Kapitel 1
Zürich, im Juni 2005
Ihre tiefe, klare Stimme hallte durch den riesigen Eingangsbereich. Sie sprach nicht laut. Doch es war das einzige Geräusch und so empfand ich es wohl als viel lauter, als es effektiv war. Ihre Stimme nahm mich sofort gefangen. Und nicht nur diese: Auch ihre langen, dichten dunklen Haare, ihr Lachen, die weißen Zähne und das Funkeln ihrer dunklen Augen zogen mich in ihren Bann.
Ich wusste, wer sie war, denn dass sie zu uns stoßen würde, wurde uns angekündigt.
Onna Carisi, die Neue an der Rezeption.
Mein Chef hatte dem Team bereits erzählt, dass Onna aus dem Tessin kommt. Sie wolle in Zürich ihre Deutschkenntnisse verbessern und so hatte sie sich bei uns beworben. Sie kam direkt von der Hotelfachschule. Bei uns … Natürlich gehörte mir das Hotel nicht. Ich absolvierte dort nur meine Ausbildung zum Koch.
Es war ein Fünfsternehotel, nicht weit weg vom Zürichsee, ein paar wenige Meter nur, dort, wo die Limmat aus dem See trat. Ein altehrwürdiges Gebäude mit weißer Fassade, ein roter Teppich führte vom Vorplatz direkt in die Eingangshalle. Der Vorplatz war überdacht, das Dach wurde von weißen Marmorsäulen gehalten. Eigentlich hatte ich in der Eingangshalle, wo sich die Rezeption befand, gar nichts zu suchen. An diesem frühen Morgen waren noch keine Gäste unterwegs und so waren meine Kollegin Daniela und ich aus der Küche geschlichen, um unsere neue Mitarbeiterin bei ihrer Ankunft zu beobachten. Begrüßen durften wir sie ohnehin erst später.
Ich fühlte mich, als wäre ich am Boden festgetackert worden, konnte meinen Blick nicht von der jungen Frau abwenden. Was zum Teufel war nur los mit mir?
„Komm, Niklas, wir müssen weitermachen“, raunte Daniela mir zu. Sie war hier ebenfalls in der Ausbildung zur Köchin – doch während meine in wenigen Wochen zu Ende sein würde, hatte sie noch ein Jahr vor sich.
Daniela bugsierte mich ziemlich unsanft zurück zur Tür, über der ein Schild „Privat“ angebracht war. Die Gäste hatten keinen Zutritt zu den Katakomben des Hotels. Wir mussten zurück ins Untergeschoss, wo sich die große Gastroküche befand, die nötig war, um ein Hotel mit über einhundert Zimmern auf Sterneküchen-Niveau zu versorgen. Daniela hielt ihren Badge an das kleine Lesegerät, ein Summen ertönte, und sie zog die Tür auf.
„Komm jetzt“, bettelte Daniela erneut und zog am Ärmel meiner schwarzen Uniform. „Wir kriegen Ärger, wenn uns der Chef hier sieht.“
Diese Onna … Sie haute mich um. Anders konnte ich es in diesem Augenblick nicht ausdrücken. Ich wandte mich um, um hinter Daniela durch die Tür zu gehen, doch ich konnte nicht widerstehen und warf einen Blick zurück. Ihr neuer Chef, Felix, der die Rezeption unter sich hatte, redete auf Onna ein, während sie konzentriert zuhörte. Doch dann drehte sie ihren Kopf ein kleines bisschen nach rechts.
Ihr Blick traf auf meinen und die Welt stand einen kleinen Augenblick still. Nur Sekundenbruchteile. Und doch war alles anders. Sie lächelte mir zu. Dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss.
Kapitel 2
Zürich, im Juni 2024
„Kommst du mal bitte in mein Büro, Ella?“
Ella hob den Kopf und wagte einen Blick in den gläsernen Kasten, den ihr Chef sein Eigen nannte. Er schien nicht sonderlich verärgert zu sein. Im Gegenteil: Er grinste sie an und bedeutete ihr mit dem Zeigfinger, zu ihm zu kommen. Timo hatte den Glaskasten einbauen lassen, um Offenheit und Transparenz im Büro zu demonstrieren. Ella hatte manchmal eher den Eindruck, er wollte sie dadurch überwachen. Der ‚gläserne Sarg‘, wie Ella die Konstruktion gerne nannte, war zudem absolut schalldicht. Es war unmöglich, von draußen zu hören, was drinnen gesprochen wurde, wenn die Tür zu war. In diesem Augenblick aber war sie offen und Ella erhob sich, um der Aufforderung nachzukommen.
Das Großraumbüro befand sich im Westen Zürichs. Hier hatte vor einigen Jahren eine Aufwertung stattgefunden – moderne Bürogebäude, Hochhäuser, szenige Restaurants oder Kinokomplexe waren gebaut worden. Eine neue Tramlinie half, die vielen Pendler in das Quartier zu transportieren. Ella war traurig gewesen, als sie vor zwei Jahren ihr altes Büro in der Innenstadt hatte verlassen müssen. Der Verlag hatte sämtliche Publikationen in einem Gebäude unterbringen wollen und deshalb zwei Etagen in einem der neuen, auf Ella trist wirkenden, Hochhäusern angemietet. Sie hatte all die kleinen Boutiquen und Cafés an ihrem alten Standort vermisst. Inzwischen hatte sie sich an das Großstadtflair, das Zürich West ihr bot, gewöhnt. Ihr Arbeitsweg war länger geworden, doch er war mit dem öffentlichen Verkehr oder auch dem Fahrrad, welches Ella meistens nutzte, um in ihr Büro zu gelangen, problemlos machbar. Es gab eine Kantine, mit günstigen und gesunden, reichhaltigen Speisen. So brauchte sie all die Angebote um sie herum gar nicht, was zum einen Geld sparte und sie zum anderen auf ihre Aufgaben fokussieren ließ – immerhin hatte sie beruflich mehr als genug mit Speisen und Menüs zu tun.
Ella liebte ihren Job. Es war nur ein kleines Team von fünf Leuten, die das bisher populärste Gastro-Magazin der Schweiz mit spannenden Inhalten befüllten. Ein Großteil ihrer Aufgaben bestand darin, Restaurants, Hotels, Köche, Küchen zu testen und dann darüber zu berichten. Allerdings spürte das Team seit geraumer Zeit, dass das Magazin an Leserschaft verlor. Die Abozahlen waren rückläufig und auch Werbeanzeigen wurden weniger und weniger. Immer mehr Gastrobetriebe, Köche oder auch einfach Kochbegeisterte konsumierten die gleichen Inhalte auf Gratis-Blogs oder Social Media. Es wurde deshalb immer schwieriger, noch Kunden für Inserate zu gewinnen.
Timo deutete mit seiner Hand auf den freien Sessel auf der ihm gegenüberliegenden Seite seines Pultes. Ella konnte den Kopf ihres Chefs geradeso über dem Computerbildschirm erkennen. Timo war Mitte vierzig, doch seine hellen Haare waren bereits schüttern und zierten fast nur noch als Kranz die Seiten seines Kopfes. Ella wurde manchmal nicht so ganz schlau aus ihrem Boss, wenngleich sie ihn im Grunde mochte. Er setzte großes Vertrauen in sie und ihre Fähigkeiten und teilte ihr immer wieder spannende und verantwortungsvolle Aufgaben zu. Doch er konnte auch sehr harsch und abweisend sein. Wenn jemand einen Auftrag in seinen Augen nicht gut umsetzte, konnte er sich mitten in das Großraumbüro stellen und diesen in Anwesenheit aller anderen lauthals ausschimpfen. Obwohl sich Ella und ihre Teamkollegen vor diesen Ausbrüchen fürchteten, so waren sie doch auch oft der Running Gag im Team.
Ella setzte sich auf den Stuhl und strich mit einer Handbewegung den dunklen Stoff ihrer Hose glatt. Sie hasste es, wenn ihre Kleidung Falten schlug. Sie trug eine weit geschnittene Hose in Dunkelblau mit einem passenden Blazer, dazu weiße Sneaker und ein farblich darauf abgestimmtes Shirt.
Timo drehte den Bildschirm seines Computers in Ellas Richtung.
„Schau“, forderte er sie auf. Ella starrte gebannt auf den Bildschirm. ‚Ticino‘ stand dort in großen Lettern, der gesamte Text war Italienisch.
„Ja?“, fragte sie erwartungsvoll. Anhand der geöffneten Webseite konnte sie sich kein Bild der Lage machen.
„Tessin Tourismus hat uns eingeladen, ein paar Wochen im Kanton zu verbringen und ein paar richtig gute Hotels, Restaurants und Grotti zu testen. Ich dachte, das wäre was für dich …“
„Oh“, machte Ella, während es in ihrem Kopf zu rattern begann. Das klang wahrlich interessant. Raus aus Zürich, ins mediterrane Tessin. Und das für mehrere Wochen. Sie dachte unvermittelt an Christian. Hatte sie ihn doch erst vor ein paar Wochen kennengelernt und die Zeit mit ihm, wenn sie sie denn mal zusammen verbrachten, war neu und aufregend. Würde ihre zarte Bande ein paar Wochen weit weg überstehen? Eigentlich sollte ihr das egal sein – schließlich ging es hier um sie und um einen tollen Auftrag. Da sollte sie nicht als Erstes an einen Mann denken.
Es kam immer wieder vor, dass sie für ihren Job verreisen musste – allerdings selten länger als zwei, drei Tage. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es nicht gut war, jetzt auf Distanz zu gehen. Noch war sie nicht seine Nummer eins, noch rief er nicht sie an, wenn er Probleme hatte. Noch wartete sie auf Zeichen von ihm, dass er Lust hatte, sie zu sehen. Lust, wie sie hatte, ihn zu sehen. Nicht erst einmal hatte sie sich gefragt, warum es so schwierig war, eine Beziehung zu beginnen. Warum man sich nicht einfach verlieben konnte und dann war alles klar. Sie hatte immer den Eindruck, dass jemand, der sie gern hatte, sich gerne meldete, den Wunsch hatte, sie zu treffen. Bei Christian ging fast alles von ihr aus. Und doch sagte er immer wieder zu. Er brauchte wohl einfach Zeit. Zeit, die sie nicht hatte, wenn sie in wenigen Wochen für eine Ewigkeit ins Tessin verschwand. Andererseits, womöglich würde er sie dann sogar vermissen? Vielleicht würde ihm ihre lange Abwesenheit die Augen öffnen und ihm zeigen, was er an ihr hatte. Oder er würde sich nach weiteren Frauen umschauen. Doch dann wäre ohnehin nichts aus ihnen beiden geworden. Sie sollte sich auf ihre Aufgabe konzentrieren, schalt sie sich.
Timo, der ihren Gedankensturm nicht zu bemerken schien, ging zum Drucker und holte einen Stapel Zettel, den er ihr anschließend vor die Nase legte. Ella griff danach und blätterte die Zettel durch. Zuoberst befand sich eine Liste, auf der die Lokale zusammengefasst waren, die sie besuchen sollte. Danach folgten Informationen und Fotos zu jedem einzelnen Lokal.
„Da findest du die Adressen der Hotels und Restaurants, über die Tessin Tourismus gerne einen Bericht hätte“, erklärte er. „Hier steht auch, in welchen Hotels du untergebracht wirst. Du brauchst auf jeden Fall einen Fotografen, der dich begleitet. Das habe ich mit Tessin Tourismus abgeklärt. Die Artikel sollen im Verlauf des zweiten Halbjahres und auch im nächsten Jahr ins Heft. Tessin Tourismus wird dann entsprechende Inserate buchen. Das ist sehr lukrativ für uns. Du kannst in den sechs Wochen dort also einfach mal recherchieren und Interviews führen. Und die Artikel später schreiben. Hast du Lust?“
„Klar“, begann Ella zögernd. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Einen solchen Auftrag hatte Timo ihr noch nie übergeben, allerdings hatte er wohl auch noch nie einen solchen gehabt.
„Du sprichst Italienisch und du hast ein großartiges Gefühl fürs Schreiben. Du bist die Richtige dafür“, tönte Timo von der anderen Seite des Pultes. „Anfang Juli geht es los.“
Ella nickte, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Christian sollte ihr in diesem Augenblick wirklich gestohlen bleiben. Was für ein Abenteuer.
„Danke, Timo. Das klingt wirklich nach einem tollen Auftrag. Ich werde mir gleich die Unterlagen ansehen. Wie stellst du dir denn die Verteilung der Artikel vor?“
„Es sind rund zwanzig Grotti und Lokalitäten, die du besuchen wirst. Ein Fotograf wird dich begleiten, da müssen wir noch schauen, wer sich so lange Zeit nehmen kann von unseren Freelancern. Ich denke, es macht keinen Sinn, die noch alle in diesem Jahr vorzustellen. Da sind wir schon bald im Winter und dann ist im Tessin alles dicht. Wir werden wohl irgendwann im Frühjahr anfangen, die Artikel einzuplanen.“
„Also muss ich nicht gleich im Tessin alles schreiben?“
„Nein, aber es wird schon ein Aufwand, all diese Lokale zu besuchen. Sie sind zwar informiert worden von Tessin Tourismus. Aber du musst noch die fixen Termine vereinbaren.“
Das klang alles machbar. Zwanzig Lokale in sechs Wochen, das waren etwas mehr als drei pro Woche. Das Tessin war groß – größer, als man denken würde. Die abgelegenen Täler waren oft schwierig zu erreichen. Noch dazu mit dem öffentlichen Verkehr.
„Kann ich ein Auto mieten?“
„Das sollte kein Problem sein“, meinte Timo.
Er machte eine kurze Pause.
„Ella“, klang es dann auf einmal sehr viel ernster. „Ich will aber, dass du etwas über dieses Grotto schreibst, du weißt schon, das, über das alle Influencer berichten. Das in diesem Tal. Das hat mit Tessin Tourismus nichts zu tun. Das ist ein Sonderauftrag von mir. Diese Geschichte soll auch möglichst rasch ins Blatt, noch in diesem Sommer. Du musst dir etwas Zeit freihalten und in diesem Dorf recherchieren. Wenn jemand es schafft, diesen Typen ausfindig zu machen, bist es du.“
Ella schluckte. Sie wusste genau, wovon er redete. Das Grotto Baldoria in Sonogno, ganz hinten im Verzascatal. Sie hatte schon so viele begeisterte Artikel darüber gelesen. Auch ihr Instagramfeed war voll davon, immer wieder wurde das Lokal ihr angezeigt. Das Tal war mit dem smaragdgrünen, klaren Wasser der Verzasca eine Augenweide. Immer mehr Influencer hatten die Region für sich entdeckt – und in den Sozialen Medien berühmt gemacht. Irgendwann hatten einige begeisterte Reiselustige über dieses Grotto berichtet. Es gab keine Menükarte. Wer dort essen wollte, wurde willkürlich zu weiteren Gästen an den Tisch gesetzt. Gegessen wurde, was eben aufgetischt wurde. Doch das Essen war, wenn man den Berichten Glauben schenkte, und das konnte man, dafür gab es zu viele begeisterte Fans, schlichtweg großartig. So großartig, dass immer mehr Gourmets den Weg nach ganz hinten ins Tal suchten, um einmal im Baldoria speisen zu dürfen. Inzwischen kam man ohne Reservation schon gar nicht mehr rein. Dass niemand wusste, wem das Baldoria gehörte und wer dort in der Küche stand, trug natürlich nur umso mehr zum Mythos bei.
Unzählige Food-Journalisten hatten sich schon die Zähne ausgebissen an diesem Supertalent der kreativen Küche. Sie würde wohl nicht mal dort essen können vor Dezember, weil immer alles ausgebucht war. Das Grotto selbst besaß keinen Account auf Instagram oder anderen Sozialen Medien. Ella hatte sich die Schwärmereien immer interessiert durchgelesen, das Grotto ansonsten aber ignoriert. Wenn etwas so gehypt wurde, verlor sie das Interesse. Nun musste sie sich zwangsläufig damit beschäftigen. Doch sie befürchtete, auch sie würde sich am Baldoria die Zähne ausbeißen. Es war schlicht unmöglich, über den Wirt oder die Wirtin zu berichten. Und über das Grotto selbst und die Menüs gab es schon tausende Artikel und Bilder. Wie sollte sie, Ella, da noch einen neuen Ansatz finden?
„Timo“, begann sie. „Du weißt, dass das nicht geht.“
„Wenn jemand es schafft, dann du. Ich habe auch bereits einen Tisch für dich reserviert. Irgendwann Anfang Juli. Ich habe den genauen Termin gerade vergessen, du findest ihn in den Unterlagen. Und auch ein Rustico in diesem Dörfchen, wo du übernachten kannst. Damit du für die Recherchen nicht ständig hin und her fahren musst“, erklärte er.
„Und was ist, wenn ich es nicht schaffe?“
Er seufzte. „Wir brauchen dieses Interview. Unsere Konkurrenz ist stark. Und häufig kostenlos. Uns steht das Wasser bis zum Hals. Es ist unsere Chance, mit unserem Heft und der Webseite wieder an die Spitze zu kommen. Du darfst das nicht vermasseln. Sonst stehen wir bald alle ohne Job da.“
Ella seufzte ebenfalls schwer, griff nach dem Stapel Papier und ließ ihn mehrmals leicht auf den Tisch fallen, damit sich die Blätter sortierten. Eine lockere Auszeit würde das nicht werden. Es ging schlicht um ihre Zukunft. Und wie es mit Christian weiterging, das stand ebenfalls in den Sternen.