Prolog
Sie schlief. Das war gut. Wenn sie schlief, war er in Sicherheit. Dann war er unsichtbar. Manchmal schaffte er es einen ganzen Tag lang, unsichtbar zu bleiben. Er war gut darin, geübt. Am besten waren die Tage, an denen sie gar nicht aufstand. Er war dann wie ein leichter Schatten, der mit den Wänden im Haus verschmolz, er konnte förmlich spüren, wie er nichts mehr wog, wie eine duftige Feder fühlte er sich. Er kauerte an der Tür, um ihrem Schnarchen zu lauschen, und wenn er sich sicher war, dass sie tief genug schlief, schlich er sich ins Zimmer und stellte ihr ein Tablett mit Essen und einem Glas Wasser hin. Sie aß nicht viel. Er hatte schnell herausgefunden, wie man die Plastikschalen mit der Folie in der Mikrowelle aufwärmte, und mit dem Kaffeefertigpulver hatte er auch keine Schwierigkeiten.
Wenn Elvira kam, sorgte sie dafür, dass genug Milch im Kühlschrank war, und einmal in der Woche fuhr der Lieferwagen mit der Tiefkühlkost vor und füllte die Speisekammer wieder auf.
Schlimm waren die Tage, an denen sie wach war. Dann saß sie im Morgenmantel im Wohnzimmer, hatte ganz rot unterlaufene Augen, und er konnte sich so leise bewegen wie ein Mäuschen, sie konnte ihn trotzdem hören. Sie hörte ihn immer.
Und wenn der Vater nicht zu Hause war, war er ganz allein mit ihr. Sie zog ihn an sich, und ihr Atem stank nach Schnaps und sauer und gegoren, und ihre Finger waren gelb von den vielen Zigaretten, die sie den ganzen Tag rauchte. Und wenn sie ihn dicht an sich presste, konnte er ihren süßlichen Geruch riechen und ihre Haarwurzeln sehen, die am Ansatz schwarz nachwuchsen. Sie erzählte ihm dann immer, wie sehr sie ihn liebte und was für ein Mistkerl sein Vater sei, und dann wusste er, es gab kein Zurück. Wenn er sich nur bewegte, wurde ihre Umklammerung stark wie Stahl, und er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, denn er wusste genau, was folgte. Ihre Stimme schlug um in ein heiseres Fauchen, und schließlich hatte er das Gefühl, er würde in ihrer Umarmung ersticken. Wenn er sich herauswinden wollte, schrie sie ihn an. Ihre Stimme überschlug sich, und sie lief hinter ihm her. Manchmal stolperte sie über ihren Bademantel oder über die Tischkante, sie riss ihn an den Haaren, dass sein Kopf zurückgeschleudert wurde, und es gab keinen Platz, an dem er sich verstecken konnte. Schaffte er es ins Badezimmer, hämmerte sie mit den Fäusten an die Tür, und ihre Stimme kroch in seinen Kopf. Er hockte in der Ecke, auf dem eiskalten Kachelboden und presste die Hände auf die Ohren, damit er sie nicht hören musste. Ihr Schreien und ihre Worte, die sich in seinen Schädel bohrten, dass sie ihn hassen würde, dass er eine Missgeburt sei und schuld an ihrem beschissenen, elenden Leben.
An den Tagen, an denen er sich nicht in Sicherheit bringen konnte, wenn er die Anzeichen nicht früh genug erkannt hatte oder sich einen Augenblick lang ihrer schmeichelnden Stimme hingegeben hatte, achtete er beim Abendessen peinlich genau darauf, dass der Vater die dunkelblauen Striemen auf seinen Oberarmen und seinem Rücken nicht sehen konnte, und er biss sich nachts auf die Lippen, damit er das Wimmern aus dem Zimmer nicht bemerkte, wenn er eine Haltung suchte, in der er Schlaf finden konnte.
Er wusste genau, wenn der Vater herausfand, dass sie ihn wieder geschlagen hatte, würde der nächste Tag noch schlimmer werden. Also lächelte er. Er lächelte sich durch seine gesamte Kindheit, durch die schlechten und die noch schlechteren Tage, und auf all den Bildern, die in der Villa verteilt waren, auf denen er in den Armen seiner Eltern stand, beide strahlend schön, wie aus einer anderen Welt, lächelte er ebenfalls.
1
Wenn es nur nicht so verdammt schwer wäre. Penny Kalunke seufzte, schlug die Augen auf und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. Aufstehen. Zähne putzen. Duschen. Anziehen und die erste Zigarette am Morgen. Immerhin, das war etwas, worauf man sich freuen konnte. Sie seufzte noch einmal, tastete mit den Zehen den kalten Dielenboden ab und zog das Bein schnell wieder unter die warme Decke. Puh. Das war kalt, wirklich kalt. Sie ließ die Augen langsam gleiten, nur ein paar Minuten, ein, zwei, das war ja wohl erlaubt. Das Handy klingelte. Sogar der Ton klang vorwurfsvoll.
»Ja?«
»Penny, wo bist du?«
O nein! Sie setzte sich auf und war schlagartig wach.
»Ich bin so gut wie auf dem Weg. Wieso fragst du? Verfolgst du mich?«
Max Wolters schwieg, es war ein ätzendes Schweigen, das ihr am anderen Ende der Leitung entgegenschlug, und während sie auf den Wecker neben ihrem Bett schielte, wusste sie, warum.
»Es tut mir leid«, sagte sie kleinlaut und angelte nach der Jeans, die unter dem Bett lag.
Ihre Arme klimperten von den Armreifen, die sie am Abend vergessen hatte auszuziehen, sie hatte darauf gelegen. Daher tat auch ihre linke Wange weh, sie war leicht geschwollen.
»Das interessiert mich einen Scheiß, gelinde gesagt.«
Er war sauer, echt sauer.
»Ich … ich weiß nicht, wie das passiert ist«, stotterte sie, »ich bin wohl wieder eingeschlafen, es tut mir leid, echt, es war spät gestern.«
»Beweg deinen Arsch hierher, aber flott.« Er legte auf, legte einfach auf.
Penny starrte ungläubig auf das Display und ließ das Telefon schließlich aus der Hand auf die Bettdecke gleiten. Beweg dich, sagte sie zu sich selbst. Beweg dich, steh auf und fang endlich diesen beschissenen Tag an.
Draußen schneite es wie verrückt.
Natürlich, was sonst?
2
Verflucht, das war ein Abend. Einer dieser Abende, die nicht vergehen wollten. Ihr tat alles weh. Der letzte Freier war grob gewesen, so grob, dass es an der Grenze des Erträglichen gewesen war.
Das war eigentlich der Grund, warum sie jetzt für Marco anschaffte. Damit solche Mistkerle nicht mehr in ihre Nähe kamen, doch er war nicht in der Stadt, und sie musste die nächste Woche allein arbeiten. Cheryl stöhnte und rollte die Strumpfhose vorsichtig hinunter. Ihr rechter Knöchel war geschwollen an der Stelle, an der er sie immer wieder auf das harte Bettgestell gedrückt hatte. Sie hatte die Position nicht verändern können, er war zu schwer gewesen und zu brutal.
Sie humpelte zu dem Kühlschrank, der neben der Einbauküche zwischen Fahrerkabine und Schlafzimmer gequetscht war, holte ein Päckchen gefrorene Butter heraus und legte es auf die gerötete Stelle. Abscheulich, wie es hier drin stank. Der Wagen gehörte Carola, die mit einer Infektion im Krankenhaus lag. Cheryl konnte so lange hier arbeiten, bis Marco zurückkehrte und sie ins kleine Versteck zurückkonnte.
Wenigstens hatte sie für die Arbeit ein Dach über dem Kopf, zu Hause ging es unmöglich, Jasmin kam um vier Uhr nachmittags von der Schule heim. Cheryl klaubte eine Zigarette aus ihrer Handtasche, steckte sie sich an und atmete langsam durch die Nase aus. Wie sie dieses Leben satthatte. Es war erst der Achtzehnte, und sie war schon jetzt knapp bei Kasse.
Ihre Haare mussten unbedingt gefärbt werden, sie hatte die Krankenversicherung noch nicht bezahlt, und in vier Tagen fuhr Jasmin auf Klassenfahrt, und sie hatte keine Ahnung, wie sie das bezahlen sollte.
»Wir gehen da auch reiten, Mami«, hatte sie ihr gestern beim Abendessen erzählt, und ihre Augen hatten gestrahlt wie zwei tiefe, dämmrige Seen.
Sie hatte die Augen ihres Vaters, glasgrün und irgendwie abwesend. In diese Augen hatte sie sich sofort verliebt, als sie Kevin das erste Mal gesehen hatte. Sie hatten die gleiche Art, Vater und Tochter. Sie schienen an einem anderen Ort zu leben als der, den sich Cheryl mit dem Rest der Welt teilen musste. Einem besseren Ort. Als Kevin unter den Laster geraten war, hatte er noch eine Stunde gelebt. Er sah sie im Krankenhaus mit diesen Augen an, und sie wusste, was er ihr sagen wollte. Sie sollte auf Jasmin aufpassen, darauf, dass sie weiterhin in dieser schönen Welt leben durfte, und sie versprach es ihm. Als die Lebensversicherung aufgebraucht gewesen war, war sie das erste Mal anschaffen gegangen. Seitdem war etwas mit ihr geschehen. Cheryl erblickte eine andere Frau, wenn sie morgens in den Spiegel schaute. Noch immer hübsch, sie hatte noch immer ein schmales, feines Gesicht, das gleiche, das auch Jasmin besaß. Ihr Mund war noch immer glatt und voll. Sie hatte ihre Figur behalten, doch der Lack war ab.
Cheryl war durch mit ihrem Leben, und das wusste sie genau. Kein weißer Ritter würde vorbeireiten und an dem schäbigen Campingwagen anklopfen. Sie hatte ihren weißen Ritter bekommen, so war ihr Leben nun mal gelaufen. Pech gehabt. Jetzt ging es darum, dass Jasmin so normal weiterleben konnte wie irgend möglich, und wenn sie dabei draufgehen würde.
Sie hatte ihr Handy auf lautlos gestellt, damit sich die Freier nicht gestört fühlten, sie spürte es unter ihrem Rücken auf dem Bett vibrieren.
»Hast du Zeit für mich?«
»Für dich immer, Süßer.«
»In zehn Minuten?«
»Be my guest.«
Sie schickte ein Herzchen hinterher und blieb noch eine Sekunde liegen, bevor sie sich schnell duschen, sich zwischen den Beinen schrubben und ihr langes hellblondes Haar kämmen würde.
Ein Stammgast. Das war leicht, er kam schon lange und war harmlos. Sie hatte ihm die Adresse vom Campingwagen geschickt, damit er sie finden konnte, solange sie nicht im Puff arbeitete. Der Letzte heute, das nahm sie sich vor. Jasmin und sie wollten heute Abend ins Kino gehen, und sie musste vorsichtig sein. Ihre Tochter war kein kleines Mädchen mehr. Noch glaubte sie an den Job in der Tierhandlung, den sie ihr vorflunkerte, aber lange würde das nicht mehr gut gehen, und sie würde sich etwas Neues ausdenken müssen.
Cheryl drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, leerte ihn in den Mülleimer, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und fuhr sich mit der Bürste durch die langen Haare. Ihre Bewegungen waren mechanisch, eine Million Mal hatte sie das schon getan, um schön zu sein, begehrenswert, um die Männer eine Zeit lang ihren öden Alltag vergessen zu lassen, um ihr Geld zu kriegen.
Er klopfte leise, zaghaft, wie ein Vögelchen, so war er auch. Sanft, vorsichtig, seine Haut war weich. Sie ekelte sich nicht vor ihm, im Gegenteil, manchmal hatte sie beinahe das Gefühl, sie müsste ihn beschützen.
»Komm rein, Süßer.« Cheryl öffnete die Tür, verschloss sie mit dem Schlüssel und zog ihn auf das schmale Bett. »Mach’s dir gemütlich. Was zu trinken?«
Er antwortete nicht, aber das war sie gewohnt. Er sprach nicht viel, hatte er nie getan, soweit sie sich erinnerte.
»Was Besonderes heute oder wie immer, hm?«
Sie strich ihm über die Wangen. Er lächelte, freundlich, warm, so wie immer, so wie sie ihn kannte.
»Sag mir, was ich für dich tun kann«, flüsterte sie ihm ins Ohr und fuhr ihm am Nacken entlang, die Ärmel ihrer Polyesterbluse raschelten, und daher konnte sie das Geräusch erst nicht hören, das das Messer verursachte, als es ihren Unterbauch mit einem großen, starken Schnitt öffnete.
Sie spürte nur ein warmes Gefühl, und als sie ihr Gedärm sah, das sich nach außen wölbte und auf die gesteppte Blümchendecke dampfend wie ein Bündel sich windender Schlangen rutschte, wunderte sie sich über den beißenden Gestank, der in der Luft lag. Dann versank sie im Dunkeln.
3
»Das ist nicht akzeptabel.«
Penny hatte ihren Chef noch nie so wütend erlebt. Und das sollte etwas heißen. Max wurde von seinen Mitarbeitern nur »das Bärchen« genannt. Das hatte drei Gründe: einmal sein beachtlicher Leibesumfang, einmal seine Vorliebe für Gummibärchen, nicht Haribo, sondern die echten, dicken, saftigen aus der Apotheke, die mit Fruchtsaft gefärbt waren, und einmal sein Gemüt.
Penny hatte vor ihrem Job beim Tagesblatt ein Praktikum bei der BILD gemacht, und sie wusste, wie widerwärtig Chefredakteure sein konnten, besonders bei Tageszeitungen. Stress, Auflagenhöhe und Zeitdruck waren die vorherrschenden Regulatoren, und war die Stimmung oben schlecht, war sie es unten auch. Der Fisch stinkt eben vom Kopf.
Max war anders, ganz anders. Lieb, freundlich, geduldig, von messerscharfem Verstand, er hatte den richtigen Riecher für gute Geschichten. Normalerweise. Jetzt war er einfach nur sauer.
Emma Hagel, die Penny gegenüber am Schreibtisch saß und sich jeden Morgen Kaffee und Oreo-Kekse mit ihr teilte, sah sie erschrocken an.
»Penny, ehrlich, das ist absolut inakzeptabel«, wiederholte Max.
Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Penny ließ ihre in die Jahre gekommene Tasche auf einen Stuhl gleiten und blieb daneben stehen. Die Redaktionskonferenz hatte längst begonnen, um genau zu sein, sie war mehr oder weniger vorbei.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Max. Ich hab mich bereits am Telefon entschuldigt, was genau soll ich deiner Meinung nach noch tun?«
Penny fühlte sich wie ein Tier im Zoo. Alle starrten sie an, sie hörte Thomas Schulte, ihren Freund und Fotografen, hüsteln, und irgendjemand scharrte mit den Füßen.
»In Ordnung.« Max machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jeder weiß, was er zu tun hat. Penny, du bleibst bitte noch einen Augenblick hier.«
Stühle wurden geschoben, die Redakteure griffen sich ihre Unterlagen und die gebrauchten Kaffeetassen, und langsam wurde der Raum leer. Emma zwickte Penny ins Ohr, Tom zwinkerte ihr zu, und kurz darauf war sie mit Max allein.
»Okay«, sagte sie, knibbelte an dem blauen Nagellack auf ihrem Fingernagel und wünschte, sie hätte sich eine Kopfschmerztablette gegönnt.
Vergessen, dann musste es auch so gehen.
»Du siehst scheiße aus.« Max’ freundliches Teddygesicht war faltig und müde.
Und du siehst alt aus, dachte Penny. Alt und verbraucht, und sie wusste, sie machte ihm das Leben nicht gerade leichter.
»Danke für die Blumen.«
»Nimmst du deine Medikamente, Penny?«
Sie wusste nicht, ob sie überrascht oder wütend sein sollte. Was bildete er sich ein?
»Bitte was?«
»Penny …« Max beugte sich über den Tisch und faltete die Hände.
Der Raum war kalt, obwohl die Heizung auf Hochtouren lief. Es war Dezember, und draußen war es so eisig, dass der Sommer wie eine unerreichbare Insel schien. Die Berliner waren lange Winter gewohnt, aber dieses Jahr hing die knochenkalte Kälte in jeder zugigen Ecke der Stadt, und der graue Schleier, der über allem lag, hüllte sie ein wie eine dunstige Glocke. Irgendjemand hatte eine mutlose Glockenblume auf die Heizung gestellt, in dem verzweifelten Versuch, ein wenig Frühling einzuschleusen, die sich weigerte aufzublühen und sich staubig und verstockt in sich zusammenzog.
»Ich mach mir Sorgen um dich.«
Penny kippelte mit dem Stuhl nach hinten und knabberte an dem Hautfetzchen an ihrem Daumennagel. »Tust du nicht. Du bist sauer.«
»Natürlich bin ich sauer. Das war das dritte Mal diese Woche. Und die hat nur sechs Arbeitstage, wie du weißt.«
»Es tut mir leid.«
»Das sagtest du bereits.« Er lehnte sich zurück und betrachtete sie prüfend.
Sie kannte dieses Gesicht. Kannte es nur zu gut. Um genau zu sein, kannte sie es schon ihr ganzes Leben. Das erste Mal war es verschwommen vor ihren Augen aufgetaucht, als er sie aus ihrem Krankenhausbettchen gehoben hatte. Sie könnte schwören, dass sie sich an diesen Moment erinnerte. An das weiche Licht, das durch das Fenster fiel, und an die Staubpartikel, die in der Sonne tanzten. Sie konnte noch heute das Lachen ihrer Mutter hören, und später, als sie älter wurde und die Dinge aus dem Ruder gelaufen waren, war Max da gewesen. Er war immer da gewesen.
»Wie geht’s Herbert?«
»Frag ihn. Ruf ihn an, er steht in deinem Handy, wie gehabt.«
Max runzelte die Stirn. Jetzt war er wieder wütend, das hatte sie toll hingekriegt, sie klopfte sich innerlich auf die Schulter, prima, Penny, prima.
»Sorry«, sagte sie leise und brachte den Stuhl wieder in eine gerade Position. »Das war dämlich.«
»Hm.« Max spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. Tagesblatt, stand in dunkelblauer, geschwungener Schrift darauf, sie war zum Teil abgeblättert. Seine Fingernägel waren schmutzig, sein Hemd hatte einen hellbraunen Kaffeefleck. Seit Lore ausgezogen war, war er irgendwie verwahrlost.
Max räusperte sich und warf den Stift auf den Tisch. »Er säuft wieder, stimmt’s?«
Penny schob die Unterlippe vor und zuckte leicht mit den Schultern.
»Aha, hab ich’s mir doch gedacht.«
»Was soll das mit mir zu tun haben?«
»Alles. Er ist dein Vater.«
»Na und? Er säuft, seit ich denken kann.«
»Das ist so nicht ganz richtig.«
Penny verdrehte die Augen. »Okay, er säuft, seit sie weg ist. Also seit ich elf bin. Lange genug, um mich daran zu gewöhnen.«
»Und?«
»Und was?«
»Hast du dich daran gewöhnt?«
Penny lehnte sich vor und fixierte ihn. »Ehrlich, Max, ich weiß nicht, was das soll. Ich bin zu spät, okay. Ich bin zum dritten Mal diese Woche zu spät, das ist nicht toll, aber es ist auch kein Weltuntergang, und es ist außerdem kein Grund, mich vor der gesamten Redaktion abzukanzeln und lächerlich zu machen, nur weil du zufälligerweise mein Patenonkel bist.«
»Du arbeitest hier, weil ich zufälligerweise dein Patenonkel bin.«
»Ach ja? Dann feuere mich doch.«
»Ich will dich nicht feuern, du bist eine gute Redakteurin.«
»Aha, vielleicht arbeite ich ja deshalb hier.«
»Natürlich tust du das.« Max’ Stimme war sanfter geworden, seine Miene besorgt. »Ich fühle mich für dich verantwortlich, Penny. Du hast eine Menge ertragen müssen und niemanden, der sich um dich kümmert, das ist alles. Deine Mutter würde wollen, dass ich das tue.«
Penny schluckte, sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Jetzt nicht heulen, dachte sie, nicht heulen.
»Abgesehen davon bin ich dein Chef, und dieses Zuspätkommen ist einfach nervtötend.« Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück. »Krieg das in den Griff, sonst kriegen wir zwei Probleme.«
Penny nickte und fummelte eine Zigarette aus ihrem abgewetzten Parka, ohne auf seinen vorwurfsvollen Blick zu achten. Rauchen war eigentlich im Haus verboten, aber sie tat es dennoch, heimlich, auf dem Klo, wenn ihr der Weg nach draußen zu weit war. Es war kindisch, sie wusste es.
»Was ist für mich heute dran?«
»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Er nickte zur Tür. »Alles ist vergeben, häng dich an den Polizeifunk, vielleicht hast du ja Glück.«
4
Sein Schädel dröhnte wie eine Flugzeuglandebahn. Herrje, was hatte er nur gemacht? Er öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Nein, so ging das nicht. Von vorn, ganz vorsichtig. Er war zu Hause. Das war schon mal eine gute Nachricht. Weiter. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Hagel trommelte laut auf das Dach über seiner Wohnung, aber das Licht war angenehm dämmrig. Er tastete nach den Zigaretten, die auf dem Nachttisch lagen, und zündete sich mit der Linken eine an. Sie beruhigte das rhythmische Wummern in seinem Kopf für ein paar Sekunden, und er schloss die Lider erneut.
Die Welt ausschließen, das konnte er gut. Das hatte er gelernt, er war ein Meister darin. Wenn die Welt ihn ließ, doch das war ihm an diesem Morgen nicht vergönnt. Sein Telefon klingelte. Herbert Kalunke war der einzige Mensch auf diesem Planeten, der kein Handy besaß. Zumindest kam es ihm so vor. Obwohl, so stimmte das auch wieder nicht. Seine Tochter hatte ihm ein Handy besorgt, und er hatte ihr hoch und heilig versprechen müssen, es immer bei sich zu haben. Er fühlte sich allerdings unwohl, wenn er ständig erreichbar war. Im Augenblick wusste er gar nicht, wo es sich befand. Sein Telefon, das er eigentlich benutzte, war ein unförmiger Knochen aus den Achtzigerjahren. Die Sprechmuschel war mit einer gelblichen Schicht überzogen, die kein Reinigungsmittel der Welt würde herunterwaschen können. Herbert liebte sein Telefon. Es erinnerte ihn an bessere Zeiten.
»Kalunke«, sagte er vorsichtig in den Hörer, wie um seine Stimme auszuprobieren, und hielt ihn ein paar Zentimeter vom Ohr weg.
»Wer spricht da?«
»Wer will das wissen?«
»Herr Kalunke? Hier ist Matschinek von der Zeitarbeitsfirma.«
O verflucht. Herbert setzte sich ruckartig auf, und sein Hirn wimmerte.
»Jaja, hier spricht Kalunke, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich erkannt.«
Die Stimme wurde keine Nuance freundlicher, im Gegenteil. »Sie hätten heute Morgen um neun auf der Baustelle in der Leipziger Straße sein sollen, soweit ich weiß.«
Das war es. Das war es gewesen, das ihm gestern Abend immer wieder durch den Kopf gegeistert war und ihn beinahe dazu gebracht hätte, seinen bequemen Stuhl im Schiffchen neben Irina zu verlassen und seinen Hintern nach Hause zu schwingen, aber eben nur beinahe. Und nun tauchten vor seinem geistigen Augen die sorgfältig aufgereihten Tequilagläser auf, die ihn eifrig, wie kleine Soldaten, durch den Abend begleitet hatten, immer an seiner Seite, so wie er es mochte.
»Ach, äh, das war heute, Frau Matschinek?«
»Ja, Herr Kalunke, das war heute.« Die Stimme hatte einen eisigen Unterton angenommen.
Herbert war kurz davor, den Hörer fallen zu lassen und sich wieder in seine warme Decke zu schmiegen. Doch er konnte nicht. Nicht diesmal.
»Bitte entschuldigen Sie.« Er räusperte sich und fuhr sich über die pochende Stirn. »Ich habe da wohl etwas durcheinandergebracht, den Termin habe ich mir für morgen in den Kalender eingetragen, so etwas passiert mir normalerweise nie …«
»Ist mir egal, wie das passiert ist«, unterbrach die Stimme ihn unfreundlich. »Sie haben Glück, der Arbeitgeber ist auf Ihre Unterstützung angewiesen, fahren Sie so schnell dorthin, wie Sie können!«
Aufgelegt. Die Schnepfe hatte einfach aufgelegt, war das zu fassen?
Herbert angelte sich die angebrochene Bierflasche vom Nachttisch, und leerte sie in einem Zug. Es schmeckte widerlich, der Tag versprach allerdings auch, widerlich zu werden.
5
Penny schloss die Augen und versuchte, sich einen lauschigen gewundenen Weg vorzustellen. Von alten, hohen Bäumen gesäumt und überspannt von einem hellen Himmel. Das hatte die Psychologin ihr vorgeschlagen. Es sollte ihr helfen, wenn die Migräne sie überfiel. Nicht dass das immer funktionierte, Penny hatte so viele Kammern in ihrem Kopf, so viele Vorratshallen für so viele unterschiedliche Arten von Kopfschmerzen. Hämmernde, sirrende, klopfende, brütende oder stechende, die Liste ließ sich unendlich fortsetzen, und immer kamen sie, wenn sie es nicht schaffte, die Erinnerungen zurückzudrängen. Die Erinnerungen an ihre Mutter, die süß und warm schmeckten, wie frisch gebackener Hefezopf mit Marmelade, oder an Weihnachtsbäume mit klingenden Kugeln daran oder an den Geruch nach ihrem Haar, ein wenig nach Zitrone und Jasmin.
»Penny?« Emma starrte sie an, als hätte sie einen Geist gesehen.
»Hm?«
»Du bist käseweiß. Alles in Ordnung?«
»Jap. Alles gut.«
»Was wollte das Bärchen?«
»Mich zur Ordnung rufen.«
»Das klingt gar nicht bärchenhaft.«
»Er hat sich auch nicht besonders bärchenmäßig aufgeführt.«
»Hm.« Emma sah sie nachdenklich an und biss herzhaft in ein Käsebrötchen. Etwas Mayonnaise quoll an der Seite heraus, sie tupfte sie weg und leckte ihren Zeigefinger ab. »Vielleicht solltest du mal an deinem Zeitmanagement arbeiten«, sagte sie mit vollem Mund und guckte sich suchend auf dem Tisch nach etwas um, womit sie den Rest von ihrem Finger entfernen konnte.
»Danke für den Tipp.«
Emma verdrehte die Augen und widmete sich wieder ihrem Text. »War nur gut gemeint«, murmelte sie, und Penny wusste, dass sie gekränkt war.
Toll, sagte sie zu sich selbst, heute hast du wirklich ein gutes Händchen im Umgang mit deinen Mitmenschen.
»Sorry«, meinte sie und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Du hast ja recht.«
Emma winkte ab und schob sich eine blonde Locke hinters Ohr. Sie sah immer aus wie ein kleines Mädchen mit ihren rosafarbenen Porzellanwangen, der hellen Haut und den widerspenstigen Locken, die sich um ihr rundes Gesicht kringelten.
»Passt schon«, sagte sie und tippte los, »ich lebe schon lange mit deiner charmanten Art.«
Pennys Handy klingelte, Nora Schneider, ihre Freundin aus der Rechtsmedizin. Penny spürte, wie ihr Herz einen Extrahüpfer machte, das konnte alles sein. Eine Einladung zum Abendessen, ein Treffen, um sich einen Cocktail zu gönnen, oder eine heiße Story.
»Nora?«
»Ich hab was für dich.«
Ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht.
»Was ist es?«
»Eine Leiche in der Friedrichstraße, Ecke Torstraße. Beeil dich, es ist noch nicht offiziell.«
»Du bist ein Schatz, ich schulde dir was.«
»Ich hab aufgehört zu zählen.«
Penny legte auf. Auf Nora war Verlass. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Nora reichte Penny gerade bis zur Schulter, eine zarte, bissige Person mit einem Gesicht wie ein Engel. Doch das täuschte. Mit ihrer liebenswürdigen, unbestechlichen und präzisen Art hatte sie es schnell zur leitenden Rechtsmedizinerin gebracht. Nora lieferte ihr Tipps für Storys – unter der Hand, versteht sich –, die so heiß waren, dass sie eigentlich noch gar nicht passiert waren. Nie wollte sie etwas dafür haben. Sie waren eine glänzend geölte Maschinerie, und bis jetzt war es ihnen gelungen, ihre Freundschaft nicht aufs Spiel zu setzen. Penny griff sich ihren Parka sowie ihre Tasche und winkte Emma zu, bevor sie Toms Nummer wählte. Er war sofort dran.
»Tom, schwing die Hufe, wir haben etwas.«
6
»Hier gibt es nichts zu sehen!«
Diese elenden Gaffer. Nick Zwieback kratzte sich am Kopf und schob die Schirmmütze nach hinten. Es war zum Verzweifeln. Es hatte sich bereits eine Traube von Menschen um die Absperrung gebildet, die um nichts in der Welt dazu zu bewegen waren weiterzugehen. Sein Funkgerät knackte. Er schaltete es leiser. Heute Morgen war die Hölle los. Tagelang war gar nichts passiert, und nun spielten alle verrückt, dabei war er nicht mal richtig wach.
»Hallo!« Die junge Frau war höchstens Mitte zwanzig.
Langes dunkles Haar, das sie nachlässig zu einem Knoten zusammengeschlungen hatte, eine enge schwarze Leggins, die in derben Stiefeln steckte, und ein viel zu großer Armeeparka, der um sie herum schlotterte. Sie hatte etwas Fiebriges, Elektrisierendes an sich, bei ihren Bewegungen schien sich die Luft mit Funken aufzuladen. In ihrem Schlepptau ein schmuddelig aussehender Mann, etwa Anfang dreißig, der eine Kamera um den Hals hatte.
»Ich hab gesagt, hier gibt es nichts zu sehen.«
»Ach komm.« Sie setzte ein breites Lächeln auf und schwang ihre schlanken Beine über das Absperrband. Nicht zu fassen.
»Hey, Mädchen!« Nick trat einen Schritt auf sie zu und versuchte, sie am Arm zu packen.
Doch sie war schneller und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihr Lächeln war ganz schön einnehmend.
»Wir beide wissen, dass ihr da unten was gefunden habt. Ich schlag dir ’nen Deal vor. Du sagst mir was, ich hör mich dafür um. Und wenn ich irgendwas Wichtiges aufschnappe, ruf ich dich an, hm? Was sagst du?«
Nick seufzte. Diese lästige Presse. Aber es kam immer wieder vor, dass sie nützliche Hinweise lieferten, hin und wieder erwies sich die Zusammenarbeit als recht fruchtbar. Er war neu, erst seit ein paar Wochen dabei, und ein paar Connections konnten ihm nicht schaden. Es würde so oder so bald über den Polizeifunk laufen. Abgesehen davon sah sie rasend gut aus. Was soll’s?
»Kann ich mich drauf verlassen?«
»Indianerehrenwort!« Ihr Strahlen war umwerfend.
Sie hielt ihm eine zerknickte Karte hin, und das Blau ihrer Fingernägel war an mehreren Stellen abgeblättert, aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Sie sah aus wie eine von den Rockerbräuten aus den Kalendern. Nur für seinen Geschmack hatte sie zu viel an, und sie war viel zu mager.
»Okay. Wir haben eine Leiche gefunden.«
»Das weiß ich.« Sie kramte einen Schreibblock und einen Lidl-Kugelschreiber aus der Jackentasche und hauchte auf die Spitze. »Na komm, gib mir etwas mehr.«
»Weiblich.«
»Wie alt?«
»Keine Ahnung.«
»Ungefähr! Neunzig oder zwanzig?«
»Eher zwanzig, würde ich sagen. Vielleicht etwas älter.«
»Und wie lange liegt sie da schon?«
»Weiß ich nicht.«
»Du hast sie doch gesehen, oder?«
»Ja klar hab ich sie gesehen.«
»Ja und? War sie frisch oder eher abgehangen?«
»Abgehangen?«
»Wer hat sie gefunden?«
Er deutete vage Richtung Baustelle. »Ein Bauarbeiter hat sie heute Morgen entdeckt.«
»Name?«
Aber hallo, die ging ran. Ihre Fragen kamen wie aus einem Maschinengewehr, und der Kerl hinter ihr fotografierte mittlerweile mit hellem Blitz, ohne dass Nick es richtig mitbekommen hatte, in die Baugrube hinein.
»He, keine Fotos!«
»Keine Sorge!« Sie tätschelte beruhigend seinen Oberarm und hielt ihm erneut eine zerknickte Visitenkarte hin.
Er konnte einen Blick auf ein Tattoo erhaschen, das auf der Innenseite ihres Arms vom Handgelenk abwärts verlief, irgendetwas mit geschwungenen Buchstaben. Es verschwand unter ihrem Ärmel, bevor er es entziffern konnte. Er sah auf die Karte. Penny Kalunke, stand in Schreibschrift darauf und darunter Redakteurin Tagesblatt.
»Wir veröffentlichen das nicht, bevor ich nicht mit dir gesprochen habe.«
Sein Telefon knackte wieder. »Nick, bitte melden!«
»Äh … ihr müsst jetzt hier verschwinden.« Er zerrte das Gerät aus der Gürteltasche und wedelte Penny weg.
»Klaro.« Sie lächelte noch einmal von einem Ohr zum anderen und huschte unter der Absperrung hindurch.
»Danke dir, ich melde mich.« Sie hielt zwei Finger gekreuzt in die Höhe und gab dem Mann mit dem Fotoapparat einen Knuff in die Rippen.
Beide stiegen in einen klapprigen, schmutzig grünen Golf und waren verschwunden.
»Nick, alles klar bei dir?«
Die Stimme klang blechern und quietschte ihm in den Ohren.
»Ja, alles klar.«
»Es kommt gleich Verstärkung, falls die Presse auftaucht, wimmle sie ab, verstanden?«
»Äh, ja.« Er steckte das Funkgerät in die Tasche zurück, wischte sich den Schweiß von der Stirn und tastete nach seinen Zigaretten. Die hatte ihn eingeseift, und zwar vom Allerfeinsten.
7
Die Kopfschmerztablette schmeckte ekelhaft. Penny griff nach der offenen Flasche Wasser, die neben ihr auf dem Schreibtisch stand, und spülte die Tablette mit einem großen Schluck herunter.
Es war zum Haareausreißen. Penny hatte zu wenig. Sie hatte keine Info über die Leiche, und Max gab ihr kein grünes Licht, wenn sie nicht konkrete Fakten vorweisen konnte. Außerdem ging Nora nicht ans Telefon. Mist. Dann musste sie eben hinfahren.
Sie stand auf, schnappte sich ihren Parka, winkte Emma, die den Kopf hob und ihr einen fragenden Blick zuwarf. Sie würde Max von unterwegs mitteilen, dass sie nach draußen ging, er ließ ihr freie Hand, solange sie ihre Termine einhielt und pünktlich abgab. Ihr war so kalt, dass sie mit den Zähnen klapperte. Das Schloss von ihrem VW Golf würde bestimmt wieder vereist sein. Vielleicht sollte sie die Straßenbahn nehmen.
Sie hatte Glück, die Bahn wartete direkt an der Haltestelle auf sie. Penny stieg ein, ohne vorher ein Ticket zu lösen, und ließ sich auf einen Sitz fallen. Berlin im Winter war nichts für Touristen. Es war ja nicht mal etwas für echte Berliner, Penny verabscheute diese dunklen Monate. Die Stadt war wie ein großes, graues, depressives Monster, die Menschen hatten ihre Gesichter unter Rollkrägen und Kapuzen vergraben und hofften auf einen gnädigen Strahl Sonne. Wenigstens hatte ihre Wohnung eine Heizung, ein sauberes Bad und einen wunderschönen Parkettboden. Für Penny war sie ein Palast. Kein Vergleich zu dem Loch, in dem sie mit ihrem Vater gewohnt hatte.
Ihr Handy meldete sich. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie und drückte auf das grüne Hörersymbol. Wenigstens hatte er sein Telefon dabei, das war durchaus nicht immer der Fall.
»Paps?«
»Penny! Wir sind hier. Am Alexanderplatz und ich schwöre hoch und heilig, das alles nicht wahr! Ich hab dem Polizisten auch schon gesagt, aber er hört nicht, und Herbert …«
»Wer ist denn da dran?«
»Hier ist Irina.«
»Irina?«
In Pennys Hinterkopf klingelte es. Der Name kam ihr bekannt vor, doch wieso telefonierte eine Irina mit dem Handy ihres Vaters? Wo war er überhaupt?
»Ja, Irina. Irina Pelkow!« Die Stimme klang ungeduldig. »Liebes, wir haben gesehen, bei deinem Vater. Weißt du nicht? Zwiebeln und rotes Gulasch?«
Natürlich. Penny fiel der Abend wieder ein. Schemenhaft erinnerte sie sich an die Russin, die Herbert irgendwo aufgegabelt hatte, sie war groß, mit einem riesigen Busen und einem feuerroten Mund, ihr Haare war schlampig blondiert gewesen, und sie hatten irgendetwas Undefinierbares, Scheußliches gegessen. Penny schüttelte sich, als sie daran dachte. Und der Wodka fiel ihr wieder ein. Viel Wodka. Sie hatte es tagelang bereut.
»Ach ja, Irina. Was ist mit ihm? Was hat er wieder angestellt?«
»Wir sind hier, Alexanderplatz, und ich habe Polizei gesagt, Herbert wollte gehen Geld holen, aber sie haben nicht geglaubt! Weiß der Vogel warum!« Sie klang entrüstet, und ihr russischer Akzent wurde noch stärker.
»Wo seid ihr?«, unterbrach Penny sie und ließ den Kopf an die Rückenlehne sinken. Das fehlte ihr gerade noch.
»Am Alexanderplatz, das ich sagte schon …«
»Wo am Alexanderplatz?«
»Im Schiffchen. Komm, Penny! Herbert hat bisschen viel getrunken, nur bisschen! Uns fehlen paar Euro, aber, ich sagte schon, er wollte gerade zum Geldholen gehen …«
»Gib mir mal den Polizisten.«
Die Stimme klang genervt. »Hallo? Ihr Vater ist stark angetrunken und erzählt uns ständig, Sie würden die Rechnung bezahlen. Stimmt das?«
Penny seufzte. »Können Sie ihn mit auf die Wache nehmen?«
»Selbstverständlich.«
»Dann tun Sie das.«
»Sie wollen ihn nicht hier abholen?«
»Auf gar keinen Fall.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause.
»Das kann ich verstehen«, erwiderte er schließlich und wollte schon auflegen.
»Danke«, murmelte Penny. »Und tut mir leid, dass ich ihn Ihnen überlasse.«
Der Polizist schien zu lächeln, zumindest klang seine Stimme ein wenig danach.
»Dafür nicht, junge Dame«, sagte er. »Dafür nicht.«
8
»Welch Glanz in meiner Hütte.«
Nora drehte sich nicht mal um, der Raum war in ein gespenstisches Neonlicht getaucht, und Penny fragte sich jedes Mal, wenn sie ihre Freundin bei der Arbeit besuchte, wie sie an diesem Ort arbeiten konnte.
»Hast du hinten Augen im Kopf?«
»Nee, aber ’ne gute Nase.«
Penny schnüffelte misstrauisch an ihrer Jacke, sie roch ganz normal, und ihre Haare hatte sie auch heute Morgen gewaschen, sie roch wie immer, zumindest nicht schlimmer als sonst.
»Soll heißen?«
»Zigaretten und Chanel No 5.«
Nora drehte sich um und musterte Penny. Ihre Freundin war zierlich und hatte feuerrote Haare, die sie meistens zu einem Dutt zusammengedreht trug. Sie war so atemberaubend schön, dass es zutiefst frustrierend war, mit ihr abends auszugehen. Penny hatte schon erlebt, dass Gespräche an Tischen verstummt waren, als ihre Freundin vorbeigegangen war, und sie konnte die Zettel mit Telefonnummern nicht mehr zählen, die Nora in ihrer Anwesenheit zugesteckt bekommen hatte. Penny fand es einen verrückten Kontrast, dass so etwas Schönes wie Nora an einem Ort wie diesem arbeitete. Nora, die in Grunewald in einer schicken Villa mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden war und alles mit ihrem Leben hätte anstellen können, hatte sich für diesen Keller entschieden, und dafür hatte Penny nur Bewunderung übrig, auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, Nora versteckte sich hier unten vor der Welt. Penny war durchaus hübsch mit ihren ellenlangen Beinen, den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht, aber neben ihrer Freundin sah sie aus wie ein Mauerblümchen.
»Eins musst du mir mal verraten.«
»Hm?« Penny trat einen Schritt an den Seziertisch heran und betrachtete die Leiche neugierig, die nackt unter dem grellen Licht lag.
Eine klaffende Wunde zog sich quer über den Bauch der Toten.
»Du musst doch dein komplettes Gehalt für dieses sauteure Parfüm ausgeben, so wie du immer da drin badest.«
»Na ja, ganz so schlecht verdien ich nicht«, murmelte Penny und beugte sich über die Wunde, um sie genauer zu betrachten. Anblicke wie dieser schockierten sie längst nicht mehr. Seit sie sich an einem Abend mit Nora in einer Bar in Charlottenburg nach einer aufregenden Mordstory in Neukölln betrunken hatte, hatte sie exklusiven Zugang zu den heiligen Hallen der Rechtsmedizin.
»Sag ich ja gar nicht. Nur du bist süchtig nach diesem Duft.«
Penny schwieg. Sie musste an ihre Kindheit zurückdenken. Ihre Mutter hatte Chanel No 5 getragen. Sie sammelte sich die Proben heimlich in den Parfümerien zusammen, das war das kleine bisschen Luxus, das sie sich in ihre triste Wohnung holte. So lange bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte und mittags einfach nicht mehr da gewesen war, als Penny von der Schule nach Hause gekommen war.
»Weißt du schon was?«
Nora drehte sich wieder zur Leiche und zeigte mit der behandschuhten Hand auf den Schnitt, der der jungen Frau quer über den Unterleib lief. »Einschnitt, wahrscheinlich mit einem gezackten Messer. Nicht wahnsinnig tief, aber hier«, sie deutete auf ein etwa vier Zentimeter tiefes Loch, das sich oberhalb der ersten Wunde unter dem Brustkorb befand, »hier liegt die Todesursache. Der- oder diejenige hat eine der Herzkammern erwischt, schätze ich, das kann ich allerdings erst sagen, wenn ich während der Obduktion ihren Torso geöffnet habe. Außerdem hat sie auch den tiefen Schnitt quer über den Unterbauch, ich vermute, der wurde ihr vor dem Stich ins Herz zugefügt.«
»Das heißt, sie hat noch gelebt, als er ihr in den Bauch geschnitten hat?«
»Ja, sie hat noch gelebt.«
»Verstehe.«
»Das ist aber nicht alles.«
»Ach ja?«
Nora liebte solche Spielchen, Penny wusste das genau, doch heute hatte sie keinen Nerv dazu.
»Spuck’s schon aus.«
»Ich hab das hier gefunden.« Nora deutete auf den Mund der Toten, in dem ein zerknitterter weißer Zettel steckte.
»Was steht drauf?«
»Das möchtest du wohl gerne wissen.«
Penny verdrehte die Augen. »Ja, liebste Nora, das möchte ich außerordentlich gerne wissen.«
»Was krieg ich dafür?«
»Ein Essen im Mädchenitaliener?«
Nora überlegte einen Moment und zog das Stück Papier vorsichtig mit einer Pinzette hervor. »Okay, besser als nix.«
Der Zettel war ungefähr so groß wie eine DIN-A-5-Seite und an einer Seite eingerissen. Der Text war mit einem schwarzen Edding in Druckschrift geschrieben.
»Das ist erst der Anfang«, las Penny laut vor. »Unheimlich, hm?«
Nora zuckte mit den Schultern. Sie schien nicht besonders beeindruckt. Aber vielleicht darf man auch nicht übermäßig beeindruckbar sein, um an einem solchen Ort zu arbeiten, dachte Penny zum tausendsten Mal. Und irgendjemand musste es tun.
»Wann kommen die Bullen?«
»Nenn sie bitte nicht immer so.«
»Wann kommt unser Freund und Helfer?«
»In einer Viertelstunde, dann beginnt die Obduktion offiziell, dann musst du verschwunden sein.«
Penny nickte. »Wisst ihr schon, wer sie ist?«
Nora blickte sie prüfend an. »Kein Wort, wenn ich es dir sage, okay?«
»Keine Frage!«
Sie konnte sich auf Penny verlassen, das wusste Nora. Ihre Freundin deutete auf eine kleine Metallschüssel in der die Gegenstände der Toten lagen, die sie bei ihr gefunden hatten, durch einen Plastikbeutel schien ein Portemonnaie hindurch.
»Sie heißt Charlene Walter. Sie war eine Prostituierte, wie es aussieht. Sie trug nur Strapse und einen hohen Schuh, außerdem hat sie ein Tattoo über dem Schamhügel.«
»Darf ich?«
»Klar.« Nora hielt ihr Einweglatexhandschuhe hin, die ein schmatzendes Geräusch machten, als Penny sie überzog.
Penny beugte sich vor und öffnete den Reissverschluss des Leichensacks, in dem die junge Frau lag, ein wenig mehr. Über der rasierten Scham war in geschnörkelter Schrift Cheryl eintätowiert und drumherum ein paar Herzchen. Sie betrachtete das Gesicht der Frau.
»Gott, sie sieht wirklich noch jung aus.«
»Sie ist jung. Laut Personalausweis sechsundzwanzig.«
»Drogen?«
»Ich hab auf den ersten Blick keine Einstiche gesehen, aber sie hat ein Kind geboren, das kann ich schon mal sagen.«
Penny sah sie betroffen an. »Das heißt, irgendwo da draußen vermisst jemand seine Mutter.«
»Sieht so aus.«
Wortlos starrten sie auf die Leiche herunter, die unter dem kalten Neonlicht der Rechtsmedizin, nackt und jeder Würde beraubt, vor ihnen lag.
»So«, sagte Nora energisch.
»Genug getrauert. Gleich kommt die Polizei hier anmarschiert, und dann möchte ich, dass du deinen süßen Hintern hier entfernt hast.«
»Wann, glaubst du, gibt die Polizei die Story frei?«
»Sollte etwas zu mir durchsickern, wirst du es als Erste erfahren, liebe Penny, wie immer.«
»Indianerehrenwort?«
»Es ist kein Weltuntergang, wenn du nicht jedes Mal den renommiertesten Journalistenpreis mit deiner Geschichte gewinnst.«
Penny verzog den Mund. Sie wurde nicht gerne an ihren Triumph erinnert. An ihre große Stunde, die ihr kaum im Gedächtnis geblieben war, als sie dem Bundespräsidenten die Hand geschüttelt hatte. Ihre Knie zitterten wie verrückt, die neue schwarze Strumpfhose kratzte, und sie musste die Augen schließen, so sehr blendete sie das Blitzlichtgewitter der Kameras. Fünfundzwanzig war sie erst, als sie den Preis für ihre Enthüllungsgeschichte über Kindesmissbrauch an ihrer alten Schule in Berlin Marzahn geschrieben hatte. Sie war irgendwie dort hineingerutscht, dabei hatte sie nur mit ihrer alten Freundin Lore einen Kaffee trinken wollen, und als sie ihr erzählt hatte, was ihr damals in der Aula nach der Aufführung vom Schulchor passiert war, hatte Penny gar keine andere Wahl gehabt, als der Geschichte auf den Grund zu gehen. Das, was darauf folgte, hatte sie völlig überrollt.
Der Direktor, der in Schimpf und Schande von der Schule verwiesen wurde, und in seinem Schlepptau vier Lehrer, die Penny allesamt gut kannte. Den Preis, den sie dafür erhielt, stellte sie bei Herbert in den Badezimmerschrank. Sie hatte damals nichts davon mitbekommen, was sich direkt unter ihren Augen abgespielt hatte, und dafür schämte sie sich heute noch.
»Ich danke dir.« Sie lächelte Nora zu und ließ die große, blanke Metalltür hinter sich zufallen.
9
Es war nicht mit anzusehen. Die kleinen Fäuste waren so fest zusammengepresst, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Kleine hatte es nicht mit Absicht getan. Die Flasche war ihr heruntergefallen, als sie einen Schritt zur Seite gemacht hatte. Einen Schritt, um das Gleichgewicht auf den süßen weichen, rundlichen Beinen zu halten, das musste so schwierig sein für jemanden, der noch so winzig klein war. Sie war ganz blass um die Nase, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Große, unschuldige graublaue Augen. Sie hatte Angst, schreckliche Angst sogar. Der Abdruck, den die Mutter auf ihrem Oberarm hinterlassen hatte, war feuerrot. Wieder und wieder hielt sie dem Mädchen die zerbrochene Flasche unter die Nase, und ihre Stimme wurde lauter und schriller. Die Kleine wusste sich nicht zu helfen, sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Er konnte es genau hören.
Es war ein verzweifeltes Geräusch, ein Wimmern wie von einem verletzten Tier, es ging ihm durch Mark und Bein, tiefer und tiefer, und er konnte nicht anders, er hielt sich die Ohren zu, sein Oberkörper wippte hin und her.
Als er die Augen öffnete, konnte er den Schlag gerade noch sehen. Er riss den Kopf des kleinen Mädchens nach hinten, und es hielt den Mund wie im Schock geöffnet, erstarrt, festgefroren. Das Weinen hatte schlagartig aufgehört.
Die Mutter sammelte die herumliegenden Sachen ein, jede ihrer Bewegungen drückte rasende Wut aus. Dann nahm sie das Kind grob an der Hand und zerrte es hinter sich her. Es war verstummt. Seine Haut war käseweiß und seine kurzen, kleinen Beine versuchten, den langen der Mutter in der wohlgeformten Designerjeans zu folgen. Es stolperte, fing sich wieder und lief so schnell hinter ihr her, wie es nur konnte. Eine schöne Frau. Langes rotblondes Haar, ein großer, rot geschminkter Mund. Ihre Handtasche war mit Sicherheit teuer, und er konnte den Duft ihres Parfüms bis zu sich herüber riechen. Aber dahinter verbarg sich eine Fratze. Eine böse, hässliche Fratze, und er spürte, wie der Zorn wieder in ihm hochstieg. Eine kalte, präzise Wut.
Langsam erhob er sich, warf seinen leer getrunkenen Latte-macchiato-Becher in den Abfalleimer, wie es sich gehörte, und folgte den beiden. Vorsichtig und ganz langsam. Er hatte alle Zeit der Welt. Diese Art von Wut machte ihn berechnend, kalkulierend. Er wusste, wie er unsichtbar werden konnte, diese Fähigkeit beherrschte er noch immer bis zur Perfektion. Er würde sie nicht aus den Augen lassen, diese schöne junge Frau, und dann würde er einen Weg finden, um dem Kind zu helfen. Denn das benötigten sie, die Allerkleinsten, seine Hilfe. Er war dazu da, sie ihnen zu geben.