Prolog
„24, 25, 26, 27, 28, 29, 30! Und jetzt, zweimal beatmen, Andrew!“, rief Jax seinem Partner zu.
Der leblose Körper vor ihm bereitete ihm wenig Sorgen, schließlich war es sein Job, Menschenleben zu retten. Zwölf Jahre als Rettungssanitäter hatten ihn abgehärtet – er hatte schon so oft gedrückt, beatmet, gehofft. Meistens umsonst. Die Brust des Docs hob sich nicht mehr, das Herz blieb stumm, und Jax wusste tief drinnen, dass sie wieder mal zu spät waren. Aber er machte weiter, zählte laut, seine Stimme ein Anker in der Stille. Es war Routine, ja, aber jede Sekunde, die er nicht aufgab, fühlte sich wie ein kleiner Sieg über den Tod an.
Doch was ihm echt zu schaffen machte, waren diese verdammten Zeichen an der Wand. Schwarze Symbole, wild hingekritzelt, als hätte jemand mit Kohle wahllos drauflosgeschmiert. Überall in der Arztpraxis verteilt, wie ein schlechter Scherz aus einem Horrorfilm – so einer, wo das Opfer von einem irren Killer gejagt wird, bevor es überhaupt kapiert, was los ist. Jax ’ Blick huschte kurz rüber, nur eine Sekunde, aber die Formen brannten sich in seinen Kopf. Dreiecke, Linien, Kreise – was sollte das überhaupt sein? Es war ihm fremd, unheimlich, und doch … irgendwo in seinem Inneren regte sich ein Gefühl, als hätte er so was schon mal gesehen. Vielleicht in einem Traum? Oder damals, als Kind, bei den Geschichten seines Vaters über die Mine? Er schüttelte den Gedanken ab. Keine Zeit, Jax. Konzentrier dich. Reanimieren. Weiter.
Sein Herzschlag pochte in seinen Ohren, laut wie ein Hammer auf Stahl, aber seine Hände blieben ruhig. Zwölf Jahre machen das mit einem – man lernt, die Panik wegzusperren, sie in eine Ecke zu schieben, wo sie nicht stört. Andrew hingegen war ein Nervenbündel. Der Junge hockte am Kopf des Patienten, den Beatmungsbeutel fest umklammert, Schweiß tropfte ihm von der Stirn. „So eine Scheiße, Mann, ausgerechnet unser Doc!“, rief er, seine Stimme hoch und zittrig. „Was ist, wenn wir es nicht schaffen? Ich dreh gleich durch, Jax!“ Seine Augen waren glasig, fast wie bei einem Tier, das in die Falle geraten war. Es war Andrews erste Reanimation – und dann gleich so ein Einsatz.
„Einfach weiter beatmen, du machst das sehr gut! Ich zähle beim Drücken laut mit, und bei 30 pumpst du wieder Luft in seine Lungen.“ Er wusste, Andrew brauchte das jetzt – eine Richtung, etwas, woran er sich festhalten konnte. Für Jax war das nichts Neues. Er hatte schon so viele verloren – manchmal sogar Freunde. Aber Andrew? Der Junge war noch grün hinter den Ohren, voller Hoffnung, dass man immer gewinnen konnte. Das verlierst du noch, Kleiner, dachte Jax bitter. Der Job frisst das irgendwann auf. Leider …
Bei einer Reanimation zählt buchstäblich jede Minute. Bereits nach fünf Minuten ist das Gehirn so stark mit Sauerstoff unterversorgt, dass die Schäden irreparabel sind. Man sagt auch: „Jede Minute, in der nicht gedrückt wird, verringert die Überlebenschance des Patienten um zehn Prozent.“ Jax hatte das so oft gehört, dass es sich in seinen Schädel gebrannt hatte. Wie lange das Herz des Docs schon stillstand, konnte er nicht genau sagen. Das Hautkolorit war fahl, fast grau, und die Leichenstarre setzte langsam ein – die Finger des Docs fühlten sich kalt und steif an, als Jax sie kurz prüfte. Verdammt, das ist vorbei. Aber ich geb nicht auf. Nicht jetzt.
„Okay, Andrew, lass uns mal kurz zehn Sekunden checken, was wir alles gemacht haben und wie es weitergeht …“, sagte Jax freundlich, aber bestimmt, und rutschte ein Stück auf den Knien vom Patienten weg. Seine Worte hallten durch die schummrige Praxis, durchzogen von dem monotonen Piepen des Herzmonitors – ein Geräusch, das er hasste, weil es immer dasselbe sagte: nichts. In aller Kürze besprachen sie sich. Jax warf einen Blick auf den Monitor, die flache Linie starrte ihn an wie ein stummer Vorwurf. Warum machst du überhaupt noch weiter, Jax? Er schob den Gedanken weg. Es war nicht das erste Mal, dass er sich das fragte.
„Oh, Mann, du hast recht. Es hat wirklich keinen Sinn mehr“, flüsterte Andrew, inzwischen klatschnass geschwitzt. Seine Hände zitterten, als er den Beatmungsbeutel ablegte, und Jax sah die Erschöpfung in seinem Blick – und die Angst. Andrew war nicht wie er. Noch nicht.
Jax beendete die Reanimation und schloss mit der flachen Hand die Augen des Doktors. Einen kurzen Moment hielten die beiden schweigend inne, nur das Piepen des Monitors durchbrach die Stille. Mit einem Ruck öffnete er das Fenster, die kalte Luft schlug ihm ins Gesicht. – Frische Luft. Das brauch ich jetzt.
„Was machst du da?“, fragte Andrew neugierig, fast entsetzt.
„Das nennt man eine Seelenöffnung – oder einfach das Öffnen des Fensters für die Seele. Es ist ein alter Brauch, der in verschiedenen Kulturen existiert. Die Idee dahinter ist, dass die Seele des Verstorbenen den Raum verlassen kann, anstatt darin gefangen zu bleiben.“ Jax glaubte zwar nicht an solche Dinge, aber aus Respekt vor dem Toten tat er es trotzdem. Seine Mutter hatte ihm das mal erzählt, damals, als sein Großvater starb. Die Seele muss frei sein, Jax, hatte sie gesagt, die Hände voller Tränen. Er wusste nicht, ob er es damals verstanden hatte, aber heute … heute fühlte es sich richtig an.
„Okay, pass auf, ich spreche mal mit der Assistentin. Schreib du schon mal ein EKG, ich komme gleich wieder.“ Jax warf Andrew noch ein warmes Lächeln zu, doch in seinem Inneren brodelte Unruhe. Er verschwand im Raum gegenüber, die Symbole brannten sich in seine Gedanken ein und ließen ihn nicht los. Was zum Teufel soll das alles? Er blieb kurz stehen, starrte die Wand an, als könnte sie ihm antworten. Die Linien schienen zu tanzen, sich zu bewegen – oder bildete er sich das nur ein? Reiß dich zusammen, Jax. Aber ein Gedanke nagte an ihm: Das hier ist größer, als ich ahne.
Kapitel 1 – Seelenfrieden
Die Praxis von Dr. Sheen lag direkt am Flathead Lake, einem etwa fünfzig Kilometer langen und fünfundzwanzig Kilometer breiten See. Er gilt als größter Süßwassersee westlich des Mississippi, direkt neben dem beschaulichen Örtchen Bigfork. Jax kannte den See wie seine Westentasche – als Kind hatte er hier Steine übers Wasser hüpfen lassen, mit seinem Dad Forellen geangelt, bis die Sonne unterging. Damals war der See sein Spielplatz, ein Ort, wo die Welt noch heil war. Aber jetzt? Jetzt starrte er auf die Wellen durchs Fenster der Praxis und fühlte nur Leere. Der Doc war tot, und der See lag da wie ein stummer Zeuge, der nichts mehr zu sagen hatte.
Die kleine Stadt mit etwa fünftausend Einwohnern befindet sich im Herzen von Montana, umschlungen von den gewaltigen Rocky Mountains. Bigfork war stets ein Ort der Ruhe und des Friedens – zumindest hatte Jax das immer gedacht. Die Leute hier kannten sich, halfen einander, tratschten im Jason’s über den neuesten Klatsch. Aber heute? Heute hing eine dunkle Wolke über der Stadt, und Jax spürte sie in seinen Knochen.
Die Sommer waren heiß, die Winter kalt – verdammt kalt. Die Alten erzählten von einem Schneesturm, der so verheerend war, dass die gesamte Kleinstadt vier Wochen lang von der Außenwelt abgeschnitten war. Telefonnetz, Straßen und Güterverkehr waren lahmgelegt, die Vorräte knapp, die Stimmung aufgeheizt. Jax erinnerte sich an die Geschichten seines Vaters: „Damals haben wir Holz gehackt, bis die Finger bluteten, nur um warm zu bleiben.“ Sein Dad hatte immer gelacht, wenn er das erzählte, aber Jax sah die Narben an seinen Händen – Beweise, dass Bigfork nicht immer so friedlich war, wie es aussah. Doch die genauen Details dieser Zeit blieben ungewiss, denn die Zeitzeugen schwiegen stur – oder sie waren längst unter der Erde.
Mittlerweile war auch der Polizei Chief eingetroffen. Jax wischte sich den Schweiß von der Stirn – nicht vom Einsatz, sondern von der Unruhe, die in ihm brodelte. Die Symbole an der Wand ließen ihn nicht los, kratzten an seinem Kopf wie ein Splitter, den man nicht rauskriegt. Was zum Teufel soll das bedeuten? Er versuchte, sich zu beruhigen, aber sein Magen drehte sich, als hätte er etwas Falsches gegessen.
„Okay, Sie sperren die ganze Praxis und den Parkplatz weiträumig ab. Ich will wissen, wer heute alles hier vorbeigekommen ist und wer Dr. Sheen zuletzt lebend gesehen hat!“, rief Charlie ihren beiden Polizisten zu und strich sich eine Strähne hinters Ohr. Ihre Stimme war klar, scharf wie ein Messer – sie meinte es ernst. Jax beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie war erst seit knapp einem Jahr in Bigfork, nachdem der alte Chief Dixon in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war. Die Stelle des Chief Deputy war neu vergeben worden, und Charlie hatte die Chance ergriffen. Eine Frau, die weiß, was sie will, dachte Jax. Er kannte sie noch nicht lange, aber sie hatte was – eine Mischung aus Härte und Wärme, die ihn nervös machte.
Das Flathead County Sheriff’s Office in Kalispell war der Hauptsitz der örtlichen Polizei; da Bigfork relativ klein war, gab es hier nur eine Außenstelle, die nun von Chief Deputy Charlie Hayes und ihren vier Polizisten geleitet wurde. Jax hatte gehört, wie sie mal im Pub darüber sprach – halb im Spaß, halb ernst. „Kalispell ist das Ziel, aber Bigfork macht mich erst mal hart“, hatte sie gesagt und gelacht. Eigentlich war sie nicht scharf darauf gewesen, aufs Land zu ziehen. Aber mit gerade mal neunundzwanzig Jahren zum Chief Deputy aufzusteigen, war zu verlockend gewesen. Es ist ja nur ein Sprungbrett, dachte sie oft. Drei oder vier Jahre vielleicht, und dann bewerbe ich mich endlich auf die Stelle des Sheriffs.
Jetzt, wo er sie hier sah, mitten im Chaos, glaubte er ihr jedes Wort.
Anfangs hatten die Einwohner skeptisch geguckt, als eine junge Frau Ende zwanzig plötzlich die Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen sollte. Jax erinnerte sich an die Blicke im Supermarkt, die geflüsterten Kommentare: „Was soll die denn hier machen? Die hält doch keine Woche durch.“ Aber mit ihrer aufgeschlossenen, selbstbewussten Art gewann Charlie die Einwohner schnell für sich. Sie war eine Frau, die lächelte, aber auch hart durchgreifen konnte. Das wussten spätestens alle seit letztem Herbst, als Fred, der nicht gerade trinkfeste Sohn des Supermarktbesitzers, auf dem jährlichen Kürbisfest betrunken randaliert hatte. Jax war dabei gewesen – er hatte gesehen, wie Fred mit einer Bierflasche wedelte und Leute beleidigte, bis Charlie ihn in nicht einmal dreißig Sekunden mit Handschellen auf dem kalten Boden der Raven Street hatte.
„Ich glaube, du hast genug für heute“, hatte sie gesagt und sein Handgelenk so festgehalten, dass Fred sich zusammenreißen musste, um nicht loszuweinen. „Du hast eine Übernachtung bei uns gebucht, mein Lieber, und du wirst dich bei deinen Mitbürgern für dein ungebührliches Verhalten entschuldigen.“ Die Menge hatte gejohlt, und Jax hatte gedacht: Die hat’s drauf.
Charlie betrat die Praxis von Dr. Sheen, ihre Stiefel klackerten auf dem Holzboden. Die 1,80 Meter große, sportliche Frau hatte dunkles, fast schwarzes Haar, meist zu einem Zopf gebunden. Ihre graugrünen Augen strahlten Leidenschaft aus, und ihr Gesicht war feminin mit spitzen Wangenknochen und leichten Sommersprossen, die sie schon seit Kindheitstagen hasste. Ihre Mutter hatte sie immer zu Schönheitswettbewerben gezerrt, mit Glitzerkleidchen und falschem Lächeln.
„Du bist so hübsch, Charlotte, zeig das doch!“, hatte sie gesagt, aber Charlie hatte schon früh gewusst, dass das nicht ihre Welt war. Charlies Entscheidung für die Polizei gefiel ihrer Mutter zunächst nicht – „Warum machst du dir das Leben so schwer?“ –, doch mittlerweile hatte sie sich wohl damit abgefunden. Na ja, zumindest ruft sie nicht mehr jeden Tag an, dachte Charlie mit einem schiefen Grinsen.
„Hey, Jax, ich bin so schnell hergefahren, wie ich konnte. Wie sieht es aus? Was ist passiert?“
Charlie begutachtete die Leiche mit einem Blick, den Jax nicht einordnen konnte. War es Sorge? Neugier? Allein ihre Anwesenheit machte ihn nervös. Reiß dich zusammen, du Idiot, du bist hier im Dienst, und lass dir bloß nichts anmerken, dachte er und spürte, wie sein Puls schneller ging. Sie hatte irgendetwas an sich – diese Ruhe, die sie ausstrahlte, auch wenn alles um sie herum chaotisch war.
„Hi Charlie, gut, dass du da bist. Also Folgendes: Patient männlich, sechsundfünfzig Jahre alt, von seiner Assistentin auf dem Rücken liegend vorgefunden. Herz-Kreislauf-Stillstand, ca. vierunddreißigminütige Reanimation ohne Erfolg. Todeszeitpunkt ca. 16:41 Uhr. Todesursache unklar. Ich sehe weder Fremdeinwirkung noch, dass er etwas verschluckt haben könnte. Der Doc war immer fit, letztes Jahr hat er noch den Frühlingslauf gewonnen. Aber ich bin kein Forensiker. Na ja, weshalb du auf jeden Fall kommen solltest, siehst du ja selbst.“ Jax zeigte auf die schwarzen Symbole an der Wand, seine Stimme war ruhig, aber seine Hände zitterten leicht. Warum fühl ich mich so komisch? Er sah kurz weg, die Linien der Symbole verschwammen für einen Moment vor seinem Gesicht – oder bildete er sich das ein?
Charlie nahm ihr Handy und fotografierte sorgfältig die mysteriösen Zeichen. „Mhhh, okay, ja, interessant. Und was sagt die Assistentin von Dr. Sheen?“
„Ich habe kurz mit ihr gesprochen, aber wirklich viel habe ich nicht aus ihr rausbekommen. Sie steht noch unter Schock. Der Doc war wie ein Vater für sie.“ Jax’ Blick wanderte zum Empfangsbereich, wo Hanna saß, zusammengesunken, die Hände im Schoß verkrampft. Armes Mädchen, dachte er. Er kannte sie vom sehen – immer freundlich, immer fleißig. Jetzt sah sie aus, als hätte jemand ihr Leben in Stücke gerissen.
„Verständlich“, antwortete Charlie und sah ebenfalls zu Hanna. „Ich versuch mal mein Glück. Jax, kannst du auf den Forensiker warten und eine Übergabe mit ihm machen?“
„Ja klar, Chief.“ Er nickte, hielt den Blick gesenkt, weil er nicht wollte, dass sie seine Unsicherheit bemerkte.
„Du kannst mich Charlie nennen“, sagte sie schmunzelnd und machte sich auf den Weg zu der zusammengekauerten jungen Frau. Jax schaute ihr nach – ihre Schritte waren sicher, ihr Zopf wippte leicht. Gott, diese Frau …
Hanna war schon immer neugierig gewesen. Das führte dazu, dass sie sich früh entschloss, Medizin zu studieren. Sie hatte sich das nötige Geld für das Studium selbst verdient – mit Jobs im besten Diner der Stadt, dem The Onion, im Supermarkt und quasi überall, wo sie etwas verdienen konnte.
Dr. Sheen hatte sie in alle Prozesse eingebunden und all ihre Fragen stets gerne beantwortet. Warum musste das passieren?, dachte sie, zitternd und kreidebleich auf einem hölzernen Stuhl sitzend. Sie versuchte, sich irgendwie zu beruhigen, aber ihre Hände wollten nicht aufhören zu beben.
„Was soll ich jetzt nur machen? Oh, Gott, Dr. Sheen“, murmelte sie verzweifelt, während ihre Tränen auf den lasierten Holzboden fielen. Sie erinnerte sich an den Tag, als Sheen sie eingestellt hatte – „Du hast ordentlich was im Kopf, Hanna, du wirst mal eine großartige Ärztin“, hatte er gesagt, mit diesem väterlichen Lächeln. Jetzt war er weg, und sie fühlte sich verloren.
„Hallo, Sie sind Hanna? Ich bin Polizei Chief Charlie Hayes. Können Sie mir sagen, was passiert ist?“ Charlie hockte sich neben sie, ihre Stimme sanft, aber bestimmt.
„Ich … ich kam gerade aus der Apotheke zurück. Dr. Sheen hatte mich gebeten, ein paar Medikamente zu besorgen, damit wir über das Wochenende versorgt sind. Als ich die Praxis betrat, sah ich ihn auf dem Boden liegen. Ich habe sofort den Rettungsdienst gerufen und mit der Wiederbelebung begonnen.“ Hannas Stimme war mehr ein Wimmern, sie wischte sich über die Stirn. Ich hab’s versucht, ich hab’s wirklich versucht …
„Okay, Hanna, ist dir heute irgendetwas komisch vorgekommen? Gab es Patienten, die unfreundlich waren? Hatte er Feinde, von denen du weißt?“ Charlie legte eine Hand auf Hannas Schulter, ein kleiner Fixpunkt in ihrem Chaos.
„Feinde? Nein, Dr. Sheen war überall beliebt. Es war ein Tag wie jeder andere. Joe Crane war heute hier und hat lautstark auf den Doc eingeredet. Er war laut Terminbuch auch der letzte Patient vor der Mittagspause. Was sie genau besprochen haben, weiß ich nicht, denn ich habe mich dann auf den Weg gemacht in die Pause.“ Hanna stockte. Joe … der war schon immer komisch. Aber Feinde? Nein, das passt nicht.
„Interessant“, murmelte Charlie und machte sich ein paar Notizen auf ihrem kleinen Block. Joe Crane, hm? Den muss ich mir anschauen.
Sie hockte sich behutsam neben Hanna.
„Danke, Hanna. Das hilft mir schon weiter. Würdest du mit meinem Kollegen McAllister aufs Revier fahren, um eine Aussage zu machen?“
„Natürlich“, antwortete Hanna und begab sich zitternd mit Cody McAllister zum Streifenwagen. Ihre Schritte waren schwer, als würde sie eine Last mit sich schleppen, die sie nicht loswurde.
Die Praxis von Dr. Sheen lag direkt am See, etwa drei Kilometer vom Ortskern entfernt. Ein altes Holzhaus, das vor zwanzig Jahren zur Arztpraxis umgebaut worden war. Letztes Frühjahr hatte es einen neuen roten Anstrich bekommen, die weißen Fenster glänzten frisch, und der Bootssteg lud zu einer Runde im Segelboot ein. Jax liebte den Steg – früher hatte er hier mit Chris gesessen, Bier getrunken und über alles geredet, was sie damals beschäftigte. Ach, Chris, wird mal wieder Zeit, dass du dich blicken lässt, dachte er, während er dem Forensiker Bericht erstattete.
„Gut, dann bin ich jetzt im Bilde, danke, Jax. Ich sichere alle Spuren und bringe anschließend alles nach Missoula. In achtundvierzig Stunden wissen wir mehr. Toxikologische Berichte dauern etwas länger.“ Der Forensiker, ein Typ mit Brille und zu viel Kaffee im Blut, nickte ihm zu. Jax zeigte ihm den Leichnam, den er zuvor mit einem weißen Tuch vorsichtig abgedeckt hatte. Und natürlich diese merkwürdigen Zeichen.
Jax schaute sich die Symbole an der Wand genauer an. Es waren insgesamt sieben etwa zwanzig bis vierzig Zentimeter große, mit schwarzer Kreide gezeichnete Zeichen. Für Jax ergab das alles keinen Sinn. Waren die Symbole vor oder nach dem Tod angebracht worden? Oder hatte Dr. Sheen sie selbst gezeichnet, um eine Botschaft zu hinterlassen? Das ergibt keinen Sinn, wieso sollte er so etwas tun? Dutzende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er fühlte sich rastlos und erschöpft. Vielleicht war’s Joe.
Aber warum? Seine Augen brannten, und für einen Moment sah er die Linien doppelt – ein Schwindel, der ihn kurz taumeln ließ. Was ist los mit mir?
„Das könnte mit Kohle geschrieben worden sein“, hörte Jax eine Stimme hinter sich sagen. Er fuhr herum – Charlie.
„Oh, Charlie, hab dich gar nicht bemerkt.“ Verdammt, wie macht sie das?
„Eine meiner Spezialitäten“, sagte sie lächelnd. „Ich habe allerdings keine Ahnung, was die Symbole bedeuten. Wir nehmen Proben und schauen, was sich ergibt.“
„Du hast recht, einige Stellen sehen auch echt verschmiert aus. Ich habe so was noch nie gesehen.“
„Ich auch nicht, es erinnert mich irgendwie an eine Art uralte Schrift. Viele geometrische Formen.“ Charlie kramte ihren Notizblock wieder hervor und kritzelte hastig etwas darauf. „Lass uns später noch mal sprechen, sobald ich mehr weiß. Vielleicht brauche ich dann noch mal deine Unterstützung, auch in medizinischen Fragen. Komm doch am besten morgen in meinem Büro vorbei, okay?“
„Klingt nach einem Plan!“ Jax grinste wie ein Honigkuchenpferd und bemerkte dabei etwas in ihrem Blick. Was war es nur? Verdammt, diese Frau ist einfach so unglaublich … Während er in seinen Gedanken zu versinken drohte, begann Charlie ihre Ermittlungen fortzusetzen.