Frühstück?“ Sie hasste große Umschweife. Er sollte nun auch seine Karten auf den Tisch legen.
„Nicht mehr … ein Unfall“, sagte er bitter lächelnd. Er zuckte noch mit den Schultern, als ob er „C‘est la Vie“ damit zum Ausdruck bringen wollte.
Für eine Weile sahen sie sich nur an. Die gegenseitige Anziehung war deutlich spürbar. Es kribbelte, wenn sie auf seine gepflegten Hände sah … und die Ruhe, mit der er seinen Kaffee genoss und dabei verlegen lächelte … Sie gestand sich ein, dass es sie irgendwie verzauberte.
„Wir müssen leider zur Arbeit oder machen wir blau?“, fragte er.
Nun war sie es, die mit den Schultern zuckte und damit sagen wollte „geht leider nicht“. Er verstand es. Die Frage war sowieso nur rein rhetorisch gewesen.
„Vielleicht auf einen Drink? Morgen Abend? Oder wenn Sie mal keinen Dienst haben?“
Beharrlich war dieser Roman ja. Ein weiteres Plus. Emelie lag trotzdem schon ein „hard to get-Spruch“ auf der Zunge. Sie schluckte ihn herunter. „Ja, gerne. Ich schaue später in meinen Dienstplan.“
„Kennen Sie die Villa Schmidt in Kehl? Wir könnten dort noch ein wenig spazieren oder mit dem Rad fahren. Oder wir schlendern durch Petit Paris. Ich kenne auch einige gute Restaurants in der Ecke. Straßburg hat ja so viel zu bieten“, schlug er vor.
Emelie stellte die Tasse ab, sah ihm direkt in die Augen und nickte.
Plötzlich hielt er inne und sah sie in einer Mischung aus Faszination und Nachdenklichkeit an. Dann zog er sein Handy aus der Tasche seines Jacketts.
„Bleiben Sie genau so. Nicht bewegen!“, verlangte er.
Emelie leistete ihm entgegen ihrer Art widerspruchslos Folge. Die Art und Weise, wie er mit der Kamera seines Smartphones fast wie ein Profifotograf versuchte, ein schönes Foto von ihr einzufangen, amüsierte sie, der merkwürdige Winkel, in der er die Kamera hielt, war eher irritierend.
„Veröffentlichen Sie es bitte nicht auf Facebook“, verlangte sie streng.
Er lachte nur.
„Warum ausgerechnet hier drinnen mit der Straße als Hintergrund?“, fragte Emelie dennoch nach.
„Ich schick es Ihnen. Dann wissen Sie, warum ich es gemacht habe. Doch dazu brauche ich Ihre Handynummer.“
„Sie sind ja ganz schön direkt.“
„Eher pragmatisch, aber ich kann es Ihnen auch über Bluetooth senden …“, lenkte Roman ein.
„Damit kenne ich mich nicht aus“, gestand Emelie und legte ihm ihre Visitenkarte hin, von denen sie einige in ihrer Handytasche verwahrte. „Ganz altmodisch“, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
„Dafür habe ich ein Faible“, erwiderte er.
„Dann bis die Tage … Wer weiß, vielleicht sieht man sich ja schon vorher beim Frühstück“, sagte Emelie.
„Sie würden meinetwegen Ihre Morgenroutine ändern?“, fragte Roman sichtlich hoffnungsvoll nach.
„Hängt ja auch vom Dienstplan ab. Mal sehen.“ Das war eindeutig ein „hard to get“, doch Emelie wusste, dass er es richtig interpretieren würde.
Jetzt
Ein Besuch bei Schachers Frau stand an. Die Fahrtzeit im zivilen Einsatzwagen nutzte Emelie, um Heiner von ihrer gestrigen Kneipentour durch die Straßburger Schwulenszene zu erzählen. Heiner schien sich vor allem für die privaten Aspekte zu interessieren. Das Wesentliche stand ja sowieso schon im noch gestern Nacht verfassten Bericht, den sie nicht nur Stehle, sondern auch Heiner und Kurt in Kopie geschickt hatte.
„Scheint ein Aufreißertyp zu sein, dieser Yan, was man so hört. Und er hat dich nicht angebaggert?“, hatte er wissen wollen, noch bevor sie abgefahren waren.
Verständlich, denn was den Fall betraf, gab es bezüglich ihrer Ermittlungen vom Vorabend nichts über den Bericht Hinausgehendes an Spannendem zu sagen. Die Tour durch die Bars war nahezu ergebnislos verlaufen. Nur einer der Gäste hatte sich vage an Schacher erinnern können, ihn aber eher so beschrieben, als wäre er kein Stammgast in diesen einschlägigen Etablissements. Scheu sei er gewesen und sein Outfit habe so ganz und gar nicht in die Szene gepasst, sprich weder Fetisch-Klamotten noch angesagt modisch. Im Anzug habe er am Tresen gesessen und hätte sich ein Bier reingekippt. Letzteres hatten Yan und sie ihm in der zuletzt verbliebenen Bar nachgemacht, allerdings noch Härteres als Absacker. Gin für sie und Whisky für Yan, was ja an sich nicht artgerecht für einen Franzosen war.
Heiner sah das genauso und amüsierte sich köstlich darüber.
Kurz vor ihrem Ziel kam er dann doch noch einmal auf den Fall zu sprechen. „Wir können also davon ausgehen, dass er sich niemanden aus Bars aufgerissen hat, sondern im Internet unterwegs war“, sagte er, während er in die Straße des besseren Offenburger Wohnviertels bog.
„Bringt uns nur nicht weiter. Wie hat Frau Schacher es aufgenommen?“ Emilie war froh, dass dieser Krug an ihr vorbeigegangen war, denn nichts war schlimmer, als Angehörigen mitzuteilen, dass ihre Familie nun um ein Mitglied ärmer war. Das ging ihr näher, als einen Tatort zu begehen. Dankenswerterweise hatte Rüdiger Frau Schacher die Todesnachricht, gleich nachdem sie am mutmaßlichen Tatort gewesen waren, telefonisch überbracht und ihr geraten, für die erste Nacht ein Hotelzimmer zu nehmen. Später hatte Heiner sie nach ihrer Ankunft in Offenburg persönlich im Hotel aufgesucht.
„Sie wirkte gefasst, aber war weiß wie die Wand. Keine Träne, keine Regung. Der Schock saß ihr sicher noch in den Knochen.“
„Gefasst?“ Daraus ließ sich ja eigentlich nur schließen, dass das Verhältnis der beiden nicht das beste gewesen war oder sie sich auseinandergelebt hatten. Wenn nicht Schlimmeres, doch das konnte man ausschließen, denn Schachers Frau hatte ein stichfestes Alibi für die Tatzeit.
„Hat sie dir erzählt, warum sie bei ihren Eltern in Karlsruhe war?“
„Die beiden sind mobil eingeschränkt. Frau Schacher erledigt einmal pro Woche ihre Großeinkäufe und hilft im Haus.“
„Glaubhaft?“
„Absolut. Rüdiger hat sicherheitshalber noch auf der Festnetznummer von ihren Eltern angerufen und nachgefragt.“
„Hat sie am Vorabend nicht versucht, ihren Mann zu erreichen?“
„Doch, aber er ging nicht ans Telefon. Sie dachte, er sei unterwegs. Sie selbst ist früh ins Bett.“
„Weiß sie Näheres über die Umstände?“
Heiner nickte.
„Alle Details? Sie weiß nun über die Neigungen ihres Mannes Bescheid?“, hakte Emelie nach. Sie mochte sich in dem Moment gar nicht vorstellen, was im Kopf dieser Frau vorgegangen war, als sie es von ihrem Kollegen erfahren hatte.
„Nackt mit Tüte überm Kopf. Und das Arsenal an Utensilien. Mehr muss man ja an sich nicht sagen.“
„Sie hat nicht weiter nachgehakt?“
„Nein. Sie hat sich aber überlegt, wo er diese Sachen versteckt hatte. Und dann wollte sie wissen, ob er sich das selbst angetan hat. Ich habe ihr erklärt, dass sich ihr Mann vermutlich mit jemandem getroffen hat.“
„Und? Was hat sie gesagt?“
„Nichts. Nur genickt. Nachdenklich … In sich gekehrt. Sie wollte das Gespräch dann beenden und hat mich gebeten, zu gehen. Stand da wie in Stein gemeißelt.“
„So wie jetzt?“, fragte Emelie, als sie Frau Schacher zuerst vor dem Haus stehen sah. An der Tür klebte noch das Absperrband der Spurensicherung.
Heiner nickte erneut, bevor er den Wagen in eine Parklücke vor einem Mehrfamilienhaus lenkte, das dem Heim der Schachers gegenüberlag.
„Ob sie heute Abend wohl daheim schläft?“, überlegte Emilie laut.
„Kann ich mir kaum vorstellen“, sagte Heiner, stellte den Motor ab und stieg aus.
Emelie ebenfalls. Sie nahm sofort Blickkontakt mit Frau Schacher auf und versuchte, ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Sie konnte ihr ansehen, dass sie es bemerkte, doch sie erwiderte es noch nicht einmal nach dem zweiten Anlauf, nachdem Emelie sich vorgestellt hatte.
„Wieso haben Sie mich herbestellt?“, wollte Frau Schacher wissen.
„Ist es für Sie zu belastend? Wenn Sie möchten, dann können wir Sie auch im Hotel befragen.“ Emelies Vorschlag ließ ihr Gegenüber in nachdenkliches Schweigen verfallen.
„Vielleicht fällt Ihnen in der vertrauten Umgebung etwas ein, an was Sie sonst nicht denken würden“, erklärte Heiner.
„Glauben Sie mir. Ich würde am liebsten überhaupt nicht mehr daran denken.“
Emelie und Heiner tauschten Blicke.
„Kommen Sie rein“, sagte Frau Schacher, während sie ihren Hausschlüssel aus der Handtasche zog.
Heiner half ihr dabei, das über die Tür gespannte Band so zu entfernen, dass es ihr nicht im Weg war.
Sie sperrte auf und blickte sich draußen noch einmal um. „Neugieriges Pack“, kommentierte sie, bevor sie hineinging.
Nicht zu Unrecht, denn einige Köpfe ragten aus dem Fenster, andere waren hinter Vorhängen zu erkennen. Tatort live und ausnahmsweise nicht nach der Tagesschau. Emelie war froh, dass die Haustür wieder geschlossen war, merkte sich aber gedanklich vor, die Fenstergucker zu befragen. Deren Neugier könnte bei den Ermittlungen nützlich sein.
Frau Schacher blieb für einen Augenblick an der Treppe, die zum Keller führte, stehen.
„Ich werde da nicht runtergehen“, sagte sie.
„Das müssen Sie auch nicht“, beschwichtigte Heiner.
Frau Schacher nickte dankbar und schritt ins Wohnzimmer. Es war spärlich eingerichtet, wirkte kahl und kalt wie das Haus selbst, das wenige Mobiliar jedoch edel. Weiße Designermöbel und Accessoires, die nicht so aussahen, als hätte sie jemand vom Trödelladen aufgeklaubt. Der Fernseher hatte Heimkinodimensionen. Die Replik des Denkers von Rodin aus Bronze, als Blickfang neben einer geschwungenen Treppe, die nach oben ging, gab dem Ganzen den Touch eines modernen Museums. Hier wohnten keine armen Leute.
„Sie müssten sich vergewissern, ob irgendwelche Wertgegenstände entwendet wurden“, legte Heiner ihr nahe.
Frau Schacher nickte mechanisch und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Sie setzte sich auf einen der weißen Ledersessel vor einem Glastisch, der auf Holzstämmen ruhte, und ließ ihren Blick über die Regale schweifen, in denen weitere Statuen standen, die kostbar wirkten.
„Und wenn schon …“, sagte Frau Schacher resigniert.
„Wir müssen ausschließen, ob …“
„Können Sie das nicht bereits jetzt? Er hat sich doch mit jemandem aus dem Internet getroffen. Und dann auch noch hier bei uns.“ Frau Schacher schüttelte den Kopf. „Der Keller war schon immer sein Reich. Da hatte er unter anderem eine kleine Werkstatt und ich nie eine Veranlassung, überhaupt mal runterzugehen. Wahrscheinlich hatte er zur Sicherheit alles in Schränken versteckt.“
Heiner nickte.
„Wussten Sie von seiner Neigung?“ Emelie sah keinen Sinn darin, länger um den heißen Brei herumzureden. Je schneller sie alles abhakten, desto besser für die Frau, die ihr stocksteif gegenübersaß.
„Ich dachte, er betrügt mich mit anderen Frauen, aber jetzt weiß ich ja, wo er sich herumgetrieben hat“, gestand Frau Schacher nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens.
Emelie blickte zu Heiner. Vom Fund der Streichholzschachtel musste er ihr wohl auch berichtet haben.
„Und wie kamen Sie darauf?“, fragte Emelie.
„Geschäftsessen bis spät in die Nacht. Immer häufiger.“
„Und früher?“
„Ich war so naiv, zu glauben, dass wir eine Familie gründen werden. Ich wollte Kinder. Hat nicht geklappt … Gottlob nicht“, sagte sie kopfschüttelnd.
„Sie führten also eine normale Ehe?“
„Normal? Was heißt das schon? Wir hatten Sex. Das wollen Sie doch wissen.“
„Nein. Eher, ob sie das Gefühl hatten, dass er sie liebt“, präzisierte Emelie.
Die Frage überraschte Frau Schacher sichtlich. Sie nickte spontan, also glaubhaft.
„Die ersten Jahre zumindest hatte ich das Gefühl“, schob sie dann überraschenderweise nach.
„Und keine Anzeichen für seine Neigung?“
„Im Nachhinein … vielleicht. Ihm sind gut gebaute Männer am Strand aufgefallen, doch ich habe dem keine Bedeutung beigemessen. Es lag nichts Anzügliches in seinem Blick. Er fragte sich, wie lange er trainieren müsste, um so auszusehen wie einer von denen. Aber er hat sie nie so begafft, wie ein Mann normalerweise einer Frau nachsieht, verstehen Sie?“ Schachers Blick war immer noch starr gegen die Wand gerichtet.
„Er scheint es gut überspielt zu haben“, sagte Heiner nachdenklich und zu Recht. Nach Lektüre der Chat-Nachrichten konnte man zu keinem anderen Schluss kommen.
„Warum nur? Was gibt es einem? Solche Dinge …?“, fragte sie und richtete ihren Blick fragend auf Emelie.
„Schuldgefühle kompensieren, Bestrafung für seine sexuelle Veranlagung. Abbau von Leidensdruck, der sich auf irgendwelche traumatischen Erfahrungen in der Kindheit zurückführen lässt. Bloßer Stressabbau. Totale Kontrollaufgabe. Der Wunsch, dominiert zu werden, sich zu unterwerfen. Meist bei Männern, die in ihrem Berufsleben sehr viel Kontrolle ausüben“, überlegte Emelie laut. Das waren die häufigsten Erklärungen, auf die sie während ihrer Ausbildung in Sachen sexuelle Ausschweifungen und Obsessionen im Zusammenhang mit Mordfällen aufseiten der Opfer, aber auch der Täter, gestoßen war.
Frau Schacher nickte nachdenklich, obwohl Emelie davon überzeugt war, dass sie die Tragweite und Komplexität dieser psychischen Muster im Moment gar nicht erfassen konnte.
„Er hat sich vermutlich selbst nicht gemocht. Sich nicht geliebt“, spekulierte sie dann.
„Hatte er Feinde?“, fragte Heiner.
Auch diese Frage stand auf Emelies gedanklicher Liste.
Frau Schacher lachte zu ihrer Überraschung auf.
„Mehr als genug.“
„Was machte Ihr Mann beruflich genau?“ Emelie wusste bisher aufgrund erster Recherchen nur, dass er im Finanzwesen tätig gewesen war.
„Er hat stille Beteiligungen verkauft. Oder vielmehr hatte.“
„Macht man sich da Feinde?“
Frau Schacher lachte erneut spitz auf. „Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, nein.“
„Es ging also nicht mit rechten Dingen zu“, sagte Heiner.
Eigentlich war es eine Frage.
„Es waren Steuersparmodelle. Er hat sie als sicher verkauft. Wir hatten selbst Anteile an einer dieser Gesellschaften, doch das Ganze entpuppte sich als Schneeballsystem. Die Gelder waren weg, veruntreut, falsch investiert, aber die Firmen bekamen immer neues Kapital, sodass es lange nicht auffiel. Und nach den Firmenpleiten waren die Ersparnisse der Anleger weg. Sie mussten sogar noch nachzahlen.“
„Warum das denn?“, fragte Heiner konsterniert.
„Der Insolvenzverwalter bittet bei stillen Beteiligungen zur Kasse. Nennt sich Nachschusspflicht. Mein Mann hat den Kunden das verschwiegen. Stand im Kleingedruckten. Verstehen Sie?“
„Wurde er bedroht?“
„Sein E-Mail Postfach ist sicher voll davon. Beleidigungen, Drohungen. Einer seiner Kunden wollte ihn sogar umbringen.“
„Wissen Sie, wer das war?“
„Ein alter Mann, bestimmt über siebzig. Außerdem. Den Spruch kennen Sie doch sicher. Hunde, die bellen … Oder glauben Sie, dass einer seiner Kunden …?“
Frau Schachers Einwand war nicht von der Hand zu weisen.
„Möglich ist alles. Was schätzen Sie, wie viele Leute seine Firma um ihr Geld gebracht hat?“, wollte Heiner wissen.
„Über die Jahre und deutschlandweit … Um die tausend, schätze ich.“
„Haben Sie Zugang zu seiner geschäftlichen Mail?“, fragte Emelie, denn so könnte sie sich einen richterlichen Beschluss für die Herausgabe der Daten beim Provider ersparen. Frau Schacher nickte zu ihrer großen Erleichterung, griff zu einem Zettelblock vom Beistelltisch und schrieb Mail, Provider und Passwort auf, bevor sie Heiner den Zettel reichte. „Das Passwort ist für sein Tablet und das Notebook.“
Um die tausend Verdachtsfälle hieß allerdings Fleißarbeit.
„Sie bekommen die Geräte zurück, sobald wir mit der Auswertung fertig sind“, sicherte Emelie ihr zu.
Frau Schacher winkte nur ab.
„Werden Sie hierbleiben oder wieder zu ihren Eltern fahren?“ Emelie stellte die Frage eigentlich nur, um Frau Schacher zu signalisieren, dass sie vorerst keine weiteren Fragen hatten.
„Ich fahr noch heute Nachmittag nach Karlsruhe.“
Emelie stand auf. Auch für Heiner das Signal zum Aufbruch.
„Sie fragten mich, ob ich seine persönlichen Dinge … Ich möchte sie nicht haben“, sagte Frau Schacher zu Heiner.
Dass sie das Arsenal seines Doppellebens nicht sehen wollte, war allzu verständlich.
„Er war trotzdem ein guter Mann“, sagte sie dann wohl mehr an sich selbst gerichtet, nachdem sie aufgestanden war.
Emelie erwiderte nichts darauf. Was war schon das Gute und das Böse? Auch damit hatte sie sich ausgiebig in ihrem Studium beschäftigt, wobei Letzteres sicher interessanter war.