1
War der Wechsel in den neuen Job ein Fehler gewesen?
Kari Lürsen beobachtete die Stubenfliege, die an der weißen Wand ihr gegenüber nach oben krabbelte, mitten in der Bewegung innehielt, als überlegte auch sie, ob der eingeschlagene Weg sinnvoll war, dann die vorderen Beinchen aneinanderrieb, schließlich die Flügel ausbreitete und wegflog.
Ob auch sie weiterziehen sollte? So richtig glücklich war sie in den letzten Wochen als Mentorin von fünf Beamtinnen und Beamten nicht geworden. Alle waren dem Aufruf zu einer neuen Sonderausbildung gefolgt. Es handelte sich um ein Pilotprojekt für den Einstieg bei der Kripo. Das Auswahlverfahren der Rekruten war hart, trotzdem hatte es mehr mögliche Absolventen als zunächst bereitgestellte Plätze gegeben. Bei erfolgreichem Abschluss der einjährigen Ausbildung waren die Frauen und Männer für den Einsatz in einer Sondereinheit vorgesehen. Kari begleitete ihre Gruppe seit einigen Wochen. Und es war alles ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Jetzt saß sie seit ungefähr zehn Minuten im Vorzimmer ihrer neuen Vorgesetzten im obersten Stock eines fünfstöckigen grauen Bürogebäudes am Westring in Kiel, in der Nähe der Wissenschaftsstadt. Es war ihr erster Besuch hier, obwohl sich die Büros und Seminarräume ihrer neuen Einheit lediglich ein Stockwerk tiefer befanden. Dort hatte nicht nur ihr Einstellungsgespräch, sondern auch sämtliche bisherigen Besprechungen mit ihrer Vorgesetzten stattgefunden. Und nun saß sie hier und hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Sie starrte abwechselnd auf den Boden – schnell zu reinigendes helles Klick-Laminat – und die weiß verputzte Wand gegenüber. Langsam wurde sie nervös. Schnippte sich nicht vorhandene Fussel von ihrer schwarzen Jeans und zog ihren Pulli bestimmt schon zum zehnten Mal glatt.
Polizeioberrätin Dr. Irmgard Adam hatte sie sofort nach ihrem Eintreffen am Morgen zu sich bestellt, ihr aber nicht mitteilen lassen, worum es ging. Jetzt blickte Kari hinüber zu Adams Assistenten, einem schlanken Rotblonden mit gepflegtem Vollbart. Er hob den Kopf, schenkte ihr ein kurzes Lächeln und vertiefte sich wieder in eines der vielen Dokumente, die zu akkuraten Stößen geschichtet auf dem Schreibtisch vor ihm lagen.
Karis Blick kehrte zurück zu den großformatigen Schwarz-Weiß-Fotos, die in einfachen Glasrahmen an der Wand hingen. Alle zeigten Straßenszenen. Ein junger Japaner mit kurz geschorenem Haupt präsentierte mit emporgereckten Daumen stolz nicht nur seine über und über tätowierten Arme, sondern auch ein wuchtig wirkendes Motorrad, auf dem er saß. Eine schlanke, weiß gekleidete Schülerin mit einer Schleife im Haar, Kari tippte hinsichtlich ihrer Herkunft auf Indien oder Sri Lanka, betrachtete etwas im Schaufenster eines Kosmetikladens. Eine Frau mit blondem Bubikopf und Sonnenbrille, die Sanduhrfigur durch ein eng tailliertes Kostüm zur Geltung gebracht, lehnte an einem Bushaltestellenhäuschen, offenbar irgendwo in Osteuropa, und rauchte mit der eleganten Divenhaftigkeit einer Marlene Dietrich eine Zigarette.
Das Besondere an den Aufnahmen erkannte man erst auf den zweiten Blick. Alle abgelichteten Personen wurden nicht nur durch das Objektiv der Kamera, sondern zugleich durch Andere beobachtet. Den Japaner schmachteten drei weibliche Teenager im Hintergrund kichernd an. Die Schülerin wurde von einer Gleichaltrigen mit nicht deutbarer Miene verfolgt. Die Rauchende durch den interessierten Blick eines neben ihr sitzenden Mannes, der hinter seiner aufgeschlagenen Zeitung hervorlugte. Diese doppelte Wahrnehmung machte die Fotos zu kleinen Kunstwerken.
Kari fragte sich gerade, welch genaues Auge man benötigte, um solche Schnappschüsse hinzukriegen, als eine Tür geöffnet wurde und ihre Vorgesetzte neben sie trat. Dass sie selbst aus ihrem Büro kam, um Kari abzuholen, und nicht ihren Assistenten vorschickte, war überraschend.
»Frau Lürsen. Guten Morgen. Kommen Sie bitte.«
Kari folgte ihr. Frau Dr. Adam war klein, vermutlich gerade mal eins sechzig. Der Rock ihres grauen Kostüms endete am Knie und zeigte die trainierten Beine einer Tänzerin oder Wandrerin, ansonsten war sie eher kompakt gebaut. Ein herbes, krautiges Parfüm wehte dezent hinter ihr her. Sie trug keinerlei Schmuck und ihr krauses dunkles Haar war wie mit dem Lineal rundherum auf Kinnlänge geschnitten.
Die Frauen betraten ein großes Büro, das in seiner Aufgeräumtheit unpersönlich und kühl wirkte. Nicht mal eine Pflanze war zu entdecken.
Ein schnelles Lächeln und eine Handbewegung später saßen sich die beiden Frauen an einem ausladenden Schreibtisch gegenüber. In das Gestell aus gebürstetem Edelstahl war eine schwer aussehende, dunkel getönte Glasplatte eingelassen. Sie war, bis auf ein Telefon, einen Laptop, eine Schale mit Stiften und einige Blätter, die mit der unbeschrifteten Seite nach oben lagen, leer.
»Wie geht es Ihnen im neuen Job?« Dr. Adam verschränkte die Hände auf dem Tisch und sah Kari direkt an. Ob die Kriminaloberrätin spürte, wie sehr sie dieser Gedanke gerade selbst umtrieb?
»Gut«, versicherte Kari und hoffte, ihre Vorgesetzte würde das kurze Zögern nicht bemerken. Tatsache war, dass sie sich nicht beklagen konnte. Sie hatte das BKA auf eigenen Wunsch verlassen. Dort war sie etliche Jahre zunächst im Zeugenschutz, der Zielfahndung und bei verdeckten Ermittlungen eingesetzt worden. Als die Ministerpräsidentin ihr vor ein paar Wochen das Angebot gemacht hatte, in eine neu gegründete Sondereinheit zu wechseln, hatte sie nicht lange überlegt. Das Pilotprojekt war zunächst auf zwei Jahre angelegt. Man wollte jungen, hoch engagierten und bewährten Polizistinnen und Polizisten, die zur Kripo wollten, aber nicht die Voraussetzungen für das nötige Studium mitbrachten, den Weg zum Quereinstieg ebnen. Jo Weinheimer, ihr ehemaliger Chef, hatte ihr keine Steine in den Weg gelegt, auch wenn er sie nur schweren Herzens ziehen ließ. Und das von jetzt auf gleich. Für die Arbeit als Mentorin in diesem Sonderprogramm war Kari von Berlin nach Kiel gezogen. Auch private Gründe hatten dabei eine große Rolle gespielt.
»Das klingt nicht überzeugt.« Dr. Adam sah Kari stirnrunzelnd an.
»Doch«, erklärte die mit fester Stimme und ebensolchem Blick.
Was hätte sie sagen sollen? Dass sie sich die Frage schon mehrfach selbst gestellt hatte? Dass es für sie manchmal schwierig war, Leiterin einer Gruppe von fast gleichaltrigen Polizistinnen und Polizisten zu sein und sich ihnen gegenüber als Respektsperson durchzusetzen? Damit umgehen zu müssen, nicht auf alle Fragen sofort eine Antwort zu haben? Dass es ihr durchaus schwerfiel, nicht mehr draußen, in freier Wildbahn, sondern im Innendienst tätig zu sein? Petitessen, würde jemand mit der kühlen Effizienz einer Dr. Adam sagen. Und dass es viel zu früh für Klagen war. Eben darum nickte Kari erneut nachdrücklich.
»Gut also.« Karis Vorgesetzte sah sie immer noch prüfend an. Kari wusste, dass ihr Gegenüber dabei in das Pokerface einer ehemaligen verdeckten Ermittlerin blickte.
»Wir haben einen Fall für Sie. Ein totes Kind. Ein siebenjähriges Mädchen.«
Kari schluckte. Kinder, das war immer besonders hart.
»Man hat sie am Dienstag in einem kleinen Waldstück bei Dunsum gefunden.«
Vor zwei Tagen. Auf Föhr, Karis Heimatinsel, auf die sie inzwischen nach vielen Jahren in Berlin zurückgekehrt war. Zumindest zeitweise.
»Wer leitet die Ermittlungen?«
»Die Kripo Flensburg. Eigentlich. Aber wir haben angeregt, die Sache, was die Ermittlungen vor Ort betrifft, in unsere Hände zu legen.«
Kari konnte ihre Überraschung nicht verbergen und beugte sich ihrer Vorgesetzten ein Stück entgegen. »Das ging schnell.« Sie hatte noch lange nicht mit einem Einsatz gerechnet.
»Lassen Sie mich ganz offen sein: Wir wollen unseren neuen Handlungsansatz erproben. Und wir stehen etwas unter Druck. Innovative Lösungen werden nicht überall mit lautem Hurra begrüßt. Weder von den Dienststellen noch von der Politik.« Eine Grimasse begleitete ihre Worte. »Aber das wissen Sie sicher selbst.«
Kari stimmte mit einer Geste zu.
»Fragt sich, wer von Ihren Leuten am besten geeignet ist, Sie zu begleiten.«
Kari fragte sich viel eher, warum ausgerechnet sie auserkoren worden war. Neben einer Reihe wechselnder Dozentinnen und Dozenten war sie lediglich eine Ausbilderin von fünf. Außerdem diejenige, die zuletzt dazugekommen war. Sie konnte sich nur so einen Reim darauf machen, dass Emma Winterfort sie ins Spiel gebracht hatte und Dr. Adam dem Vorschlag der Ministerpräsidentin folgte.
Nachdenklich sah Kari aus dem Fenster. Dachte an die fünf Mentees, deren feste Ansprechpartnerin sie war. Alles Leute, die sich bereits an unterschiedlichen Stellen im Polizeidienst bewährt hatten. Alle verfügten über mindestens eine besonders ausgeprägte Eigenschaft. Die brauchten sie neben Intelligenz, Leistungsbereitschaft, körperlicher Fitness und mentaler Ausgeglichenheit, um überhaupt für dieses Sonderprojekt infrage zu kommen. Alle hatten sich voller Enthusiasmus gemeldet. Waren bereit, auch über die üblichen Überstunden hinaus und, wenn es sein musste, buchstäblich Tag und Nacht zu ermitteln. So, wie Kari selbst es früher getan hatte. Als verdeckte Ermittlerin und im Zeugenschutz galten sowieso verschärfte Regeln. Wen sollte sie auf diese erste und sicher unter ganz besonderer Beobachtung stehende Mission mitnehmen? Im Geist ging sie ihr Team durch: Malika Youssefi, schwarze wilde Locken, Kampfsportlerin. Mathilde Manzenrieder, bayerisches Urgewächs, blitzgescheit, Computernerd. Gianni Ciangiola, ein Italiener wie aus dem Bilderbuch, Superrecognizer. Henry Stratmann, Psychologe. Man nannte ihn auch den lebenden Lügendetektor.
Kari antwortete mit einem entschiedenen: »Sebastian Kuhl«.
Der Fünfte im Bunde. Hatte seine Ausbildung in Süddeutschland absolviert, galt als fokussiert und hartnäckig, kam aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Er war ein guter Polizist, aber alles andere als pflegeleicht. Obwohl sie das wusste, war ihre Wahl auf ihn gefallen.
Frau Dr. Adam lächelte und zog die zwei Blätter zu sich, die bislang unbeachtet auf dem Tisch gelegen hatten. Eines schob sie in eine Schublade, das zweite deckte sie auf. Kari konnte Sebastians Profil erkennen. Also hatte ihre Vorgesetzte zwei Personen im Blick gehabt und Kuhl war eine davon gewesen. Wer als weitere Option in Erwägung gezogen worden war, würde Kari wohl nie erfahren. Letztendlich war es egal.
Mit einem leichten Lächeln bestätigte Frau Dr. Adam Karis Wahl. »Kuhl ist der Erfahrenste Ihrer Leute. Ein guter Polizist, vielleicht manchmal zu eigensinnig. Hartnäckig, verbeißt sich in Fälle. Es muss bei ihm immer schnell gehen. Sorgen Sie dafür, dass die Sorgfalt nicht leidet. Und lassen Sie nicht zu, dass er nonstop arbeitet.«
Sebastian gehörte zu den Menschen, die mit vier, fünf Stunden Schlaf auskamen. Er blieb an seinen Fällen dran. Das hatte ihn in seinen bisherigen Positionen ausgezeichnet. Er war selbst eine Zeit lang Teil einer Jugendgang gewesen, dabei aber ohne Vorstrafen geblieben. Dann hatte er radikal die Seiten gewechselt. Warum, das blieb sein Geheimnis. Er hatte bei der Schutzpolizei angefangen. Jede Schulung mitgemacht, zu der sich ihm die Möglichkeit geboten hatte. Doch er war kein Teamplayer, sondern einer, der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte. Andererseits sah er Dinge und Verbindungen, die anderen verborgen blieben. Gerade so, als hätte sein Gehirn mehr Antennen.
Kari würde ihm seinen Freiraum lassen und gleichzeitig die Länge der Leine festlegen. Doch in diesem Fall ging es vorrangig um Schnelligkeit. Ein totes Kind, das beunruhigte die Öffentlichkeit und setzte die Behörden auf besondere Weise unter Druck.
»Sie können sich auf mich, auf uns verlassen.« Kari nickte ihrer Chefin knapp zu.
»Dann mal los. Sie selbst haben ja ein Domizil auf der Insel, wie ich gehört habe. Für Herrn Kuhl haben wir eine Dienstwohnung in Wyk reserviert.«
»Weiß er denn schon Bescheid?«
Dr. Adam lächelte sparsam und schüttelte den Kopf. »Ich hielt es für besser, wenn Sie ihm diese Nachricht überbringen.«
Ein guter Zug, dachte Kari. Ihrer Vorgesetzten lag nichts daran, sie zu übergehen.
»Dann stelle ich Ihnen jetzt die Beamtin vor, die während Ihrer Ermittlungen auf der Insel Ihre Ansprechpartnerin hier vor Ort sein wird. Für all das, was Sie und Herr Kuhl aus dem Backoffice benötigen.«
IT, Forensik, Datenabgleiche und vieles mehr würde von einer vielköpfigen Ermittlungseinheit im Hintergrund zusammengestellt und bearbeitet werden, während Kari und Sebastian vor Ort arbeiteten.
Erstaunlicherweise nahm Dr. Adam nicht das Telefon zur Hand, sondern ging selbst zur Tür, um ihren Assistenten zu instruieren.
»Nach dem Gespräch gehen Sie bitte direkt in die Rechtsmedizin.« Mit einem leichten Ächzen nahm Karis Vorgesetzte wieder an ihrem Schreibtisch Platz.
Kari hob die Brauen. »Das Opfer ist bereits hier in Kiel?«
»Ja.«
Ein Klopfen an der Tür, dann betrat eine zierliche Frau mit heller Haut und glattem langem Haar, das wie schwarze Seide glänzte, den Raum.
»Frau Lürsen, das ist Yuna Tanaka, Ihre Ansprechpartnerin bei der Kripo Flensburg. Kari Lürsen leitet die Ermittlung auf Föhr«, machte Dr. Adam die Frauen miteinander bekannt.
In den nächsten zehn Minuten erhielt Kari von Yuna Tanaka zwei Tablets, eines für sie, eines für Sebastian, und Visitenkarten mit Tanakas Telefonnummern und E-Mail-Adresse.
»Die Tablets sind besonders gesichert und können nicht getrackt werden. Sie sollten sie daher nicht mit Ihren anderen Geräten synchronisieren. Sie können wählen zwischen Fingerabdruck- oder Gesichtserkennung, zusätzlich vergeben Sie einen Einwahl-Code. Sämtliche dienstlich benötigten Programme habe ich übertragen. Ebenso die Möglichkeit, fortlaufende Protokolle zu erstellen. Die bekommen Frau Doktor Adam, der Sie direkt berichten, und ich. Letzteres besonders für den Fall, dass sonstige Fachleute hinzugezogen werden müssen. Ich sorge auf demselben Weg dafür, dass Sie sämtliche Informationen aus dem Backoffice der Ermittlungsgruppe anfordern können und erhalten.«
Sie gab Kari auf knappe, effiziente Weise alle weiteren Hinweise zum Verfahren, dann verließ sie den Raum.
»Fühlen Sie sich gut informiert?«
Kari nickte ihrer Vorgesetzten zu. »Fürs Erste.«
Dr. Adam erhob sich und begleitete Kari zur Tür. Die warf draußen noch einmal einen Blick auf die Fotos an der Wand.
»Die sind wirklich beeindruckend«, sagte sie.
»Danke, das freut mich«, antwortete Dr. Adam. Also war sie die Fotografin? Überrascht drehte Kari sich zu ihr um. Doch die Tür hatte sich bereits geschlossen.
2
Kari ging zunächst zurück in ihr Büro, schnappte sich dort Parka und Umhängetasche und verließ den schmucklosen Bau mit gemischten Gefühlen. Ein kühler Wind pfiff durch die Straßen und brachte den unverwechselbaren Geruch von Herbst mit sich. Sie zog den gefütterten Parka enger um sich und fischte ihr Diensthandy aus der geräumigen Tasche, die sie über der Schulter trug. Sebastian war, wie alle ihre Mentees, unter einer Kurzwahl gespeichert. Er ging schon beim zweiten Klingeln ran. Im Gehen informierte Kari ihn über den Fall und bat ihn, sie direkt im Institut für Rechtsmedizin zu treffen. Dann war sie beim Wagen angekommen. Sie stieg ein und fuhr los. Es war nicht nur der Stadtverkehr, der sie dazu veranlasste, gemächlicher als sonst zu fahren. Die Rechtsmedizin und alles, was damit zusammenhing, war ihr fremd. Während ihrer bisherigen Aufgaben hatte sie selten dort zu tun gehabt und das nie bedauert. Obduktionen beizuwohnen, das kannte sie nur noch aus ihrer Anfangszeit bei der Kripo.
Auf dem Weg dachte sie über Sebastian nach. Er war nur wenig jünger als sie, Ende zwanzig, und gehörte zu den kritischen Personen ihrer Mentee-Mannschaft. Mit den anderen verstand er sich auf eine pragmatische Art, suchte aber weder Nähe noch stieß er jemals Gruppenaktivitäten an. Er sprach nie über sein Privatleben und Kari wusste nichts darüber, wie er seine Freizeit verbrachte. Nicht, ob er sich in einer Beziehung befand, ein Familienmensch war oder ein Haustier besaß. Was auch immer. Das alles spielte momentan sowieso keine Rolle. Wichtig war es gewesen, jemanden zu finden, der der Aufgabe, die sich ihnen beiden auf Föhr stellte, gewachsen war. Dass Dr. Adam Karis Meinung zu Sebastian teilte, hatte es einfach gemacht. Aber was wäre gewesen, wenn sie eine andere Person gewählt hätte? Hätte sich ihre Vorgesetzte mit Karis Wahl einverstanden erklärt? Dr. Adam war schwer einzuschätzen. Bisher schien sie loyal. Doch um Vertrautheit und Nähe herzustellen, bedurfte es mehr. Vor allem auch mehr Zeit. Kari musste an Jo Weinheimer denken. Ihr früherer Chef und sie waren durch manch ein Stahlbad gegangen, das Undercover-Einsätze mit sich brachten. Er hatte stets hinter ihr gestanden, so wie hinter seiner ganzen Truppe. Ohne dieses hohe Maß an Vertrauen ging es nicht in einem Job, in dem man sich so exponierte. Das eigene Leben hing mitunter von diesem Vertrauen ab.
An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, war Kari auch an ihrem Ziel, dem rechtsmedizinischen Institut Kiel, angekommen. Sie suchte einen Parkplatz, betrachtete einen Moment lang das dunkelbraune Backsteingebäude mit den hohen, weiß abgesetzten Fenstern, das so viel anheimelnder wirken würde, wüsste man nicht, was sich hinter seinen Mauern verbarg. Schließlich gab sie sich einen Ruck, stieg aus und ging mit weit ausholenden Schritten zum Eingang. Der Wind wirbelte ihr Haar durcheinander und sie lief mit gesenktem Kopf, weil bereits ein paar Tropfen Regen vom Himmel fielen. Daher bemerkte sie Sebastian erst, als der ihr von innen die Tür öffnete. Er trug ausgewaschene Jeans, einen schwarzen Hoodie und eine dicke Lederjacke.
»Moin«, grüßte er und Kari nickte.
»Lassen Sie es uns hinter uns bringen«, murmelte sie dabei.
Er hob überrascht die Brauen, sagte aber nichts.
3
Eine Mitarbeiterin des leitenden Rechtsmediziners Dr. Manfred Märkle holte Kari und Sebastian am Empfang ab und brachte sie ins Souterrain. Trotz der Neonlampen, die Treppen und Gänge hell ausleuchteten, löste der Ort bei Kari ein beklemmendes Gefühl aus. Schweigend nahm die junge Frau ihnen in einem separaten Raum Jacken und Tasche ab und händigte ihnen Schutzkleidung und Atemmasken aus.
Als sie den Obduktionsraum betraten, fröstelte Kari automatisch. Auch bei ihren früheren Arbeitsstellen hatte sie dem Tod in gewisser Weise immer wieder gegenübergestanden. Hatte Täterinnen und Täter verfolgt, sich bei Undercover-Einsätzen gar in deren direkte Nähe begeben. Den Toten selbst aber war sie selten begegnet, hatte Sektionssäle nur betreten, wenn ihre Anwesenheit bei einer Autopsie als unbedingt notwendig erachtet wurde. Sie hatte großen Respekt vor denjenigen, die diese Arbeit hier machten. Die herauszufinden versuchten, was den Menschen, die auf den Obduktionstischen landeten, zugestoßen war. Damit man ihnen Gerechtigkeit zukommen lassen konnte. Die Arbeit der Rechtsmedizin war fraglos von unschätzbarem Wert.
Märkle empfing sie mit einem warmen, fast heiteren Lächeln, das nicht so richtig zu diesem Ort zu passen schien, bevor auch er eine Maske überzog. Gefolgt von einer Kollegin, die ihnen stumm zunickte, ging er voran zu einer Metallliege.
Als Kari den schmalen Körper sah, der dort noch gänzlich unter einem grünen Tuch verborgen lag, zog sich etwas in ihr zusammen.
So klein, so jung.
Kari schluckte. Sebastian trat hinter sie. Er war groß, fast einen Meter neunzig, mit breiten Schultern und einer sportlichen Figur. Sie blickten sich kurz an. In seinem Blick lag Betroffenheit. Auch an ihm, der vermutlich mehr Erfahrung mit dieser Art von Besuch hatte, ging das Ganze nicht spurlos vorbei.
Die Tür hinter ihnen öffnete sich.
Ein großer, dürrer Mann mit dunklem Haar und ernstem Gesicht betrat den Raum und begrüßte die Anwesenden mit einem Nicken. »Langhans. Ich bin der zuständige Staatsanwalt.« Kari stellte sich und Sebastian vor. Er musterte sie beide intensiv.
»Die Sonderermittlungseinheit also«, murmelte er dann, bevor er sich dem Rechtsmediziner zuwandte.
Dr. Märkle blickte sie der Reihe nach an, Kari nickte und er hob das Tuch.
Das Mädchen sah aus, als schliefe es. Ein schmales, helles Gesicht. Die Augen geschlossen.
»Anna war fast eins zwanzig groß, also etwas größer als der Durchschnitt. Dabei eine Spur zu dünn, aber nicht mangelernährt. Man hat sie erschlagen. Stumpfe Gewalt gegen den Hinterkopf.« Der Rechtsmediziner sah sie fragend an. Kari winkte ab, Sebastian hingegen beugte sich über das tote Kind, ließ sich die Wunde zeigen.
»Wurde sie missbraucht?«, fragte Kari mit dumpfer Stimme.
»Nein. Überhaupt gibt es keinerlei Hinweise auf eine sexuell motivierte Tat. Anna war vollständig bekleidet, als man sie fand. An keinem der Kleidungsstücke hat die Spurensicherung Sperma oder Speichel oder andere Spuren gefunden. Auch ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nichts sehen, was auf eine Triebtat hindeutet.« Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. »Keine sichtbaren Anzeichen von Misshandlungen, keine Abwehrverletzungen.«
»Könnte es ein Unfall gewesen sein?«
»Unwahrscheinlich. Sie wurde mindestens zwei Mal mit großer Kraft geschlagen. Ich vermute, mit dem Stein, den man etwas entfernt von der Leiche sichergestellt hat. Näheres wie immer nach der Obduktion.«
»Was denken Sie, was geschehen ist?«
Märkle blickte fragend zu Kari hinüber. »Noch bin ich nicht fertig mit der Untersuchung.«
»Auf den ersten Blick. Ich meine – was ging Ihnen durch den Kopf?«
Kari war bewusst, dass der Mediziner, wie alle anderen seiner Zunft, keinerlei Aussagen machen konnte oder wollte, die über den Sachtatbestand seiner Aufgabe hinausgingen. Dennoch glaubte sie fest daran, dass jedes Verbrechen eine Wirkung auf die, die zuerst damit konfrontiert wurden, hatte.
Dr. Märkle kniff die Augen zusammen und betrachtete erst sie, dann das tote Mädchen. Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Ein Kind zu töten macht, verglichen mit den Gründen für Morde an Erwachsenen, keinen Sinn«, murmelte er. »Die meisten der üblichen Motive fallen weg. Hier eben auch ein sexuelles, zumindest nach meiner bisherigen Erfahrung. Was bleibt, sind Neid, Eifersucht. Vielleicht ein grausamer Spieltrieb. Ohne den ausführlichen Untersuchungen vorgreifen zu wollen, kann ich aber sagen, die Schläge sind von einer wesentlich größeren und kräftigeren Person gesetzt worden.«
»Also keines dieser schlimmen Verbrechen, bei denen Kinder Kinder töten?«
Wieder ein leichtes Kopfschütteln.
»Kaum vorstellbar. Wenn Sie nach meiner ersten Wahrnehmung fragen: Da war Wut im Spiel. Massive Wut. Aber wer erschlägt ein kleines und wehrloses Kind? Das Mädchen dürfte nach dem ersten Schlag zu Boden gefallen sein. Der wurde, so wie es aussieht, von hinten oben gesetzt. Also von einer größeren Person, die hinter dem Kind stand. Der oder die weiteren Schläge erfolgten auf ihren Hinterkopf, als Anna schon am Boden lag. Mit großer Wucht. In so einer Situation erneut zuzuschlagen … quasi im Sterbeprozess …« Der Rest des Satzes ging in einem Seufzen unter.
Dr. Märkle zog sich eine Schutzbrille über. »Wollen Sie alle drei bei der Obduktion dabei sein?«
Langhans, der bisher schweigend zugehört hatte, blickte auf die Uhr. »Eine Mitarbeiterin der Kriminaltechnik kommt noch hinzu. Sie müsste jeden Moment hier sein.« Kaum hatte er ausgesprochen, öffnete sich die Tür erneut und eine junge, abgehetzt wirkende Beamtin kam hereingehastet.
Kari indes hob eine Hand zum Mund.
»Ich mach das«, raunte Sebastian ihr zu.
Dankbar sah Kari ihn an. Warf noch einen Blick auf das tote Kind. Es zog ihr das Herz zusammen und sie schwor sich innerlich, alles dafür zu tun, den Mörder zu finden.
Als der Leiter der Rechtsmedizin zur Tat schritt, hob sie die Hand zum Abschiedsgruß.
»Ich warte draußen«, murmelte sie in Sebastian Kuhls Richtung, bevor sie den Obduktionssaal verließ.
***
Zwei Stunden später betrat Kari, die im Vorraum gewartet hatte, zusammen mit Sebastian den Parkplatz. Sie atmete tief die frische Luft ein, die zwar nicht wirklich frisch war, aber nach dem Aufenthalt in der Rechtsmedizin dennoch erfrischend wirkte. Staatsanwalt Langhans hatte sich nach einem knappen »Ich hoffe, Sie lösen den Fall schnell. Wir bleiben in Verbindung«, verabschiedet. Der Asphalt war feucht, aber es regnete nicht mehr. Kari blickte zum Himmel, wo ein heftiger Herbstwind graue Wolken vor sich hertrieb, bevor sie sich ihrem Kollegen zuwandte.
Kari deutete auf ihren Wagen. »Ich fahre heim und packe für ein paar Tage. Wir sollten uns noch heute auf den Weg nach Föhr machen. Wir reden dann unterwegs.«
Sebastian nickte. »Ich nehme meinen Wagen mit auf die Insel.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seinen Schopf. Alles an ihm war hell, die Haut, die grauen Augen, das semmelblonde glatte Haar. Dennoch umwehte ihn etwas, das Kari nicht greifen konnte. Etwas Dunkles, das gar nicht zu ihm zu passen schien. Nur zu seinem kantigen Kinn und seinem Blick, der gelegentlich düster und voller Zorn funkelte. So wie jetzt. »Wollen wir gemeinsam auf die Insel übersetzen? Ich kann Sie abholen.«
»Okay.« Sie nannte ihm ihre Adresse. »Wir sollten Du zueinander sagen. Jetzt, wo wir gemeinsam ermitteln.« Sie streckte ihm ihre Rechte hin. »Ich bin Kari, aber das weißt du ja.«
Der Druck seiner Finger war fest und kräftig. »Sebastian. Aber das weißt du ja auch.«
Sein Lächeln wirkte wie immer ein wenig spöttisch. Kari kannte das und wusste, dass es so nicht gemeint war.
»Dann reserviere ich uns am besten gleich einen Platz auf der Fähre.« Sie öffnete die Homepage der Wyker Dampfschiffs-Reederei, beide berieten sich kurz bezüglich der benötigten Zeit, bevor Kari eine passende Verbindung aussuchte und die Überfahrt nach Föhr buchte.
Sebastian trat derweil von einem Fuß auf den anderen, er wirkte wie ein Rennpferd vor dem Start. »Gut, dann hole ich Sie, äh, dich in ungefähr einer Stunde bei dir zu Hause ab.«
»Bis dann«, Kari hob die Hand und ging zu ihrem Wagen, um in den Stadtteil Schreventeich zu fahren, wo sie eine kleine Wohnung angemietet hatte.
4
Sie hatten die Strecke von Kiel bis nach Dagebüll zügig hinter sich gebracht. Sebastian fuhr schnell, aber sicher. Der Verkehr war an diesem Tag insgesamt überschaubar. Nachdem Sebastian Kari über das vorläufige Ergebnis der Obduktion – keine neuen Erkenntnisse, bis auf die Bestätigung, dass der Stein die Tatwaffe war und der genaue Todeszeitpunkt noch ausstand – unterrichtet hatte, hatte diese die Zeit genutzt, sich auf ihrem Tablet in den Fall einzulesen. Laut sprach sie die wesentlichen Details aus.
»Die siebenjährige Anna Willfang hat am Dienstag, also vor zwei Tagen, unbemerkt die Wohnung in Dunsum verlassen. Die alleinerziehende Mutter – Doreen Willfang – hatte am Nachmittag gegen drei Besuch von einer Freundin bekommen. Beide Frauen gaben an, dass Anna zu diesem Zeitpunkt in ihrem Zimmer war. Sie hatten sie dort gehört, gesehen wurde das Kind nicht. Die Erwachsenen saßen im Wohnzimmer. Als Doreen Willfang irgendwann nach ihrer Tochter sah, stellte sie fest, dass Anna nicht da war. Inzwischen war es dunkel geworden und hatte angefangen, stark zu regnen. Die beiden Frauen sind losgegangen, um das Kind zu suchen. Sie fragten erst bei den direkten Nachbarn – die Willfangs bewohnen eine kleine Wohnung in einer Einheit aus drei aneinandergereihten Häusern –, dann suchten sie die Umgebung ab. Als sie Anna nicht fanden, radelten die beiden Frauen zu einem Waldstück, das sich zwischen Dunsum und Utersum am Deich entlangzieht. Die Mutter gab an, dass ihr Kind dort gelegentlich spielte. Sie entdeckten im Unterholz Annas leblosen Körper. Die Mutter setzte einen Notruf ab. Sie sagte dabei, sie habe ihre tote Tochter gefunden.«
»Die Mutter wusste sofort, dass Anna tot war?«
»Es schien offensichtlich.«
»Hm. Ein kleines Mädchen spielt allein im Wald?«
»Tja. Einen Wald kann man das nicht nennen. Zumindest nicht so, wie in der Gegend, aus der du kommst.«
»Eine Art Schwarzwald hatte ich auf Föhr auch nicht vermutet.« Sebastian setzte den Blinker und überholte zügig eine Reihe anderer Autos.
Kari rieb sich die Augenbraue. »In diesem Wäldchen«, sie betonte das letzte Wort, »das nur wenige Gehminuten von der Willfang-Wohnung entfernt liegt, hatte Anna mit einer Schulkameradin eine Art geheimen Spielplatz.«
»Was soll das sein?«
»So genau wusste es die Mutter auch nicht. Die Freundin des toten Mädchens sagt, es sei alles nur Annas Fantasie entsprungen. Außerdem seien sie beide schon lange nicht mehr dort gewesen. Die Kinder hatten sich gestritten, seither war die Verbindung eingeschlafen.«
»Wie war sie am Tattag unterwegs?«
»Anna fuhr mit dem Rad. Ein rosarotes Kinderfahrrad. Es lag in der Nähe des Fundorts der Kleinen im Gebüsch.«
»Versteckt?«
»Eher abseits.« Kari zoomte auf dem Tablet die Fotos vom Fundort größer. Es wirkte, als hätte das Rad an einem dünnen Baumstamm gelehnt und wäre umgefallen.
»Was hat die Suche sonst noch ergeben? Gab es etwas am Tatort, das einem Versteck glich?«
»Schwer zu sagen. Man hat eine Art Wigwam gefunden, wie sie Kinder gern bauen. Mehrere Äste aneinander gelehnt, sodass darunter ein kleiner Hohlraum entstanden ist. Nicht groß genug für ein Kind, um sich im Inneren zu verbergen.
»Hat man dort etwas von ihr entdeckt?«
»Ein paar Spielsachen. Jedenfalls wird angenommen, dass sie von ihr stammen. Die Mutter war sich nicht sicher.« Kari scrollte auf dem Bildschirm. »Ah, hier steht es detailliert. Plastiktiere. Ein Pferd. Eine Kuh. Zwei Hühner. Eine Gans.«
»Das fand man alles im Wald?«
»Unweit der Stelle, an der Anna lag, unter dem Wigwam. Sonst wurde nichts entdeckt, was mit Anna in Verbindung zu bringen war.«
»Irgendwelche Verdächtigen?«
»Bislang keine.«
»Wie war der genaue Ablauf nach dem Fund?«
Kari scrollte sich auf dem Tablet durch die Berichte.
»Der Notruf ging auf der Wache in Wyk ein. Zwei Polizisten, Polizeihauptmeister Bohm und Polizeiobermeister Driesen, fuhren daraufhin sofort los. Sie hatten, nach der Aussage der Anruferin, das Kind sei tot, nicht nur den Rettungswagen alarmiert, sondern auch einen Arzt kontaktiert, einen Allgemeinmediziner, der fast zeitgleich mit ihnen eintraf. Es war offensichtlich, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte. Die Beamten riefen Verstärkung, sperrten das Gebiet, sicherten den Fundort, legten Bewegungspfade fest. Das ganze Programm. Die Mutter bekam eine Beruhigungsspritze und wurde anschließend nach Hause gebracht und von einer Psychologin betreut.«
»Die Freundin?«
»Elena Retzlaff. Sie hatte sich bereits vom Fundort entfernt, den wir übrigens auch als Tatort bezeichnen können, denn der Stein, mit dem Anna erschlagen wurde, lag in Wurfweite vom Körper. Also, Elena Retzlaff ging weg, hat sich mehrfach übergeben, wirkte völlig neben der Spur und bestand dennoch darauf, alleine nach Hause zu radeln.« Kari blickte kurz auf und las dann weiter. »Die Polizisten warteten auf das Eintreffen der Kripo. Zwei Beamtinnen der Mordkommission, Hildesheim und Kramer, sowie ein Team der Spurensicherung, wurden per Schnellboot aus Flensburg geschickt. Das tote Mädchen wurde, nachdem sämtliche Formalitäten am Tatort erledigt waren und der Leichnam zum Transport freigegeben wurde, von einem Bestattungsinstitut abgeholt und am Mittwoch per Fähre aufs Festland, nach Kiel in die Rechtsmedizin gebracht.«
»Was haben die Befragungen ergeben?«
»Die wurden in derselben Nacht aufgenommen, bisher ohne Ergebnis, einige stehen aus, denn man hat nicht alle Nachbarn und Bekannten angetroffen, aber die Kollegen arbeiten das noch ab.«
Kari scrollte weiter. »Die Kripo hat darüber hinaus einen Zeugenaufruf gestartet, heute berichtet die örtliche Presse.«
Sebastian schwieg und Kari las weiter die Berichte, die allerdings keine neuen Erkenntnisse brachten, kommentierte gelegentlich halblaut etwas, sodass ihr Kollege auf dem Laufenden blieb.
Sie erreichten Dagebüll zeitig, stellten den Wagen unweit des Fähranlegers in der Nähe eines Hotels an der Mole ab und nutzten die Zeit, um sich ein bisschen die Beine zu vertreten. Vom Meer her blies ein kräftiger Wind, der den Geruch nach Salz und Seetang mit sich brachte. Aus der Ferne sahen sie, wie sich am grauen Horizont die Silhouette der Fähre herausschälte und sich zügig näherte.
»Tor zu den Inseln« las Sebastian halblaut vor, was an der Wand des Bistros an der Mole geschrieben stand.
»Damit sind Föhr und Amrum gemeint«, erklärte Kari.
Kurz bevor die einlaufende Fähre anlegte, setzten sie sich in den Wagen. Dort warteten sie, bis alle ankommenden Gäste ausgestiegen und alle Autos davongerollt waren. Sebastian checkte am Durchfahrschalter ein, folgte den Anweisungen eines Mitarbeiters und parkte seinen Mazda CX-5 auf dem ihm zugewiesenen Platz im nur mäßig besetzten Fahrzeugdeck. Nachdem sie ausgestiegen waren, begaben sie sich nach oben in das Bordrestaurant.
»Die Überfahrt dauert ungefähr fünfundvierzig Minuten. Wir können in dieser Zeit eine Kleinigkeit zu uns nehmen.« Kari zeigte auf einen der Tische am Fenster. Es war nicht viel los im Gastraum, die Saison neigte sich dem Ende zu. Sie wählten zwei Plätze einander gegenüber. Sebastian hob eine mitgebrachte Wasserflasche an die Lippen, trank in ruhigen Zügen und starrte gedankenverloren vor sich hin. Kari beschloss, sich einen Kaffee und ein Sandwich an der Theke zu holen, das sie, zurück an ihrem Platz, bedächtig aß, den Blick auf die trüben, schaumgekrönten Wellen vor dem Fenster gerichtet. Das Meer war bewegt an diesem Tag, die Gischt spritzte hoch und das graue Wasser wirkte ungemütlich kalt.
»Warum hast du mich ausgewählt?« Sebastian setzte seine Wasserflasche ab und schaute sie direkt an.
»Vermutlich, weil alle schnell Ergebnisse sehen wollen. Du bist der erfahrenste Polizist der Gruppe. Und ich schätze deine unkonventionellen Gedankengänge.«
»Unkonventionell. So so.« Seine blassen Lippen kräuselten sich.
Er wusste sehr gut, dass er nicht nur der älteste, sondern auch derjenige der kleinen Truppe war, der sich mit seinen Ideen zur Lösung eines Falls gelegentlich weit von denen der anderen wegbewegte.
»Wer übernimmt jetzt eigentlich deine Klasse?«
Kari runzelte die Stirn. »Klasse. Dieses Wort mag ich nicht. Das hört sich so nach Schule an.« Sie legte ihr Sandwich ab und tupfte sich mit der Serviette über die Lippen. »Ich verstehe mich als eure Mentorin. Das ist das Prinzip dieser Sonderausbildung.« Sie lächelte ihm knapp zu. »Die anderen vier werden in der Ermittlungsgruppe arbeiten, im Backoffice bei der Mordkommission tätig sein. Auf diese Weise arbeiten wir alle sechs gemeinsam an dem Fall, auch wenn nur wir beide vor Ort ermitteln. Das entspricht ganz den Richtlinien des Projekts. Theorie, die wir Dozentinnen und Dozenten euch vermitteln, plus Praxis.«
»Nicht schlecht«, murmelte Sebastian. »Ich hoffe dennoch sehr, dass mir das Backoffice erspart bleibt.«
Kari, die seine Abneigung gegen Arbeit in einem größeren Team kannte, sagte nichts. Er würde auf lange Sicht nicht drum herumkommen, aber jetzt war es wichtig, sich auf den laufenden Fall zu konzentrieren.
Auch er schwieg eine Weile, doch etwas bewegte ihn innerlich, sie konnte es spüren und sah ihn aufmerksam an.
»Was, wenn ich nicht bestehe?« Wieder starrte er aus dem Fenster.
»Wie meinst du das?« Kari hob erstaunt die Brauen.
»Diese Sondereinheit. Ich habe mich sofort gemeldet, als ich davon erfuhr.«
»Unter anderem auch, weil du nicht gerne in großen Teams arbeitest und dir nach der Übernahme in die Sondereinheit eine Arbeit in Kleingruppen vorstellst«, konstatierte sie.
»Ist kein Geheimnis.« Er sog die Wangen ein und lehnte sich zurück, einen Arm weit über die Lehne des leeren Sitzplatzes neben sich gelegt.
»Na ja, um eine gewisse Teamarbeit kommst du nicht herum. Auch wir beide sind eines. Da muss man sich aufeinander verlassen können. Aber – ist das alles?« Während Kari den letzten Bissen ihres Sandwichs verdrückte, wurde ihr bewusst, dass sie beide etwas gemeinsam hatten. Sie selbst hatte bisher, wenn überhaupt, in kleinen Teams gearbeitet. Als verdeckte Ermittlerin war sie auf sich allein gestellt gewesen, mal abgesehen vom Kontakt zu ihrer VP, der Vertrauensperson. Im Zeugenschutz hatten sie stets nur in einer Gruppe von einer Handvoll Kolleginnen und Kollegen agiert. Klein, aber vertrauensvoll. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag beschäftigte sie sich mit dem Begriff.
Sie war an Sebastians oft lange Pausen in Gesprächen gewöhnt und wartete jetzt geduldig darauf, dass er fortfuhr.
»Ich habe mich auch gemeldet, weil ich mit der normalen Polizeiarbeit und dem ganzen Verwaltungskram nicht mehr so viel anfangen konnte.« Er nickte gedankenverloren. Die Sonderausbildung würde in eine kleine, möglichst schlagkräftige Sondereinheit führen. Schneller, agiler, direkt vor Ort. Karis Wunsch war es, später eine Einheit zu leiten, die entlang der Nordseeküste zum Einsatz kam.
Sebastian sah nachdenklich aus dem Fenster, vielleicht erinnerte er sich, so wie sie gerade, an die häufigen und manchmal ausufernden Meetings, die vielen Absprachen, an gelegentlich parallellaufende Ermittlungsansätze. Die Bürokratie und die Hierarchie, die manches Engagement frühzeitig ausbremsten. Zuweilen reichten dazu auch Missmanagement, Ermüdung, Desinteresse oder schlicht die Tatsache, dass eine oder einer der vielen Beteiligten einer Ermittlungseinheit etwas übersah oder für nicht wichtig befand. Nicht, dass so etwas bei ihnen nicht ebenfalls vorkommen konnte. Der Umstand, dass nur zwei Personen gezielt ermittelten, hieß nicht, dass im Hintergrund nicht derselbe Apparat lief.
»Zunächst habe ich ewig nichts gehört. Ich dachte schon, das war’s für mich.«
»Ja, es gab mehr Bewerber, die für die Ausbildung in Frage kamen, als anfangs Plätze bereitstanden.«
Dann war Kari ins Gespräch gebracht worden.
»Du kamst später als die anderen.« Sebastian schaute fragend zu ihr herüber.
»Es wurde eine weitere Mentorin gesucht. Jemand mit einem breiten Background. Den habe ich, wie du weißt. Kripo. Zeugenschutz. Zuletzt verdeckte Ermittlung. Und sie sollte schnell verfügbar sein. Für das Mentoringprogramm und für Einsätze auf den Inseln. Jemand hat mich empfohlen.«
»Jemand?«
»Emma Winterfort.«
»Die Ministerpräsidentin herself?« Sebastian pfiff leise durch die Zähne. »Wie kommst du zu dieser Ehre?«
»Ein verzwickter Fall, in dem ich die Ermittlerin war. Da haben wir uns kennengelernt.« Sie sagte es in einem Ton, der weitere Nachfragen im Keim erstickte.
»Es ist ein Pilotprojekt. Womöglich aus der Not geboren, weil Ermittlungsarbeit komplizierter und zeitraubender geworden ist.« Das war sie. Und gleichzeitig fehlte es überall an Personal. Der Dienst wurde immer schwieriger, Überstundenkonten liefen über. Verbrechen geschahen ohne Rücksicht auf Feierabende, Wochenenden und Urlaubspläne. Manch öffentliche Debatte schadete dem Ansehen des Berufsstands. Kari bewunderte die jungen Leute, die sich dennoch nicht abhalten ließen, den Beruf zu ergreifen. Ihre Mentees waren dabei besonders motiviert. Sie alle wussten, dass sie unter Umständen ununterbrochen an einem Fall dranbleiben mussten. So wie Kari eben auch.
Würde sie es noch einmal tun? Würde sie noch einmal in den Polizeidienst gehen? Ja, dachte sie. Ich bin gern auf der richtigen Seite.
»Was, wenn wir es verkacken?«
»Tun wir nicht.« Kari lächelte ihn beruhigend an. »Es sei denn, uns unterläuft ein grober Fehler.«
»Wenn die zwei Jahre um sind, wie wird es weitergehen mit dem Projekt? Mit dir?«
Das war der wunde Punkt des innovativen Ansatzes. Er konnte jederzeit gekappt werden. Daher antwortete Kari wahrheitsgemäß. »Das kann ich nicht beantworten. Ich hoffe, aus den beiden Teams, die ich bis dahin betreut habe, eine Gruppe bilden zu können. Falls nicht – uns allen steht die Rückkehr an unsere früheren Arbeitsplätze offen.«
Sebastian verzog den Mund. Er wirkte, als hätte man ihm den Biss in eine Zitrone offeriert.
Kari musste lachen. »Hör mal, wir haben noch nicht einmal richtig angefangen. Die Mentoring-Teams laufen gut. Der Austausch von Wissen und Erfahrung in den Kleingruppen ist immens. Allein das ist schon ein Erfolg. Und uns beiden hat man die erste Ermittlung übertragen. Nicht ohne Grund, nehme ich an. Ich gehe da positiv ran und bin fest entschlossen und auch überzeugt, dass wir diesen Fall zu einer Lösung bringen.«
»Du stammst von Föhr, richtig?«
Kari nickte. Sie hatte nach Jahren in Berlin nicht wirklich schnell wieder Fuß gefasst auf ihrer Heimatinsel. Die Tatsache, dass sie dort nicht nur die kleine Kate ihres Großvaters geerbt hatte, sondern inzwischen eine Beziehung führte, war nicht ganz unbeteiligt gewesen an ihrem Entschluss, von Berlin nach Kiel zu ziehen. Die innovative Ausbildungseinheit hatte da wie ein Geschenk des Himmels gewirkt.
Blechern schepperte in diesem Moment die Durchsage durch den Raum, man lege in Kürze auf Föhr an. Sebastian packte seine leere Wasserflasche, Karis Tasse und Teller auf ein Tablett und trug es zur Rückgabestation an der Bar. Dann stiegen sie zum Fahrzeugdeck hinunter.
»Ich bin übrigens das erste Mal auf der Insel«, warf er noch ein, bevor sie sich in den Wagen setzten.
Kari deutete mit dem Finger auf den blauen Bogen am Fährhafen und las laut die Worte, die dort angeschrieben waren. »Willkommen auf Föhr!«