Prolog
Sophie
Die Rennstrecke summte wie ein Bienenschwarm vor Aktivität und Lärm, doch in meiner kleinen Ruheblase schien die Welt für einen Moment stillzustehen. Tausende Menschen jubelten in ihren Teamfarben. Fahnen flatterten, Motoren heulten, die Energie war überall spürbar.
Doch ich konzentrierte mich nur auf Papa.
Er stand da, ruhig und fokussiert, als wäre er der einzige Mensch in diesem Chaos. Sein Rennanzug glänzte in der Sonne. Ich betrachtete sein Gesicht. Das scharfe Kinn, die konzentrierten Augen, den entschlossenen Mund. In diesem Moment war er mehr als mein Vater. Er war ein Weltmeister, bereit für den nächsten Kampf.
Mein Brustkorb zog sich zusammen, so eng, dass ich fast keine Luft bekam. Ich wollte etwas sagen, etwas Bedeutungsvolles, doch die Worte steckten wie ein dicker Kloß in meinem Hals. Stattdessen ging ich zu ihm. Meine Schritte langsam, als liefe ich über dünnes Eis.
Ich schlang meine Arme um ihn, umarmte ihn so fest, als könnte ich ihn vor der Welt beschützen. Seine Muskeln unter dem Anzug waren angespannt, doch er ließ es zu. Er schloss seine Arme um mich und drückte mich, fast unmerklich. In dieser Bewegung lag alles, was ich sagen wollte, ohne dass wir auch nur ein Wort wechseln mussten. Er löste sich aus der Umarmung, und als er mir zulächelte, war da ein Schatten in seinem Blick. Ein kleiner Hauch von Abschied, der mich aufwühlte.
Die Luft roch nach verbranntem Gummi und heißem Motorenöl, der Asphalt unter meinen Füßen strahlte die gestaute Hitze des Tages ab. Ich hörte das Klirren von Werkzeug, das Zischen einer Druckluftflasche, das kurze Aufheulen eines Motors. Alles wirkte wie ein Herzschlag, ein schneller, unaufhörlicher Rhythmus. Unwillkürlich krallten sich meine Finger um die Träger meiner Tasche. Vielleicht ein Reflex, um die Nervosität zu verstecken. Mein Blick wanderte zu Papa. Er beugte sich über das Lenkrad, prüfte Knöpfe und Schalter. Sein Gesicht war ruhig, fast gelassen, aber seine Finger … Er trommelte mit ihnen auf der Armatur, der kleine Finger zuckte.
»Papa …« Die Worte klebten wie Staub in meiner Kehle. Bitte nicht, dachte ich. Bitte nicht heute. Doch ich schluckte die Worte hinunter. Ich wusste, dass er trotzdem fahren würde. Das hier war sein Zuhause, seine Welt, und nichts, einfach nichts, konnte ihn davon abhalten. Ich biss mir auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Und hätte ich gewusst, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich ihn in den Arm nehmen konnte, dann hätte ich ihn niemals losgelassen.
Dann setzte er den Helm auf, dieser schimmernde, undurchdringliche Schild, der uns voneinander trennte. In dem Spiegelvisier sah ich mich selbst: ein junges Mädchen voller Angst und mit zu vielen Wünschen, die ich niemals aussprechen würde.
Ich trat einen Schritt zurück. Die Hitze des Asphalts drückte durch die Sohlen meiner Schuhe, doch sie war jetzt anders. Nicht mehr brütend heiß, sondern dumpf, träge, wie ein Atemzug kurz vor dem Anhalten. Eine Gänsehaut kroch mir über die Arme, obwohl die Luft unbewegt blieb. Dicht und lauernd, wie vor einem Sturm. Papa kletterte in den Wagen, ein Anblick, so oft gesehen, dass ich jeden Handgriff mitsprechen konnte. Helm richten. Visier senken. Lenkrad greifen. Doch heute wirkte alles anders.
Das Rennen begann wie immer. Die Startampel erlosch. Motoren heulten auf. Die Wagen schossen los, direkt auf die erste Kurve zu. Doch in meinem Kopf war alles gedämpft, als wäre ich unter Wasser. Mein Blick klebte an Papas Auto. Meine Hände krallten sich in meine Jacke, die Finger so fest, dass die Knöchel weiß wurden.
Die Runden nahmen kein Ende. Mein Herz raste. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper, erst wie Strom, dann lähmend. Und dann passierte es. Ein Stoß. Ein Überschlag. Metall schrie auf dem Asphalt.
Ich schrie.
Doch kein Laut kam heraus.
Der Wecker klingelte laut und durchbrach die Stille. Ich hatte ihn mir absichtlich gestellt, mitten in der Nacht. Lieber ließ ich mich wecken, als den nächsten Albtraum zu riskieren. Luft schnappte in meine Lunge, flach und unregelmäßig, als wäre ich gerannt. Das Herz hämmerte wild in meiner Brust. Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich wach war oder noch immer in diesem Albtraum gefangen. Die Dunkelheit im Zimmer lastete schwer auf mir, die Schatten wirkten lebendig, als wollten sie mich hinabziehen.
Hastig tastete ich nach dem Schalter der Nachttischlampe. Erst als warmes Licht den Raum füllte, kehrte der Atem zurück. Ich ließ meinen Kopf auf das Kissen sinken, doch die Erleichterung hielt nicht lange an. Die Bilder … Sie waren noch immer da. Sie würden immer da sein.
Seit Mama vor einem halben Jahr nach Südafrika gegangen war, fühlte sich das Haus zu groß und zu leer an. Nachts war die Stille kaum zu ertragen. Sie schnitt sich wie ein Messer in meine Gedanken und ließ Raum für all das, was ich vergessen wollte. Aber wie kann man etwas vergessen, das einem die eigene Existenz genommen hat?
Ich setzte mich auf, schob die Decke zurück und stellte die Füße auf den Teppich. Mein Blick wanderte zum Laptop auf dem Nachttisch. Sein Standby-Licht blinkte ruhig, wie ein geduldiges Pochen.
Ein Gedanke tauchte in meinem Kopf auf. Kein Traum konnte mich retten, keine Flucht in die Vergangenheit. Aber vielleicht konnte ich etwas tun. Etwas ändern. Vielleicht konnte ich dorthin zurückkehren, wo alles begonnen hatte. Nicht als Sophie Garcia. Die Tochter des Mannes, der in Runde 43 gestorben war, und deren Gesicht in jedem Artikel über das Unglück aufgetaucht war.
Ich klappte den Laptop auf. Das Licht des Bildschirms blendete mich kurz. Die Suchleiste leuchtete auf, als hätte sie die ganze Zeit auf mich gewartet. Meine Finger schwebten über der Tastatur. Dann begann ich zu tippen.
Praktikum Formel 1 Motorsportteams.
Die Trefferliste erschien, eine Sammlung aus Links und Angeboten, die sich wie ein Labyrinth aus Hindernissen und Möglichkeiten anfühlte. Ich scrollte, überflog Worte wie »PR«, »Technik«, »Boxenteam« und »Fahrerassistenz«. Doch nichts fühlte sich richtig an. Bis mein Blick an einem bekannten Namen hängen blieb:
Bellone Racing – Praktikumsplatz, PR, Strategie und Datenanalyse.
Mein Atem stockte.
Der Bildschirm zeigte eine Beschreibung des Teams. Eines der besten, eines der renommiertesten, und doch war es viel mehr als das. Es war Papas Team. Sein Vermächtnis. Sein Leben. Und es war der Ort, an dem alles zerbrochen war.
Das Kästchen, das in leuchtendem Blau unter der Anzeige blinkte, schien mich anzustarren: Jetzt bewerben.
Meine Hand schwebte über der Maus, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Kein Team würde mich nehmen. Nicht mit meinem Namen, nicht mit meiner Geschichte. Ich wusste, dass ich lügen musste, um überhaupt eine Chance zu haben – mit einem anderen Nachnamen, einem geschönten Lebenslauf.
Nicht um jemandem zu schaden. Sondern um endlich Antworten zu finden und zu verstehen.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein, und mit einer Entschlossenheit, die ich kaum verstand, klickte ich auf das Kästchen.
Der Bildschirm lud kurz, dann öffnete sich die Bewerbungsmaske. Es war wie ein leises Klicken in meinem Inneren. Als ob ich eine Tür geöffnet hätte, durch die ich nie hatte gehen wollen, und doch war ich endlich bereit.
Die Worte flossen aus meinen Fingern, jedes durchdrungen von einer leisen, verborgenen Hoffnung: Vielleicht war dies mein Weg. Zurück zu ihm. Zurück zu mir selbst. Zur Wahrheit, was an jenem Tag wirklich passiert war.
Kapitel 1
Sophie
Der Flughafen glich einem einzigen Sturm aus Stimmen, Rollkoffern und Abflugsanzeigen, und ich mittendrin. Zum ersten Mal sah ich meinen neuen Namen auf einem Ticket stehen. Sophie Quinn. Er fühlte sich fremd an auf meiner Zunge, als gehörte er jemand anderem. Vielleicht war das der Sinn der Sache. Francesca begleitete mich, ihre Präsenz eine Mischung aus Komfort und subtiler Herausforderung. Seit der Uni war sie mein Korrektiv gewesen, mein Gegengewicht – die, die mich aufgesammelt hatte, als ich nach Papas Beerdigung das erste Mal wieder atmen musste.
Damals hatte sie einfach meine Tasche gepackt, mich in ihren Mini gesetzt und an den See gefahren. Keine Worte, nur Musik. Ich hatte noch nie jemanden so schweigend verstehen sehen. Sie war der Mensch, der blieb, wenn alle anderen gehen mussten. Wenn ich sie damals nicht gehabt hätte … Ich weiß nicht, ob ich heute noch hier wäre.
Ihre blauen Augen blitzten wie eine Warnung inmitten der Ankunftshalle. Ihre Worte waren, wie immer, eine Kombination aus Scherz und Ernst. »Das ist also der Moment, in dem du offiziell in die Höhle des Löwen trittst.«
»Na ja, praktisch gesehen, ist es ein Praktikum, kein Abenteuerfilm«, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln, obwohl ich wusste, dass ihr Blick mehr sehen konnte, als ich zu verbergen vermochte.
Stimmen und Geräusche vermischten sich, Menschen hasteten geschäftig vorbei, während die Klimaanlage kühle Luft durch die Hallen blies. Jedes kleine Detail war für mich Teil eines größeren Mosaiks, das Bild einer Reise, die mehr bedeutete als das bloße Weiterziehen von A nach B. Ich flog einer Wahrheit entgegen, die ich zu lange ignoriert hatte, und einem Namen, der nie wirklich verschwunden war.
»Sophie, sei ehrlich.« Francesca verschränkte die Arme. »Du gehst nicht dorthin, um Kaffeetassen zu spülen.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Vielleicht will ich einfach nur wissen, wie heiß der Kaffee wirklich ist.«
Sie schnaubte. »Und was du wirklich willst, sagst du mir dann, wenn du durch bist oder durchdrehst.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sophie. Dein Blick sagt: Welt retten oder totaler Absturz.«
Ich hob eine Schulter. »Vielleicht ein bisschen …«
Vielleicht ein bisschen zu viel. Vielleicht alles. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Nicht, nachdem ich diesen Namen auf die Bewerbung geschrieben hatte.
»Ein bisschen?« Francesca schnaubte leise. »Dein Blick schreit: Alles oder nichts. Wie immer.«
»Und du stehst trotzdem hier.«
»Weil ich gelernt hab, dich nicht aufzuhalten, nur aufzufangen.« Francesca lächelte schwach, trat einen Schritt näher und zog mich in eine Umarmung.
Ich schloss für einen Moment die Augen, sog ihren vertrauten Duft aus Lavendel und Großstadt ein und nickte gegen ihre Schulter. »Ich verspreche gar nichts. Aber ich ruf dich an, wenn ich die Welt verändert habe.«
»Oder wenn du untergehst.«
»Oder wenn ich untergehe.«
Sie war die letzte Konstante, bevor ich durch die Sicherheitskontrolle trat. Mit einem Blick, der mehr sagte als jedes Lebewohl.
»Und wenn du fällst, steh verdammt noch mal auf«, hatte sie mir vor zwei Jahren gesagt, als ich nach Papas Beerdigung das erste Mal wieder aus dem Bett gekommen war. Ich drehte mich ein letztes Mal um. Da stand sie. Die Arme verschränkt, das halbe Lächeln im Gesicht. Wie ein Schutzengel, der wusste, dass seine Flügel diesmal nicht ausreichten.
Ich schob den Rucksack über die Schulter, sah ein letztes Mal zu Francesca und ging los. Hinter mir lag die Wahrheit. Vor mir die Rolle, die ich mir selbst geschrieben hatte.
Jeder Schritt Richtung Sicherheitskontrolle fühlte sich an, als würde ich mich weiter von allem entfernen, was mich bisher gehalten hatte.
Der Flug war ein Schwebezustand. Zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde.
Ich starrte aus dem Fenster, sah das endlose Blau unter uns, dann die glühende Sonne, die sich langsam Richtung Horizont neigte. Je näher wir dem Nahen Osten kamen, desto mehr stieg mein Puls, begleitet von dem flauen Gefühl in meiner Magengegend. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Nur diesen einen Satz in meinem Kopf, der nicht verschwinden wollte: Du gehörst hier nicht her. Und doch war ich unterwegs in eine Welt, die mir fremd war, oder auch nicht so richtig, mit nichts als einem Koffer, einem gefälschten Lebenslauf und einem Herzen, das so laut schlug, dass ich mich fragte, ob die Frau auf dem Nebensitz es hören konnte.
Als ich aus dem klimatisierten Flugzeug trat, traf mich eine Wand aus Hitze. Es fühlte sich an, als hätte jemand den Himmel mit einem Heizstrahler ersetzt. Die Luft kroch in jede Pore, träge und staubig. Bahrain begrüßte mich mit gleißendem Licht und dem dumpfen Brummen von Motoren in der Ferne.
Ein Mitarbeiter, der ein Schild mit meinem Namen hochhielt, führte mich wortlos zum Wagen. Mein Blick glitt hinaus auf die fremde Stadt. Eine Mischung aus Glasfassaden, sandfarbenen Gebäuden und weiten Straßen, auf denen sich das Leben langsamer zu bewegen schien als in London. Mein Handy vibrierte. Francesca.
Und? Schon verliebt in den Geruch von Kerosin?
Ich tippte ein halbherziges Emoji zurück.
Du weißt, dass ich das ernst meine.
Formel-1-Luft ist wie Desinfektionsmittel. Brennt, aber man gewöhnt sich dran.
Ich legte das Handy weg, bevor ich ihr erklären konnte, dass es für mich ganz anders brannte.
Mein Herz fand seinen eigenen Rhythmus, je näher wir dem Circuit kamen. Ein Pochen zwischen Neugier und Panik. Hinter dem Sicherheitsbereich öffnete sich der Blick auf die Strecke. Schon von Weitem konnte ich die markanten Tribünen erkennen, die sich wie stählerne Flügel über das Areal spannten. Dahinter ragte der Tower in den Himmel, das ikonische Wahrzeichen der Strecke, von dem aus Teamchefs, Gäste und VIPs das Rennen beobachteten. Flutlichter waren auf hohen Masten montiert, bereit, die Nacht in gleißendes Tageslicht zu verwandeln. Bahrain war ein Nachtrennen. Die Luft war durchzogen vom fernen Heulen der Motoren, die sich wie Raubtiere im Käfig warm liefen.
Die Atmosphäre war elektrisch. Zwischen den Paddock-Gebäuden flitzten Golf-Carts vorbei, beladen mit Reifenstapeln und Equipmentkisten. Überall wuselten Menschen in Rennanzügen, Headsets, Shirts mit Teamlogos – ein ganzes Biotop aus Präzision, Eile und Disziplin. Und mitten darin: Ich, eine Fremde mit einem Koffer, der zu klackern schien wie ein Taktgeber für mein pochendes Herz.
Ein gigantisches Poster spannte sich zwischen zwei Metallmasten. Charles und Nathan Bellone, eingefroren in Siegerpose. Zwei Brüder, zwei Silhouetten: der eine das Gesicht von Bellone Racing, der andere ein Schatten, der in Schwarzweiß leuchtete.
Nathans Blick traf mich wie ein Déjà-vu mit Stromschlag. Als hätte mein Körper ihn erkannt, lange bevor mein Kopf begriff, warum. Vielleicht war es nur der Ausdruck, dieser winzige Zug um seinen Mund, den ich von einem Foto kannte, das ich viel zu oft angesehen hatte. Und jedes Mal hatte ich gehofft, die Wahrheit darin zu erkennen – oder mich endlich davon zu lösen. Für einen schwindelerregenden Moment stand ich wie eingefroren da. Unfähig, mich zu rühren. Etwas in mir geriet aus dem Takt. Wie ein Echo, das sich selbst überholte. Der Stoff meiner Bluse klebte an meinem Rücken, die Luft roch nach Gummi und Hitze, aber alles, was ich spürte, war dieser Blick.
Ich wandte mich ab. Das Gefühl klebte an mir wie Wüstenhitze. Süß und giftig. Wie der Geschmack eines Traums, von dem ich längst wusste, dass er mich das kosten würde, was ich noch zu schützen glaubte.
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, vorbei an Flutlichtern und stählernen Tribünen. Ich war nicht auf dem Weg zu einem Praktikum. Ich war auf Kollisionskurs mit etwas, das längst in mir zu vibrieren begonnen hatte. Ich war auf dem Weg in ein Leben, das mir nicht gehörte, in eine Geschichte, deren erste Lüge schon in meinem Namen steckte.
Der Wagen fuhr weiter, vorbei an der endlosen Logistik des Rennsports. Kabel, Kisten, sich bewegende Körper.
Ich presste die Finger um den Koffergriff, als könnte ich mich daran festhalten. Noch war alles anonym. Noch war ich die Neue, die Unbekannte.
Dann stoppte der Wagen. Die Tür öffnete sich und plötzlich war da eine Stimme.
»Du bist also Sophie Quinn.«
Sie riss mich aus dem Bann. Eine Frau trat auf mich zu, blonde Haare zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden, Sonnenbrille auf dem Kopf, die Bellone-Racing-Weste akkurat über einem beigefarbenen Blusentop. Ihre Ausstrahlung wirkte wie ein Cocktail aus Autorität und Ruhe. »Lena Meinhardt. Teamleitung Kommunikation. Willkommen. Im Wahnsinn.« Ihre Stimme war klar, aber da war ein winziger Unterton, der klang, als hätte sie selbst einmal ähnlich hier gestanden.
Ich schluckte und streckte ihr die Hand entgegen. »Danke. Ich … bin ziemlich aufgeregt, ehrlich gesagt.«
Sie musterte mich mit einem Blick, der mir sofort das Gefühl gab, dass sie alles in mir sah, nicht nur meine Nervosität, sondern auch die Fragen, die ich zu verbergen versuchte.
»Das gehört dazu. Komm mit. Ich zeig dir deinen Arbeitsplatz.«
Wir liefen durch einen schmalen Gang in Richtung Medienzentrum. Vorbei an Crewmitgliedern in Rennoveralls, Journalisten mit Headsets, Technikern, die Ausrüstung prüften, und dazwischen ich, mit meinem kleinen Rollkoffer.
»Wie bist du eigentlich an das Praktikum gekommen?«, fragte Lena beiläufig, während wir durch die Sicherheitsschleuse gingen. »Eigentlich war die Bewerbungsphase doch schon abgeschlossen.«
Ich zögerte kurz. »Eine Empfehlung«, sagte ich. Technisch gesehen war es nicht gelogen. Ich hatte einen Lebenslauf eingereicht, in dem meine journalistischen Referenzen geschönt, mein angebliches Bachelorprojekt über »Formel 1 als narratives Medium« frei erfunden und meine Sprachkenntnisse … na ja, großzügig erweitert worden waren.
Ein alter Kontakt meines Vaters hatte den Fuß in die Tür gesetzt, und ich hatte die Chance genutzt, bevor sie wieder zufiel.
»Dann hoffen wir mal, dass du nicht nur gut schreiben, sondern auch schnell denken kannst«, murmelte Lena mit einem schiefen Lächeln, als wir den Raum betraten.
Der Pressebereich befand sich in einem der Containerbauten mit Glasfronten und sah von innen aus wie eine Mischung aus Newsroom und Raumschiff. Die Klimaanlage summte leise über uns, an den Wänden flimmerten Bildschirme mit Live-Übertragungen der freien Trainings, Boxenstopps und Teambriefings. In einem abgetrennten Bereich saßen internationale Medienvertreter, die fieberhaft Notizen tippten, Headsets trugen und sich über die neuesten Telemetriedaten austauschten.
Zwischen den Arbeitsstationen hingen Screens mit Zeitplänen, Strategietafeln und Notfallkontakten. Überall roch es nach Kaffee, Kabelisolierung und einem Hauch von Nervosität. Eine Wand war mit Medienausweisen tapeziert. Zeugnisse von Rennen auf der ganzen Welt. Im hinteren Bereich befand sich die Mixed Zone, wo Interviews mit Fahrern stattfanden, sobald das Rennen vorbei war.
Lena deutete auf einen freien Tisch mit meinem Namen, darauf ein frischer Notizblock, ein Pressepass und ein Tablet mit interner Teamsoftware. Alles war vorbereitet. Alles sah aus, als hätte jemand wirklich geglaubt, ich gehöre hierher.
»Hier ist dein Platz. Morgen früh geht’s richtig los. Für heute … schau dich um. Lern die Abläufe kennen. Und lass dich nicht einschüchtern.«
Ich nickte, obwohl ich am liebsten auf den Stuhl gefallen wäre. Ich war angekommen.
Und doch erinnerte sich mein Körper an etwas, das mein Verstand längst verdrängt hatte. Papas Stimme, flüsternd über das Funkgerät. Der Geruch von Gummi. Das Flackern der Boxentafeln. Ich war zurück und hatte keine Ahnung, was ich suchte.
Lena machte eine kurze Handbewegung, und ich folgte ihr ein paar Schritte weiter zu einem Sideboard, auf dem bereits mehrere Mappen und ein Ausdruck des Zeitplans für den nächsten Tag lagen. Ihr Tonfall war geschäftlich, beinahe beiläufig, aber ich spürte das Gewicht in jedem einzelnen Satz.
»Du wirst morgen zwei unserer Presseleute bei den Interviews begleiten, einen Redakteursentwurf gegenlesen und ein kurzes Fahrerprofil für die Social-Media-Abteilung vorbereiten. Bisschen was von allem, damit du reinkommst. Und du arbeitest nah an der Strecke, also: Pass auf, was du sagst und wo du hinschaust. Viele Journalisten würden töten für diese Nähe.«
Ich nickte, zu schnell, zu dankbar. »Verstanden.«
Sie reichte mir die oberste Mappe. »Hier sind die Namen und Pressezeiten der Fahrer. Lies dich heute Abend ein. Morgen sind natürlich auch unsere beiden Topfahrer dran. Charles und Nathan Bellone. Wird spannend, wie sich Nathan bei seinem ersten Formel-1-Rennen schlägt.«
Der Name traf mich wie ein elektrischer Impuls. Vertraut und zugleich gefährlich nah. Ich hatte ihn in den letzten Monaten fast manisch verfolgt.
Nathan Bellone. Sohn des Teamgründers. Wunderkind. Medienscheu. Und ab morgen Teil der offiziellen Startaufstellung.
Ich wusste nicht viel über ihn. Nur Fetzen. Bilder. Und dieses eine Gefühl, das mich nie losließ, wenn ich seinen Namen irgendwo las: als würde ich einen Schatten erkennen, den ich längst vergessen hatte.
Lena sah mich scharf an. »Und noch etwas, Sophie. Zwischen all den Motoren, Medien und Millionen: Bleib professionell. Keine Schwärmereien, kein Theater. Nur klare Linien.«
»Natürlich«, sagte ich leise.
»Gut.« Sie öffnete eine weitere Mappe, zog einen Bogen Papier hervor und legte ihn vor mich auf den Tisch. Oben stand in Großbuchstaben Verhaltenskodex für Medien- und Kommunikationsteam / Saison 2023.
»Lies ihn durch. Unterschreib ihn. Ohne das kein Zugang zu den Streckenabschnitten hinter der Boxengasse und zu den Datenräumen.«
Ich las den Kodex. Und blieb an dem hängen, was ich längst gebrochen hatte.
Ich nahm den Stift. Und während ich meinen Namen unter die Regeln setzte.
»Perfekt.« Lena nahm das Papier zurück und klippte es an ein Klemmbrett.
Ich ließ den Blick über den Rennkalender wandern. Eine bunte Leiste voller Namen, die sich wie fremde Länder anfühlten.
Und dann blieb ich an einem einzigen hängen: Monaco. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Monaco war sein Versprechen gewesen. Und mein gebrochenes. Vielleicht war ich deshalb hier.
Ich blinzelte und war wieder achtzehn. Auf dem Wohnzimmerteppich, den Kopf auf Papas Oberschenkel. Seine Stimme voller Freude, als er von der Ste Devote sprach, von dem Moment, wenn die Motoren unter dem Tunnel donnern. Ich erinnerte mich an seinen Geruch. Kaffee, Motoröl und der leichte Hauch von Minze und an den Moment, als er leise gesagt hatte: »Monaco ist kein Rennen. Es ist ein Versprechen.«
Ich fröstelte.
Lena bemerkte es nicht oder tat zumindest so. Sie schloss den Ordner, reichte ihn mir und sah mich zum ersten Mal nicht als junge Praktikantin, sondern mit einem Ausdruck, der beinahe anerkennend wirkte.
»Willkommen bei Bellone, Sophie.«
Ich presste die Finger um die Mappe, zwang mich zu einem Lächeln. Vielleicht war das ein Anfang. Oder der Moment, in dem sich alles entschied – zwischen der Wahrheit, die ich suchte, und dem Namen, hinter dem ich sie zu finden hoffte.
Kapitel 2
Sophie
Mein Zimmer lag im vierten Stock eines Business-Hotels am Stadtrand von Sakhir, mit Blick auf einen Pool, der mehr Dekoration als Abkühlung war.
Mehrere Wochen lang sollte ich das PR-Team von Bellone Racing unterstützen. Eine einmalige Chance, wie Lena gesagt hatte. Für mich war es mehr: eine Rückkehr an den Ort, an dem alles geendet hatte. Oder vielleicht erst angefangen hatte.
Es roch nach Zitrusreiniger und abgestandener Klimaanlagenluft. Die Einrichtung war funktional. Beigefarbene Wände, ein kleiner Schreibtisch, zwei Einzelbetten, eines davon unbenutzt. Mein Koffer stand noch offen auf dem Boden, halb ausgepackt, halb verdrängt.
Ich saß auf dem Bett, barfuß, die Beine angezogen, und hielt das alte Foto meines Vaters in den Händen.
Es war eines der letzten, die ich von ihm gemacht hatte, kurz vor seinem letzten Rennen. Er saß in der Boxengasse, das Visier noch halb offen, ein müdes Lächeln auf den Lippen. Nicht gestellt, nicht für die Kamera. Eher so, als hätte er genau gewusst, dass ich heimlich auf den Auslöser drückte und es ihm egal war.
»Das Alter ist nur eine Zahl«, murmelte ich leise und strich mit dem Daumen über das verblasste Papier.
Auf dem Bett lag das Tablet, das mir Lena mitgegeben hatte. Ich hatte die Mails gecheckt, mich durch den Zeitplan geklickt und war schließlich bei einem Interview gelandet. Eins, das ich fast auswendig kannte. Und trotzdem immer wieder lesen musste.
Reporterin: Guten Tag, Nicolas. Trotz Ihres fortgeschrittenen Alters für einen Rennfahrer in der Formel 1 haben Sie sich weiterhin behauptet. Wie fühlen Sie sich vor dem Rennen?
Nicolas: Gut, wirklich gut. Das Alter ist nur eine Zahl. Es geht um Erfahrung, Entschlossenheit und das Vertrauen in sich selbst. Das Team hat hart gearbeitet, und ich denke, wir sind bereit. Es wird spannend.
Reporterin: Viele haben kommentiert, dass Sie in einem Alter sind, in dem Sie nicht mehr in der Formel 1 fahren sollten. Macht Ihnen das zusätzlichen Druck?
Nicolas: Natürlich gibt es immer Leute, die an einem zweifeln, besonders wenn man als der älteste Fahrer gesehen wird. Aber ich habe immer daran geglaubt, dass man mit Leidenschaft und Hingabe immer noch an der Spitze stehen kann.
Reporterin: Es gibt Gerüchte, dass einige Fahrer bessere Ausrüstungen und Autos erhalten, vielleicht aufgrund besonderer Vereinbarungen mit Sponsoren. Was halten Sie davon?
Nicolas: Nun, in dieser Branche gibt es immer Gerüchte. Ich möchte mich nicht an Spekulationen beteiligen. Aber ich kann sagen, dass es definitiv Unterschiede in der Ausrüstung und im Support gibt. Manchmal hat man das Gefühl, dass einige Deals hinter verschlossenen Türen gemacht werden.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Worte trafen mich härter, als ich erwartet hatte. Die Worte hallten in mir nach, als kämen sie nicht von ihm, sondern von einem Geist, der an meiner Seite saß. Mein Blick blieb am Zitat hängen, und plötzlich war da wieder diese Leere.
Natürlich meinte er damit Bellone, dachte ich. Auch wenn er es nie sagte. Auch wenn er nie direkt war.
Dad war immer vorsichtig gewesen. Bedacht darauf, niemandem in den Rücken zu fallen. Und doch, zwischen den Zeilen hörte ich ihn schreien.
Ein müdes Ziehen zog an meinen Mundwinkeln, traurig, widerspenstig. Warum war er damals ins Auto gestiegen, wenn er wusste, dass etwas nicht stimmte? Warum hatte er nicht abgebrochen? Warum hatte er geschwiegen?
Ich legte das Tablet zur Seite und starrte an die Decke. Vielleicht war ich hier, um Antworten zu finden. Vielleicht auch, um zu verstehen, was ihn damals so stumm gemacht hatte. Ich atmete tief durch, als könnte ich das Gewicht der Vergangenheit einfach aus meiner Brust drücken. Doch es blieb. Wie eine zweite Haut. Ich verlor mich in den Zeilen, vergaß die Zeit. Die Welt draußen schien stillzustehen, jedenfalls bis ein Klopfen an der Tür mich zurückholte. Wie ein Schnitt zwischen Gestern und Jetzt.
Ich richtete mich auf, strich das Shirt glatt und ging zur Tür. Draußen stand ein Mädchen mit welligem, dunkelblondem Haar, das unter einem Basecap hervorlugte. Sein Lächeln war offen, warm, ein bisschen frech.
»Du bist Sophie, oder? Ich bin Nora. Ich arbeite auch im PR-Team. Wir gehen gleich runter was essen. Ein paar Leute vom Team, erste Abendrunde. Lust mitzukommen?«
Kurz zögerte ich. »Ja, gern. Gib mir zwei Minuten.«
Ich schloss die Tür, ließ meinen Blick noch einmal durch das fremde Hotelzimmer wandern. Weniger als eine Stunde hier, und doch fühlte es sich an, als würde alles, was ich war, auf dem Spiel stehen. Ich zog das Shirt glatt, warf einen letzten Blick in den Spiegel und folgte Nora in die warme Nacht hinaus.
Die Luft klebte an meiner Haut, schwer wie ein unausgesprochener Gedanke. Jeder Schritt durch die Hitze fühlte sich an, als würde ich tiefer in etwas eintauchen, das ich nicht kontrollieren konnte.
Das Hotelrestaurant schimmerte in warmem Gold. Ventilatoren kreisten träge über den Tischen, während die Hitze der Wüste durch die offenen Eingänge drang, ein letztes Echo des Tages. In den Ecken summte leise arabische Instrumentalmusik, kaum hörbar, wie ein unterschwelliger Pulsschlag.
Wir saßen an einem der langen Holztische, der für das Bellone-Team reserviert war. Auf den Tellern dampften Lammspieße, orientalischer Reis und knuspriges Fladenbrot. Es roch nach gegrillten Gewürzen, Minze und frisch gebrühtem schwarzem Tee. Die Gespräche waren lebhaft, getragen von einem Rhythmus, der mir zeigte: Diese Menschen kannten einander. Ich war der neue Takt. Noch leise, aber spürbar.
Und während ich dort saß, umgeben von Stimmen, die einander vertrauten, wurde mir bewusst, dass ich nach mehr suchte als nur einem Einstieg ins Berufsleben. Ich suchte Spuren. Von meinem Vater. Von mir selbst. Vielleicht sogar von etwas, das mir längst abhandengekommen war – Vertrauen. In das System. In die Wahrheit. Und in mich. Und vielleicht suchte ich auch nach einer Schuldigen. Nach jemandem, der mir sagte: Du darfst wütend sein.
Ich hatte gerade meine Cola in die Hand genommen, als plötzlich eine Bewegung den Blick der Hälfte des Tisches auf sich zog. Er kam durch den Seiteneingang. Und doch wirkte es, als hätte sich für einen Moment Stille über die Stimmen gelegt. Eine Stille, die lauter war als jedes Wort. Mein Herz setzte aus. Nur für einen Schlag. Dann für zwei.
Da war er. Nathan Bellone. Und plötzlich wusste ich nicht mehr, wo oben oder unten war.
Seine dunklen Haare fielen ihm in lockeren Wellen ins Gesicht, als hätte er sich absichtlich nicht frisiert, um sich von den gestärkten Anzügen seines Umfelds abzuheben. Schwarzes Poloshirt, halb offen, der Hals von der Sonne gezeichnet, als hätte er ihr absichtlich den Rücken gekehrt.
Sein Gang war ruhig, kontrolliert. Mühelos, als würde ihm nichts und niemand im Weg stehen. Seine Augen, dunkler als auf jedem Foto, das ich gesehen hatte, blitzten kurz in meine Richtung, bevor er sich zu seinem Bruder setzte.
Charles Bellone war das Gegenteil. Sein Blick streifte mich. Später, als er lächelte, wirkte selbst das einstudiert. Als hätte er auch dafür eine Strategie.
»Du bist neu, oder?«
Ich zuckte zusammen. Nathan hatte sich halb zu mir gedreht, ein Arm lässig über die Stuhllehne. Der Anflug eines spöttischen Lächelns. Charmant und fast zu selbstsicher.
Ein nervöses Zittern lief mir durch die Finger, als ich das Glas fester hielt und ein Nicken vortäuschte, das sich wie eine Lüge anfühlte. »Sophie Quinn. Praktikantin im Presseteam.«
Er reichte mir die Hand. Groß, kräftig, warme Finger. Und ein Griff, der genau wusste, wie viel Druck angenehm war. Ein kurzer Moment der Stille lag zwischen uns. Kein unangenehmes Schweigen. Eher wie ein Test. Wer würde als Erstes blinzeln? Vielleicht hielt er sie einen Hauch zu lang. Oder vielleicht bildete ich mir das ein. Aber etwas in seinem Blick wirkte aufmerksam. Irgendwie zu aufmerksam für ein erstes Gespräch. Etwas, das mich skeptisch machte.
Sein Blick war nicht bloß neugierig, und doch lag in diesem Blick auch etwas Dunkles. Nicht bösartig, aber schwer zu greifen, als hielte er etwas zurück, das ihn selbst mehr erschreckte als alle anderen. Er war prüfend, als würde er mich auf Schwächen, auf Risse abtasten. Und ich wusste: Er würde jeden einzelnen finden.
»Nathan Bellone. Na dann, viel Spaß in unserem kleinen Wanderzirkus.«
»Zirkus?«, fragte ich und versuchte, locker zu klingen. Auf meine Frage bekam ich allerdings keine Antwort mehr. Stattdessen lehnte Nathan sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und musterte mich mit einem Blick, der mir sagen wollte: Du gehörst nicht hierher.
»Also, PR-Abteilung. Heißt das, ich muss jetzt aufpassen, wann ich atme, oder zählst du mit?«
Ich hob nicht einmal den Kopf, strich nur die Ecke eines Papiers glatt. »Wenn’s nach mir ginge, würdest du weniger reden und mehr atmen.«
Ein paar Köpfe am Tisch zuckten hoch, als hätten sie sich verschluckt. Matteo presste ein kurzes Hustenlachen durch die Zähne. Nathan blinzelte, irritiert.
»Frech für jemanden, der hier nur wegen … Papierkram sitzt.«
Ich hob langsam den Blick. »Und still für jemanden, der glaubt, die Welt dreht sich um sein Lenkrad.«
Die Spannung blieb einen Schlag zu lange im Raum hängen, bis Camille das Thema wechselte. Aber der Blick, den Nathan mir noch zuwarf, war kein Ende – es war ein Versprechen.
»Spiel nicht den Clown, Nate«, sagte eine junge Frau neben mir. Sie setzte sich zwischen uns, das Tablett voller bunter Schalen. Ihre Locken waren wild, sonnengebleicht, und das Tanktop zeigte Arme voller Kraft und Unabhängigkeit.
»Camille Bellone«, sagte sie grinsend und schob mir eine Schüssel mit Kichererbsensalat zu. »Wenn du wissen willst, wer hier wirklich was draufhat, frag mich.«
Mir war klar, dass sie Geschwister waren. Sie waren zu ähnlich in ihrer Präsenz, zu unterschiedlich in ihrer Art. Und trotzdem verband sie etwas, das ich nur spüren, aber nicht greifen konnte. Ich war eine Außenstehende. Vorerst.
»Formel 2, oder?«, fragte ich vorsichtig.
Camille warf mir einen Blick zu, der gleichermaßen Überraschung wie Anerkennung enthielt.
»Noch.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Aber nicht mehr lange. Sobald Charles und Nathan sich gegenseitig totfahren, bin ich dran.«
»Witzig«, kam es trocken von Charles, ohne auch nur den Blick zu heben.
Charles schnitt ihr das Wort ab, ohne sie anzusehen. Nicht einmal ein Hauch von Belustigung in seinem Ton. Und plötzlich wurde mir klar: Hier ging es um mehr als Rivalität. Es war etwas Unausgesprochenes. Wie Spannung in einem Kabel, das gleich reißen könnte.
Camille streckte ihm die Zunge raus. Nathan sah sie an. Eine Mischung aus Stolz und Belustigung in den Augen. Ich fragte mich, ob mein Vater je so locker mit jemandem gesprochen hatte. Oder ob der Rennsport ihm das Lachen schon früh abtrainiert hatte.
Camille war laut, Charles leise, Nathan irgendwo dazwischen, als würde er sich im Spiel ihrer Gegensätze unsichtbar machen wollen. Aber genau das machte ihn sichtbar.
Und ich bemerkte den Schatten, der über sein Gesicht huschte, als er kurz Charles musterte. Es war nur ein Moment. Aber lang genug, dass ich ihn nicht vergaß.
»Du bist nicht aus der Szene, oder?«, fragte Camille plötzlich und lehnte sich über den Tisch.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Gut«, sagte sie. »Dann hast du vielleicht noch nicht verlernt, wer du bist.«
Ich wusste nicht, ob es als Warnung gedacht war. Oder als Geschenk.
Vielleicht war es beides. Doch ihre Worte blieben in mir hängen, während das Gespräch weiterging. Über Streckenlayouts, Reifendruck, dumme Sponsorenwünsche. Ich verstand nur die Hälfte. Diese Worte wie Undercut, Set-up und Grip waren mir vertraut, aber sie klangen jetzt anders. Technischer irgendwie. Früher waren sie Teil von Papas und meiner Welt gewesen. Jetzt waren sie der Stoff, aus dem meine Lügen bestanden. Doch mein Blick kehrte immer wieder zu Nathan zurück. Wie er lachte … tief aus der Kehle. Wie er seine Wasserflasche nicht einfach abstellte, sondern sie gegen die Tischkante tippte. Wie er mit dem kleinen Finger an seiner Gabel spielte, wenn er nachdachte. Und jedes Mal, wenn jemand Neues dazustieß, wanderte sein Blick kurz zu mir. Fast unmerklich, als wollte er prüfen, ob ich noch da war. Ob ich zuhörte. Ob ich ihn sah.
Ich kannte die Daten, seine Zeiten, seine Siege. Alles, was messbar war. Aber an diesem Tisch war nichts davon zu sehen. Keine Zahl. Keine Schlagzeile. Nur er. Und das war das Gefährlichste daran. Was ich dort sah, war etwas anderes.
Nur Stille. Zwischen Blicken, zwischen Worten. Und ich wusste: Wenn ich sie lang genug aushielt, würde sie mir alles sagen. Auch das, was ich nicht hören wollte.