Kapitel 1
Berlin, 4. März 1929
Die Luft war schwül und gesättigt vom Dunst von Schweiß, schalem Bier und schwerem Zigarettenrauch. Die Tanzenden sahen erwartungsvoll zu dem kleinen Podium, auf dem die Band Platz genommen hatte. Hermann atmete tief durch. Er wechselte einen Blick mit Gordon, der ihm zunickte und dabei schelmisch grinste. Hermann setzte die Klarinette an. Dann intonierte er ein A. Die Mitglieder der sechsköpfigen Band, abgesehen von Peter, dem Schlagzeuger, spielten ebenfalls den Kammerton und nachdem dies zuerst eine Kakofonie verschiedener Klänge hervorgerufen hatte, stimmten die anderen ihre Instrumente ein, bis endlich ein reines A erklang. Für Hermann war dies der schönste Moment vor dem Konzert. Sie alle waren im Einklang. Und gleich würden sie ihre Musik darbieten, zur Freude und zur Unterhaltung der anwesenden Gäste. Im Publikum konnte Hermann Männer in Anzügen erkennen, die ihre Jacketts schon abgelegt und die Ärmel ihrer Hemden hochgekrempelt hatten. Und Frauen in Flapperkleidung, die ihre Glockenhüte an der Garderobe abgegeben hatten, in kurzen, mit glänzenden Pailletten bestickten Kleidern, die den Beinen die Freiheit gaben, ausgelassen zu tanzen. Er atmete noch einmal tief durch, dann nickte er dem Schlagzeuger zu.
Peter begann mit einem wilden Rhythmus. Er rührte mit seinen Jazzbesen auf dem Snaredrum herum, dann bearbeitete er die beiden Toms. Schon das reichte aus, die Menge in Ekstase zu versetzen. Die Leute begannen ihre Hüften zu schwingen, schüttelten ihre Beine, hoben die Fäuste nach oben und wackelten mit den Armen. Hermann konnte nicht anders, auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Und dann kam sein Einsatz. Er setzte die Klarinette an und spielte eine vielfach synkopierte Melodie. Die anderen fielen ein und schon machte sich das wohlige Gefühl der Gemeinschaft in ihm breit. Das Gefühl, dem Publikum etwas Gutes, etwas Schönes zu geben, die Leute aus dem tristen Alltag ihres Lebens herauszuholen, ihnen ein paar Stunden der Freude, vielleicht sogar der Ekstase zu verschaffen, von denen sie zehren würden, wenn sie unter der Woche wieder in ihre Arbeitsstellen zurückkehrten. Sei es nun in die Werkshallen oder in die Büros.
Hermann ließ sich in die Musik fallen und begann die Zwiesprache mit Gordon. Dieser gab ihm eine Melodie vor und er antwortete. Sie umrankten sich wie zwei Liebende, die sich neckten. Und dann spielten sie einmütig nebeneinander her und überließen dem Klavier und dem Saxofon ihren Platz.
Nach fünf Stücken legten sie eine kurze Pause ein. Hermann trank einen Schluck aus dem Wasserglas, das ihm der Wirt hingestellt hatte. Dieser hatte ihm einen seltsamen Blick zugeworfen, aber das war Hermann inzwischen gleichgültig. Die anderen tranken Bier. Das war in Ordnung. Bier hatte Hermann noch nie gemocht. Gefährlich konnten ihm Cognac, Whisky, Gin oder andere geistige Getränke werden. Um die machte er einen großen Bogen. Er trank einen Schluck, überprüfte, ob mit seiner Klarinette alles in Ordnung war und gab der Band ein Zeichen und sie setzten ihr Programm fort.
Sechs Stunden später, um zwei Uhr morgens, spielten sie ihr letztes Stück. Die Menge hatte jegliche Hemmung fallen lassen. Die Gesichter waren schweißüberströmt. Die sorgfältig frisierten Locken der Frauen klebten an glänzenden Stirnen, auf den Hemden der Männer breiteten sich große Schweißflecken unter den Achseln aus. Die Mienen der Tänzer waren nicht ausschließlich glücklich, wirkten bisweilen erschöpft oder in manchen Fällen zu seltsamen Grimassen verzerrt. Da war wohl Kokain im Spiel. Auch um diese Droge hatte Hermann einen Bogen gemacht. Und er war froh darüber.
Das letzte Stück verklang in einem Akkord, den alle Instrumente hielten, während das Schlagzeug ein wildes Solo hinlegte. Dann schlug Peter noch ein Mal das Becken an und ihr Set war vorbei. Die Leute brüllten, applaudierten, forderten Zugaben, doch Hermann und seine Freunde verbeugten sich und gingen zielstrebig von der Bühne. Gordon warf ihm einen Blick zu, aber Hermann schüttelte den Kopf. Es war jedes Mal das gleiche Spiel. Sein Geliebter war nie abgeneigt, dem Publikum noch eine Zugabe zu gönnen. Aber wenn man den Leuten den kleinen Finger reichte, wollten sie die ganze Hand und dadurch hatten sich ihre Auftritte nicht selten bis in die Morgenstunden gezogen. Manchmal hatte er erst morgens um sechs die Lokalität verlassen und war zu spät nach Hause gekommen. Erika war schon auf dem Schulweg gewesen und Hermann war mit einem schlechten Gewissen zu Bett gegangen.
Sie gingen zu dem kleinen Umkleideraum und Hermann begann damit, seine Klarinette auseinanderzubauen.
„Na, das war doch nicht schlecht“, sagte Peter. „Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?“
„Wir könnten noch ins Vertige oder ins Roland gehen“, schlug Gordon vor. „Die haben bis zum Morgengrauen geöffnet. Und nach dem ganzen Gepuste könnte ich noch einen Absacker vertragen.“
Er sah erwartungsvoll zu Hermann hin. Dieser unterdrückte ein Seufzen. Auch das war immer wieder das gleiche Spiel. Dass Gordon nie müde wurde, ihn vor versammelter Mannschaft unter Druck zu setzen?
Hermann schüttelte den Kopf. „Ohne mich. Ich bin total erschöpft. Das muss wohl das Alter sein. Mein Schädel brummt. Und im Vertige ist es immer so laut. Ich habe keine Lust auf eine Migräneattacke. Zudem muss ich morgen früh raus.“
Peter und die anderen nickten. Sie akzeptierten, dass Hermann seinen Schlaf höher schätzte als durchzechte Nächte. Gordon dagegen verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Nun gut, dann geh du mal schön heim und nimm dir deinen Schönheitsschlaf. Ist es in Ordnung, wenn ich mit den Jungs noch eine Runde um die Häuser ziehe?“
„Aber natürlich, du bist ein freier Mensch. Ich heize schon einmal das Bett an“, sagte Hermann.
„Das will ich dir auch geraten haben. Wenn ich morgen früh nach Hause zurückkehre, bin ich sicher total durchgefroren. Da musst du mich wärmen.“
Aus den Augenwinkeln sah Hermann, dass Peter grinste. Natürlich wussten die Bandmitglieder, dass er und Gordon ein Paar waren. Doch nie hatte einer von ihnen Anstoß daran genommen oder auch nur eine anzügliche Bemerkung fallen lassen. Hermann gab Gordon einen Abschiedskuss. Er trat durch den Seiteneingang hinaus in einen Hinterhof. Die Nacht war kühl, aber er genoss die Stille, genoss es, die frische Luft in seine Lungen zu ziehen. Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint. Leise vor sich hin pfeifend machte er sich auf den Heimweg.
***
Ein schwacher Sonnenstrahl fiel durch die Seitenfenster des kleinen Ateliers in der Puttkammerstraße und warf ein viereckiges Muster auf den frisch gewienerten und gebohnerten Dielenboden. Hilde setzte sich auf einen der Hocker, die üblicherweise vor den beiden Drehscheiben standen, die an einem der großen Schaufenster aufgestellt waren, damit Passanten ihr und Fanny beim Arbeiten zusehen konnten. Ihre Hand zitterte leicht.
„Na, bist aufgeregt?“, fragte Fanny.
„Du etwa nicht?“, erwiderte Hilde.
Fanny grinste. „Na ja, es ist ja nicht so, dass wir unsere Frühjahrskollektionen nicht schon viermal vorgestellt hätten. Und es ist auch nicht so, dass wir nicht jedes Mal großartige Kritiken bekommen hätten. Unsere Designs gefallen. Du weißt, dass wir etwas Wunderbares geschaffen haben.“
Hilde nickte. „Ja, ich hoffe nur, dass sich das auch einmal finanziell niederschlägt.“
„Wir kommen doch über die Runden. Oder würdest du unsere künstlerische Freiheit missen wollen? Wahrscheinlich würden wir als Angestellte einer großen Fabrik viel besser verdienen, selbst wenn wir nur die Designs zeichnen würden. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Du etwa?“
„Natürlich nicht. Aber trotzdem würde ich mir wünschen, dass unsere diesjährige Kollektion etwas mehr abwirft als die im letzten Jahr. Gut, wir haben keine Schulden, wir schreiben schwarze Zahlen. Aber viel bleibt nicht übrig. Und klar, du kommst gut über die Runden. Du lebst aber auch allein. Ich muss mich um Paulchen und die Gouvernante kümmern.“
Sie sah, dass Fanny dazu ansetzte, etwas zu erwidern, dann aber doch schwieg. Sie wusste, was ihre Freundin und Geschäftspartnerin ihr sagen wollte. Dass die Kinderfrau weiterhin von ihrer Mutter finanziert wurde. Das stimmte auch. Ihre Mutter bezahlte Frau Gerwigs Lohn. Aber die Verköstigung, die Miete und alle Nebenkosten übernahm Hilde. Und Berlin war nach wie vor ein teures Pflaster. Sie kamen über die Runden. Gerade eben so. Und das setzte Hilde unter Druck.
Sie ließ den Blick über die Werkstatt schweifen. Auf insgesamt vier Tischen waren ihre diesjährigen Erzeugnisse ausgestellt. Das Design der Gefäße wirkte erstaunlich altmodisch. Das lag daran, dass Hilde in einer Architekturzeitschrift über Ausgrabungen auf Kreta gelesen hatte. Dort waren uralte Tonbehälter gefunden worden, die mit einer speziellen Technik hergestellt waren. Dabei waren einzelne Stellen des Tons während des Brennvorgangs mit Holzkohle berührt worden, sodass diese eine unterschiedliche Färbung angenommen hatten. Hilde hatte sich aber nicht nur vom Herstellungsprozess, sondern auch von den antiken Formen inspirieren lassen und so sahen einige ihrer Produkte aus, als ob sie einem minoischen Palast entstammten.
„Ich bin gespannt, wie das beim Publikum ankommt“, sagte Fanny. „Es ist schon etwas wagemutig. Im Bauhaus haben wir gelernt, alles Unnütze wegzulassen und die Funktion in den Vordergrund zu stellen. Ich glaube nicht, dass Krehan oder die andere Meister gutheißen, dass wir uns von den alten Griechen inspirieren lassen und Holzkohle auf unsere Gefäße pressen.“
„Das ist es doch gerade“, entgegnete Hilde. „Die Funktion ist nicht beeinträchtigt. Die Gefäße sind praktisch. Das Fassungsvermögen ist erstaunlich groß, die Henkel sind breit und dazu sehen sie auch noch schön aus. Und das Design ist ungewöhnlich. Es ist gleichzeitig uralt und brandneu. Das hat die Konkurrenz nicht zu bieten.“
Fanny lachte. „Nun, es ist wie immer. Wenn es um unsere Einnahmen und Ausgaben geht, bin ich die, die das Ganze locker sieht. Was dagegen die künstlerischen Aspekte anbelangt, da bist du die Optimistin. Wir sind schon ein gutes Team, nicht wahr?“
Hilde nickte. Ja, das waren sie.
Die Türklingel schellte. Es war Hedwig Bollhagen, eine befreundete Tonkünstlerin aus Velten. Sie trat auf die beiden Frauen zu, Hilde erhob sich und sie gaben sich gegenseitig einen flüchtigen Kuss auf die Wangen. Dasselbe wiederholte sich mit Fanny. Dann trat Hedwig zu dem ersten Tisch.
„Ihr habt es also wirklich wahr gemacht? Ihr habt euch von altgriechischen Vasen inspirieren lassen?“
Hilde schüttelte den Kopf. „Nein, nicht von Vasen. Von Vorratsgefäßen. Die Keramiken, die ich auf den Fotos gesehen hatte, haben ja auch damals schon einem alltäglichen Zweck gedient. Und das sollen auch heute ihre hauptsächliche Aufgabe sein. Sie sollen praktisch sein. Und schön zugleich.“
Sie beobachtete Hedwig, deren Augen ein Objekt nach dem anderen ausführlich musterten. Sie wandte den Kopf, sah sich jede Seite genau an, bückte sich einmal sogar, um die Perspektive von unten einzunehmen. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und betrachtete den gesamten Tisch. Dann nickte sie und Hilde fiel ein Stein vom Herzen.
„Und sie sind wunderschön. Wie habt ihr das mit den Flecken hinbekommen?“
Hilde erklärte es ihr.
Hedwig nickte anerkennend. „Das ist aber ganz schön aufwendig. Eine allzu hohe Stückzahl könnt ihr nicht herstellen, oder?“
Dieses Mal war es Fanny, die erwiderte: „Ja, es sind leider nur handgefertigte Stücke. Und die haben natürlich auch ihren Preis. Ich hoffe, dass sie genügend Abnehmer finden. Aber schön sind sie, da hast du sicher recht.“
Die Türklingel schellte erneut und die nächsten Gäste traten ein. Es waren sämtlich Kolleginnen und Kollegen oder Bekannte, die sie in den letzten fünf Jahren in Berlin kennengelernt hatten. Es war nicht leicht gewesen, sich in der neuen Stadt zurechtzufinden, doch schließlich war es ihnen gelungen, einen kleinen, aber feinen Bekanntenkreis aufzubauen. Berlin war wie eine zweite Heimat für sie geworden und sie fühlte sich wohl hier. Auch wenn ihr Berlin im Gegensatz München, das ja auch eine Metropole war, zu städtisch war. Aber immerhin konnte man in München bei gutem Wetter die Alpen sehen und im Englischen Garten flanieren, während man in Berlin schon eine Weile fahren musste, bis man im Grünen war. Und den Tiergarten mied man sowieso besser, denn dort waren zu viele Prostituierte unterwegs.
Nach einer weiteren halben Stunde war das Atelier gut gefüllt und die Gäste ließen es sich bei Sekt und Häppchen gut gehen. Hilde betrachtete all die Menschen, die sie mochte und schätzte. Die Kommentare zu ihrer Kollektion waren bislang voll des Lobes gewesen, niemand hatte irgendetwas zu kritisieren gehabt, keiner hatte etwas schlecht geredet. Alle schienen sie begeistert zu sein von den ungewöhnlichen Designs. Und Hilde war das Herz aufgegangen. So sollte es sein. So und nicht anders.
Sie nahm einen Schluck Sekt und spürte das Prickeln auf ihrer Zunge. Das war angenehm, den leicht herben Nachgeschmack mochte sie dagegen weniger. Fanny trat auf sie zu, ebenfalls ein Glas Sekt in der Hand haltend. Sie hob es und die beiden Frauen prosteten sich zu.
„Auf unsere neue Kollektion!“, sagte Fanny.
Hilde nickte. „Und auf viele begeisterte Käufer!“
Kapitel 2
Berlin, 5. März 1929
Hilde saß im Schaufenster. Inzwischen fühlte es sich nicht mehr seltsam an, wenn sie an ihrer Drehscheibe den Ton formte, während die Passanten draußen vorübergingen. Viele sahen gar nicht her, andere warfen ihr nur einen flüchtigen Blick zu. Ab und zu blieb jemand stehen und beobachtete sie. Das waren vor allem Kinder und manche schienen wahrhaftig interessiert an ihrer Arbeit zu sein. Leider zogen die Eltern die Kleinen dann meist rasch mit sich weiter. Aber vielleicht gelang es ihr trotzdem, ein paar Kinder für die Töpferei zu begeistern.
Fanny wollte eher potenzielle Käufer anlocken. Und Hilde konnte es ihr nicht verdenken. Sie hatten viele Ideen, aber zu wenig Kunden. Ein Schatten fiel auf sie. Das war kein Kind, das musste eine größere Gestalt sein, die ihr zusah. Sie nahm die Hände von dem Werkstück und blickte auf. Ihre Augen weiteten sich. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie sah noch einmal hin, aber es war keine Täuschung. Sie sprang auf, wusch sich die Hände in dem kleinen Becken, das neben der Drehbank aufgestellt war und eilte zum Eingang. In diesem Moment hörte sie das Glöckchen und die Tür öffnete sich. Die Frau, die eintrat, hatte noch immer das strahlende Lächeln, das Hilde zum ersten Mal vor vierundzwanzig Jahren an einem kleinen Bach in Deutsch-Ostafrika gesehen hatte. Es war dasselbe fröhliche Gesicht, dieselben blitzenden blauen Augen. Und doch hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen. Grübchen waren zu Falten geworden. Und die Haut wirkte dünner und fester zugleich über die hervortretenden Wangenknochen gespannt.
„Tante Isolde“, rief Hilde. „Was für eine schöne Überraschung!“
Isolde öffnete die Arme und Hilde warf sich hinein. Es war wie früher. Sie fühlte sich wieder wie ein kleines Mädchen und sie genoss es, den warmen Körper ihrer Tante an sich zu drücken.
„Was führt dich nach Berlin? Ist mit Lotte alles in Ordnung?“
Isolde lächelte. „Ja, ausnahmsweise herrscht bei meiner großen Liebe einmal kein Ausnahmezustand. Sie hat sich nicht in irgendwelche Schlägereien mit Nationalsozialisten oder anderen rechten Grobianen verwickeln lassen und ich muss sie nicht wieder zusammenflicken. Nein, ich bin deinetwegen nach Berlin gekommen.“
Hilde runzelte die Stirn. „Meinetwegen?“
„Ja. Ich will dich nicht von deiner Arbeit abhalten, aber wollen wir vielleicht in ein Café gehen? Gerne auch später, wenn es dir besser passt. Dann können wir uns ein bisschen unterhalten.“
Hilde spürte, dass ihr Herz ein wenig schneller schlug. Was wollte ihre Tante von ihr? Warum hatte sie ihretwegen den weiten Weg von München auf sich genommen? Sie wusch sich noch einmal die Hände und sagte Fanny Bescheid, dass sie eine Weile abwesend sein würde. Dann schnappte sie sich ihren Mantel und das Hütchen und machte sich mit Isolde auf den Weg zu einem nahe gelegenen Café.
„Wie läuft das Geschäft?“, fragte ihre Tante.
„Künstlerisch sehr gut. Unsere neue Kollektion hat Anklang gefunden. Du hast es vielleicht gesehen, ich habe mich an altgriechischen Vorratsgefäßen orientiert.“
„Das sieht für mich minoisch aus, oder? Du hast die Ausgrabungen in Knossos verfolgt?“
Hilde grinste. „Nun, du offenbar auch.“
„Ja, Johann von Linden, mein alter Freund war ganz begeistert. Er hat diesen Evans auf Kreta besucht und konnte bei den Ausgrabungen dabei sein. Als nächstes wird er wahrscheinlich nach Ägypten reisen. Das Archäologiefieber hat ihn gepackt. Gut, dass seine Bank bei Herrn Krötzinger in vertrauenswürdigen Händen ist. Wie geht es Paulchen?“
Hilde verzog das Gesicht. „Es ist nach wie vor schwierig mit ihm. Er lässt sich nichts sagen.“ Sie seufzte. „Er ist eben ein Sturkopf. Ich glaube, das hat er von seinem Vater. Aber andererseits ist es auch schön, dass er einen starken Willen hat. Leider eckt er damit in der Schule immer wieder an. Er muss oft Nachsitzen und Strafarbeiten schreiben. Und zu Hause ist er meistens auch frech, ganz besonders zu Frau Gerwig. Ich hoffe, dass sie uns noch eine Weile erhalten bleibt. Sie hat schon viel mitgemacht in den letzten Jahren.“
Sie erreichten das Café. Hilde bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stück Stachelbeertorte, Isolde verzichtete auf den Kuchen.
„Aber du bist sicher nicht gekommen, um dich nach meiner neuen Kollektion und meinem Sohn zu erkundigen. Was ist los?“, fragte Hilde.
Isolde trank einen Schluck. Dann sah sie ihre Nichte an. „Es geht um deine Mutter.“
Hilde unterdrückte ein Seufzen. Zwei Jahre waren vergangen, seitdem ihre Mutter letztmals versucht hatte, sie zu einer Rückkehr nach München zu bewegen. Sie hatte mit guten Ausbildungsmöglichkeiten für Paulchen gelockt und mit einer Position in ihrer Firma. Was war es dieses Mal?
„Deine Mutter hat am vergangenen Donnerstag einen leichten Schlaganfall erlitten“, sagte Isolde.
Hilde stockte der Atem. „Was?“
Ihre Tante hob die Hände. „Es ist glücklicherweise nicht weiter schlimm. Sie ist nicht stark beeinträchtigt. Aber sie hat sich gewünscht, dich zu sehen. Ich wollte dir das nicht am Telefon mitteilen, deshalb bin ich persönlich vorbeigekommen.“
Hilde nickte. „Selbstverständlich. Ich fahre gleich nach München. Ich muss aber noch ein paar Dinge organisieren.“
„Du hast ein wenig Zeit. Im Mai fährt Elsa zur Kur ins Allgäu. Bereite dich vor und besuche sie. Ich glaube, dass sie sich sehr darüber freuen wird.“
„Du bist Ärztin und du würdest mir immer die Wahrheit sagen, oder?“, sagte Hilde.
„Natürlich.“
Hilde atmete tief durch. „Wie schlimm ist es?“
„Wie gesagt, noch war es nicht lebensbedrohlich. Aber deine Mutter sollte es als eine Art Warnschuss sehen. Beim nächsten Mal können die Folgen viel gravierender ausfallen. Sie muss etwas verändern. Sie muss kürzertreten. Und deswegen setze ich auf dich. Rede ihr gut zu.“
Hilde verzog das Gesicht. „Na, da hast du mich aber vor eine unlösbare Aufgabe gestellt.“
***
Es klingelte. Hermann rieb sich die Augen. Er sah zur anderen Seite des Bettes. Sie war leer. Wie spät war es? Er sah auf den Wecker. Mittag also. Wo Gordon wohl war? Am Morgen, als er aufgestanden war, um Erika zur Schule zu bringen, war er noch da gewesen. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt und Erika hatte eine detaillierte Schilderung verlangt, wie der Auftritt gewesen war und welche Stücke sie gespielt hatten. Hermann war angesichts der Begeisterung seiner Tochter das Herz aufgegangen. Sie hatte ihn angefleht, dass er sie zu einem der nächsten Konzerte mitnahm, aber das war ausgeschlossen. Eine Neunjährige hatte in einem Berliner Nachtclub nichts verloren. Er hatte sie zur Schule gebracht und war danach wieder nach Hause zurückgekehrt. Auch da hatte Gordon geschlafen.
Nun war er weg. Und es klingelte noch einmal. Hermann stand auf, griff nach seinem Morgenrock und ging durch die Wohnung. Er sah ins Wohnzimmer und in die Küche hinein, doch von Gordon war keine Spur zu sehen. Wo er nur steckte? Er öffnete die Haustür einen Spalt und sah hinaus. Seine Augen weiteten sich. Er schloss die Tür wieder, schob die Kette beiseite und öffnete sie dann ganz.
„Tante Isolde“, rief er. Seine Tante breitete die Arme aus. Hermann zögerte einen Moment. Er war ungewaschen und roch wahrscheinlich noch nach Kneipe. Dann fiel ihm ein, dass er am Morgen doch schon im Badezimmer gewesen war. Er nahm seine Tante in die Arme und drückte sie an sich.
„Das ist aber eine schöne Überraschung. Was führt dich nach Berlin?“
Sie gingen ins Wohnzimmer und Hermann bot Isolde einen Platz auf dem Sofa an, während er sich in den Ohrensessel setzte. Seine Klarinette wartete auf einem Ständer daneben auf ihren nächsten Einsatz und allein der Anblick des Instruments ließ ihm das Herz aufgehen.
„Ich bin gekommen, weil deine Mutter am vergangenen Donnerstag einen leichten Schlaganfall hatte.“
Hermann riss die Augen auf. „Wie geht es ihr?“
Isolde hob die Hände. „Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie muss sich nur erholen. Und sie muss einen Schritt kürzertreten. Ich habe Hilde bereits informiert und sie wird nächste Woche nach München reisen und eurer Mutter ins Gewissen reden.“
Hermann atmete tief durch. „Ich muss schauen, dass ich mir auch Zeit freinehmen kann, um nach München zu reisen. Mein letzter Besuch dort ist auch schon ein halbes Jahr her. Ein Schlaganfall sagst du? Woher kam das? Ich habe vorletzte Woche noch mit ihr telefoniert, das klang sie wie immer.“
Isolde seufzte. „Deine Mutter steht ständig unter Strom. Sie führt ein großes Unternehmen. Sie muss viele Entscheidungen treffen. Und dabei hat sie ihre Gesundheit vernachlässigt. Sie schläft wenig, isst unregelmäßig und ungesund. Sie sieht kaum Tageslicht. All das muss sich ändern. Ich habe ihr eine Kur verordnet. Ich hoffe, dass sie diese nicht in den Wahnsinn treibt.“
Trotz des anfänglichen Schocks musste Hermann nun lachen. „Oh, das kann ich mir vorstellen. Sie ist nicht der Typ dafür, den ganzen Tag an einem Brunnen zu sitzen und bitteres Wasser zu trinken.“
Isolde lachte. „Ja, ich glaube, das fasst es gut zusammen. Aber es wäre schön, wenn sie lernen würde, es zumindest nicht als unangenehm zu empfinden, einmal ein wenig Ruhe im Leben zu haben. Wie geht es dir denn?“
Hermann atmete tief durch. „Ich glaube, so seltsam es auch klingen mag, dass meine Mutter und ich die gleichen Themen haben. Auch bei mir geht es darum, Ruhe und Chaos irgendwie ins Gleichgewicht zu bringen. Ich spiele in einer Band. Und wir sind ziemlich erfolgreich. Die Nachtclubs reißen sich um uns.“
„Das ist doch schön. Du kannst leben, was du liebst.“
„Ja, natürlich ist das schön. Aber es ist auch anstrengend. Wir sind beinahe die ganze Nacht unterwegs. Das geht dann meistens bis zwei oder drei Uhr. Und morgens stehe ich um sechs wieder auf, damit ich mit Erika frühstücken und sie zur Schule bringen kann.“
„Erika. Die habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es ihr denn?“
Nun breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Sie ist mein Sonnenschein. So ein wunderbares Geschöpf. Wissbegierig, offen, neugierig. Ich könnte mir keine großartigere Tochter wünschen.“
„Das ist wundervoll“, sagte Isolde. „Kein Kind könnte sich mehr wünschen, als seinen Vater so etwas sagen zu hören.“
Hermann seufzte. „Ja, ich habe nur allzu häufig das Gefühl, dass ich zu wenig für sie da bin. Dass ich mich noch mehr für sie einsetzen sollte. Dass ich noch mehr Zeit mit ihr verbringen sollte. Wir haben eine Kinderfrau, die sie abends ins Bett bringt, wenn ich spiele. Und jedes Mal, wenn ich dann auf dem Weg in einen Nachtclub bin, denke ich, dass ich eigentlich bei meiner Tochter sein sollte, ihr etwas vorlesen, ihre Fragen beantworten oder ihr auf der Klarinette vorspielen, anstelle hunderter fremder Menschen in Abendkleidung.“
Isolde legte den Kopf schief. „Ich kann dein Dilemma verstehen. Und trotzdem bist du nicht der einzige, der mit seiner Zeit jonglieren muss. Wir alle haben unsere Interessen und Verpflichtungen, aber wir haben nur begrenzt Zeit. Ich wäre gerne viel mehr bei Lotte hier in Berlin, aber ich habe eine Praxis zu Hause und meine Patienten brauchen mich. Und es macht mir große Freude, mit ihnen zu arbeiten und für sie da zu sein.“
„Das kann ich verstehen. Und trotzdem ist es nicht einfach. Im Kopf ist mir das schon klar, aber es tut hier drin weh.“
Er klopfte sich auf die linke Seite der Brust.
„Wie geht es Gordon? Wo ist er?“, fragte Isolde.
Hermann zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er Brötchen holen oder irgendetwas anderes einkaufen. Heute Morgen war er noch da.“
Isolde sah ihn prüfend an. „Alles in Ordnung bei euch?“
Hermann seufzte. Seiner Tante entging auch nichts. „Ich denke schon. Wir sind nach wie vor glücklich miteinander. Aber auch verschieden. Gordon ist ein Nachtmensch. Wenn wir einen Auftritt haben, drängt es ihn, danach noch wegzugehen, einen Absacker zu trinken, zu feiern. Ich will nach Hause in mein Bett, damit ich für Erika da sein kann. Das führt regelmäßig zu Streit, und manchmal schweigen wir uns dann auch tagelang an. Wir versöhnen uns zwar immer wieder und das ist schön. Aber es ist manchmal eben auch anstrengend.“
Isolde nickte. „Das kenne ich. Damals, als ich mit Emily zusammengelebt habe, war es ähnlich. Ich habe im Fotoatelier gearbeitet und Emily hat das Nachtleben in Schwabing genossen. Da sind auch unterschiedliche Vorstellungen aufeinandergeprallt. Aber sieh es so, wenn die Liebe groß genug ist, kann man auch beides unter einen Hut bringen.“
Hermann schluckte. Wenn die Liebe groß genug ist. War sie das?
„Wie lange bleibst du denn in Berlin?“, fragte er.
„Nur kurz. Ich werde noch bei Lotte vorbeischauen, ein paar Tage mit ihr verbringen und dann wieder zurückkehren. Es war mir wichtig, euch persönlich vom Zustand eurer Mutter zu berichten. Es wäre doch seltsam, wenn ihr das über den Fernsprecher oder das Telegramm erfahren hättet.“
„Danke“, sagte Hermann. „Danke, dass du für uns und unsere Mutter da bist.“
Isolde lächelte. „Aber natürlich. So funktioniert das doch mit der Familie, oder?“