Leseprobe Seeluftküsse und Zuckerträume | Eine Feel Good Liebesgeschichte voller Humor und Küstenstimmung

Möwenkacke

Ein Möwenkreischen ließ mich aufsehen. Am düsteren Horizont segelten drei der Vögel elegant in den Sturmböen hin und her. Der Himmel über dem aufbrausenden Meer färbte sich beständig dunkler. Die letzten wärmenden Sonnenstrahlen verschwanden hinter den kräuselnden Wellen. Nach dem langen Winter hier im Westen von Finnland genoss ich das Licht umso mehr. Mit kalten Fingern schoss ich rasch ein Foto mit dem Handy für meine kleine Schwester und schickte es ihr. Sie sollte wissen, dass es mir gut ging und wie schön es hier war. Obwohl der Umzug in die Nähe von Pori mir großes Bauchweh bereitete, war meine Entscheidung gefallen.

Ich zog den Kragen meines Parkers höher und schlang die Arme fest um mich. Der eisige Wind durchdrang jede Naht und wirbelte mir Sand ins Gesicht. Es verdarb mir den atemberaubenden Ausblick keineswegs. Grinsend leckte ich mir das Salz von den Lippen. Das Unwetter, welches vom Meer her aufzog, erzeugte eine knisternde Atmosphäre, die mir eine Gänsehaut bescherte.

Eine halbe Stunde schon saß ich hier bei knapp acht Grad am Boden zwischen dem Strandroggen. Er bog und wog sich im Wind, genau wie meine langen blonden Haare. Jetzt im Frühling sprossen hier in den Dünen bereits üppige Büschel davon aus dem Sand. Es war eine magische Zeit, wenn überall grüne Flecken emporwuchsen, die Bäume kleine Knospen trugen und die wärmeren Tage ankündigten. Eine ruhige Übergangsphase, bevor die Touristen kamen. Ein Paradies voller seltener Pflanzen und Vogelarten mit traumhaftem Meerblick.

»Mika!«, rief Helena mich. Sie stand weiter hinten, wo die ersten vereinzelten Nadelbäume mehr Windschutz boten. Dahinter verschwanden die Ferienhäuser, auch mein kleines bescheidenes Heim, im Fichtenwald. Das Meer brandete schäumend gegen die Küste und untermalte Helenas fordernden Tonfall.

Zufrieden stemmte ich mich hoch und sammelte die Decke ein, auf der ich gesessen hatte. Als ich zurücksah, sah ich, dass sie nicht allein gekommen war.

Helena sammelte uns Frischlinge um sich und kümmerte sich verlässlich um uns. Neben ihr zitterte Tapio, während er die Arme fest um seinen schmalen Oberkörper schlang.

In wenigen Schritten erreichte ich einen der Bohlenwege, die hier wie ein Schienennetz zwischen den Dünen für einen sicheren Tritt sorgten. Ich stampfte ein paar Schritte tänzelnd auf, um den Sand von meinen Stiefeln zu schütteln. Die Decke wehte wie ein Umhang hinter mir her, als ich mit gesenktem Blick gegen den Wind ankämpfend zu meinen neuen Arbeitskollegen eilte.

»Du wirst dich direkt vor Saisonbeginn erkälten und flach liegen«, belehrte Helena mich mit einem erhobenen Zeigefinger.

»Hör auf sie, sonst reibt sie dich mit ihrer selbstgemachten Eukalyptus Lotion ein«, pflichtete ihr Tapio bei und kratzte sich über die Brust. Er trug nur einen übergroßen Wollpullover und einen dicken schwarzen Schal. Was erklärte, wieso er so schlotterte.

Ich umarmte ihn flüchtig zur Begrüßung, worauf mir der herbe Duft der angekündigten Lotion in die Nase stieg. »Riecht doch gut«, sagte ich schmunzelnd.

Er verzog leidend das Gesicht. »Sie hat mich so brutal gerieben, dass ich jetzt tagelang nach Eukalyptus stinken werde, weil das Zeug bis in meine unterste Hautschicht eingezogen ist.«

Helena winkte fröhlich ab. »Du hast geniest. Mehrmals. Ihr dürft jetzt nicht krank werden und außerdem hast du es genossen. Deine Augen waren geschlossen«, verteidigte sich Helena, als auch sie mich in ihre Arme schloss.

»Weil ich ohnmächtig war.« Tapio riss seine schwarz umrandeten Augen jetzt auf und sah derart empört drein, dass ich erneut lachen musste.

Helena beeindruckte das wenig. Sie war meine erste Vertraute hier in neuer Umgebung und Tapio hatten wir beide sofort ins Herz geschlossen. Er war zwanzig, genauso wie meine kleine Schwester Rauni, und verbrachte den Sommer vor Beginn des neuen Uni-Semesters mit Arbeiten hier in der Residenz. Obwohl er ziemlich punkig aussah mit den Lederarmbändern sowie den stets zerrissenen Hosen mit Nieten, sah er mich mit seinen babyblauen Augen treuherzig an und mir wurde es warm ums Herz.

»Die selbstgemachten Kräuterbonbons sind allerdings sehr lecker«, fügte er schmatzend hinzu.

Seit drei Wochen lebte und arbeitete ich nun hier an einem der beliebtesten Strände Finnlands. Helena bezeichnete sich selbst als Einheimische, gehörte zum Stammpersonal der Residenz und hatte mich von der ersten Sekunde an wie eine Freundin empfangen.

Ich wickelte grinsend die Decke um meinen Kopf und blinzelte Helena im Wind an. »Du hast doch bestimmt auch noch etwas für mich von dem immunstärkenden Johannisbeersaft oder eine vorbeugende Kräutermischung oder ein anderes Wundermittel aus der Natur, das mich schützen, heilen und gut riechen lassen wird.«

Helena hob das runde Kinn, verengte die braunen Augen und zog die Stirn kraus. Über ihrem Nasenrücken steckte ein Bridge Piercing, dessen goldene Kügelchen links und rechts auf Höhe ihrer Augenwinkel saßen. Schließlich schenkte sie mir ein breites Grinsen. »Genau so ist es, meine liebe Ungläubige. Du wirst meine Hexenkräuter und die Kräfte der natürlichen Energien schon noch zu schätzen lernen.«

Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie glucksend zu mir unter die Decke. Helena hatte sich bei mir als »die Esoterik-Tante vom Strand« vorgestellt, wie sie angeblich von den Hotelgästen genannt wurde. Sie nahm mir meinen Kommentar nicht übel. Nach der kurzen gemeinsamen Zeit wusste ich schon, wie offen sie mit ihren Talenten umging, und mit jedem Tag schätzte ich tatsächlich ihr Wissen. Sie widmete sich voller Leidenschaft der Naturheilkunde, glaubte an die Kraft von Energien und Auren und legte den Gästen liebend gern die Karten im Hotel. Obwohl ich von alldem keine Ahnung und vor ihr auch noch nie Berührungspunkte mit diesen Gebieten gehabt hatte, respektierte ich sie und ihr großes Herz.

»Ich bringe dir nachher ein magisches Fläschchen ins Mökki. Du musst fit sein für all die Touristen. Ein bisschen Vodka könnte aber nach dem ersten Wochenende auch helfen«, scherzte sie. Sie schlang ihren Arm um meine Taille, die andere um Tapios Hüfte und eng aneinandergedrückt marschierten wir los.

Sie war fast einen ganzen Kopf kleiner als ich, wodurch ich spielend leicht meine Wange kurz an ihren Scheitel schmiegte. Ihre feuerroten kurzen Haare waren weich und rochen nach Lavendel.

Das Ferienresort erstreckte sich über ein riesiges Naturschutzgebiet rund um den Strand, Wälder, Wattgebiete und einige Inseln. Die Residenz selbst war das größte Kur- und Sporthotel in der Gegend. Dazu kamen einige Ferienapartments näher an der Stadt sowie die vielen Waldhütten beim Strand.

Die ersten Tropfen bahnten sich ihren Weg durch die noch kargen Baumkronen, als wir mein Mökki erreichten. Ein kleines, aber feines Holzhäuschen, das innen moderner ausgestattet war, als es von außen aussah. Mein Zuhause seit drei Wochen für den Sommer. Ich war von Helsinki hergezogen, um erstmal saisonal in der Residenz zu arbeiten. Ich brauchte das Geld, wollte näher an Tampere sein und es gab schlimmere Arbeitsplätze als die traumhaften Dünen von Yyteri.

»Magst du vorher nochmal bei dir vorbeischauen oder gehen wir direkt zum Meeting?«, wollte Tapio wissen mit besorgtem Blick nach oben, wo sich die dunklen Wolken zusammenzogen.

Helena hielt die Decke schützend über unsere Köpfe, als der Regen stetig zunahm. Auch der Wind frischte rasant auf und brachte die Äste über uns zum Knarren.

»Lass uns direkt hingehen, sonst wird der Sturm nur noch schlimmer«, entgegnete ich.

Wir beschleunigten unsere Schritte und eilten dicht zusammengedrängt über den erdigen Waldboden, bedacht darauf, über keine Wurzel zu stolpern. Der Regen durchnässte die Decke immer intensiver. Der Duft vom feuchten Boden wurde durch den rauschenden Wind hochgewirbelt.

»Was erwartet uns denn?«, rief ich keuchend aus.

Wir waren auf dem Weg zu einer internen Party. Eingeladen war das gesamte Residenz-Personal, welches nicht dringend im Dienst bei den Gästen gebraucht wurde. Eine große Sache, die angeblich alljährlich die Hauptsaison eröffnete. Außerdem bot es eine große Chance, viele neuen Kollegen kennenzulernen, um sich auszutauschen.

»Die Murto-Familie lädt uns alle zu gratis Cocktails, Snacks und Lounge-Musik ein. Dieses Jahr feiern wir Jubiläum, also wird es vielleicht pompöser werden«, erläuterte Helena. Sie war genauso außer Atem wie ich. Der Weg zum Hauptgebäude des Hotels war nicht weit, dennoch reichte unsere Kondition offenbar nicht aus.

Tapio bereitete das Tempo mit seinen langen Beinen kaum Mühe. Unsere Schritte patschten schmatzend auf dem Waldboden und ich fühlte kaltes Wasser meinen Nacken hinunterrinnen. Die Sintflut kam schneller als gedacht. Wir waren mitten ins Unwetter geraten, nur geschützt durch meine bereits durchnässte Decke. Das Geräusch, wenn die dicken Tropfen rhythmisch auf die ersten zarten Blätter und Äste prasselten, entschädigte für das ekelhafte Gefühl des kalten Wassers, das sich seinen Weg tiefer zu meinem Hintern bahnte.

Bei dem Laufschritt, den wir vorlegten, keuchte ich lautstark, noch bevor wir den Wald verließen und auf den Parkplatz hinaustraten. Der Erdboden mündete in Schotter, der sich dunkel vor Nässe färbte. Vor uns erhob sich das prächtige Hauptgebäude, welches rund dreißig Zimmer und Suiten beherbergte. Beeindruckt hob ich den Kopf unter der schwer gewordenen Decke. Der Regen patschte mir sofort mitten ins Gesicht. Blinzelnd grinste ich empor. Das Haus musste in den letzten Jahren modernisiert worden sein, doch der viktorianische Stil mit viel hellem Holz, Erkerfenstern, Stuck und Schnitzereien war erhalten geblieben. Die großen, fast bodentiefen Fenster im Erdgeschoß bestanden aus jeweils zehn rechteckigen Segmenten, in weißer Holzfassung. Die Front zierte eine hellgelbe Holzvertäfelung und im zweiten Stock standen wunderschöne Erker mit weißen Spitzdächern hervor. Man verliebte sich sowohl als Tourist, als auch als Mitarbeiter sofort in den idyllisch, luxuriösen Anblick. Das Anwesen verbarg zwei weitere Flügel, die den Innenhof schützten, in dem sich Meetingräume sowie ein Wellness-Bereich befanden. Es war das größte Hotel in der Umgebung und besaß einen äußerst guten Ruf.

»Wenn du deinen Mund nicht bald zuklappst, wirst du im Regen ertrinken«, rief mir Tapio über seine Schulter zu. Sein wasserstoffblondes Haar klebte ihm jämmerlich über der Stirn.

Ich war unbewusst immer langsamer geworden, während Helena und er ein paar Schritte vor mir weiterliefen. Die durchnässte Decke überließen sie mir. Wie eine zweite Haut klebte sie ekelhaft kalt und schwer an meinem bibbernden Körper.

Plötzlich rempelte mich jemand von hinten an. Ein großer Jogger, nur in hautengen Trainingsklamotten, rannte an mir vorbei. Hinter ihm spritzten kleine Schottersteine und Wasser vom Boden auf.

»Entschuldigung«, rief er, ohne sich zu mir umzudrehen. Es war mein Mökki-Nachbar, mit dem ich außer ein paar obligatorischen »Moi«- und »Guten Morgen«-Worten nichts geredet hatte. Ein trainierter Mann, was ich nur wusste, weil er trotz des noch frischen Frühlings immer nur leicht bekleidet in Funktionsklamotten herumlief. Ständig joggte oder trainierte er. Einmal hatte ich ihn sogar wie einen Affen an einem Ast hängen gesehen, während er oben ohne Klimmzüge vollführte. Er verschwand gehetzt und genauso durchnässt wie wir als erster im doppelflügeligen Haupteingang unter dem Vordach, wo Helena und Tapio auf mich warteten.

»Du bist zu spät. Wie immer«, brüllte Helena dem Sportler lachend hinterher.

Er antwortete nicht und war längst im Gebäude verschwunden.

Eine große runde Lampe mit schwarzer Eisenhalterung leuchtete sie und Tapio warm aus. Mittlerweile war vom letzten bisschen Tageslicht dank der schwarzen Wolken kaum mehr was zu sehen. Links und rechts ergoss sich das Wasser vom spitzen Vordach in den Schotter.

»Komm schon, Mika«, drängte mich Helena und sprang ungeduldig auf und ab.

Lachend stampfte ich die vier feuchten Steinstufen empor und griff nach Tapios rechter und Helenas linker Hand. Sie schlossen mich in die Arme und Tapio drehte uns schwungvoll im Kreis. Die Decke war mittlerweile eiskalt und verhedderte sich um uns.

»Schon gut, schon gut«, wiegelte ich ab, während ich mich nach Atem ringend von ihnen löste.

»Das hat Spaß gemacht.« Tapio strahlte über das ganze Gesicht. Wassertropfen rannen über seine Wangen, als er mir frech zuzwinkerte. Sein Make-up war offensichtlich wasserfest, denn nichts verwischte.

»Also, ich verstehe unter Spaß etwas anderes. Ich bin außer Atem, nass und mein Gesicht leuchtet bestimmt wie eine Tomate«, widersprach ich schnaufend.

Sein Grinsen wurde noch breiter, seine Augen schmaler. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Helena drängte uns hinein. »Los, los.«

Eine wohlige Wärme und der Duft von Holz und Feuer hieß uns willkommen. Die Kombination aus Laufen, Kälte und Nässe ließ jede Zelle in meinem Körper zittern. Ich fühlte mich nicht bereit für eine Party, wollte aber nicht zurück durch den Sturm, um mich umzuziehen. Ich pfiff regelrecht aus dem letzten Loch. Wir tropften den edlen Eingangsbereich voll, wobei der dicke graue Teppich das meiste aufsog. Heimelige weiße Holzvertäfelung trafen in der Lobby auf schicke bunte Designermöbel. Ein Feuer brannte knisternd im großen Kamin, wovor es sich ein Pärchen mit zwei Gläsern Wein auf dem Sofa gemütlich machte. Rasch legten wir unsere Jacken ab, trotzdem fühlte sich alles an mir feucht und klamm an. Unbewusst schritt ich langsam auf die Wärmequelle zu. Meine Stiefel hielten dicht und waren trocken, im Gegensatz zu meinen Knien und Beinen.

»Schönen Abend, geht ruhig nach hinten in den Veranstaltungssaal«, begrüßte uns Maja, als sie mit einem Karton, gefüllt mit bunten Papierflyern, zur Rezeption trat. Sie arbeitete im Front-Desk-Team und bestach durch ihr professionelles, aber freundliches Auftreten. Maja trat jedem Gast mit einem breiten Lächeln entgegen und gab allen das Gefühl, persönlich eingeladen worden zu sein.

»Oi, wie seht ihr denn aus?«, entwich ihr dann doch, als sie den Karton neben einer weißen Keramikvase abstellte. Der grüne Farn darin wippte dabei vor ihrem Gesicht hin und her. »Kann ich euch Handtücher bringen? Sami, hol doch bitte etwas zum Abtrocknen«, rief sie, ohne auf unsere Antwort zu warten, über ihre Schulter hinweg.

Noch war es ruhig in dem Anwesen, denn nur wenige Gäste verweilten in der Residenz. Zwar gab es das ganze Jahr über Urlauber, die den Strand und das Naturschutzgebiet genossen, doch der richtige Andrang sollte wohl erst mit diesem Wochenende beginnen. Die Tage wurden rasch länger, womit die Temperaturen stiegen.

»Schon gut, Maja, ist nur Wasser«, beschwichtigte Tapio. Er lehnte sich schief schmunzelnd auf den Tresen und entlockte der jungen Brünetten einen schüchternen Augenaufschlag.

Sie strich sich verlegen die Locken hinter die Ohren und biss sich auf die Unterlippe.

Mir entwich bei diesem Klischee-Schauspiel ein »Pfff«, um meiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, dass sowas im echten Leben funktionierte. Vor allem sah der schlaksige Tapio nicht nach dem klassischen Frauenschwarm aus. Seine Wirkung entfaltete er dennoch sogar als begossener Pudel.

»Toll, meine Socken und meine Hose sind total durchnässt«, jammerte Helena. Ihre Haare klebten platt an ihrem Kopf. »Mir ist saukalt.« Sie warf mir einen ernsten Blick zu.

»Ich wärme dich«, säuselte Tapio breit grinsend, löste sich von der schwärmenden Maja und legte Helena den Arm um die Schultern. Es sah ziemlich lustig aus, weil ihr Kopf auf Höhe seiner Brust endete.

Sie tätschelte ihm dreimal den flachen Bauch und entwand sich seiner Umarmung. »Nicht mal im Traum. Halt dich lieber an die Touristinnen, die von ihrem sexy Urlaubsflirt träumen.«

»Ihr solltet euch beeilen, sonst kommt ihr zu spät«, unterbrach uns Maja freundlich. Dieser Satz beendete das ausgelassene Geplänkel abrupt.

Gern hätte ich länger vor dem Feuer gestanden, um zu trocknen, aber Helena führte uns bereits weiter.

Weit kamen wir nicht. Fünf Fremde, zwei Pärchen und ein junger Mann, versperrten uns in einem Gang den Weg. Überrumpelt wich ich an die Wand aus, aber sie drehten sich um und begrüßten Helena.

»Heli, da bist du ja.« Die ältere der beiden Frauen schloss Helena herzlich in die Arme.

»Vorsicht, Pauli, ich bin ganz nass und ruiniere dein Kostüm«, protestierte meine Kollegin, wurde dennoch fest gedrückt.

»Ach, das ist doch nur für die Feier. Wieso bist du denn so nass?«

Helena wandte sich Tapio und mir zu. »Ich habe noch zwei Neue am Strand eingesammelt. Du weißt, ich habe ein Herz für die unschuldigen Seelen. Das sind Mika und Tapio. Mika wird im Café aushelfen und Tapio in der großen Küche«, stellte sie uns vor. »Das hier sind die Königin und der König, die Prinzessin und die Prinzen des Hauses. Die werte Familie Murto. Pauliina und ihr Mann Janne, ihre Tochter Sanna und ihr Mann Lasse sowie die zwei Brüder Haku und …« Helena unterbrach ihre Ansprache und reckte den Kopf suchend nach links und rechts. »Okay, nur Haku. Timo sehe ich nicht.«

Mir wurde klar, dass ich hier die Erben und Inhaber der Residenz vor mir hatte. Was erklärte, wieso sie in teuren Anzügen mit dieser gewissen Ausstrahlung im Gang standen, während wir immer noch den Boden volltropften.

»Herzlich willkommen bei uns«, wandte sich Pauliina direkt an Tapio und mich. Ihr Händedruck war fest. Das schlanke Gelenk zierte ein wunderschöner filigraner Goldarmreif, der perfekt mit der dezenten Kette um ihren Hals harmonierte.

Peinlich berührt strich ich mir die strähnigen feuchten Haare aus dem Gesicht und wischte meine Finger an meinem roten Pullover trocken. Ihr Blick aus den zwei grünen Augen huschte über meine Aufmachung. Besonders die nassen Haare beanspruchten ihre Aufmerksamkeit. Ja, ich würde mich jetzt auch gern föhnen und bürsten. Sie war höflich genug, nichts dazu zu sagen.

»Heli, du weißt besser als ich, dass Timo kompliziert ist. Er ist leider noch nicht aufgetaucht«, stellte Pauliina schließlich fest. Ein enttäuschtes Seufzen entwich ihren Lippen. Sie war eine wunderschöne Frau, die ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit einem kühlen Lächeln. Ihr Mann war mit Sanna und Haku ein paar Schritte weiter gegangen und sah uns ungeduldig, aber freundlich an.

Helena lachte auf und wuschelte sich durch die nassen Haare, die danach wie eine freche Frisur wirkten. »Ich habe Timo gerade erst hereinlaufen sehen. Er müsste eigentlich gleich da sein. Vielleicht kommt er nicht aus seinem zu engen Turnhöschen raus.«

Sanna verdrehte genervt die Augen und machte ein undamenhaftes Geräusch. Haku grinste mich überraschend offen an. Er schob seine Hände in die Taschen seines feinen dunkelblauen Anzugs, ohne sich von mir abzuwenden.

»Okay, wir sehen uns dann drinnen«, beendete Pauliina das Gespräch. »Wir müssen den Schein wahren, eine kleine Ansprache halten und dann kann das Feiern starten.«

Nacheinander verabschiedete sich die Familie von uns, um eilig voraus zu gehen, bis auf Haku, der ihnen Platz machte und noch bei uns blieb. Ich kam mir in meiner Jeans und dem Pullover vollkommen falsch bekleidet vor, nachdem die Familie in feinen Anzügen, Blazer und Blusen aufgetaucht war. Da aber Helena und Tapio ebenso leger neben mir standen, würde ich immerhin nicht die Einzige sein, die den Fashion-Skandal auslöste.

»Da hat wohl jemand heute Abend noch Glück«, richtete Haku das erste Mal das Wort an mich.

Verwirrt sah ich umher, doch er hatte wirklich mich angesprochen. Ehe ich um eine Erklärung bitten konnte, rief seine Schwester nach ihm.

»Haku, beeil dich. Es reicht schon, wenn einer von uns keine Uhr besitzt.«

Brummend folgte er ihr, ohne dass ich fragen konnte, was er meinte.

Wir behielten einen respektvollen Abstand, bis Helena uns schließlich ebenfalls hinterher scheuchte. Die Tür, auf die wir zusteuerten, wirkte unscheinbar, doch dahinter hörte man bereits die typischen Geräusche, die eine große Menge Menschen fabrizierte. Tapio zupfte sich ebenfalls die nassen Haare zurecht, genauso wie Helena zuvor. Meine Zotteln hingen trostlos hinab, nur die Spitzen knapp unter meinen Schultern begannen, sich zu kräuseln.

Etwas aufgeregt betrat ich hinter meinen Freunden den vollen Festsaal, der für Hochzeiten und andere Events gebucht werden konnte. Die meterhohe prunkvolle Stuckdecke verlieh dem Raum Weite und stand mit der edlen, dunklen Holzvertäfelung in Kontrast. Ein Raum, der einem beim Betreten den Atem anhalten ließ.

»Wow«, entwich es mir bei einem Rundumblick.

Obwohl hier viele Menschen dicht gedrängt beisammen standen, wirkte der Saal immer noch offen.

»Danke, hör ich öfter bei meinem Anblick«, gab jemand dicht hinter mir Antwort, dem ich fast auf die Füße stieg, als ich mich staunend im Kreis drehte. Noch gar nicht richtig in meinem Sichtfeld, sprach er mich erneut an. »Du solltest wirklich öfter nach unten schauen und nicht immer in die Luft.«

Irritiert machte ich einen Schritt zurück. Der Typ war groß und schlank. Der Anzug saß passgenau, war faltenfrei, wohingegen er an der Krawatte mit gehetzten Fingern herumfummelte. Er war außer Atem und trug seine dunkelblonden Haare glänzend nach hinten gekämmt.

»Na, noch feucht hinter den Ohren?«, mischte sich Helena frech ein und boxte ihm spielerisch gegen den Oberarm.

»Lass den Scheiß«, zischte er. Immer noch versuchte er sich an einem ordentlichen Knoten.

Helena bekam offenbar Mitleid und ging ihm zur Hand. Sie musste fast auf die Zehenspitzen steigen, um heranzukommen, doch sie erwies sich als deutlich geschickter im Knotenbinden als er. »Deine Eltern suchen dich und sind ziemlich genervt. Kannst du nicht einmal pünktlich erscheinen?«

Ich blinzelte ein paar Mal und betrachtete ihn genauer. So schick gekleidet hatte ich ihn noch nie gesehen, daher erkannte ich meinen sportlichen Nachbarn erst auf den zweiten Blick.

»Timo, halt doch mal still«, tadelte sie ihn.

»Du bist mein Nachbar«, platzte der Gedanke nun laut aus mir heraus, was alle innehalten ließ. Rundherum blieb es laut. Geschirrklappern, Lachen und viele vermischte Stimmen. Nur Helena, Timo und Tapio sahen mich an.

»Timo Murto ist dein Nachbar?« Es war Tapio, der die Stille als Erstes brach. Mit weit hochgezogenen Augenbrauen musterte er erst mich und dann den Mann im Anzug.

»Warum starrt sie mich so an?«, fragte Timo unbeeindruckt Helena.

Es war unhöflich, dass er mich regelrecht ignorierte. Da ich vorhin aber auch nicht gerade die Etikette wahren konnte, beschwerte ich mich nicht.

»Hat mir auch ein Vogel auf den Kopf gekackt oder wieso steht ihr der Mund staunend offen? So schön bin ich nun auch nicht.«

Dieses Gespräch überschritt mein Verständnis in vielerlei Hinsicht. Deswegen stand ich einfach da, immer noch mit geöffnetem Mund. Meine Zunge begann bereits auszutrocknen.

Helena beendete das Binden der Krawatte erfolgreich. Sie kam zu mir und stellte sich erneut auf die Zehenspitzen. »Beug dich mal runter, ich bin zu klein.«

Pflichtbewusst tat ich, was sie sagte. Hätte sie gesagt hüpf dreimal im Kreis, hätte ich es in diesem Moment ebenfalls getan. Die klaren Anweisungen nahm ich dankbar an. Mika, atmen. Das hätte mir auch geholfen. Und mach verdammt nochmal deinen Mund zu.

»Ja, eindeutig Vogelscheiße. Von einer Möwe glaube ich«, lautete das Fazit.

»Was?« Ich schreckte hoch und tatschte mir sofort auf dem Kopf herum. Die nassen Haare begannen bereits zu trocknen, aber zwischen meinen Fingern fühlte ich etwas Cremiges. Ekel stieg in mir auf wie der Schaum in einer geschüttelten Colaflasche.

Tapio sah mir fast gelangweilt zu. »Ich dachte, es sei Haargel.«

»Was?«, fragte ich erneut mit höherer, leicht panischer Stimme. Mir hatte wirklich ein Vogel auf den Kopf gekackt! Seit wir das Haus betreten hatten, war ich damit gut sichtbar herumgelaufen. Meine Vorgesetzten, die Inhaber der Residenz, waren mir vorgestellt worden, während ich Vogelkacke als Kopfschmuck trug. Ich wollte sterben!

Maunzende Mäuse

Wenn es einen Dresscode für eine offizielle Mitarbeiterversammlung zu beachten gab, so beherrschte ich ihn nicht. Mit Vogelkackeresten im Haar, geröteten Wangen, inklusive durchnässter Hose, entsprach ich zu einhundert Prozent dem bildlich dargestellten Gegenteil. Ich fühlte mich ganz und gar nicht wohl in meiner Haut.

»Wie wäre es, wenn du Mika etwas zum Abwischen holst, Tapio«, schlug Helena vor. Endlich etwas Konstruktives.

Timo, nun die Ruhe selbst mit perfektem Krawattenknoten, betrachtete mich abfällig und presste die Lippen verkniffen aufeinander. Vermutlich ekelte er sich genauso wie ich.

»Ich muss da jetzt nach vorne. Reservier mir einen Cocktail, Heli«, sagte er zu meiner Kollegin und drängte sich schließlich durch die Menge, ohne sich von mir oder Tapio zu verabschieden.

Tapio wandte sich ebenfalls zum Gehen, tippte Helena aber vorher an die Schulter. »Okay, aber nachher erzählst du mir, wieso erstens, der heißeste, reichste Erbe und Junggeselle weit und breit dich Heli nennt, und zweitens, wieso Mika seine Nachbarin ist. Euer Leben ist so abgefahren.«

»Also, auf die letzte Frage hätte ich auch gerne eine Antwort«, sagte ich. »Ich dachte bisher, er wäre ein Dauergast oder auch ein Mitarbeiter. Wieso wohnt ein Mitglied der Murto-Familie in einem Mökki? Und, Heli«, ich betonte den von Timo genannten Kosenamen besonders, »läuft da was zwischen euch?«

Sie brach augenblicklich in Gelächter aus. Regelrecht bog sie sich nach vorn und zurück, um sich auf die Schenkel zu klopfen. »So ein Unsinn. Timo und ich sind zusammen auf dieselbe Schule gegangen. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Wir sind sehr gute Freunde, aber niemals nie würde ich mit ihm etwas anfangen. Außerdem bin ich nicht seine Beute. Er steht mehr auf das oberflächliche, sexy Zeug. Die Single-Ladies, die hier buchen, kommen manchmal nur wegen ihm. Na ja, das behaupte nur ich. Aber sobald er mal wieder in irgendeiner Businesszeitschrift mit seiner Familie abgedruckt wird, häufen sich die Junggesellinnen-Abschiede und die Sportkurse platzen aus allen Nähten.«

Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte. Meine Mimik sprach offenbar Bände. Sie seufzte und kräuselte die Nase.

»Timo ist hier Personaltrainer. Er leitet Laufkurse, Krafttraining, online und vor Ort. Zu viel mehr Beteiligung konnte man ihn nicht überreden. Auch wenn Pauli sich redlich Mühe gibt, aus ihm den anständigen Erben zu machen.«

Sie erzählte das mit einer Leichtigkeit und einem breiten Lächeln. Es war eindeutig, dass sie Timo mochte, obwohl sie solch unvorteilhafte Dinge über ihn sagte.

»Hör mal, die Familie Murto ist hier sehr bekannt, weil sie überall ihre Finger im Spiel haben«, erzählte sie munter. Dabei drängte sie mich weiter in den Saal hinein, wo es noch lauter und noch wärmer wurde. »Seit Jahrzehnten baut ihre Familie ihre Geschäfte aus. Sie besitzen nicht nur das große Hotel, sondern auch etliche andere Touristenattraktionen. Vom Bootsverleih über Immobilien, Ferienwohnungen in der Stadt und vieles mehr. Ziemlich einschüchternd. Aber alles in allem sind sie eine ganz normale Familie. Sie tun viel für die Menschen hier. Bieten Arbeitsplätze, spenden und leisten andere Wohltätigkeitsarbeit. Lass dich nicht zu sehr beeindrucken. Nicht jeder kann so viel Glück haben und mit dem goldenen Löffel im Mund aufwachsen. Timo ist eigentlich ganz in Ordnung, wenn man ihm eine Chance gibt.«

»Okay, können wir trotzdem kurz in einem Waschraum verschwinden?«, fragte ich und sah mich suchend nach eben jenem um. Ich war kurz davor, zurück in den Regen zu gehen, um mir die Haare zu waschen.

»Es fängt doch gleich an. Willst du wirklich was verpassen?«

Die Frage war eher, wollte ich wirklich testen, wie sich getrocknete Vogelkacke auf meinem Kopf anfühlte? Ich kam nicht dazu, diesen Gedanken ganz auszusprechen, als sich der Geräuschpegel schlagartig veränderte. Es wurde still, die Gäste sahen alle nach vorn und das Knistern eines Mikros kündigte eine Rede an.

»Moi und danke, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid«, leitete die tiefe Stimme von Janne Murto die Begrüßung ein. »Unser jährliches Treffen, bevor die Hauptsaison losgeht, liegt uns besonders am Herzen. Ein Startschuss, der uns alle zusammen bringen soll, um alte und neue Gesichter kennenzulernen.«

Tapio tauchte an unserer Seite auf und hielt ein großes Glas empor. »Hier, für deine Haare.«

Das »Danke« war mir schon fast herausgerutscht, bis ich sah, was er mir gebracht hatte.

»Da sind Gurken drin«, stellte ich unnötigerweise fest.

Er zuckte mit den Schultern. »War das erste Nichtalkoholische, was ich gefunden habe. Du kannst sie ja rausfischen.«

»Ich werde mich nicht mit Gurkenwasser waschen«, stellte ich klar.

Helena schnalzte ungeduldig mit der Zunge und nahm Tapio das Wasserglas aus der Hand. Ehe ich mich versah, tunkte sie die mitgebrachte Stoffserviette hinein und begann damit, über meinen Kopf zu rubbeln. Vollkommen überrumpelt ließ ich es über mich ergehen.

»Stell dich nicht so an. Ist alles Natur pur. Im Spa bezahlt man viel Geld für Gurkenmasken.«

»Klar, wer weiß, was ich jetzt draußen dann anlocke, wenn ich auch noch nach Gurke rieche. Fledermäuse? Gibt es die hier? Nachtfalter? Können die einem auf den Kopf kacken?«, plapperte ich entrüstet vor mich hin.

»Schhhh«, machte ein Mann vor uns, der sich zu uns umdrehte, sichtlich erzürnt über die Störung, während vorn die Rede voll im Gange war.

»Für alle, die mich und unsere Familie noch nicht kennen, wir sind die berühmt berüchtigten Murtos, die für Sommerspaß, Entspannung und Wellness sorgen«, fuhr der Residenzinhaber fort. Das leise Lachen der Anwesenden verriet, dass er es nicht ganz so arrogant meinte, wie es klang. »Ich weiß, die meisten sind schon gelangweilt von dieser Ansprache, doch dieses Jahr hat es besondere Bedeutung. Denn mein Ur-Ur-Großvater hat diese wunderschöne Residenz 1924 fast im Alleingang gegründet und dank dem Ehrgeiz, der Leidenschaft und dem Fleiß unserer Familien ist diese großartige Sache entstanden, die auch dank euch wächst und unzählige Gäste begeistert. Dieses Jahr feiern wir somit unser 100-jähriges Jubiläum und wir haben uns gemeinsam mit euch viele tolle Attraktionen und Events überlegt. Es macht mich unglaublich stolz, in all eure Gesichter zu blicken, um dies gemeinsam zu feiern.«

Euphorischer Jubel und Händeklatschen folgten seinen Worten. Es wurde angestoßen, gepfiffen und sichtlich erfreut mitgefeiert.

Helena wischte weitere Reste der Vogelhinterlassenschaft von meinem Kopf, Tapio schnüffelte an mir, um zu beweisen, dass man die Gurke nicht riechen konnte, und ich verdrehte die Augen.

»Ich besorg uns jetzt mal etwas Anständiges zu trinken. Bin gleich wieder da«, verkündete Helena, drückte mir die dreckige Serviette in die Hand und bahnte sich einen Weg an den Rand des Saales zur Bar.

Das Gedränge war nicht allzu dicht, weshalb wir gut nach vorn sehen konnten. Die gesamte Familie Murto stand gruppiert auf der kleinen Bühne. Ganz vorn Janne Murto, in der einen Hand ein kabelloses Mikrofon, in der anderen ein gut gefülltes Glas Bier.

»Wir möchten euch als Familie herzlich dazu einladen, die nächsten Wochen zu genießen. Es wird natürlich eine arbeitsreiche Zeit und wir bedanken uns jetzt schon für eure Überstunden. Ich, meine Frau Pauli, meine Tochter Sanna sowie meine beiden Söhne Haku und Timo geben unser Bestes, um diese Saison zur besten aller Zeit zu machen.«

So aufgereiht sah die Familie wirklich imposant aus. Im Gesamtbild wirkte ihre Kleidung harmonisch und perfekt. Pauliina und Sanna lächelten sanft. Haku sah sich verschmitzt grinsend im Saal um, nickte ab und zu jemandem zur Begrüßung zu. Nur Timo sah aus, als hätte Helena ihm die Krawatte zu fest gebunden. Steif, ins Leere starrend wirkte er distanziert.

»Hier, ich habe einfach Cocktails genommen, die mir schmecken«, sagte Helena, als sie mit drei Gläsern und konzentrierter Miene zurückkam.

Tapio nahm sich eines mit farbloser Flüssigkeit, jede Menge Eis und einer Limette. Ich griff zu einem runden Glas, welches mit einer orange-roten Mischung gefüllt war. Ein fruchtiger Duft mit einer intensiven Wodkanote stieg mir in die Nase.

»Sex on the midsommer-beach«, erklärte Helena breit grinsend. Ihr eigener Cocktail schimmerte blau unter den Eiswürfeln. »Ich habe die Finnische Seenplatte mit Blue Curacao

Nach den ersten Schlucken breitete sich die Wärme des Alkohols wohlig in meinem Magen aus. Die süßen Fruchtnoten milderten die Schärfe auf gefährliche Art und Weise.

»Ach ja, er liebt den dramatischen Aufritt«, sagte Helena dicht neben mir. Es dauerte, bis ich verstand, dass sie von Timo sprach.

Der verschränkte soeben die Arme vor der Brust, sodass sich der Anzug straff um seine Schultern spannte.

»Timo rebelliert, seit ich mich erinnern kann. Manchmal scheint es mir, als passt er gar nicht in diese Familie. Ihm geht es mit seiner Rolle nicht gut«, erklärte sie mit einem milden Lächeln auf den Lippen.

»Welche Rolle? Wohlhabend und alle Möglichkeiten dieser Welt offen?«, fragte ich anfeindender, als ich es wollte. In Wahrheit pikste mich der Neid ein wenig, wenn ich diese schöne, erfolgreiche und sichtlich glückliche Familie sah. Sie hatten viel von dem, was ich mir sehnlichst wünschte, und das war nicht unbedingt Reichtum.

Auf der Bühne nahm Sanna das Mikrofon in die Hand und bedankte sich bei speziellen Menschen, die mir rein gar nichts sagten. Immer wieder wurde applaudiert oder amüsiert gelacht. Der Alkohol ließ mich allmählich meinen jämmerlichen äußerlichen Zustand vergessen.

»Möchtest du noch einen Drink?«, wollte Helena mit Blick auf mein leeres Glas wissen.

Überrumpelt stellte ich fest, dass ich das Ding in den vergangenen Minuten unbewusst ausgetrunken hatte. Ohne weitere Nahrungsaufnahme ziemlich dämlich.

»Jetzt kommen noch ein paar Jubiläen, ein paar Häppchen und du kannst dir überlegen, zu welcher Charity-Aktion wir uns anmelden«, erklärte sie, nahm mein Glas und flitzte elegant davon.

»Ich komme gleich wieder«, flüsterte mir Tapio ins Ohr und huschte ebenfalls davon.

Plötzlich in der Menschenmenge allein gelassen, verschwand mein Wohlfühlmoment. Ein paar der Kollegen waren mir schon vorgestellt worden, doch die meisten blieben mir unbekannt. Ich war nicht der Typ Mensch, der in die Menge rief: Hi, ich bin Mika, die Neue mit Vogelhäufchen auf dem Kopf und Gurkenwasser im Haar.

Instinktiv wich ich zurück an den Rand des Festsaals, wo weniger Menschen standen. Gegen die riesigen Fenster, die in den Wald hinaus wiesen, warf der Sturm die Regentropfen. Man hörte es trotz des Stimmengewirrs und der lauten Atmosphäre trommeln. Glitzernde Kristallkronleuchter über uns durchbrachen die Dunkelheit von draußen.

Während Janne wie von Helena vorhergesagt seine langjährigsten Mitarbeiter lobte und ihnen Geschenkkörbe überreichte, sah ich mich neugierig um. Ich trank gern mal ein Glas Wein, aber harte Cocktails war mein Organismus definitiv nicht gewöhnt. Partys und ausufernde Abende waren selten in meinem Leben. Ich konnte es mir schlichtweg nicht leisten, unnötig Geld für Flüssiges auszugeben. Mein Erspartes floss in meinen Onlinekurs, Raunis Studium und den Anwalt für unseren Vater. Auch wenn ich selbstbewusst tat, die neue Umgebung, der neue Job und vor allem die vielen neuen Leute machten mich nervös. Daher schlenderte ich langsam abseits umher und merkte, wie sich mein Körpergewicht rapide verringerte. Zumindest waren meine Knie weich wie Butter und unter meinen Sohlen musste sich gefühlt Watte gebildet haben.

Die Reden gingen vorbei, der Geräuschpegel wuchs wieder an. Schnell bildeten sich plaudernde Grüppchen, zwischen denen nun diverse Kellner mit Tabletts umhergingen und Canapés anboten.

»Da bist du ja«, rief Helena seufzend aus und reichte mir meinen nächsten Cocktail. »Du kannst dich doch nicht so plötzlich unsichtbar machen. An der Bar war eine riesige Schlange.«

»Gibt es noch Programm oder ist der offizielle Teil vorbei?«, wollte ich wissen.

Bevor sie mir antwortete, schnappte sie sich zwei Häppchen von einem an uns vorbei schwebenden Tabletts. »Also, bevor du gehst, musst du dich in eine Liste eintragen. Wir haben einen klassischen Talentwettbewerb unter der Flagge der Herrin des Hauses, Pauliina, im Angebot. Kannst du steppen oder Pantomime?«

Der Alkohol schwappte warm in meinem Magen herum, doch das erklärte nicht, wieso ich schon wieder nicht wusste, wovon sie sprach. Das süße Zeug stieg mir viel zu schnell in den Kopf.

»Die Charity-Projekte«, erläutere sie, hielt dabei die nächste Kollegin auf, um sich ein belegtes Brot zu nehmen. »Hast du nicht zugehört? Jedes Familienmitglied hat sich eine bestimmte Aktion überlegt, die am Ende des Sommers hier stattfindet. Wir sollen uns für mindestens eines davon eintragen.«

Ich überlegte, ob ich in irgendetwas gut genug war, um damit zu prahlen. »Nein. Ich bin absolut untalentiert. Ich kann gut mit Zahlen umgehen, habe hervorragende Tischmanieren und liebe es zu organisieren.«

Sie zog die Nase kraus und kniff die Augen nachdenklich zusammen. »Damit gewinnt man nichts. Janne setzt auf eine Auktion von Antiquitäten, da fallen wir beide raus. Ich glaube, wir haben nichts, was die reichen Strandvillenbesitzer ersteigern wollen. Außer dein Luxuskörper zählt, aber ich glaube, das wäre unmoralisch und illegal. Haku veranstaltet eine Segelregatta. Die finde ich äußerst interessant. Ich war schon mal segeln.«

Dem Alkohol geschuldet folgte meine Reaktion verspätet. »Sag mal, hast du mich gerade gefragt, ob ich mich für den guten Zweck prostituieren würde?«

Helena verzog ihr rundes Gesicht zu einer empörten Grimasse. Ihre Backen glühten verdächtig rot und auch ihre Augen schimmerten glasig. Der Alkohol stieg ihr offenbar auch schon in den Kopf. »Nein. Ich habe nur gesagt, außer unserem Körper würde niemand etwas Wertvolles von uns kaufen. Ich mache Marmelade, Kräutermischungen, Sirupe, Räucherstäbchen und sowas.«

»Aber …«, setzte ich an, ließ es dann aber sein und trank lieber weiter von meinem Glas. Von den angebotenen Aktivitäten klang nichts besonders berauschend für mich, aber ich wollte als Neuling nicht direkt negativ auffallen.

»Und Timo, unser Sportsmann, macht ein klassisches Rennen über den Strand und durch den Wald. Wie schnell bist du im Laufen?«

Ich war nicht der unsportlichste Mensch. Zwanzig Minuten joggen hier, fünf Situps da und ein bisschen Radfahren. Das zählte als Sport, oder? Ehe ich aber eine beschwipste Antwort wie »Ich laufe nur immer wieder den falschen Männern hinterher« gab, kam der soeben erwähnte Timo auf uns zu. In langsamen Schritten, sich der Blicke, die auf ihn ruhten, ganz offensichtlich bewusst. Sein Jackett war mittlerweile offen, genauso wie die ersten Hemdknöpfe und die Krawatte hing gelockert um seinen Hals.

»Die Anmeldeliste für das Rennen steht dort drüben. Steht ihr schon drauf?«, fragte er direkt und zeigte zu einer Reihe Sideboards, die ich bisher nicht beachtet hatte. »Kommt schon, Ladies, ich brauche ein bisschen Unterstützung für mein Event. Wenn sich niemand anmeldet, bekomme ich wieder Strafdienst im Büro.«

Prompt wurde ich von Helena vor die besagte Liste bugsiert, mein Glas war mittlerweile wieder leer. So gut es ging, versuchte ich zu verbergen, dass ich bereits torkelte. Timo stellte sich mit verschränkten Armen neben das Board, auf dem die Route, die Kilometer-Anzahl und weitere Daten geschrieben waren. Auf der Liste standen noch nicht viele Namen.

»Woher kommst du, Mika?«, fragte er mich plötzlich.

Der Themenwechsel überforderte mein Denken. Vor allem war mir nicht klargewesen, dass er meinen Namen kannte. Meine wertvollen Gehirnzellen schwammen in zuckrigem Vodka lachend durch meine Synapsen. Dieser Lärm in meinem Kopf machte es mir schwerer, klar zu denken. »Helsinki, wobei eigentlich sind wir in Lakisto aufgewachsen«, antwortete ich dennoch wahrheitsgemäß mit schwerer Zunge.

Er schmunzelte breit, was verdammt niedlich aussah. Er wollte bestimmt nicht als niedlich bezeichnet werden, aber noch ein Schluck mehr und ich würde es laut und deutlich aussprechen. Vielleicht sogar buchstabieren. Wenn er so lachte und nicht streng dreinsah, war er ziemlich attraktiv.

»Eine Stadtmaus also.«

»Miau.« Das war der Moment, in dem mir klar wurde, wie betrunken ich wirklich war. So besoffen, um aus einer Maus, eine maunzende Katze zu machen.

Helena sah mich mit hochgezogenen Brauen an und ich suchte nach dem Loch im Boden, um darin zu versinken. Im nüchternen Zustand hätte ich jedenfalls sachlich argumentiert, wieso man mich nicht als Maus, Mäuschen oder auch Kitty bezeichnen sollte. Timo amüsierte meine Antwort so sehr, dass er laut lachte. Ein überraschender Laut, der mich lächeln ließ. Dämlich, Mika, wirklich dämlich.

»Du bist seit zwei Wochen hier, oder?«, fragte er weiter.

Entweder ließ der Alkohol meinen Blutdruck plus meine Temperatur ansteigen, oder mir wurde gerade von seiner Musterung innerlich verdammt warm. Auch hier hätte dem mein nüchternes, erwachsenes Ich gern Einhalt geboten. Die besoffene Stadt-Katzenmaus grinste debil. »Drei Wochen.« Ich hätte beleidigt sein müssen, dass er mir als direkter Nachbar in den vergangenen Tagen nicht ansatzweise so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ich hatte ein gehetztes Guten Morgen bekommen, mehr auch nicht.

»Muss es laufen sein? Könnte es nicht irgendwas Lustiges sein wie eine Schnitzeljagd durch die Dünen oder eine Dragqueen-Show?«, fragte Helena maulend mit einem Fingerdeuten auf den Streckenverlauf.

Sechs Komma fünf Kilometer joggen. Ich fand, das war viel.

»Wow, Heli. Das nächste Mal sollte ich wohl zuerst dich fragen. Das klingt wirklich interessanter, als zu joggen«, gab Timo glucksend und schulterzuckend zu.

Helena nickte zustimmend und hob schwungvoll ihr leeres Glas empor. Die übrig gebliebenen Eiswürfel flogen, von ihr unbeachtet, in hohem Bogen davon.

»Hei, pass auf, wen du damit erschlägst«, beschwerte sich Tapio, der soeben hinter uns trat. In der einen Hand hielt er einen Drink und in der anderen einen großen Schokoladen-Cupcake mit einem riesigen roten Cremetürmchen. »Ich habe mich schon für das Segeln eingetragen. Im Joggen bin ich echt nicht gut.« Er biss herzhaft in den Cupcake. Seine Nase tunkte dabei komplett in die Creme ein.

Helena stand nachdenklich vor dem großen Board und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du wirst jetzt an unsere langjährige Freundschaft appellieren und mir wird nichts anderes übrig bleiben, als mich auf diese Liste da einzutragen«, zeterte sie weiter. »Und dann muss ich laufen. Laufen, Timo! Ich laufe nicht, außer es geht darum, nicht vollkommen durchnässt zu werden, und das war, wie man heute gesehen hat, vollkommen umsonst.«

Ich stand da mit verschwommener Sicht und dachte darüber nach, ob ich eine Stadtmaus oder eine Landkatze war.

»Ich trainiere euch. Gratis! Normalerweise ist eine Personal-Training-Stunde mit mir verdammt teuer und Tage vorher ausgebucht. Ihr bekommt mich umsonst, schwitzend und gut gelaunt. Jede Frau, die mit mir trainiert, wird diese Strecke in Windeseile zurücklegen«, prophezeite er.

»Weil sie vor dir davonrennen, um deinen Machosprüchen zu entkommen?«, murmelte ich nachdenklich und erntete zwei verdutzte Blicke. Kurz waren sowohl Timo, als auch Helena still, ehe meine neu gewonnene Freundin lauthals losprustete und mir brutal auf den Rücken klopfte. Ich verschluckte mich und Tränen schossen mir in die Augen.

Tapio grinste mit seinem Creme-verschmierten Mund.

»Mika, das war die einzig richtige Antwort!«

Ja, aber mir war nicht klar gewesen, dass ich sie laut ausgesprochen und nicht nur gedacht hatte. Immerhin schien Timo nicht beleidigt, denn er schürzte gelassen die Lippen und nickte anerkennend.

»Schmeckt der Cupcake denn?«, wechselte er spontan das Thema, indem er sich an Tapio wandte, der sich den letzten viel zu großen Bissen in den Mund stopfte.

»Lecker«, gab dieser von sich und spuckte dabei kleine Krümelchen durch die Luft.

»Das ist doch jetzt vollkommen irrelevant.« Helena nahm sich einen der Kugelschreiber, die beim Board lagen, und ließ ihn über der Anmeldeliste schweben. »Weißt du was, Timo? Ich glaube, es wird an der Zeit, dass du beweist, was für Wundertrainingseinheiten du drauf hast. Ich wette, du schaffst es nicht, Mika und mich so zu trainieren, dass wir unter den Top zwanzig sind. Wir werden unser Bestes geben, aber so gut bist du nicht.«

Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln und beobachtete verschwommen, wie sie ihm die Hand hinhielt, in die er teuflisch lächelnd einschlug.

»Sehr gut. Ich weiß da den perfekten Wetteinsatz für euch, wenn ich es schaffe, euch unter die Top Zwanzig zu bekommen.«

»Einverstanden«, sagte sie.

»Wartet, was?«, fragte ich viel zu spät.

Marinierter Finne

Mit einer riesigen Tasse tiefschwarzem Kaffee versuchte ich am nächsten Tag am frühen Nachmittag, den Nachhall des klebrig süßen Vodkas aus meinem Organismus zu schwemmen.

Ein leichtes Pochen hinter meinen Augen erinnerte mich an den Vorabend. Heute stand nach meiner Einarbeitungszeit aber mein erster richtiger Dienst im Strandcafé an und ich fühlte mich ziemlich matschig. Mein Äußeres spiegelte dies glücklicherweise nicht, als ich geduscht, frisiert und komplett angezogen auf meiner kleinen Holzveranda stand und in den Wald starrte. So hätte ich auf die Feier gehen sollen und nicht angekackt.

Die Sonne ging gerade auf und der Duft nach Wald und Meer mischte sich mit den herrlich bitteren Röstaromen. Ich lehnte seufzend an dem blau gestrichenen Geländer und spielte mich mit der freien Hand mit ein paar abstehenden Holzspänen. Immerhin musste ich erst zur Spätschicht erscheinen.

»Moi, Mika«, rief Timo gut gelaunt herüber und sandte eine Welle Adrenalin durch meine Nervenbahnen.

Ich zuckte so heftig erschrocken zusammen, dass ich mir heißen Kaffee über die Finger kippte. »Aua, verdammt.« Überrascht und fluchend spähte ich durch die Bäume zu ihm hinüber.

Oben ohne, mit nass glänzenden Haaren stand er winkend bei seinem eigenen Holzhäuschen. Mir lief ein eiskalter Schauer über den müden Körper, der die Verbrennungen auf meiner Hand direkt abkühlte. Die Temperaturen begannen gerade mal, in den zweistelligen Bereich zu steigen, weshalb ich einen dicken Sweater trug, und er machte einen auf Beach Boy.

»Eher Mahlzeit«, rief ich zurück, doch meine angeschlagene Stimme krächzte verräterisch.

Er verschwand aus meinem Blickfeld und ich gönnte mir einen weiteren heißen Schluck. Timos Zuhause sah meinem zwar ähnlich, war aber sichtbar eine Preiskategorie höher. Während mein Domizil eine schlichte, aber gemütliche Hütte war, residierte er im zweistöckigen Premium Modell. Mit den roten Außendielen und der weiß gestrichenen Veranda, über der auch noch eine kleine Terrasse, auf glatten Baumstammsäulen thronte, glich sein Haus eher einer kleinen Villa. Jetzt, wo ich wusste welcher Familie er angehörte, war dies keine Überraschung. Wobei, eigentlich schon, denn wieso er ausgerechnet allein zwischen den Ferienhäuschen wohnte, war mir ein Rätsel. Ich musterte sein Domizil so lange, bis Timo wieder herauskam. In hautengen Sportklamotten und zwei riesigen Müllsäcken in den Händen. Dieses Bild passte überhaupt nicht mit dem von gestern Abend zusammen. Zwar hatte ich ihn so die ersten Male gesehen, doch nun wusste ich, dass er genauso gut in teuren maßgeschneiderten Anzügen aussah.

Während ich gähnte, kam er gut gelaunt zu mir spaziert.

»Na, ausgeschlafen und bereit?« Er stellte die Müllsäcke neben sich ab und sah mich erwartungsvoll an. Sein Haar war immer noch feucht, adrett nach hinten gekämmt und eine zarte Brise wehte den Geruch von seinem herben Duschgel heran.

Ich stand da. Lediglich wach, aber noch nicht aufnahmefähig. Mit meiner leeren Tasse Kaffee in der Hand und hatte keine Ahnung, was er meinte. »Um die Weltherrschaft an mich zu reißen?«, fragte ich und räusperte mich, um Herr meiner Stimme zu werden.

Timo sah nicht nach Kater aus. Frisch und munter. Ziemlich gutaussehend, wie er mich anlächelte und die Hände nun erwartungsvoll in die Hüften stemmte.

Meine blonden Haare waren zu einem perfekten Pferdeschwanz zusammengebunden, mein Gesicht makellos dezent geschminkt, um die Spuren der vergangenen Nacht zu überdecken, aber innerlich bahnte sich das Koffein nur langsam einen Weg durch mein Blut. Ich fühlte mich wie der durchweichte Waldboden, auf dem Timos Schritte schmatzende Geräusche erzeugten. Ich war dieses Schmatzen, personifiziert als Mika, die keinen harten Alkohol vertrug. Ein erneutes Gähnen meinerseits war alles, was Timo als Antwort bekam. Peinlich berührt hielt ich mir verspätet die Hand vor den Mund. Er hatte mir ohnehin schon bis zu den Mandeln sehen können, was ihn zum Schmunzeln brachte. Vor der Mitarbeiter-Feier hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt. Wir hatten uns gestern nett unterhalten, doch über einen oberflächlichen Smalltalk war der Abend nicht hinaus gegangen. Zumindest so viel ich mich erinnern konnte.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich nochmal und unterdrückte ein neuerliches Gähnen.

Er zog die dunklen Augenbrauen hoch und lachte leise. »Da verträgt aber jemand gar keinen Alkohol, nicht wahr?«, neckte er mich.

Ich verzog das Gesicht und lockerte meine Schultern. »Mein Körper ist ein Tempel. Das solltest du doch als Sportler wissen. So viel Zucker und Alkohol bin ich nun mal nicht gewöhnt«, verteidigte ich mich.

Timo gab ein Geräusch von sich, das wie ein »Pffft« klang.

»Aber genau wegen Alkohol, Zucker und Fett mache ich doch Sport. Die Sache muss sich ja lohnen. Grundlos renn ich nicht jeden Tag im Kreis. Okay, die anzüglichen Blicke der Ladies am Strand sind auch gut fürs Ego.«

Diese Antwort überraschte mich zum Teil. Er sah eher nach dem Typ Proteinshake, nicht nach Schokolade aus. Trotzdem fragte ich mich langsam ernsthaft, was ich verpasst hatte.

»Was machst du hier?«

»Ich bin der mittlere Sohn einer sehr reichen Familie und wohne …«

»Ach, nein. Du weißt genau, was ich meine. Wieso kommst du zu mir rüber, obwohl wir nie ein Wort miteinander gewechselt haben?«, platzte es trotziger aus mir heraus, als ich es geplant hatte. Ich hatte mich meistens gut im Griff, aber übermüdet sollte man mich nicht reizen. Außerdem war ich verwirrt.

Timo schien mir meine Unhöflichkeit nicht übel zu nehmen. Seine Miene blieb offen und er streckte nur seufzend den Rücken durch. Danach schenkte er mir ein so breites Lächeln, dass seine perfekt weißen Zähne aufblitzten. »Es ist fast Nachmittag. Können wir dann gehen? Ich entsorge noch den Müll und dann treffen wir Heli beim langen Steg.«

Einige weitere Sekunden lang stierte ich ihn an, doch er ließ sich von mir nicht verunsichern. Ich grübelte intensiv nach, was mir entgangen war, kam aber nicht drauf. So viel hatte ich nicht getrunken. Generell hatte ich noch nie einen Blackout nach einer Party gehabt. Ich begann, ernsthaft an mir zu zweifeln.

»Sag mal, was ist in den Müllsäcken? Ist das nur eine Masche, um mich in den Wald zu locken? Ist da das vorherige Mädchen drin, das du ausgetrickst hast, zerstückelt in Einzelteile?«, fragte ich mit zusammengekniffenen Augen.

Timo öffnete seinen Mund, sagte aber nichts. Er holte erneut Luft, schüttelte dann sichtlich zweifelnd den Kopf. »Sag mal, was stimmt mit dir denn nicht? Da ist Müll drin. Ich trage ihn zum Sammelplatz, weil er außerhalb der Hauptsaison zu selten geholt wird. Und wir gehen zum Strand, nicht zur Schlachtbank. Dort sind andere Menschen, Zeugen. Wenn ich dich umbringen wollen würde, könnte ich das jede Nacht in deinem Mökki tun. Ich besitze alle Ersatzschlüssel.« Mit jedem Wort kehrte das breite Grinsen zurück in sein Gesicht.

Unsere Unterhaltung war wahrlich so absurd, dass ich nur eine Entscheidung treffen konnte. »Okay, gehen wir.«

»Willst du diese Klamotten tragen?«

Ich sah an mir herunter. Eine dunkelblaue Stretch-Jeans, Sneakers und ein schwarzes Shirt unter dem beigen Sweater. Bequeme Arbeitskleidung, für das Café. Ich konnte nach unserem Treffen mit Heli direkt hingehen. »Klar oder haben wir etwas Extravagantes vor?« Lediglich eine Jacke wollte ich mir noch mitnehmen.

Das diebische Funkeln in seinen Augen hätte mich skeptischer werden lassen müssen. Ich war aber immer noch müde.

»Nein, du siehst gut aus. Los geht’s.«

Selbstverständlich hätte ich hinterfragen sollen, wieso er Sportkleidung trug. Allerdings hatte ich Timo ja kaum in etwas anderem gesehen. Es war seine Standard-Alltagskleidung. Als Helena aber in Jogginghose und genauso sportlich aussehendem blau-weißen Trikotshirt auf dem Holzsteg auf uns wartete, dämmerte mir die Katastrophe.

»Aber das war doch nur Spaß!«, rief ich aus und blieb ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen.

Timo umarmte Helena, ehe sie sich nebeneinander stellten und mich fokussierten. Der Tag hätte wunderschön beginnen können. Die Sonne warf ihre ersten wärmenden Strahlen über das Meer. Das Wasser gluckerte nur ganz leise und schimmerte romantisch. Auf dem Strand befanden sich außer uns keine anderen Menschen und der Wind wehte kühl, aber belebend über uns hinweg. Wunderschön. Wenn wir nicht vorgehabt hätten zu joggen.

»Das war purer Ernst. Hier geht es um meine Ehre als Trainer. Wir wollten sofort anfangen, damit ihr in knapp zwei Monaten fit für den Charity-Lauf seid. Ihr habt beide zugestimmt und den Vertrag unterschrieben«, erklärte Timo feierlich.

»Vertrag? Ich habe meinen Namen auf eine handgeschriebene Liste auf einem Whiteboard geschrieben«, konterte ich, konnte mir das Lächeln aber nicht verkneifen.

Helena stand mit todernster Miene da. Ihr Piercing glitzerte zwischen ihren Augen und ihre roten Haare lugten unter einer dünnen schwarzen Mütze hervor. Sie begann, auf der Stelle zu joggen. »Los los los. Wir werden gewinnen. Uns den Pokal holen. Sieger sein«, verkündete sie mit emporgestreckter Faust gen Himmel. Sie war bereits jetzt aus der Puste und keuchte aufgeregt.

Timo sah schmunzelnd auf sie hinab. Schließlich klatschte er in die Hände. »Meine Damen. Zuerst werden wir uns etwas aufwärmen. Mit ein paar Lockerungsübungen.«

Er nahm Abstand von Helena und begann, seine Arme abwechselnd kreisen zu lassen. Sie tat es ihm gleich. Bei ihm sah das zielgerichtet aus. Helena gab sich Mühe, ähnelte aber mehr einem kaputter Propeller.

»Mika, mitmachen«, schnaufte sie.

Irgendwie hatte die Sache ja etwas für sich. Die Atmosphäre am Wasser war grandios und ein bisschen Sport vor meiner Schicht brachte meinen Kreislauf in Schwung. Also streckte ich meine Arme aus und ahmte Timo nach. Er strahlte mich zur Belohnung offen an. Das Augenzwinkern animierte mich dazu, den Bauch anzuspannen und schneller zu werden.

Er folgte mit den Knien, hob sie abwechselnd, rollte die Schultern und schließlich joggten wir langsam den Steg auf und ab. Die Sonne kam heraus und gemeinsam mit der Bewegung wurde mir so warm, dass ich mir die Jacke um die Hüfte band.

»Das war großartig. Danke für das Training«, keuchte Helena mit niedlichen roten Bäckchen.

Timo schüttelte den Kopf und rieb sich freudig die Hände. »Jetzt geht es erst richtig los.«

Sie seufzte theatralisch und verdrehte die braunen Augen. »Ich habe befürchtet, dass du das sagst.«

Auch mein Puls stieg, aber noch hatte ich genügend Reserven.

»Ich würde vorschlagen, wir laufen mal etwas schneller den Waldweg entlang und dann zurück zum Café. Das sind so etwa drei Kilometer, damit ich euer Level mal einschätzen kann«, sagte er motiviert.

Timo lief federleicht los. Wie eine muskulöse, breitschultrige Elfe mit Bartschatten. Wir beiden normalen, plumpen Menschen trampelten hinterher. Seine Schritte hörte man kaum auf den Holzdielen, unsere donnerten dumpf. Anfangs lachte ich gemeinsam mit Helena über unsere Unbeholfenheit. Wir stolperten im Wald über Wurzeln, kicherten und umkreisten uns spielerisch. Timo hängte uns in Windeseile ab und rannte stetig voraus. Joggen konnte man unser Gehabe nicht nennen, aber wir hatten Spaß und meine Laune stieg enorm. Wir alberten so wild herum, dass ich rückwärts tänzelnd gegen etwas Hartes stieß. Hätten mich nicht zwei starke Arme festgehalten, wäre ich mitten im Wald in den Matsch gefallen. Ich spähte hinter mich und die Muskelelfe sah streng auf mich herab. Nicht allzu böse, aber sein Mund verzog sich und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Ich lächelte ihn an, doch er schüttelte nur langsam den Kopf. Seine warmen Hände ruhten auf meinen Oberarmen. Eine Gänsehaut folgte der winzigen Bewegung, die er mit seinen Fingern darauf machte. Sein Geruch stieg mir so nahe deutlich in die Nase und ließ mich stutzen. Nicht mehr der frische Duft nach der Dusche vom Morgen war präsent, sondern etwas Süßes. Schwitzte dieser Mann etwa Zucker und Zimt?

»Wenn ihr das nicht ernst nehmt, lösen wir die Wette auf. Ich weiß, es wirkt nicht so, aber ich könnte meine Zeit durchaus anders verbringen«, sagte er trocken. Allerdings zuckten seine Mundwinkel verdächtig. Timos Brust war attraktiv breit. Es lehnte sich eigentlich recht gut an ihm. Offenbar merkte er meine gestohlene Pause, denn er trat einen großen Schritt zurück und ließ mich los. Strauchelnd fing ich mich, aber Timo verschränkte die Arme und sah uns weiterhin anklagend an.

»Wir strengen uns an«, versprach Helena und schenkte ihm ihren schönsten Dackelblick.

Nur kurz behielt er die Strenge bei, ehe er zufrieden grinste und umdrehte. »Dann versucht, mich einzuholen. Wer es schafft, bekommt eine Woche täglich einen Kaffee von mir spendiert.«

Für mich als Koffein-Abhängige war das ein triftiger Grund zu zeigen, dass ich durchaus in der Lage war, geradeaus zu laufen. Timo hatte deutlich längere Beine und seine Kondition überstieg meine sowieso. Dennoch gab ich mir diesmal wirklich Mühe und sprintete los. Schnell merkte ich, welchen Fehler ich begangen hatte, aber Aufgeben war jetzt keine Option mehr. Mein Puls pumpte nach wenigen Sekunden, gepaart mit meinem Schnaufen, das wie ein sehr ungesundes Pfeifen meiner Lunge klang. Mein Körper signalisierte mir, dass er nicht für Ausdauer bereit war. Da half auch die frische Luft nicht oder die malerische Waldlandschaft. Ich konzentrierte mich ohnehin nur darauf, nicht hinzufallen, und auf Timos Kehrseite, die wie eine Maschine vor mir her lief. Pobacke links, Pobacke rechts. Pobacke links, Pobacke rechts. In dem Moment, in dem ich dachte, dass sich der Abstand zwischen uns verringerte, drehte er sich breit grinsend um und rannte rückwärts weiter. Dieser Angeber tänzelte regelrecht vor mir her.

»Alles in Ordnung? Du klingst wie der Zug aus Hogwarts. Nur kaputt«, kommentierte er meine bescheidene Verfassung. Gleichzeitig betrachtete er meine blamable Gestalt und verwirrt verzog er das Gesicht. »Was machst du da? Wieso rennst du so komisch?«, fragte er mich, immer noch rückwärts laufend. Über einen unebenen Waldweg, auf dem ich Mühe hatte, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern.

»Ich halte … meine … Brüste fest«, antwortete ich abgehackt und nach Luft schnappend. Es war nun mal eine Tatsache, dass, wenn man mit einer Körbchengröße C und einem bequemen, aber nicht sportgeeigneten BH rannte, die Dinger drohten, einem um die Ohren zu fliegen. Und es tat verdammt weh, wenn sie auf und ab hüpften. Deswegen hielt ich sie fest mit beiden Händen umklammert. Das machte mich weder schneller noch sportlicher, aber immerhin lenkte meine Performance Timo so ab, dass er ins Straucheln geriet.

Mit rudernden Armen behielt er gerade noch so das Gleichgewicht. Er drehte sich nach vorn und schrie erschrocken auf, fiel aber nicht hin. Nur wenige Mikrosekunden an Schadenfreude waren mir vergönnt. Sein Straucheln führte dazu, dass ich ihn wie der genannte Zug von Hogwarts einfach unkontrolliert rammte, weil ich ohne freie Arme beim Ausweichen das Gleichgewicht verlor. Ich krachte beinahe ungebremst in Timos Rücken. Er schrie. Ich schrie. Wir rissen uns gegenseitig brutal zu Boden. Er landete mit dem Bauch im Dreck. Wir ächzten beide auf, aber das Wettrennen war beendet, die Elfe erlegt.

»Hab’ dich«, stöhnte ich, rittlings auf ihm kauernd.

»Das war eine unfaire Ablenkung. Das zählt nicht«, nuschelte er unter mir. Sein Brustkorb hob und senkte sich ruckartig. Er versuchte, sich aufzurichten, aber ich kauerte immer noch halb auf ihm drauf. Erst, als Helena angejoggt kam, wurde ich mir unserer brenzligen Lage bewusst.

»Also, wenn das huckepack Tragen eine Option ist, wähle ich die auch«, stellte sie keuchend fest und stemmte eine Hand in ihre Taille. Sie riss sich die Mütze mit der anderen vom Kopf und wischte sich durch die schweißnassen Haare.

»Mika hat mich mit ihren Brüsten abgelenkt«, schimpfte Timo.

Ich begann endlich, mich zu erheben, stützte mich dabei auf seinem Rücken ab und hievte mich hoch. Er rollte sich schnaufend auf den Rücken, blieb aber auf dem Boden liegen. Er war von oben bis unten mit Erde und Blättern mariniert. Auf seinen Händen leuchteten rote Schrammen und in seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. Er fing an, leise zu glucksen, und wischte sich Dreck aus dem Gesicht.

»Du bist ganz schön schwer.«

»Das ist unhöflich«, beschwerte ich mich sofort.

»Du hast vor ihm blank gezogen, um zu gewinnen? Wie dringend brauchst du Kaffee, Mika?«, mischte sich Helena empört ein.

»Ich habe gar nichts blank bezogen. Ich habe nur den falschen BH an und habe meine Brüste festhalten müssen. Ich war doch nicht auf Sport vorbereitet«, verteidigte ich mich.

Helena starrte mich an, wandte sich dann zu Timo auf dem Boden, der immer noch leise lachte. »Und du hast dich von sowas ablenken lassen? Ernsthaft, Timo. Das ist doch eines echten Mannes nicht würdig. Du hast schon so viele Brüste gesehen«, ergänzte sie und brachte den geschädigten Mann auf dem Boden damit nur noch mehr zum Lachen.

»Ich realisiere gerade, dass mich unsere Wette eventuell umbringen wird«, presste er hervor und hielt sich dann den Bauch.