Leseprobe Rache und Ringelblumen

KAPITEL 1

Ich trat zurück, um mein Werk zu bewundern. Zwar war ich nicht gerade van Gogh, aber ich musste zugeben, dass die winzigen Blumen, die ich auf die rustikale Bank gemalt hatte, bezaubernd waren. Ich hatte die alte Bank bei einem Flohmarkt gefunden und war zu dem Schluss gekommen, dass sie unter dem Erkerfenster großartig aussehen würde und immer noch genug Platz bliebe, um meine Blumenkarren herauszurollen und meine tragbare Tafel mit der Aufschrift ›Sonderangebote und Schnäppchen‹ aufzustellen.

Abgesehen davon, dass ich mich in den vielseitigen Charme von Port Danby verliebt hatte, war ich auch auf Anhieb von dem kleinen Gebäude, das ich für mein Geschäft, Pink’s Flowers, gemietet hatte, hingerissen gewesen. Wie jedes Geschäft in der Harbor Lane war es mit seinen Cape-Cod-Schindeln und dem tiefen Erkerfenster absolut einzigartig. Obwohl es nicht gerade traditionell für den Cape-Cod-Stil ist, hatte ich die Holzverkleidung in einem zarten Rosa streichen lassen, weil … nun ja … es hieß Pink’s Flowers. Für einen angenehmen Kontrast waren die dicke Fensterverkleidung und die Glastür im Eingangsbereich in strahlendem Weiß gestrichen worden. Die ungewöhnliche rosa Farbe hatte einige missbilligende Blicke der Ladenbesitzer in der Nachbarschaft auf sich gezogen, aber als alles fertig war, schienen die Leute damit zufrieden zu sein.

Ich tauchte meinen Pinsel in den Eimer mit Lavendelfarbe. Als ich ihn herauszog, klingelte mein Telefon, erschreckte mich und löste eine Reihe von Katastrophen aus. Blassviolette Farbe tropfte an meinem Schienbein herunter. Ich trat abrupt zur Seite, um mehr auszuweichen, und trat gegen die Farbflasche. Sie fiel um und spritzte über meine Sandale und meinen Fuß. Ich spielte mit dem Gedanken, nicht ans Telefon zu gehen, aber ich wusste, dass es meine Mom war. Wenn ich nicht ranging, würde sich ihr Kopf mit endlosen Schreckensszenarien füllen, die ihre Tochter möglicherweise davon abhielten, ans Telefon zu gehen.

Ich stand mit angehobenem Knie und meinem lila Fuß hoch über dem Boden und schaffte es, das Gleichgewicht zu halten, während ich mein Telefon vom Fensterbrett nahm. »Hey, Mom, kann ich dich zurückrufen? Ich habe einen violetten Fuß.«

»Was? Warum? Hast du einen blauen Fleck? Hast du Durchblutungsstörungen? Vielleicht sind deine Schuhe zu eng.« Meine Mutter war sehr geschickt darin, zahlreiche Meinungen und unnötige Ratschläge von sich zu geben, ohne eine Pause einlegen zu müssen.

»Es ist lila Farbe, Mom. Mit meinen Schuhen und meiner Durchblutung ist alles in Ordnung.«

»Nun, warum hast du mir das nicht gesagt? Du hast mir einen Schrecken eingejagt.« Ich musste nicht durch das Telefon sehen, um zu wissen, dass sie für zusätzliche Dramatik ihre Hand auf ihre Brust legte.

»Ich hätte es dir gesagt, wenn du nicht gleich mit deiner Liste möglicher Ursachen und Lösungen für einen lila Fuß angefangen hättest.« Ich beschloss, noch einmal zu versuchen, den Anruf zu verzögern. »Ich rufe dich zurück.«

»Ich rufe nur an, um zu sehen, wie es mit dem kleinen Blumenladen läuft.« Sie hätte die Worte nicht mit größerer Enttäuschung aussprechen können, wenn sie jedes einzelne mit einem Schniefen unterstrichen hätte. Aber das konnte ich ihr nicht verübeln. Meine arme Mutter, die ewige Optimistin und Frau, die vor ihrem Buchclub mit riesigem Vergnügen mit den Erfolgen ihrer Tochter prahlte, hatte gleich drei bittere Pillen schlucken müssen. In den letzten Jahren hatte ich mein Medizinstudium abgebrochen und einen Job in der Parfümindustrie mit einem sechsstelligen Gehalt aufgegeben. Aber die letzte Pille war diejenige, die der armen Frau am schwersten im Magen lag.

Mit der freien Hand stützte ich mich am Fensterbrett ab, um das Gleichgewicht zu halten. »Dem kleinen Blumenladen geht es gut. Ich eröffne in zwei Wochen. Mein rechtes Bein wird müde. Kann ich dich zurückrufen?«

»Du brauchst bessere Schuhe.« Ich öffnete den Mund, um sie an den bemalten Fuß zu erinnern, entschied jedoch, dass das reine Zeitverschwendung wäre. »Lacey, hast du von Jacob gehört?«

Ich achtete darauf, so laut genervt zu schnaufen, dass sie mich hören konnte. »Warum sollte ich von ihm hören? Wir sind nicht mehr zusammen und ihn in jedem Telefonat zu erwähnen, wird ihn nicht auf magische Weise wieder in mein Leben zurückbringen.«

Jacob war die dritte und wohl bitterste Pille. Für meine Mutter war er die Überdosis an Enttäuschung, die sie endgültig aus der Fassung brachte. Er war reich und gut aussehend und stammte aus einer guten Familie. Leider hatte diese gute Familie vergessen, ihm beizubringen, dass es nicht gut ist, mit einer anderen Frau auszugehen, wenn man mit einer Frau verlobt ist. Jacobs Familie besaß Georgio’s Perfume, ein Parfümunternehmen mit einem Wert von mehreren Millionen Dollar, und ich war ein Jahr lang als Chefparfümeurin dort angestellt gewesen. Ich wurde mit Hyperosmie geboren, oder einfacher ausgedrückt, einem gesteigerten Geruchssinn. Manchmal betrachtete ich es als Geschenk und manchmal war es ein Fluch. Im Fall meines Ex-Verlobten war es beides gewesen. Jacob hatte mich eingestellt, weil ich das kleinste Aroma wahrnehmen und sogar diesen mikroskopischen Geruch in seine Grundbestandteile zerlegen konnte, eine Fähigkeit, die mich in der Parfümindustrie sehr gefragt machte. Aber der Mann hatte diese Fähigkeit irgendwie vergessen, als er anfing, mit einem Hauch des Parfüms einer anderen Frau auf seinen Hemden aufzutauchen. Und wer auch immer sie war, sie trug nicht einmal Parfüm von Georgio.

»Ich mache mir nur Sorgen, dass deine Entscheidung, Schluss zu machen, zu voreilig war. Jacob war so ein netter Mann.«

»Er hat sich hinter meinem Rücken mit anderen Frauen getroffen. Wie macht ihn das nett? Wenn du ihn so sehr magst, ruf ihn an. Ich bin sicher, solange du sicherstellst, dass Dad neue Batterien in der Fernbedienung, Tiefkühlgerichte im Gefrierschrank und genügend Köder in seiner Angelkiste hat, wird er dein Fehlen nicht einmal bemerken.« Ich hüpfte zur Tür des Ladens, um hineinzugehen und meinen Fuß zu waschen.

»Lacey Sue Pinkerton«, sagte sie mit dem unnachahmlichen Tonfall einer erzürnten Mutter.

»Oh-oh, der zweite Vorname kommt ins Spiel. Ich stecke in Schwierigkeiten.« Ich öffnete die Tür und hüpfte unbeholfen hinein. Kingston zog seinen scharfen schwarzen Schnabel unter seinem Flügel hervor. Er wirkte verärgert darüber, dass sein Nickerchen unterbrochen wurde.

»Du klingst komisch. Machst du Sport, Lacey?«

»Ja, Mom, ich bin mitten in einem Aerobic-Kurs.«

»Das reicht jetzt, Miss Schlaumeier.« Offenbar waren wir von der Verwendung des zweiten Vornamens zum guten alten »Schlaumeier« übergegangen. Ich war 28, aber ein fünfminütiges Gespräch mit meiner Mutter und ich fühlte mich wieder wie eine Sechstklässlerin.

»Es tut mir leid, Mom. Ich würde gerne am Telefon bleiben und all die miesen Dinge wieder aufwärmen, die mir in letzter Zeit passiert sind, aber ich muss wieder an die Arbeit.«

»Lacey, Süße, ich mache mir Sorgen, dass du dich in einer kleinen Stadt wie Port Dancy furchtbar langweilen wirst.«

»Port Danby, und ich werde mich nicht langweilen. Ich werde ein Geschäft führen.«

»Ja, einen Blumenladen. Das ist eine ziemliche Veränderung von deinem Leben in der Großstadt, wo du mit wichtigen Leuten zusammengearbeitet hast.«

»Es ist eine große Veränderung, Mom. Und es ist die Veränderung, die ich wollte. Außerdem freue ich mich darauf, an einem Ort zu leben, wo das Schlimmste, was passieren kann, darin besteht, dass eine streunende Katze aus der Nachbarschaft eine Mülltonne umwirft. Frieden und Ruhe haben durchaus ihre Berechtigung.« Ihre letzten Worte hatten mir ein wenig zu schaffen gemacht. Die Vorstellung, dass das Leben in Port Danby zu langsam verlief, war mir mehr als einmal in den Sinn gekommen. Aber ich war entschlossen, mich und meinen Geist zu beschäftigen.

Die Farbe war auf meinem Fuß getrocknet und hatte sich zu einem lavendelfarbenen Fleck auf meiner Haut verkrustet. Ich senkte den Fuß auf den Boden. »Ich rufe dich später an, Mom. Gib Dad einen Kuss von mir.«

»In Ordnung. Ruf an, wenn du etwas brauchst.«

Ich legte auf und schaute mich in meinem Geschäft um. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es war das erste Mal in meinem Berufsleben, dass ich alle Entscheidungen treffen durfte, und ich war mit dem Ergebnis zufrieden. Abgesehen vom Äußeren von Cape Cod, wurde ich noch wahnsinnig bei dem Versuch, mich zwischen modernem Industrialstil und Soho Chic für den Innenbereich zu entscheiden. Wie so oft konnte ich mich nicht entscheiden, also nahm ich beides und erfand meinen eigenen Soho Industrial Chic. Auch die Praktikabilität spielte eine große Rolle. Die unverputzten Ziegelwände ließ ich in der Ecke stehen, in der sich die Rollregale aus Stahl befanden, die ich bei einem Ausverkauf in einer Fabrik gekauft hatte. Sie waren der perfekte Ort zur Aufbewahrung von Vasen, Glaswaren und Keramiktöpfen. Ein langer antiker Pflanztisch nahm mehr als die Hälfte der Rückwand ein. Das tiefe Waschbecken aus Porzellan, das Elsie, die Bäckerin, zurückgelassen hatte, als sie ihre Küche nach nebenan verlegte, war der perfekte Ort, um Pflanzen umzutopfen und Blumensträuße zu arrangieren.

Zur Abwechslung hatte ich die Ziegelwand der anderen Hälfte des Ladens mit glattem Putz verkleidet und strahlend weiß gestrichen. Eine Reihe Holzkisten hatte ich mit der Unterseite an die Wand genagelt, um geometrische Fächer für einige der hübscheren Schmuckstücke zu schaffen, die ich zu verkaufen hatte. In der Mitte des Ladens befand sich mein größter Fund: eine riesige Insel mit einer Theke aus schwarz-weiß karierten Fliesen und Schubladenreihen zur Aufbewahrung von Bändern, Seidenpapier und all den netten Kleinigkeiten, die man in einem Blumenladen braucht. Ich hatte die gesamte Insel mit schwarzer Tafelfarbe gestrichen, damit ich die Schubladen beschriften konnte.

Kingston, meine zahme Krähe, flatterte ein paar Mal mit seinen großen Flügeln und ließ die Bänder, die auf Spulen an der Wand hingen, erzittern. Ich nahm eine Tüte Sonnenblumenkerne aus der obersten Schublade der Insel und warf ein paar davon in die Schale auf seiner Sitzstange. Er beschäftigte sich mit der Leckerei, während ich die seidigen schwarzen Federn auf seinem Kopf streichelte.

»Also, Kingston, der Laden ist fast fertig. Ich denke, es wird uns hier gefallen. Was meinst du?«

Kingston schnippte die leeren Hülsen aus der Schale.

»Gut, ich schätze, du wirst glücklich sein, solange es genügend Leckerlis gibt.«

KAPITEL 2

Dank der kostenlosen Yogastunden, die ich einen Monat lang besucht hatte, schaffte ich es irgendwie, meinen Fuß in das Waschbecken zu bekommen und von seinem lila Tattoo zu befreien. Ihn wieder herauszubekommen, kostete etwas mehr Mühe. Ich zog mein Bein vom Becken weg und tupfte es mit einem Lappen trocken.

Mir entrang sich ein lautes Keuchen, als ich mich umdrehte und sah, dass Elsie nur wenige Meter von mir entfernt stand.

»Mein Gott, Elsie, Sie haben mich erschreckt. Sie bewegen sich ja wie eine Katze auf Samtpfoten.«

»Ich habe Ihnen schon oft gesagt, dass Sie eine Klingel an der Tür brauchen.« Elsie konnte es mit meiner Mutter aufnehmen, wenn es darum ging, Ratschläge und Meinungen zu verteilen. Sie zeigte mit dem Finger, was bedeutete, dass weitere Ratschläge unterwegs waren. »Lola erwähnte, dass ihre Eltern ihr eine Kiste mit alten Ziegenglocken für das Antiquitätengeschäft geschickt haben. Das wäre perfekt.«

»Sie haben recht. Ich gehe später auf die andere Straßenseite und kaufe mir eine.«

Elsie verbrachte ihren ganzen Tag damit, zu backen und Süßigkeiten zu kreieren, die direkt auf den Oberschenkeln landeten, aber sie war genauso rank und schlank wie eine Olympiateilnehmerin. Obwohl Elsie, wie sie gerne sagte, »auf die Sechzig zuging« (auch wenn Lola mir erzählt hatte, dass Elsie schon seit einiger Zeit auf die Sechzig zuging), zog sie jeden Nachmittag ihre Shorts und Sportschuhe an und lief den fünf Meilen langen Rundkurs von Harbor Lane hinunter nach Pickford Way, am Strand entlang und die Culpepper Road hinauf. Elsie und ihr Mann Hank, ein Handelsreisender, den ich noch nicht kennengelernt hatte, weil er ständig auf Reisen war, lebten seit dreißig Jahren in Port Danby. Elsies Sugar and Spice Bakery war bei Einheimischen und Touristen sehr beliebt. Ich hatte ihre Leckereien so lieb gewonnen, dass ich befürchtete, auch ich müsste den zermürbenden Fünf-Meilen-Rundkurs laufen, nur um mit meinem Verzehr von Köstlichkeiten Schritt zu halten.

Elsie blieb an Kingstons Stange stehen, um ihn zu bewundern, und meine Krähe ließ sich gern bewundern. »Hallo, Hübscher.«

Kingston reagierte, indem er seinen Kopf wie ein Papagei anerkennend auf und ab bewegte. »Wenn Sie ihn weiterhin gut aussehend nennen, wird sein Kopf bald so groß wie ein Ballon sein. Wenn ich ihn vor einen Spiegel stelle, steht er stundenlang da und flirtet einfach mit sich selbst.« Ich atmete tief ein. »Wie läuft es mit dem Kürbisbrot?«

Elsie drehte sich rasch um, wobei sich beinahe der hastig hochgesteckte graumelierte Haarknoten in ihrem Nacken löste. Den Mehlstreifen auf ihrer Wange bemerkte ich erst, als die Sonne durch das Fenster ihn hervorhob. »Woher wussten Sie, dass ich Kürbisbrot backe?« Sie winkte ab und gab sich selbst die Antwort. »Ach richtig, ich hatte Sie und diesen unglaublichen Geruchssinn vergessen.«

»Ich habe viele Nelken, Muskatnuss, Zimt und Hefe gerochen und dachte deshalb an Kürbisbrot. Und um ganz ehrlich zu sein, ich habe gesehen, wie Tom vom Supermarkt an der Ecke eine Kiste mit Kürbiskonserven geliefert hat.«

Elsie legte den Finger auf die Lippen. »Shh. Ich lasse die Leute gerne denken, dass ich frischen verwende. Ich lasse sogar ein paar Kürbishälften auf der Arbeitsplatte liegen. Ich hoffe, das lässt mich nicht schrecklich erscheinen.«

»Da Ihre Backwaren wie ein Glückselixier sind, können wir diese eine Indiskretion wohl durchgehen lassen. Außerdem, wer würde es Ihnen verübeln, wenn Sie Kürbis aus der Dose verwenden? Sie arbeiten so hart.«

»Danke, Pink. Sie sind ein Juwel.« Die Menschen, mit denen ich bereits vertraut geworden war, wie Elsie und Lola, hatten es sich angewöhnt, mich bei meinem Spitznamen Pink zu nennen.

»Ich bringe Ihnen eine Probe mit, wenn ich es perfektioniert habe.«

»Ich freue mich darauf.«

Elsie ließ ihre Finger über die schwarz-weißen Fliesen der Insel gleiten. Ich kannte sie erst seit ein paar Wochen, aber man konnte deutlich erkennen, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Doch bevor sie ihre Lippen zum Sprechen öffnen konnte, ging die Tür auf und eine salzige Küstenbrise wehte Lester, meinen Nachbarn auf der anderen Seite, herein. Lester war nicht nur Elsies Zwillingsbruder, sondern auch ein Feuerwehrmann im Ruhestand. Nachdem er ein Jahr lang Golf gespielt, Wiederholungen im Fernsehen geschaut und, wie er gerne sagte, dabei zugesehen hatte, wie seine Haare weiß wurden, hatte er beschlossen, ein Café zu eröffnen. Mit seinem schneeweißen Haar, dem bunten Hawaiihemd und den Sandalen war er immer ein lustiger Anblick. Was seine Nachbarn betraf, war Lester viel ruhiger und weniger meinungsstark als Elsie. Seine Frau starb nur zehn Jahre nach ihrer Hochzeit an Krebs und wie Lester selbst es ausdrückte, fand er nie wieder die wahre Liebe. (Ja, diese Männer gibt es, aber sie sind so selten und schwer zu finden wie der perfekte BH.)

Lester wandte sich gleich mit einer Frage an Elsie. »Also, hast du sie gefragt?«

»Ich war gerade dabei, als du hereingeplatzt bist, als ob der Teufel hinter dir her wäre.«

Lester war sofort beleidigt. »Das habe ich nicht getan. Soll ich sie fragen?«

»Nein, ich kümmere mich darum. Sei nicht so aufdringlich.« Elsie schüttelte den Kopf in meine Richtung. »Er war schon im Mutterleib aufdringlich.«

»Ich hätte dich einfach da rausschubsen sollen«, witzelte Lester.

Ich lehnte mich gegen die Theke, schlug die Knöchel übereinander und wartete darauf, dass sie aufhörten, darüber zu streiten, wer fragen sollte. Ich hatte keine Ahnung, was die brennende Frage war, aber ich hatte festgestellt, dass es bei Lester und Elsie einfacher war, sie zuerst ihre Runde Geschwisterrivalität beenden zu lassen. Irgendwann würden sie auf den Punkt kommen. Es war meistens unterhaltsam, ihnen zuzusehen, und ich war gleichzeitig dankbar und enttäuscht, dass ich nie einen Bruder oder eine Schwester gehabt hatte. Natürlich ging Elsie immer als Siegerin hervor, weil Lester normalerweise einfach müde wurde und aufgab.

»Wir haben uns gefragt, ob wir meine drei Tische vor Ihrem Laden aufstellen könnten«, platzte es so schnell aus Elsie heraus, dass ich nicht begriff, dass ihre Aussage an mich gerichtet war, bis ich bemerkte, dass sie beide erwartungsvoll in meine Richtung blickten.

Ich stieß mich von der Theke ab. »Oh, Sie reden mit mir. Aber warum müssen Sie die Tische vor meinem Laden aufstellen? Lester hat bereits drei Tische und Sie haben viel Platz vor der Bäckerei.«

Angesichts der ungeschickten Herangehensweise seiner Schwester an das Thema verdrehte Lester die Augen. Er schlurfte in seinen Sandalen nach vorne. »Die Sache ist die, Lacey. Da die Bäckerei früher hier im Blumenladen war –« Seine blaugrauen Augen wanderten umher. »Gute Arbeit hier drin, übrigens.«

»Danke.«

»Jedenfalls freuen sich die Kunden über Backwaren und holen sich anschließend im Hutch einen Kaffee dazu. So wie die Dinge jetzt sind, müssen sie, wenn sie ihr Frühstück beenden wollen und meine Tische voll sind, an Ihrem Laden vorbei zu Elsies Tischen gehen.«

Elsie stemmte ihre kleinen Fäuste in ihre schmalen Hüften. »Eigentlich sind meine Tische fast immer zuerst voll. Du bekommst die übrigen Kunden.« Elsie neigte den Kopf zu mir. »Meine Tische sind schöner lackiert.«

»Deine Stühle wackeln«, bemerkte Lester.

»An meinen Stühlen ist nichts auszusetzen«, beharrte Elsie. »Es ist dein großer Kopf, der wackelt. Sehen Sie ihn nur an. Er hatte schon immer einen überdimensionalen Kopf. Er sieht aus wie eine dieser hawaiianischen Puppen mit Wackelkopf, nur dass er statt eines Bastrocks ein geblümtes Hemd trägt. Aber zurück zu den Tischen.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Sie haben viel Platz vor Ihrem Geschäft und Lester und ich werden dafür sorgen, dass die Kunden ihren Müll aufräumen.«

»Aber es wird nicht viel freien Platz geben.« Ich ging in die hinterste Ecke, wo meine Rollwagen darauf warteten, mit Topfpflanzen gefüllt zu werden. »Sobald ich mein Geschäft eröffne, habe ich vor, diese Karren zu nutzen, um Leute in den Laden zu locken. An schönen Tagen werde ich sie auf den Bürgersteig rollen. Wie Sie sehen können, sind sie ziemlich unhandlich. Es wird einfach keinen Platz für irgendwelche Tische geben. Sonst würde ich gern helfen.« Ich war neu in der Harbor Lane, der Straße mit den meisten Geschäften und Unternehmen, und wusste, dass ich vorsichtig vorgehen und gute Beziehungen zu den anderen Ladenbesitzern pflegen musste. Aber ich konnte meinen Geschäftsplan nicht ändern, nur um meinen Nachbarn entgegenzukommen.

Ich konnte die Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen. Lester schien der Erste zu sein, der zustimmte, dass es einfach nicht funktionieren würde. Er nickte. »Natürlich brauchen Sie den Bereich vor Ihrem Laden für Ihre eigenen Waren, Lacey. Es war albern und gierig von uns zu fragen.« Er sah Elsie fragend an, die widerwillig nickte.

»Ja, mein Bruder hat recht. Wir werden uns mit der Fläche begnügen, die uns für die Tische zur Verfügung steht. Die Kunden werden sich daran gewöhnen. Sie müssen sich nur entscheiden, auf welcher Seite sie sitzen.«

»Danke für Ihr Verständnis«, sagte ich und ging zur Tür, in der Hoffnung, dass sie den Wink verstehen und gehen würden. Vor meiner Eröffnung hatte ich noch viel zu tun.

Elsies Gesicht wurde weicher und sie lächelte. »Natürlich, Pink. Und sagen Sie Bescheid, wenn wir etwas tun können, um Ihnen zu helfen.«

»Danke.« Ich öffnete die Tür und sah ihnen zu, wie sie hinausgingen. Lester schlurfte in seinen locker sitzenden Sandalen zurück zum Coffee Hutch, und Elsie ging in ihrer gewohnt selbstbewussten, sicheren Art zurück zur Sugar and Spice Bakery. Ich ahnte nicht, dass diese letzten Augenblicke den Beginn des großen Port-Danby-Tischkriegs markierten. Und mein kleiner Blumenladen lag genau zwischen den Fronten.

KAPITEL 3

Ich hatte gerade ein paar Bilder an die Wand im hinteren Bereich gehängt und beschloss, über die Straße zu gehen und nachzuschauen, ob Lola Lust hatte, etwas zu Mittag zu essen. Da mein Laden zwischen einer Bäckerei und einem Café lag und meine Geruchsneuronen besonders empfindlich waren, schien ich ständig hungrig zu sein. Ich hatte gehofft, mit einer Kostprobe von Elsies Kürbisbrot durch den Morgen zu kommen, aber seit ich ihren Plan für die Sitzplätze im Außenbereich durchkreuzt hatte, hatte ich meine Nachbarn weder gesehen noch von ihnen gehört.

»King, willst du kurz rausgehen?« Meine Krähe hatte ihre Stange den ganzen Morgen nicht verlassen. Ich war sicher, dass er heute Abend besonders unruhig sein würde, wenn er nicht etwas Zeit zum Fliegen bekäme. Harbor Lane, die zweispurige Straße, die an den Geschäften entlang und schließlich zum Strand führte, war von satt dunkelviolett blühenden Pflaumenbäumen gesäumt, die Schatten spendeten und Kingston einen Platz zum Niederlassen boten, wenn er sich wie eine richtige Krähe benehmen wollte. Natürlich versetzte sein unerwarteter Besuch die Spatzen und kleineren Singvögel in der Gegend stets in Aufruhr, aber Kingston schenkte ihnen keine Beachtung.

Die Krähe plusterte sich auf, schüttelte ihr Gefieder und beäugte die offene Tür. Ich lehnte mich zurück und wartete darauf, dass er vorbeirauschte. Stattdessen wandte er sich von der Tür ab und kauerte sich für ein weiteres Nickerchen zusammen.

Ich trat nach draußen und bereute sofort, dass ich meine Sonnenbrille zu Hause vergessen hatte. Der morgendliche Küstennebel war längst einer frischen Brise gewichen, die gerade genug Herbststimmung mit sich brachte, um mich sofort auf die Idee zu bringen, meine flauschigen Decken aus dem Schrank zu holen. Auch wenn das schöne Sommerwetter schon lange vorbei war, glitzerte die Sonne über dem Wasser. Die Aussicht war auf jeden Fall besser als die von hohen Gebäuden und Straßen voller Autoabgase.

Ich ging hinüber zu Lola’s Antiques. Lola war nur ein Jahr jünger als ich und betrieb das Antiquitätengeschäft ihrer Eltern, die die Welt bereisten. Sie war lustig und klug, und manchmal, wenn sie aufgeregt oder nervös war, redete sie schnell; so schnell, dass ihre Worte nicht immer in der richtigen Reihenfolge herauskamen. Ich genoss ihre Gesellschaft und sie schien meine zu genießen. Wir waren schnell Freunde geworden.

Lola trug eines ihrer vielen Rock-'n'-Roll-T-Shirts, ein Relikt von Janis Joplin, dazu verwaschene Jeans und einen schwarzen Fedora-Hut aus Filz. Ihre lockigen roten Haare schauten auf allen Seiten unter dem engen Hut hervor. Sie war damit beschäftigt, zwei riesige, märchenhafte Kürbisse auf einem Strohballen zurechtzurücken, ein rustikaler Touch, der vor ihrem urigen Laden seltsam fehl am Platz wirkte. Lola erzählte mir, dass sie, nachdem ihre Eltern ihr grünes Licht für die Renovierung des Ladens gegeben hatten, einen Maler beauftragt hatte, das, was sie als die »graue Blässe des Todes« an der Außenseite des Ladens bezeichnete, mit einem blassen, rauchigen Blau zu überdecken. Die Farbe wirkte schick und durch die breiten Fensterfronten besonders schön. Die traditionell getäfelte Eingangstür, die breiten Zierleisten über den Fenstern und die durchsichtigen weißen Vorhänge ließen den Laden aussehen, als wäre er an einer Pariser Straßenecke aufgegabelt und sorgfältig nach Port Danby geliefert worden.

Lola lehnte sich zurück, um ihre Feiertagsdekoration zu bewundern. »Was meinst du? Zu ›Hee Haw‹?«

»Überhaupt nicht. Ich finde, es ist perfekt.«

»Gut, dass es dir gefällt.« Ihre braunen Augen hatten in der Mittagssonne die Farbe von Kakao, als sie sich umdrehte und mich ansah. »Da du direkt auf der anderen Straßenseite bist, wirst du es den Rest des Oktobers sehen.«

»Daran habe ich nicht gedacht. Aber meine Meinung bleibt die gleiche. Es ist festlich und erinnert mich daran, dass ich in meinem Laden auch etwas saisonale Deko aufhängen muss. Ich war so damit beschäftigt, den Laden betriebsbereit zu machen, dass ich vergessen habe, dass er kurz vor Halloween eröffnet wird. Vielleicht eine orange-schwarze Girlande oder so etwas über dem Fenster. Übrigens, Elsie hat erwähnt, dass du ein paar Ziegenglocken hast. Ich brauche etwas für meine Tür.«

»Gott sei Dank. Das ist eine Glocke weniger. Manchmal glaube ich, meine Eltern verlieren den Verstand, weil sie so viel Zeit in neuntausend Metern Höhe verbringen.« Lola griff nach der Tür. »Sie haben eine ganze Kiste mit alten, rostigen Glocken geschickt. Sogar die Ziegen waren wahrscheinlich froh, als sie die los waren.«

Lolas Hund, ein Boxer, hob seinen schweren Kopf lange genug vom Kissen, damit ich ihn streicheln konnte. Für einen Boxer war er klein; anscheinend der Kleinste im Wurf. Seine geringe Größe hatte ihm den Namen Late Bloomer eingebracht. Zum Glück für den Hund nannten ihn die meisten Leute einfach Bloomer.

Lola ging kurz ins Hinterzimmer, um die Schachtel mit den Glocken zu holen. Ich schlenderte durch den Laden. Ich war mehr als ein Dutzend Mal darin gewesen, aber ich war mir sicher, dass ich immer noch nicht alle verborgenen Schätze gesehen hatte, die in allen Ecken und Winkeln versteckt waren.

So sehr Lola den Antiquitätenladen auch modernisieren wollte, war das Innere größtenteils dunkel und altmodisch geblieben und bildete einen scharfen Kontrast zum schicken Äußeren. Aber der Umzug jahrhundertealter Vitrinen, Kuriositäten und Bücherregale hätte mehr Zeit und Geld gekostet, als Lola für einen Umbau hatte. Jeder Zentimeter des Ladens war voll mit Reliquien und Schätzen aus der Vergangenheit. Die Bodenfläche war auf gerade genug Durchgang beschränkt, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten, was wahrscheinlich auch besser so war. Laut Lola sollte der waldgrüne Teppich, der den gesamten Boden bedeckte, lieber unter den Antiquitäten versteckt bleiben.

Auf das Läuten mehrerer Glocken folgte das Klack-Klack von Lolas Stiefeln. Sie hielt eine Glocke mit eindrucksvoller Patina und einem bunt gefransten Lederriemen hoch. »Die hier hat den besten Klang.« Sie ließ sie noch einmal läuten und rief mit langgezogener Südstaatenstimme: »Zeit zum Abendessen!«

»Hey, wo wir gerade vom Abendessen sprechen, ich bin am Verhungern. Hast du Lust auf Mittagessen?«

»Ja. Gehen wir zu Franki’s Diner. Sie hat gestern etwas von ihrem Maisbrot gemacht. Es passt super zu ihrem Chili.«

»Klingt lecker.« Ich lehnte mich vorn gegen den Glastresen und blätterte geistesabwesend in dem Stapel Flyer, der darauf lag. »Elsie hat den ganzen Morgen Kürbisbrot gebacken und mir läuft die ganze Zeit das Wasser im Mund zusammen. Ich dachte, sie würde mir eine Kostprobe mitbringen, aber ich glaube, ich habe sie verärgert.«

»Warum ist Elsie verärgert? Nicht, dass es mir wirklich etwas ausmacht, denn sie ist immer über irgendetwas verärgert. Ich dachte, Läufer müssten immer high von diesen Endolfinen sein. Sie scheint nicht viele davon auf ihrem Lauf zu fangen.«

»Es sind Endorphine, und die fängt man nicht wirklich.«

Lola ging hinter den Tresen, um ihre Handtasche zu holen. »Wie auch immer, Elsie braucht welche. Worüber ist sie verärgert?«

»Es ist eigentlich nichts. Sie und Lester wollten einen Teil des Platzes vor meinem Laden für ihre Tische nutzen.« Ich wechselte schnell das Thema, da ich nicht hinter dem Rücken von Lester und Elsie über sie reden wollte. Sie waren wirklich hilfsbereite Nachbarn gewesen und ich wusste, dass Lola keine Ruhe geben würde, wenn ich sie ließe. Ich nahm einen Flyer vom Stapel. »Der Port-Danby-Kürbis-Wettbewerb. Der größte Kürbis gewinnt hundert Dollar.«

»Ja, willkommen in Kitsch Town, USA.«

»Dann nenn mich kitschig, denn ich liebe es, jetzt in einer Stadt zu leben, in der ein Kürbisanbau-Wettbewerb stattfindet. Machen viele Leute mit?«

Lola ordnete ihre Kassenbelege. »Nein, im Wesentlichen ist es nur ein Wettkampf zwischen Beverly Kent und Virginia Hopkins, zwei älteren Witwen, die in der Culpepper Road leben. Sie sind schon lange Nachbarn, aber während der Kürbis-Saison wird es zwischen ihnen ziemlich unnachbarschaftlich.« Sie zog eine Quittung hervor. »Apropos Beverly. Ich hasse es, zu tratschen –«, begann sie.

Ich blickte sie mit erhobener Augenbraue an, um diese Aussage wortlos in Frage zu stellen.

»Okay, schön. Ich liebe es zu tratschen. Heute Morgen hat Willy Jones, der Fischer –« Sie sah mich erwartungsvoll an, aber ich zuckte mit den Schultern.

»Jedenfalls ist er ein alter Kerl, der unten in der Marina ein Fischerboot hat. Er ist mit Theresa Jones verheiratet. Sie sind seit etwa hundert Jahren verheiratet.«

Ich blinzelte sie an. »Hab ich das mit dem Verhungern erwähnt?«

»Richtig.« Sie legte die Quittung wieder auf den Stapel und schnappte sich ihr Schild mit der Aufschrift Zur Mittagspause geschlossen. Während sie es aufhängte, fuhr sie mit ihrer Geschichte fort. »Also, vor etwa einer Woche brachte Theresa eine Kiste mit alten Sachen vorbei, und da war ein Absolventenring aus dem Jahr 1920 oder aus einer anderen längst vergangenen Zeit. Es war ein schönes Stück mit einem großen blauen Stein und hing an einer dünnen, femininen Kette.«

Wir traten auf den Bürgersteig und ich hoffte insgeheim, dass ihre Geschichte interessanter werden würde.

»Ich bin nicht sicher, welche Schule, denn der Ring der Abschlussklasse der Port Danby High School hat einen grünen Stein. Nicht, dass ich einen gekauft hätte. Ich meine, wer möchte schon so einen großen alten Ring am Finger tragen?«

Wir gingen die Harbor Lane entlang. Da wir uns schon dem Essen näherten, beschloss ich, dass es nicht schaden konnte, mir den Rest ihrer Geschichte anzuhören, mit allen bedeutungslosen Einzelheiten.

»Jedenfalls brachte Theresa die Kiste mit den Sachen vorbei, aber ich hatte keine Zeit, alles durchzusehen. Es gab ein paar alte Porzellanvasen und ein gerahmtes Mustertuch, das sie ihrer Aussage nach bei einer Nachlassversteigerung gefunden hatte, aber nichts allzu Aufregendes. Also gab ich ihr hundert Dollar für alles und sie ging mit den Worten, sie würde sich von dem Geld eine Maniküre und eine neue Gesichtscreme kaufen.«

Wir gingen an der Polizeiwache von Port Danby vorbei, auch wenn es sich eher um ein kleines Gebäude mit zwei Fenstern an der Vorderseite und zwei reservierten Parkplätzen davor handelte. Der schwarz-weiße Streifenwagen von Port Danby verließ selten seinen reservierten Platz. Bei dem zweiten Wagen handelte es sich um einen blauen Sedan mit einem dieser speziell gekennzeichneten Nummernschilder, wie sie auch von verdeckten Ermittlern gefahren werden könnten, nur dass diese aufgrund der speziell gekennzeichneten Schilder nicht ganz so verdeckt vorgingen.

»Lass uns hier rübergehen.« Lola unterbrach ihre Erzählung lange genug, um sich nach dem Verkehr umzuschauen.

Ich folgte ihr. »Wahrscheinlich ist es nicht die beste Idee, direkt vor der Polizeiwache einfach die Straße zu überqueren.«

Lola stieß die Luft aus. »Es ist ihnen egal, es sei denn, es ist Touristensaison.« Wir überquerten die Straße und erreichten den Bürgersteig vor dem Lokal.

Von außen erinnerte mich Franki’s Diner an einen altmodischen Bahnhof mit einer großen Uhr in der Mitte eines kompakten Turms, der aus einem anthrazitfarbenen Metalldach ragte. Weiße Glastüren mit mehreren Scheiben bildeten den Abschluss einer langen Reihe symmetrischer, gelb gerahmter Fenster. Gelbe und violette Stiefmütterchen waren willkürlich entlang eines schmalen Blumenkastens gepflanzt worden, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckte. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den Außenfarben. Ich hätte etwas Größeres und Pastellfarbeneres vorgeschlagen, wie Löwenmäulchen. Obwohl Löwenmäulchen den Küstennebel möglicherweise nicht überlebt hätten.

»Und?« Ich schaffte es, die eine Silbe wie eine Frage klingen zu lassen.

»Und?«, konterte Lola.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Die Ringgeschichte? Ich hoffe, da kommt noch mehr, denn sonst war der ganze Spannungsaufbau umsonst.«

»Oh, ja, der Ring. Also, heute Morgen kam der alte Willy schnaufend und keuchend in den Laden, als wäre er den ganzen Weg von der Marina gerannt. Er war ernsthaft kurz davor, einen Schlaganfall zu erleiden. Er wollte wissen, ob ich den Ring schon verkauft hätte.« Lola lachte. »Als ob irgendein jahrhundertealter Absolventenring begehrte Ware wäre.«

»Du führst immerhin ein Antiquitätengeschäft.«

»Stimmt wohl. Also habe ich ihm seinen eigenen Ring und die Goldkette für zwanzig Dollar zurückverkauft und er ging als glücklicher kleiner Fischer weg. Natürlich ließ er mich versprechen, es Theresa nicht zu sagen. Ich schätze, er wird ihn wahrscheinlich Beverly geben, weil sie damals seine Highschool-Liebe war.«

Lola griff nach der Tür des Diners.

»Beverly?«, fragte ich.

Lola blieb in der offenen Tür stehen und blickte mich mit verärgertem Gesichtsausdruck an. »Die Frau in der Culpepper Road, die große Kürbisse anbaut. Bleib bei der Sache, Pink. So hat diese Geschichte angefangen. Erinnerst du dich?«

»Tatsächlich weiß ich es nicht mehr, weil es schon so lange her ist.«

»Sehr lustig.«

Ich folgte Lola zu einem Tisch. »Im Ernst, ich glaube, ich habe in der Zwischenzeit ein paar graue Haare bekommen.«

Lola blieb an einem Tisch stehen, der in der Mitte der Fensterreihe stand. »Ist der hier in Ordnung, Oma?«

»Jep.«

KAPITEL 4

Franki huschte vorbei und warf zwei Speisekarten auf den Tisch. Ob gestresst oder nicht, ihre perfekt geformte Beehive-Frisur, die sie trug, um dem Ort ein Fünfzigerjahre-Flair zu verleihen, hatte keinen Zentimeter an Symmetrie verloren. Sie thronte in perfekter Mid-Century-Pracht auf ihrem Kopf. »Ich bin sofort zurück. Hier ist Land unter. Janie hat sich heute Morgen krankgemeldet, also bin ich heute im Grunde eine One-Woman-Show im Gästebereich.« Mit dieser hastigen Erklärung eilte sie zum Ausgabefenster.

Ich war nur dreimal in diesem Lokal gewesen und bei diesen Besuchen hatte ich erfahren, dass Franki Rumple, die stolze Besitzerin von Franki’s Diner, alleinerziehende Mutter von vier Teenagern war, zwei Zwillingspaare. Taylor und Tyler waren zwei schlaksige sechzehnjährige Jungen. Es war unmöglich, sie auseinanderzuhalten, und ihre Namen waren ebenso verwirrend. Franki beklagte sich gerne darüber, dass sie nur Ärger machen konnten, aber sie sprach immer mit dem liebevollen Funkeln einer Mutter in den Augen über sie. Kimi und Kylie waren gerade vierzehn geworden und schienen etwas weniger Ärger zu machen als die Jungs. Sie waren auch leichter auseinanderzuhalten, da Kimi gern Lila trug und Kylie Rosa bevorzugte. Franki behauptete, ihr Mann habe die Geburt des zweiten Zwillingspaares als Zeichen dafür gesehen, dass die Ehe verflucht sei, und sie verlassen. Ich hätte es als Zeichen dafür gesehen, dass der Mann einfach ein Feigling war, aber wir alle sehen Menschen aus einem anderen Blickwinkel.

Lola studierte die leicht fettige Speisekarte, als würde sie eine wichtige Lebensentscheidung treffen.

»Ich dachte, du wolltest Chili bestellen.« Auch ich blätterte in der Speisekarte.

»Tue ich. Ich dachte nur, ich schaue mal nach, falls mir etwas Besseres ins Auge sticht.« Lola klappte die Speisekarte zu und der Luftzug, der dabei entstand, ließ die roten Locken um ihr Gesicht erzittern. Sie kräuselte die Nase, als sie die Hände zum Gesicht hob. »Ugh, ich rieche nach Ziege. Ich werde mich schnell frischmachen. Bestelle mir das Chili und Maisbrot. Und einen Eistee mit Zitrone.«

»Alles klar.« Ich beschloss, dasselbe zu nehmen.

Ich lehnte mich zurück und sah mich um. Das Innere von Franki’s Diner war eine Musterkulisse aus glänzendem rotem Vinyl, poliertem Chrom und weißem Laminat, aber jedes Mal, wenn ich hineinging, überkam mich dieses wunderbare Gefühl von Nostalgie. Zunächst konnte ich die Ursache nicht genau ausmachen. Dann fiel mir auf, dass die roten Fliesen mit Rautenmuster entlang der weißen Fliesenbasis der Arbeitsplatte genau dem Muster in der Küche meines Elternhauses entsprachen. Die Aneinanderreihung roter Rautenfliesen erinnerte mich an kalte Wintermorgen, wenn meine Mutter heißen Tee mit viel Honig aufgoss, wir zusammensaßen und über alles Mögliche schwatzten und tratschten, von Freunden bis zu Tante Ruths furchteinflößender neuer Haarfarbe. Es war merkwürdig, wie kleine Details einen so leicht in der Zeit zurückversetzen konnten.

An den anderen Tischen saßen ein paar bekannte Gesichter. Bisher kannte ich nur die Namen der Ladenbesitzer aus der näheren Umgebung. Zwei Tische weiter saß eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und die wütend mit einem Steak kämpfte, als hätte das Stück Fleisch ihr Unrecht getan. Sie war eine ältere Frau mit kastanienbraunem Haar und einem langen, dichten grauen Haaransatz. Ihre Finger waren rot und wund, als hätte sie viel Zeit mit Geschirrspülen oder Gartenarbeit verbracht. Der Sonnenbrand auf ihrer Nase schien auf Letzteres hinzudeuten. Wer auch immer sie war, sie hatte keinen guten Tag und das Steak auf ihrem Teller ebenso wenig.

Lola kam zurück und ließ sich auf ihren Platz gleiten, gerade als Franki herüberkam, um unsere Bestellung aufzunehmen. Sie schob ihren Beehive-Dutt nach oben, um ihn auf ihrem Kopf zu zentrieren, und blickte auf ihren Notizblock.

Ich lächelte zu ihr hinauf. »Zwei Portionen Chili und Maisbrot und zwei Eistees mit Zitrone.«

»Kein Problem.« Franki kritzelte etwas auf ihren Notizblock. »Und das Maisbrot ist heute ausgezeichnet. Für eine kleine Geschmacksexplosion habe ich etwas grüne Chili hinzugefügt.« Franki war eine dieser Personen, die stolz auf ihre Arbeit waren, und das spiegelte sich in der Qualität ihres Essens wider. Ich hatte auch festgestellt, dass sie Neukunden, wie ich es vor ein paar Besuchen noch war, nicht von der Seite wich, um zu sehen, ob es ihnen schmeckte oder nicht. Als ich das erste Mal vorbeikam, hatte ich ein Käseomelett bestellt. Franki stand neben mir und wartete darauf, dass ich den ersten Bissen nahm. Als ich die Eier zum Mund führte, befürchtete ich, dass sie mir nicht schmecken würden und ich mir dann ein fröhliches Lächeln aufzwingen, falsche Lobeshymnen ausstoßen und weiteressen müsste. Zum Glück war es köstlich.

»Ich bin gleich mit eurem Chili zurück.« Franki huschte in ihren praktischen Krankenschwesterschuhen davon.

Die ziemlich wütende Frau mehrere Tische weiter war immer noch damit beschäftigt, ihr Essen mit einem Steakmesser in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich tippte Lolas Fuß an und warf einen Blick über ihre Schulter. »Dreh dich nicht um, aber wer ist die mürrische Frau, die zwei Tische weiter sitzt? Sie sieht so aufgebracht aus.«

Wie immer, wenn man jemandem sagte, er solle sich nicht umdrehen, drehte sich Lola natürlich um und sah die Frau an. Sie wandte sich mit enttäuschtem Gesichtsausdruck wieder um, als hätte sie etwas viel Aufregenderes erwartet als eine Frau, die mit ihrem Essen kämpfte. »Oh, sie.« Lola beugte sich nach vorn, um leiser zu sprechen. »Das ist Virginia Hopkins.«

Ich wartete auf mehr, aber Lolas Aufmerksamkeit wurde von den Zuckerpäckchen abgelenkt. »Ich glaube, ich werde dieses Steve-Zeug mal ausprobieren, um zu sehen, ob es dasselbe ist wie Zucker.«

»Ich glaube, es heißt Stevia, und es ist nicht dasselbe wie Zucker. Nur Zucker schmeckt wie Zucker. Also, warum ist Virginia Hopkins so wütend?«

Lola stopfte das hellgrüne Päckchen zurück in den kleinen Keramikbehälter und holte das weiße Zuckerpäckchen heraus. »Keine Ahnung, aber ich wette, es hat etwas mit dem Kürbiswettbewerb zu tun.«

»Ach, wirklich?«

»Ich habe sie vorhin erwähnt. Sie und Beverly sind die beiden größten Kürbisanbauer.« Lolas Kopf neigte sich, um zu zeigen, dass sie leicht verärgert über mich war. »Du hast keine große Aufmerksamkeitsspanne, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nur, wenn ich etwas faszinierend finde.«

Ich saß mit dem Rücken zur Tür, hörte aber, wie sie auf- und zuging. Der vertraute Duft der Küstenluft ging damit einher.

Meine Begleitung setzte sich etwas gerader hin. »Apropos faszinierend. Dreh dich nicht um«, sagte sie leise. (Ich drehte mich natürlich um.)

Frankis neuester Kunde war ein großer, unbestreitbar gut aussehender Mann in den Dreißigern, der ein Button-Down-Hemd, lange Hosen und glänzende schwarze Schuhe trug. Obwohl seine Kleidung ordentlich und gepflegt aussah, waren da gerade genug Bartstoppeln, um ihm ein leicht verwegenes Aussehen zu verleihen. Sein schwarzes Haar war gerade lang genug, um sich am Kragen seines schnörkellosen Hemdes zu locken. Ich war noch dabei, seine Eigenschaften einzuordnen, als ich plötzlich bemerkte, dass sich unsere Blicke trafen. Seine braunen Augen betonten seine verwegene Art. Sein Mund verzog sich zu einem ganz leichten Lächeln, oder vielleicht lag es auch nur an der Art, wie das Licht durch die Fenster des Restaurants fiel.

Ich wandte meinen Blick ab und drehte mich wieder um. Ich nahm eine Serviette, um mir die verlegene Röte aus den Wangen zu fächeln. »Ich fühle mich, als wäre ich gerade dabei erwischt worden, wie ich im Chemieunterricht den Klassensprecher angestarrt habe.« Ich atmete erleichtert auf, als ich hörte, wie sich die Tür zum Restaurant wieder öffnete und schloss.

Lola amüsierte sich köstlich über mich. »Keine Sorge, das ist eine normale Reaktion auf Detective James Briggs. Er strahlt einfach diese selbstbewusste Männlichkeit aus, die die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zieht. Aber er ist ein ziemlich klarer, rein geschäftlicher Typ. Ich habe Gerüchte gehört, dass seine eher steife Persönlichkeit das Resultat eines gebrochenen Herzens ist. Er war für kurze Zeit verheiratet, aber es hat nicht geklappt. Er wohnt drüben in der Nachbarstadt Chesterton. Er ist der leitende Ermittler für den gesamten Küstenabschnitt, der direkt durch Port Danby verläuft.«

»Faszinierend«, sagte ich unbekümmert, obwohl ich immer noch die Wärme in meinen Wangen spüren konnte.

KAPITEL 5

Es war gerade noch genug Sonnenlicht übrig, damit ich nach Hause radeln konnte. Mit etwas Glück und jeder Menge Energie wäre ich drinnen, sobald die frühe Oktobersonne hinter dem Horizont verschwand. Es war eine lange Woche gewesen und ich war froh, dass morgen Sonntag war.

Mir war nicht bewusst gewesen, wie müde ich vom Tag des Ladenaufbaus war, bis ich mit dem Fahrrad die leichte Steigung am Myrtle Place erreichte. Durch meine Arbeit in einer Großstadt hatte ich mich an ein Leben ohne Auto gewöhnt. Da es in der Stadt keine öffentlichen Parkplätze und ein Überangebot an öffentlichen Verkehrsmitteln gab, verursachte der Besitz eines Autos nur ein paar unnötige monatliche Rechnungen. Ich hatte mir einen kompakten blauen Kleinwagen gekauft, als ich aus der Stadt nach Port Danby zog, aber die Stadt war so klein, dass man sich wunderbar mit dem Fahrrad fortbewegen konnte. Ich war überzeugt, dass sich das im Winter ändern würde, wenn kräftige Winde und eisige Regenstürme über die Stadt hereinbrechen würden, aber vorerst wollte ich das herrliche Herbstwetter ausnutzen. Und es half mir, die Kostproben von Elsies Backwaren abzutrainieren.

Myrtle Place war die Hauptstraße, die parallel zur Harbor Lane verlief, doch statt wie die Harbor Lane nach rechts zur Küste und zur Marina abzuzweigen, knickte sie nach links ab und ging in die Maple Hill über. Diese endete schließlich an einem hohen, bedrohlichen Herrenhaus, das aussah, als hätte es seine besten Tage vor vielen Jahrzehnten gesehen.

Myrtle Place, die ihren Namen den Kreppmyrtenbäumen verdankte, die die Straße zu beiden Seiten säumten, verzweigte sich auch in kleinere Seitenstraßen, in denen die meisten Bürger von Port Danby in einer Mischung aus Häusern aller Stilrichtungen lebten. Mein Haus, das ich gekauft hatte, nachdem ich das Geschäft gepachtet hatte, lag in der Loveland Terrace, der letzten kleinen Straße vor der Abzweigung nach Maple Hill. Von meinem kleinen Garten aus hatte ich einen perfekten, ungehinderten Blick auf das verfallene Herrenhaus auf Maple Hill.

Ich radelte an der Graystone Church und dem dazugehörigen rustikalen kleinen Friedhof vorbei. Kingston hatte endlich seine Vogelenergie wiedergefunden und schwebte über mir dahin, wobei er gelegentlich in der Spitze einer Kreppmyrte anhielt, nur um die kleineren Vögel zu ärgern, die ihre Schlafplätze suchten.

Mit Ausnahme einiger bellender Hunde und eines besonders fleißigen Streifenhörnchens war es auf den Straßen relativ ruhig. Ich schloss für eine Sekunde die Augen, atmete tief ein und wackelte mit der Nase, um zu sehen, was die Leute zum Abendessen kochten. Gebratenes Hühnchen vermischt mit Lammcurry, was eine seltsame Geruchsmischung ergab. Die ungenießbare Kombination erinnerte mich an meine Kindheit, bevor ich in der Lage war, meine Hyperosmie zu regulieren.

Der Selbsterhaltungstrieb zwang mich, zu lernen, meinen Geruchssinn zu kontrollieren. Als Kind schaffte ich es kaum, eine Mahlzeit aufzuessen, vor allem, wenn mehr als ein aromatisches Gericht auf meinem Teller war. Wenn ich beschloss, eine Banane als Snack zu essen, und meine Mutter in der Küche eine Zwiebel kochte, dann schmeckte jeder Bissen Banane nach Zwiebel. In der dritten Klasse war ich so dünn, dass die anderen Kinder mich »Strichmännchen-Mädchen« nannten. Meine Eltern machten sich schreckliche Sorgen. Schließlich brachten sie mich zu einer Ärztin, die auf Olfaktion, also die Lehre vom Geruchssinn, spezialisiert war. Dr. Vickers zeigte mir, wie ich meinen Geruchssinn mit meinem Verstand und anderen Sinnen kontrollieren kann. Sie sagte mir, ich sei eine Superheldin und meine Superkraft sei mein Geruchssinn. Das hat mir geholfen, einen Teil des verlorenen Selbstvertrauens zurückzugewinnen. Meine Mutter hat mir zum Spielen zu Hause sogar einen Umhang genäht, auf dem die Buchstaben SN für Super Nase standen.

Ich kam an der Shire Lane vorbei, der letzten Straße vor Loveland Terrace. Mein Haus lag an der Ecke, sodass ich es schon lange sehen konnte, bevor ich meine Straße erreichte. Außerdem konnte ich meinen Nachbarn hören, der die lästige Angewohnheit hatte, von vier bis sechs Uhr im Haus zu hämmern und zu sägen. Ich hatte den geheimnisvoll energiegeladenen und lauten Nachbarn noch nicht gesehen. Wer auch immer es war, es schien, als ob er tagsüber einen Job hatte und nur abends Zeit für die Arbeit an einem Haus hatte, das dringend renoviert werden musste.

Nicht, dass mein kleines Haus ein leuchtender Stern der Nachbarschaft gewesen wäre. Aber es war gemütlich und sah aus wie eine ausgewaschene Lieblingsjeans. Die blassgelbe Außenverkleidung mit ihrem braunen Schindeldach wirkte sonnig und einladend. Am liebsten mochte ich die Veranda, die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Die weißen Balustraden hätten einen guten Anstrich nötig gehabt, aber ich hatte mich für die natürliche Variante entschieden. Ich hatte rund um das Fundament der Veranda rosa Kletterrosen gepflanzt. Mit etwas Glück und einem nicht zu strengen Winter würden die Rosen im nächsten Frühjahr in voller Blüte stehen. Ich hatte den kleinen Vorgarten mit bläulich-grünen Wacholdersträuchern gesäumt. Auf dem Stück Platz zwischen meinem Rasen und der Straße hatte ich dunkelgrüne und elfenbeinweiße Kriechspindeln als Bodenbewuchs gepflanzt. Ich fand, dass alles gut zusammengepasste.

Der wabernde Schatten meiner zahmen Krähe glitt über mich hinweg, als ich mit meinem Fahrrad um die Ecke bog.

»Schauen Sie jetzt nicht hin, aber ich glaube, Sie werden von einer Krähe verfolgt«, rief eine tiefe, nicht gänzlich unangenehme Stimme durch das offene Fenster des Nachbarhauses.

Ich kniff die Augen zusammen, um einen Blick auf die dort stehende Gestalt zu erhaschen, aber das Licht war völlig falsch. Ich konnte nur mein eigenes Haus sehen, das sich in der oberen Scheibe spiegelte. Ich erreichte meine Einfahrt und als mein Vorderreifen die Betonkante berührte, fiel mein Schlüsselbund mitsamt dem Hausschlüssel aus meinem Fahrradkorb.

Kingston, der eine Vorliebe für glänzende Gegenstände hatte (was mich zu der Vermutung führte, dass er in einem früheren Leben ein Taschendieb war), stieß herab und nahm den Schlüsselanhänger mit in seinen Schnabel. Er landete auf der Vorderkante des Daches und hielt triumphierend den silbernen Schlüssel im Schnabel.

»Man sagt, Krähen sind die klügsten Vögel. Ich denke, dieser hier möchte, dass Sie ihn zu sich einladen.«

Ich hatte keine Zeit mehr für die Bemerkungen meines Nachbarn. Ich stieg vom Rad. »Kingston, komm sofort hier runter, sonst kannst du das Abendessen vergessen.«

Die Krähe kam gehorsam herunter, aber ohne die Schlüssel. Sie fielen klirrend in die Regenrinne.

Ich starrte den Vogel an, als er mit seinen langen Krallen am Verandageländer entlang tanzte.

»Na ja, zum Abendessen kriegst du jetzt erst recht nichts. Genauso wie ich anscheinend.« Ich ging die Stufen der Veranda hinauf und blickte in törichter Verzweiflung durch die durchsichtigen Vorhänge am Vorderfenster, um zu sehen, ob Nevermore in der Nähe herumlungerte. Selbst wenn er da wäre – was nicht der Fall war –, hätten seine Katzenpfoten das Schloss natürlich nicht öffnen können.

Ich ging zurück zur Vorderseite der Veranda und hielt mich an der vorderen Säule fest, die die linke Seite des Vorbaus stützte. Ich kletterte auf das Geländer und hoffte, dass es mein Gewicht tragen würde. Ich suchte blindlings in der Regenrinne und rümpfte angewidert die Nase, als meine Finger über nasse, matschige Blätter, und was auch immer sonst noch in die Rinne gelangt sein mochte, streiften. Dann hatte ich Glück. Meine Fingerspitzen streiften etwas Metallisches. Ich zog den Schlüsselbund heraus. In meiner Aufregung hatte ich vergessen, dass ich auf einem zehn Zentimeter breiten Geländer balancierte.

Meine Arme wirbelten durch die Luft wie nutzlose Helikopterrotoren. Ich schnappte erschrocken nach Luft und schloss die Augen, um mich auf den heftigen Schmerz vorzubereiten, der mit Sicherheit folgen würde. Es schmerzte ein wenig, aber nicht stark, und für einen kurzen Moment blieb mir die Luft weg. Ich öffnete langsam meine Augen und fand mich in einem schönen, kräftigen Paar Arme wieder.

Der Mann stieß erleichtert den Atem aus. »Hätte nicht gedacht, dass ich es rechtzeitig schaffe.«

Er stand ein paar Sekunden länger als nötig da und hielt seine tollpatschige Nachbarin in den Armen, bevor er meine Füße auf den Boden stellte. Mein Blick wanderte nach oben und blieb an seinem Gesicht hängen. Es war mitten im Herbst, aber sein Gesicht und seine Arme waren gebräunt, was wahrscheinlich bedeutete, dass er in der Marina arbeitete. Sein dichtes blondes Haar passte erstaunlich gut zu seinen grünen Augen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er. »Natürlich abgesehen davon, dass Sie von einer Krähe gestalkt wurden.«

»Es ist noch alles heil. Und er ist nicht wirklich ein Stalker. Er ist ein Haustier.« Ich lächelte und strich mir nervös die Haare hinter die Ohren, bis ich mich im Stillen daran erinnerte, dass ich achtundzwanzig und nicht zwölf war. Und er war kaum der erste gutaussehende Mann, den ich je getroffen hatte. Obwohl er sicherlich der Erste war, der mich aufgefangen hatte, als ich vom Geländer einer Veranda fiel. Sofern ich den Sturz von einer Eiche in der vierten Klasse nicht mitzählte. Aber bei dieser Gelegenheit hatte Stewart Germaine, mein großer, dünner, aber halbwegs süßer Nachbar, es versäumt, mich aufzufangen, und ich hatte mir das Handgelenk verstaucht.

Der Mann streckte eine große und schön schwielige Hand aus. »Ich bin Ihr Nachbar, Dashwood Vanhouten der Dritte. Aber Sie können auf den langen Namen verzichten und mich Dash nennen.«

»Oh, wow, ja, das ist ein langer Name.« Er hatte einen guten, kräftigen Händedruck. »Ich bin Lacey Pinkerton und Sie können mich Lacey oder Pink nennen. Ich reagiere auf beides.« Das Haus nebenan sah ganz sicher nicht so aus, als sollte es einem Mann namens Vanhouten oder einem Mann gehören, dessen vornehmem Nachnamen das Wort »Dritter« anhing. Vielleicht war es eine Investition. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich frage – womit wurde das Familienvermögen gemacht?«

Sein Lächeln hatte Hollywood-Kinoqualität. »Welches Familienvermögen?«

»O–oh«, stotterte ich, auf der Suche nach einer Möglichkeit, meinen sozialen Fauxpas noch irgendwie geradezubiegen.

Dash lachte und verdammt, wenn das nicht einfach gut zu seinem Leinwandlächeln passte. »Ist schon in Ordnung. Jeder geht einfach davon aus, dass mit dem Namen ein Vermögen verbunden ist. Genau aus diesem Grund hat mein Vater ihn erfunden. Er hat seinen eigenen Namen offiziell in Dashwood Vanhouten der Zweite geändert, weil er dachte, dass dieser Name an seiner Bürotür vornehmer aussah als Darren Vooten.«

Ich blinzelte ihn verwirrt an. »Der Zweite? Ich verstehe nicht. Wenn er sich den Namen ausgedacht hat, wer war der erste Dashwood Vanhouten?«

Er schüttelte den Kopf. »Es gab keinen. Dad fand einfach, dass ›der Zweite‹ ihn wie einen Teil eines wichtigen Familienerbes erscheinen ließ.«

Ich nahm die Geschichte mit dem Namen für ein paar Sekunden in mich auf und lachte dann. »Ich habe den Mann noch nicht getroffen, aber ich mag ihn jetzt schon.« Mir drehte sich vor Entsetzen der Magen um. »O mein Gott, lebt er noch? Ich habe es einfach wieder angenommen, eine Angewohnheit, die ich offensichtlich aufgeben muss.«

»Keine Sorge. Dashwood Vanhouten der Zweite ist am Leben und wohlauf und lebt in Ohio.«

Kingston krächzte vom Verandageländer herab, um uns laut an das Abendessen zu erinnern.

»Ich sollte meinen Vogel reinlassen, bevor er anfängt, allen Nachbarn Angst zu machen.«

»Stimmt. Und ich glaube, ein weiteres Haustier wartet auf Sie.«

Ich folgte seinem Blick aus funkelnden grünen Augen zum Vorderfenster. Nevermore hatte seine dicken Vorderpfoten auf dem Fensterbrett und sein großer Kopf drückte die Vorhänge weg.

»Das ist Nevermore, mein grauer Tigerkater.«

Dash hob fragend die Augenbraue. »Nevermore?«

»Ja, ich bin ein großer Fan von Edgar Allen Poe.«

Dash verschränkte nachdenklich die Arme und blickte von der Krähe zur Katze und wieder zurück zu mir. »Aber Sie haben eine große schwarze Krähe, eine Art Rabe. Und Sie haben die Katze Nevermore genannt?«

»Ja.« Ich lächelte. »Anders als die Katze hat die Krähe ihren Namen selbst gewählt. Ich wohnte neben einem älteren Herrn, der auf einer alten Stereoanlage aus der Mitte des Jahrhunderts Platten des Kingston Trios aufdrehte. Kingston liebte die Musik, also beschloss ich, ihn nach der Band zu benennen.«

Dash nickte, sah aber immer noch etwas verwirrt aus. »Gut. Ich denke, ich werde mich wieder meiner Arbeit zuwenden.« Bevor er einen weiteren Schritt machte, deutete er zurück auf Kingston. »Wie sind Sie überhaupt zu einer Krähe als Haustier gekommen?«

»Ich habe ihn nach einem heftigen Regensturm dem Tode nahe aufgefunden und ihn wieder gesund gepflegt. Ich habe ihn wieder in die freie Wildbahn entlassen, aber eine Woche später stand er wieder vor meiner Tür.«

»Das ist süß. Also hat er Sie vermisst?«

»Das glaube ich gern, aber ich bin ziemlich sicher, dass er wegen meiner belgischen Waffeln zurückgekommen ist. Ich bin ziemlich geschickt mit einem Waffeleisen.«

»Schön, Sie kennenzulernen, Lacey«, sagte mein gutaussehender neuer Nachbar lachend, bevor er zu seinem Haus zurückkehrte.

KAPITEL 6

Nevermore leckte jedes bisschen Futter aus seinem Keramiknapf und streckte seine grau gestreiften Pfoten nach vorne, um herzhaft zu gähnen. Es war sein »Wir sehen uns später«-Gähnen, bevor er sich auf dem Sofa zusammenrollte, um sein dreiundzwanzigstündiges Nickerchen zu beenden.

Kingston hatte sich längst für die Nacht zurückgezogen. Über seinem Käfig hing ein dunkles Laken, damit er mich nicht im Morgengrauen mit einem ohrenbetäubenden »Guten Morgen«-Krächzen weckte.

Der Mond war fast voll, und der Anblick, wie er sich kitschig gelb vor dem dunkelblauen Nachthimmel abhob, lockte mich auf die Veranda. Ich schnappte mir klugerweise eine Decke und legte sie mir über die Schultern. Draußen an der Küste war es nachts deutlich kälter. Der übliche nächtliche Nebel hatte sich erst spät gelegt und ermöglichte einen herrlichen Blick auf die Lichter der Marinas. Lola hatte erklärt, dass das Licht im Pickford-Leuchtturm kaum noch brannte, weil es entlang der Küste weitaus modernere und leistungsfähigere Leuchttürme und Warnglocken gab. Aber ich hatte den Lichtkreis durch wirklich dichten Nebel gesehen, der einen fast neonartigen Schimmer durch die dicke, salzige Feuchtigkeit warf, und mindestens einmal war ich durch das leise, traurige Heulen des Nebelhorns aus dem Schlaf gerissen worden.

Eine Kolonne aus drei Autos voller lachender Teenager und dröhnender Musik kam die Maple Hill herunter. Es war mir nicht entgangen, dass eine übermäßige Anzahl von Autos eine Straße entlangfuhr, die nirgendwohin führte, außer zu einem verlassenen alten Herrenhaus.

»Das alte Hawksworth Manor ist ein beliebter Treffpunkt für die Kids.« Dashs tiefe Stimme war mir bereits vertraut.

Ich beugte mich nach vorne und blickte in Richtung seines Gartens. Er stand auf dem Rasen vor dem Haus und wartete darauf, dass ein großer, zotteliger Hund sein Geschäft erledigte. »Das ist übrigens Captain. Aber keine Sorge. Er jagt keine Katzen. Was die Krähe betrifft, kann ich allerdings nichts versprechen, denn ich habe gesehen, wie er sich kopfüber in einen Schwarm ruhender Möwen gestürzt hat.«

Ich war überrascht und nicht unbedingt enttäuscht, meinen neuen Nachbarn wiederzusehen. Er kam herüber und setzte sich neben mich auf die Stufe der Veranda. Captain trottete herüber und ließ sich auf den Boden fallen.

»Was ist die Geschichte hinter diesem Herrenhaus?«, fragte ich. »Es sieht aus, als ob es viele Jahre her ist, seit sich dort jemand niedergelassen hat.«

»Sie meinen, Sie haben die üble Geschichte von Hawksworth Manor noch nicht gehört?«

Ich sah ihn an. »Nein, aber dem enthusiastischen Tonfall Ihrer Stimme nach zu urteilen, scheint es, als würde ich sie gleich hören.«

»Das werden Sie. Aber um es richtig zu machen, muss ich stehen und den Mond im Rücken haben.« Er stand auf. »Heute ist es hundert Jahre her, mehr oder weniger ein paar Jahre … und eigentlich sogar Monate.«

»Also, vor einiger, langer Zeit?«

»Richtig. Wie auch immer, es war eine regnerische Nacht, und der Himmel war von Donner und Blitz erfüllt.«

Ich kniff ein Auge zu. »Fügen Sie das unheimliche Wetter hinzu, um die Wirkung zu verstärken?«

Seine breiten Schultern fielen herab. »War es so offensichtlich?«

»Nun, nach der Sache mit heute vor hundert Jahren höre ich der ganzen Geschichte mit einer gewissen Skepsis zu.«

Dash lehnte mit einem lauten, tiefen Lachen seinen Kopf zurück, woraufhin Captain für einen kurzen Moment aufhörte zu schnarchen.

Er schnappte nach Luft. »Ich komme gleich zum Wesentlichen. Die Hawksworths waren eine reiche Familie, der diese gesamte Seite von Port Danby gehörte. Es gab ein Ehepaar, Bertram und Jill, und drei Kinder, alle unter fünfzehn Jahren. Man sagt, es war ein Mord-Selbstmord. Das einzige Motiv, das die Polizei damals feststellen konnte, war Eifersucht. Es wurden jedoch nie handfeste Beweise dafür gefunden. Offenbar war der alte Bertram davon überzeugt, dass Jill eine Affäre mit dem Gärtner hatte. In einem Wutanfall erschoss er seine Frau und seine drei Kinder, als diese im Wohnzimmer saßen und lasen und Karten spielten. Dann richtete Bert die Waffe gegen sich selbst und bumm, eine Familie Hawksworth war für immer vom Erdboden verschwunden.«

»Oh, das ist furchtbar. Diese armen Kinder. Warum lässt die Stadt das alte Haus stehen? Mit dieser Art von Geschichte würde niemand jemals darin leben wollen.«

Dash setzte sich wieder hin. Ich erlaubte mir eine schnelle Einschätzung seines Shampoos, seiner Seife und seines Aftershaves. Alles männliche Düfte mit einem Hauch von Würze. »Damit haben Sie recht, aber es ist zu einem beliebten Ziel für Touristen und insbesondere Geisterjäger geworden. Im Hinterhof steht ein Gärtnerschuppen, in dem einige der blutigen Bilder und andere gruselige Artefakte ausgestellt sind. Die Eintrittskarte für den Innenbereich kostet fünf Dollar und das Geld fließt in die Stadtkasse. Dieser Ort sieht vielleicht aus, als wäre er einem düsteren Serienkillerfilm entsprungen, aber für Port Danby ist er eine Goldgrube.«

»Wow, ich kann nicht glauben, dass das das erste Mal war, dass ich davon gehört habe. Allerdings war ich auch furchtbar beschäftigt damit, einen Laden aufzubauen.«

»Ein Blumenladen, oder?«

»Ja, und ich eröffne in zwei Wochen. Ich bin deswegen etwas nervös, aber ich glaube, das liegt einfach daran, dass ich so etwas noch nie zuvor gemacht habe.«

Dash erhob sich wieder. Er sah sehr … nun ja … in Ermangelung eines besseren Wortes … seinem Namen entsprechend schneidig aus, sogar gekleidet in verwaschenen Flanell und Jeansstoff. »Ich denke, Sie werden das großartig machen. Ich bin froh, dass Sie hier sind, Lacey. Gebildet, schlau, ein guter Sinn für Humor und eine Krähe als Haustier. Ich denke, Sie sind genau das, was diese Stadt braucht.«

KAPITEL 7

Ich hatte den ganzen Sonntag damit verbracht, zu faulenzen, und kam zu dem Schluss, dass ein wenig Bewegung nicht schaden würde. Eine Radtour am frühen Morgen entlang der Culpepper Road, vorbei an der idyllischen Landschaft mit den Familienfarmen, war genau das, was ich brauchte, bevor ein weiterer Tag des Aufbauens anstand. Die Ostseite der Straße war von hohen, üppigen Lorbeerhecken gesäumt. Sie bildeten eine leuchtend grüne Schutzmauer. Riesige Sträucher aus Fackellilien vermischten sich mit den Hecken. Ihre typischen feurig roten und gelben Blütenstände waren in den langen Sommerstunden längst verwelkt, aber die dünnen Stiele und Blätter standen noch stolz aufgerichtet da und warteten auf die nächste Blütezeit. Stellenweise säumten kräftig orangefarbene Korkadenblumen, eine lang blühende Pflanze, die noch immer viel Farbe zeigte, in unordentlichen Büscheln die Straßenränder.

An der Westseite der Straße reihten sich malerische Bauernhöfe mit rustikalen roten Scheunen und Hühnern aneinander, die auf den Weiden nach Insekten pickten. Auf einem freundlich aussehenden Gehöft mit einem weißen Bauernhaus und einem fröhlich grünen Hühnerstall lehnte ein großes handgemaltes Schild an einem Briefkasten, der mit schwarzen und weißen Kuhflecken bemalt war. Ich fuhr auf die Westseite der Straße, um es zu lesen.

»Frische Bio-Eier, vier Dollar das Dutzend.«

Perfekt. Kingston liebte hart gekochte Eier. Da ich im Laden keinen Platz hatte, um sie aufzubewahren, nahm ich mir vor, auf dem Heimweg an der Farm vorbeizufahren. Clevererweise hatte ich vorne an meinem Fahrrad einen praktischen Korb angebracht.

Als ich an einer Straße namens Dawson Grove vorbeiradelte, sah ich aus dem Augenwinkel etwas Orangefarbenes. Ich beschloss, einen kleinen Abstecher entlang der Straße zu machen, um die Kürbisfelder zu bewundern. Das erste Haus, an dem ich vorbeikam, hatte einen Kürbisgarten, der direkt hinter der hinteren Veranda zu beginnen schien. Er erstreckte sich ausgedehnt über den gesamten Hof bis hin zu einer Weide, auf der mehrere Ziegen grasten. Eine große Vogelscheuche war, seltsamerweise, mit einem Feuerwehrmantel und einem Feuerwehrhelm bekleidet. Das gefiel mir. Um einen bestimmten Kürbis, einen riesigen, dunkelorangen Kürbis, war ein schmaler Zaun errichtet worden. Ich kam zu dem Schluss, dass es sich um einen der Preiskürbisse handeln musste, der für den Wettbewerb verhätschelt und geschützt wurde.

Ein dichter Rand aus violetten und weißen Wandelröschen trennte die beiden Bauernhöfe in Dawson Grove. Ich radelte daran vorbei zum nächsten Bauernhof mit seinem ebenso beeindruckenden Kürbisfeld und der noch beeindruckenderen Vogelscheuche. Diese Vogelscheuche trug einen schwarzen Zylinder, einen Gehrock und eine weiße Krawatte. Sogar Kingston, der sich normalerweise nichts aus Vogelscheuchen machte, würde bei der Mr. Darcy Vogelscheuche vielleicht einen zweiten Blick riskieren. Ich hatte die Vogelscheuche bewundert und dabei nicht die Frau bemerkt, die das Feld umkreiste. Sie trug eine grüne Leinenschürze und eine Bluse mit rosa Blumen, das süße Gärtner-Outfit einer älteren Dame, nur war da etwas nicht ganz so Süßes an ihrem Benehmen. Sie sah genauso verärgert aus wie die Frau, die im Restaurant ihr Steak zerhackt hatte. Ihre Gartenschuhe trafen so hart auf den Boden, dass ihr eine Staubwolke folgte.

»Morgen«, sagte ich fröhlich und hoffte, ihrem Tag einen kleinen Lichtblick zu verleihen. »Ich mag Ihre Vogelscheuche.«

Ihr Strohhut bewegte sich leicht, als sie in meine Richtung blickte. Sie murmelte etwas wütend vor sich hin und marschierte zurück zu ihrem Haus. Es schien, als hätte ich meinen ersten unfreundlichen Einheimischen getroffen.

Ich beschloss, dass mein Umweg über das Kürbisfeld zu Ende war, und drehte mein Fahrrad um, um zurück zur Culpepper Road zu fahren. Als ich an dem Feld und der hübsch gekleideten Vogelscheuche vorbei zurückfuhr, bemerkte ich, dass auf der Seite des paketgroßen Briefkastens, der auf einem schrägen Pfosten stand, der Name Kent aufgedruckt war. Ich war sicher, dass Lola den Namen Kent erwähnt hatte, als sie vom Kürbiswettbewerb sprach.

Ich blickte mich am Himmel und in den umliegenden Bäumen nach einem vertrauten schwarzen Vogel um, aber Kingston hatte offensichtlich beschlossen, heute seinen eigenen Weg zur Arbeit zu nehmen. Ich war noch nicht bereit, im Laden zu stehen und Vasen nach Größe und Farbe zu sortieren, also bog ich in Richtung Süden auf die Culpepper Street ab und fuhr in Richtung Strand.

Der Blick auf den Pickford-Leuchtturm mit seiner puderweißen Außenverkleidung und der glänzenden schwarzen Kappe war bei weitem der idyllischste in Port Danby. Ich bedauerte nur, dass ich ihn von meinem Geschäft aus nicht sehen konnte. Dennoch konnte ich an einem klaren Tag, wenn ich mehrere Schritte die Harbor Lane hinunterging, einen halben Meter nördlich von Lola’s Antiques stand und meinen Körper dann genau im richtigen Winkel drehte, um über die Lorbeerhecke auf der Culpepper Road hinwegzusehen, eine leicht verdeckte Postkartenansicht des gedrungenen kleinen Turms mit seiner spitzen schwarzen Kappe und dem großen gelben Licht erhaschen.

Es versprach ein strahlend blauer Tag zu werden. Ich beschloss, die Küste ein wenig zu erkunden, bevor ich in den Laden ging. Ich könnte mich wirklich daran gewöhnen, mein eigener Chef zu sein.

Die frühmorgendliche Luft war noch kalt. Ich hielt an, um den Reißverschluss meines Sweatshirts zu schließen, bevor ich meine Füße wieder auf die Pedale stellte.

KAPITEL 8

Ich fuhr mit dem Fahrrad von der Culpepper Road zur Pickford Way. Eine scharfe Rechtskurve führte mich vorbei am Pickford Beach – dem Stadtplatz und der Motelkette. Das Büro des Bürgermeisters lag unauffällig an der äußersten Westseite des Stadtplatzes.

Abgesehen von ein paar Männern mit Metalldetektoren und einer Frau, die die Möwen fütterte, war der Sand leer. Die Badesaison war vorbei, aber das hielt Wochenendbesucher nicht davon ab, in der Stadt zu bleiben. Ich hielt an dem Aussichtspunkt an, von dem aus man mit der richtigen Kamera und etwas Geschick herrliche Bilder der Küste machen konnte. Graue Granitfelsen, durchzogen von gelegentlichen schwarzen Schieferstücken, bildeten die steilen Klippen, die unterhalb des Leuchtturms abfielen.

Ich fuhr bis zu einem recht fragilen Metallgeländer und spähte hinüber. Ein Schwindelgefühl überkam mich, als ich die steile Klippe hinunterblickte, und ich rollte mein Fahrrad vorsichtig vom Rand zurück. Ein kleines Schild mit rot aufgemalten Buchstaben warnte die Besucher davor, über das Geländer zu klettern oder am Rand der Klippe entlang zu laufen. Das würde für mich kein Problem sein. Die Felsvorsprünge darunter würden aus keiner Höhe eine angenehme Landung bieten.

Ich zog mein Handy heraus, um ein Foto vom Leuchtturm zu machen. Mein Vater würde sich darüber freuen. Vor meiner Geburt hatte er vier Jahre in der Marine gedient. Er hatte seine Liebe zum Meer und allem, was dazugehörte, einschließlich des Angelns, nie verloren.

Ich starrte hinauf zu dem gedrungenen weißen Turm, der stolz auf seinem grünen Hügel stand. Den Leuchtturmwärter hatte ich noch nicht kennengelernt, aber ich hatte gehört, dass er dauerhaft in dem Cottage direkt unter dem Leuchtturm wohnte. Die Außenseite des Cottages war mit einem puderweißen Anstrich versehen und passte zum Leuchtturm, das steile Dach war jedoch mit ziegelroten Ziegeln gedeckt.

Ich machte ein paar weitere Bilder des Leuchtturms aus verschiedenen Winkeln. Es war ein so einfaches, schlichtes Bauwerk, und doch versetzte es mich irgendwie zurück in eine romantischere Zeit, als gewiefte Handelsmatrosen und wilde Freibeuter in großen Segelschiffen die Meere bereisten.

Von der Marina ertönte ein Pfiff, der bis zum Leuchtturm herüberdrang. Ich drehte mein Fahrrad um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab, um zu sehen, woher das Geräusch kam. Es schien, als würde ich wieder meinem Nachbarn Dash begegnen.

Ich fuhr zurück zur Marina. Noch vor fünfzig Jahren war das Gebiet ein Anlegeplatz für Industrieschiffe gewesen, doch als die größeren Häfen in der Nähe das Geschäft von Port Danby übernahmen, baute die Stadt das Küstengebiet um und verlagerte ihren Fokus auf den Tourismus als Haupteinnahmequelle. Es war eine gute Entscheidung gewesen. Es gab kaum eine schönere, einladendere Küstenlandschaft in einem Umkreis von hundert Meilen.

Entlang des Anlegeplatzes verlief eine lange Reihe paralleler Docks, an denen Stationen zum Fischsäubern eingerichtet worden waren. Es gab einen Fahrradverleih und einen Imbiss, der stolz damit prahlte, den besten Krabbensalat der Welt anzubieten. Ein Angelsteg, ein Fischladen und das seichte, algenbedeckte Wasser einer Marina hätten meinen Geruchssinn leicht überwältigen können, wenn ich es zugelassen hätte.

Meine Hände rutschten fast vom Lenker, als meine Reifen über die rauen, holpernden Planken des Docks ratterten. Ich bog an einer der kurzen Seitenstraßen ab, die vom Hauptdock abzweigten. Die weiter entfernten Liegeplätze waren größtenteils mit Freizeitbooten belegt. Die Boote, die näher an den Fischreinigungsstationen angelegt hatten, waren Fischerboote.

Dash winkte vom Deck eines offenbar teuren Vergnügungsbootes. Es war leicht zu unterscheiden, da es einen glänzenden Lackrumpf und ein poliertes Teakholzdeck hatte, während die Fischerboote, die näher am Dock angelegt hatten, wo Spaziergänger den weltbesten Krabbensalat genießen konnten, im Vergleich dazu wie rostige Blechdosen aussahen.

Dash trug einen Werkzeuggürtel, und die Seite seiner rechten Hand war mit schwarzem Schmieröl bedeckt.

Ich stieg von meinem Fahrrad und blinzelte zu ihm hoch und stellte fest, dass er aus jedem Blickwinkel angenehm anzusehen war. »Ich dachte, es gäbe kein Familienvermögen, und doch stehst du hier auf einem schicken Boot.«

»Ja, und wenn dieses schicke Boot doch nur mir gehören würde. Wenn ich nicht gerade hämmere und meine Nachbarn in den Wahnsinn treibe, repariere ich Boote. Und verdiene tatsächlich Geld mit meiner Arbeit – im Gegensatz zu der, die ich zu Hause verrichte.«

»Sie müssen Lacey sein, das Blumenmädchen von Pink’s Flowers«, sang eine Stimme von ein paar Booten weiter. Eine Frau schwang ihr Bein über die Seite eines Fischerbootes und sprang mit Gummistiefeln auf den Steg. Sie war eine stämmige Frau mit runden, apfelroten Wangen. Ihr gelber Regenmantel quietschte bei jedem ihrer Schritte. Ihr Kiefer mahlte wild über einem Klumpen Tabak oder Kaugummi, während sie auf uns zu kam. Ich war erleichtert zu sehen, dass es Letzteres war. Pfefferminz, meiner Nase nach.

Sie streckte die Hand aus. Ihr Griff war kräftig … und eisig. »Sorry wegen der kalten Hände.« Sie rieb sie aneinander. »Ich habe gerade auf dem Boot geholfen.« Ihre Fingernägel erregten ihre Aufmerksamkeit. »Oh, sieh mal einer an.« Sie hielt mir eine Nahaufnahme der winzigen Palmen entgegen, die jemand mit großer Sorgfalt auf ihre Nägel gemalt hatte. »Hab eine Palme verloren. Wahrscheinlich irgendwo in dem Haufen Fischreste, den ich für die Möwen rausgeworfen habe.« Die kunstvoll bemalten Nägel passten nicht ganz zu der rauen, resoluten Art der Frau.

»Ich kann mir vorstellen, dass Maniküren hier am Dock nicht lange halten. Wie Sie schon sagten, ich bin Lacey, die Besitzerin des Blumenladens.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Theresa, und der glatzköpfige Mann mit dem langen grauen Bart da vorne am Bug ist mein Mann William, aber die meisten nennen ihn Willy.«

Ich hatte mittlerweile so viele Leute kennengelernt, dass es schwer war, sich alle Namen zu merken, aber Lola hatte mir während ihrer langen Erzählung über den Absolventenring von Willy und Theresa erzählt.

»Was führt Sie heute Morgen zum Dock?« Theresa schaffte es, zwischen jedem zweiten Wort Kaugummi zu kauen. Sie hatte diese Fähigkeit offenbar perfektioniert, was mich glauben ließ, dass sie sehr oft Kaugummi kaute. Mir wurde der Kiefer müde, als ich ihr zusah.

»Ich mache nur ein wenig Sport, aber ich muss zurück in den Laden.«

»Sie sollten zuerst meinen Mann kennenlernen.« Bevor ich antworten konnte, rief sie über den Steg. »Will! Komm und triff die Blumenladenfrau!« Es gab keine Antwort. Sie versuchte es noch einmal und schaffte es diesmal, eine Reihe Tauben von der Reling eines nahegelegenen Bootes aufzuschrecken.

Auf Williams glänzendem Kopf saß jetzt ein Schlapphut. Er beugte sich über die Reling seines Bootes und winkte. Das war die einzige Begrüßung, die ich brauchte. Es war schwer, den wettergegerbten, bärtigen kleinen Mann mit dem Bild einer Highschool-Liebe oder eines heimlichen Flirts in Verbindung zu bringen, aber was wusste ich schon über die Liebe?

»Hey, Lacey«, rief Dash von hinten. Er stand am Bug des glänzenden Luxusboots und zeigte auf einen hohen Mast des Schiffes, das gegenüber am Dock vertäut war. »Ist das nicht Ihr Vogel?«

Ich schirmte meine Augen ab und sah kurz zu der Krähe hinauf. »Ja, er versucht mich daran zu erinnern, dass ich zur Arbeit muss.«

Ich rollte mein Fahrrad näher an das Boot, auf dem Dash stand. Er stützte seine Unterarme auf die Reling und lächelte auf mich herab. »Ich dachte, er suchte vielleicht nach einem Krähennest

»Sehr clever.«

»Danke. Daran habe ich in den letzten paar Minuten gearbeitet.«

Ich deutete mit dem Daumen über meine Schulter. »Nun, ich muss zurück zum Laden.«

»Er sieht gut aus. Hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich habe durch die Fenster gespäht, während ich einen von Elsies Streuselkuchen gegessen habe. Ich wollte mich an einen ihrer Tische setzen, aber sie war damit beschäftigt, sie umzustellen. Sie muss jeden Tisch und Stuhl ein Dutzend Mal verschoben haben, bevor ich den letzten Bissen Streuselkuchen gegessen hatte. Sie war nicht so fröhlich wie sonst. Ich glaube, sie hat vielleicht die Vanille probiert.«

Ich seufzte. »Nein, es ist nicht die Vanille, aber ich denke, ihre Laune ist meine Schuld. Ich habe ihr nicht erlaubt, die Tische vor meinem Laden aufzustellen. Jetzt scheint sie von ihnen besessen zu sein. Ich gehe besser rüber. Ich möchte nicht, dass sie verärgert ist. Danke für den Hinweis.«

»Kein Problem. Schönen Tag noch, Nachbarin.«

»Ihnen auch, Dash.«

KAPITEL 9

Ich konnte das Kratzen der Metallfüße eines Stuhls über den Beton hören, lange bevor ich die kleine Ansammlung von Geschäften erreichte. Lester war im Coffee Hutch. Seine Tische und Stühle standen unbehelligt in der Morgensonne. Das vordere Fenster seines Ladens stand weit offen und seltsamerweise hatte er einen kleinen Ventilator auf den Sims gestellt. Er drehte sich und rotierte, während er Wellen von reichhaltigem Kaffeearoma auf die Straße sandte. Ich entdeckte einen Hauch von Mandeln im Duft einer mittleren Röstung.

Das metallische Kratzen auf Beton lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Nachbarin auf der gegenüberliegenden Seite. Elsie trug Laufshorts unter ihrer Rüschenschürze und lehnte sich zurück, um die Tischanordnung zu studieren. Ich stellte mein Fahrrad vor dem Blumenladen ab und ging zu ihr rüber.

Elsie hörte mich kommen, sah aber nicht auf, als sie sprach. »Ich habe Angst, dass die Sonne nach zehn zu hell für diesen Tisch ist.«

»Ich denke nicht, dass das ein Problem sein wird, aber Sie könnten die Stühle weiter zum Laden hin drehen. Es ist so ein hübscher Laden.« Ich hoffte, mein Kompliment würde ein Lächeln hervorrufen, und das tat es. Aber es war kaum übertrieben.

Wenn man einem Gebäude jemals eine Ähnlichkeit zu einem Cupcake zuschreiben könnte, dann wäre es die Sugar and Spice Bakery. Elsie hatte das Gebäude in einem Buttergelb streichen lassen, einer Farbe, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, obwohl sie auf Ziegel und Putz verteilt war. Das leicht gewölbte Frontfenster war mit bonbonfarbenen Streifen in Blaugrün und Weiß verziert. Bauschige Spitzenvorhänge bildeten einen rüschenbesetzten Rahmen für das gleichermaßen charmante Ladeninnere. Die Buchstaben, die den Kinderreim-ähnlichen Namen der Bäckerei bildeten, waren in der gleichen erdigen blaugrünen Farbe.

Ich ging hinüber und legte eine Hand auf Elsies Schulter. »Ihre Kunden stehen Schlange für Ihre leckeren Backwaren. Ehrlich gesagt, mit Leckereien wie Ihren würden die meisten Leute glücklich sein, auf einem zerknüllten, nassen Stück Zeitung auf dem Bürgersteig zu sitzen, solange sie einen Ihrer saftigen Brownies in den Fingern hätten.«

»Danke, Pink. Und ich habe Ihr Kürbisbrot nicht vergessen. Ich habe eine schöne Schicht gesüßten Frischkäse hinzugefügt. Ich denke, es wird Ihnen schmecken. Es kühlt gerade ab.«

»Perfekt. Ich kann es kaum erwarten.« Ich nahm meinen Schlüssel aus dem Fahrradkorb und öffnete die Tür. Das Flügelschlagen hinter mir erinnerte mich daran, mich zu ducken. Kingston stürzte herab und landete auf seinem Fensterplatz. Als ich Kingston sah, erinnerte ich mich an meinen Plan, über die Culpepper Road nach Hause zu fahren, um ein Dutzend frische Eier zu holen. Wenn ich nach zwei langen Radtouren und einem Tag Ladenaufbau noch Energie hätte, dann würde ich zum Abendessen eine Frittata machen. Sobald ich herausgefunden hatte, wie ich meine Hyperosmie kontrollieren konnte, hatte ich meine Freude am Essen wiederentdeckt. Durch Rühren, Backen, Anbrennen und gelegentliches Übersalzen habe ich es geschafft, eine halbwegs gute Köchin zu werden.

Ich schlüpfte in mein kleines Büro, das eigentlich eher einer Abstellkammer glich, und checkte meine E-Mails. Featherton Nursery, eine Baumschule in der Nachbarstadt Chesterton, hatte die Lieferung von sechs Schalen mit orangefarbenen und gelben Ringelblumen bestätigt. Als ich mit der Verkäuferin telefonierte, erwähnte sie, dass sie vom Sommer noch sechs Schalen mit Ringelblumen übrig hätten und dass diese überraschenderweise immer noch blühten. Da es aber das Ende der Ringelblumensaison war und diese nur noch ein paar letzte Farbtupfer hatten, bot sie sie mir zum halben Preis an. Ich beschloss, dass eine kostenlose Ringelblume im Topf das perfekte Geschenk zur Eröffnung wäre. Ich hatte kleine rosa Töpfe gekauft, auf deren Seitenwänden Pink’s Flowers aufgedruckt war. Es war mein erster echter Marketingversuch, und ich war ziemlich zufrieden mit mir selbst.

Ich war noch nicht ganz mit dem Auspacken der bunten Vasen fertig, die ich für Blumenarrangements gekauft hatte, als Elsie mit einem kleinen Pappteller hereingeeilt kam, der sich unter dem Gewicht eines kleinen Laibs Kürbisbrot bog.

Mein ausgeprägter Geruchssinn ermöglichte es mir, Dinge zu schmecken, lange bevor sie meine Lippen erreichten. Zimt, Nelken und Muskatnuss tanzten einen kleinen Tanz durch meine Nase und hinunter in meinen Rachen. »Ich freue mich so darauf, Elsie. Ich habe heute Morgen eine lange Radtour gemacht und bin ausgehungert.«

Elsie wartete mit angehaltenem Atem, als ich den ersten Bissen nahm. Eine feuchte, krümelige Lawine aus würzigem braunem Zucker und Kürbis füllte meinen Mund. »Hmm, sogar noch besser als ich erwartet hatte, und glauben Sie mir, ich habe es erwartet. Und Sie haben Recht, die Schicht aus süßem Frischkäse setzt dem Ganzen die Krone auf. Jetzt bin ich froh, dass ich die Radtour gemacht habe, denn ich habe vor, jeden Bissen davon aufzuessen.«

Elsie wirkte zufrieden mit sich und die Frage der Tischordnung schien sie völlig vergessen zu haben. »Sie sollten Ihre Laufschuhe mitbringen. Wir könnten die Runde irgendwann einmal gemeinsam laufen.«

Ich lachte. »Nein, danke. Ich glaube, diese Blamage erspare ich mir. Außerdem müssten Sie mich wahrscheinlich auf Ihrem Rücken nach Hause tragen.«

Ich hatte noch nicht geöffnet, aber die Tür flog auf, und mein primitives Alarmsystem, bestehend aus einer rostigen Ziegenglocke, hallte durch den Laden. Ich hatte Bürgermeister Price schon einmal gesehen, aber wir waren einander nie offiziell vorgestellt worden. Es schien, als wäre der Moment gekommen. Sein buschiger Schnurrbart war nicht besonders symmetrisch und zuckte, als er sich im Laden umsah. Von dem säuerlichen Zug seines Mundes, der unter dem grauen Schnurrbart kaum sichtbar war, schien es, als hielte er nichts von meinem Geschmack. Was aber nicht weiter schlimm war, wenn man bedachte, dass der Mann einen dunkelgrünen Anzug aus Polyestermischgewebe trug, der ihm mindestens eine Nummer zu klein war. Besonders leid tat mir der Knopf, der über seinem dicken Bauch nur mit Mühe geschlossen blieb.

»Harlan«, sagte Elsie enthusiastisch, doch ein finsterer Blick des Bürgermeisters veranlasste sie dazu, ihre Begrüßung abrupt zu ändern. »Natürlich, Bürgermeister Price, wie geht es Ihnen? Haben Sie Port Danbys neueste Bürgerin, Lacey Pinkerton, kennengelernt? Ist ihr Laden nicht wunderschön?«

Er grunzte als Antwort auf ihre letzte Frage und trat für einen kurzen Händedruck vor. Ich setzte mein bestes Lächeln auf. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Bürgermeister Price.«

Der Bürgermeister nickte, als würde er der Aussage zustimmen, dass es schön war, ihn kennenzulernen. Bisher war das nicht der Fall und als auf sein Nicken ein ziemlich unverschämter Blick auf mein Gesicht folgte, musste ich mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht auf seine Unhöflichkeit hinzuweisen. Vielleicht war er nur etwas gewöhnungsbedürftig. Schließlich war er ein Politiker. Irgendwann im Laufe unserer unzähligen Gespräche hatte Lola erwähnt, dass Bürgermeister Price die vierte Generation der Price-Bürgermeister sei. Sie gab an, dass der Grund hauptsächlich darin liege, dass sich sonst niemand für die Stelle interessierte.

Bürgermeister Price neigte leicht seinen Kopf und schien auf meine Nase fokussiert zu sein.

Instinktiv griff ich nach oben, um sicherzustellen, dass sie nicht mit den Zimtstreuseln von Elsies Kürbisbrot bedeckt war. Was meine Nase betraf, schien alles in Ordnung zu sein.

»Entschuldigen Sie, Bürgermeister Price, gibt es etwas in meinem Gesicht, das ich wissen sollte?«

»Äh, nein.« Er richtete sich auf und wandte seinen Blick von meiner Nase ab. »Ich habe nur versucht zu verstehen, wie Sie zu dem Spitznamen ›Millionen-Dollar-Nase‹ gekommen sind. Sie sieht für mich wie eine gewöhnliche Nase aus.«

Elsie lachte, unterbrach sich jedoch, als er sie finster ansah. »Meine Güte, Harlan, ich meine, Bürgermeister Price, wo um Himmels willen haben Sie das gehört?«

Ich sah Elsie an. »Offenbar hat Bürgermeister Price ein wenig Recherche über den neuesten Bürger von Port Danby betrieben.« Ich sah ihn fragend an und zog eine Augenbraue hoch.

Er spielte eine Sekunde lang nervös an der Knopfleiste seines Mantels herum, dann stammelte er eine Entschuldigung. »Ich nehme meine Aufgabe, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen, sehr ernst. Man kann nie vorsichtig genug sein.«

»Ja, natürlich.« Ich versuchte, den Sarkasmus nicht zu stark durchsickern zu lassen.

Kingston gab ein gurrendes Geräusch von sich und signalisierte damit, dass er ein Stück Kürbisbrot wollte.

Der Bürgermeister brauchte einen ganzen Moment und zog schließlich sogar eine Brille aus seiner Manteltasche, um sich davon zu überzeugen, dass er eine Krähe vor sich hatte. »Was in aller Welt ist das?«

»Das ist Kingston, meine zahme Krähe.« Widerwillig brach ich ein Stück Kürbisbrot ab und brachte es zu ihm. Er nahm es aus meinen Fingerspitzen und tanzte auf seiner Stange hin und her, während er es aufaß. Ich gab Elsie einen Daumen hoch, um ihr zu zeigen, dass es ihm gefallen hatte.

Der Hals von Bürgermeister Price hatte sich verdunkelt, als wäre er mehr als nur ein wenig beunruhigt. Entweder das, oder sein Kragen war zu eng, so wie der Mantel und das Hemd, die sich um seinen Bauch spannten. »Ich bin nicht ganz sicher, ob es legal ist, ein wildes Tier in einem Geschäftsgebäude zu halten.«

Es schien, dass meine Chance für einen guten ersten Eindruck beim Bürgermeister sehr schnell dahinschwand. Doch wie viel Macht konnte der Bürgermeister einer Kleinstadt schon ausüben?

»Nun, Bürgermeister Price, bis Sie mir die genaue Verordnungsnummer nennen können, die besagt, dass Vögel als Haustiere in Geschäftsräumen nicht erlaubt sind, können Sie davon ausgehen, dass Kingston während der Geschäftszeiten in diesem Fenster sitzt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe noch viel zu tun, um mich auf meine große Eröffnung vorzubereiten.« Ich ging zur Tür, für den Fall, dass er nicht wusste, wo sie war.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er meinen Wink zu verstehen schien, sog dann aber die Luft gleich wieder ein, als er einen Meter vor der Tür stehen blieb. »Es erscheint ziemlich seltsam, dass eine Frau auf ein sechsstelliges Einkommen in der Stadt verzichtet, um in einer Kleinstadt ein Blumengeschäft zu eröffnen.«

Ich war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte. Sein Benehmen und sein misstrauischer Ton schienen auch Elsie überrascht zu haben. Sie war ausnahmsweise einmal völlig sprachlos.

Aber ich hatte schon früh gelernt, für mich selbst zu sprechen. Ich trat auf ihn zu. »Bürgermeister Price«, sagte ich in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, wohin meine Worte führten. »Ich kann Ihnen versichern, dass es nichts Ungewöhnliches ist, wenn eine erfolgreiche, kreative Frau einen Tapetenwechsel und eine berufliche Veränderung anstrebt. Wie ich bereits sagte, habe ich noch viel zu erledigen, bevor ich die Türen von Pink’s Flowers öffne. Und wenn diese Türen erst einmal offen sind, werden Sie, glaube ich, feststellen, dass ich ein fleißiges und produktives Mitglied der Stadt bin. Genau wie Elsie neben mir.«

Er räusperte sich, sagte aber nichts weiter als »Guten Tag, meine Damen«, als er hinausging. Ich holte ein paar Mal tief Luft, um mich abzukühlen, bevor ich mich wieder Elsie zuwandte.

»Sie haben nie erwähnt, dass der Bürgermeister, wenn ich das sagen darf, alles andere als charmant ist.«

Elsie winkte seine unhöfliche Frage ab. »Er hat einfach nicht genug zu tun. Ich bin sicher, dass er seine Einstellung ändern wird, sobald er Sie kennenlernt. Allerdings muss ich Sie warnen: Er ist die ganze Zeit über ein mürrischer Bär.«

»Das werde ich mir merken und ihm aus dem Weg gehen.«

Elsie zog ein orangefarbenes Band von der Theke. Ohne ersichtlichen Grund band sie damit ihre grau gesträhnten Haare hoch. »Also ist es wahr, Pink?«

»Ist was wahr?«

»Dass man Sie die Million-Dollar-Nase nennt?«

Ich lächelte schwach. »Ich bin mir nicht wirklich sicher, wie es dazu gekommen ist. Ich glaube, in der Parfümbranche kursierte das Gerücht, dass die Parfümerie Georgio eine Millionen-Dollar-Versicherung für meine Nase abgeschlossen hätte. Das stimmte natürlich nicht, aber eins führte zum anderen und ehe ich mich versah, war ich ›die Millionen-Dollar-Nase‹. Nicht gerade der Traumspitzname eines Mädchens.«

»Ich finde es fabelhaft.« Elsie ging hinüber und betrachtete ihre neue Frisur im Spiegelbild des vorderen Fensters. »Meine Güte, Les muss heute extra starken Kaffee kochen. Ich kann es deutlich durch diese Fensterscheibe riechen.«

»Ich denke, es liegt an dem Ventilator, den er in seinem Frontfenster aufgestellt hat. Er verteilt den Duft auf dem Gehsteig.« Ich fuhr mit der Erklärung fort, ohne Elsies veränderte Haltung zu bemerken. Ihre schmalen Schultern waren steif wie die Arme eines Kleiderbügels.

Sie starrte weiter aus dem Fenster. »Er hat einen Ventilator aufgestellt, was? Das würde erklären, warum seine Tische voll sind. Nun, das werden wir gleich haben.« Sie marschierte hinaus, ohne sich zu verabschieden.

KAPITEL 10

Nach dem holprigen Start mit dem Bürgermeister und einem kleinen Bürgersteigkrieg zwischen Elsie und Lester war es mir gelungen, eine beachtliche Menge Arbeit zu erledigen. Ich schloss ab und machte mich auf den Weg. Meine Beine waren von der morgendlichen Fahrt müde, aber ich blieb bei meinem Entschluss, für Eier anzuhalten. Da ich zu dem ansehnlichen Arbeitstag auch eine ansehnliche Menge Kürbisbrot gegessen hatte, beschloss ich, die längere, landschaftlich schönere Route am Strand vorbei zu nehmen.

Die Sonne schien noch immer, und statt nach Hause zu fliegen, beschloss Kingston, mir zu folgen, als ich den Pickford Way hinunter zur Culpepper Road fuhr. Ein leichter Nebel schien sich entlang der Küste zusammenzuziehen und kündigte eine kühle Nacht zu Hause an. Eine heiße Frittata wäre perfekt.

Der Weg, der von der Küste weg auf die Culpepper Road führte, verlief leicht bergauf. Ich drückte die Gummigriffe an meinem Lenker und stand auf, um das Fahrrad anzutreiben. Kingston flog voraus. Er stieß über die grünen Weiden herab und störte ein paar fleißige Hühner, die gerade damit fertig waren, das Gras von Insekten zu befreien. In der Ferne bog Maggies wackeliger Postwagen um die Ecke bei Dawson Grove. Der Bauernhof mit den Eiern lag gleich hinter dieser Ecke.

Auf halber Höhe vom Strand zweigte die Culpepper Road in den Highway 48 ab. Der Highway war der kürzeste Weg zur Nachbarstadt Chesterton. Chesterton war etwa fünfmal so groß wie Port Danby und hatte mehr Geschäfte und Unternehmen. Wenn ich in Port Danby etwas nicht finden konnte, fuhr ich nach Chesterton. Es war ein weitaus weniger charmanter Ort, und die Geschäfte und das Geschäftsviertel ähnelten viel mehr einer Stadt.

Ich hatte Kingston aus den Augen verloren und fragte mich, ob ihm langweilig geworden war und er beschlossen hatte, nach Hause zu fliegen. Als ich die Eierfarm erreichte, raste mein Herzschlag durch den Aufstieg ziemlich. Ich blieb vor dem Schild stehen, um Luft zu holen. Gerade als ich vom Rad steigen und zur Tür gehen wollte, zerriss ein markerschütternder Schrei die Stille der Landschaft.

Mein Herz raste noch schneller, als ich wieder auf mein Fahrrad sprang und in die Richtung des Schreis fuhr. Als ich um die Ecke zur Dawson Grove bog, stand die arme, verängstigte Maggie neben ihrem Postwagen und stemmte ihre Hand dagegen, um nicht auf die Knie zu fallen. Etwas Schreckliches hatte ihr so große Angst eingejagt, dass ihr Gesicht fast so weiß war wie ihr Truck. Ihr Schrei war laut genug gewesen, um die Eichhörnchen in ihre Löcher und die Hühner in ihre Ställe zu treiben, doch niemand war aus den beiden Bauernhäusern in Dawson Grove gekommen, um herauszufinden, was los war.

Ich selbst war nie der Typ, der nur nutzlos daneben stand. Maggie, eine Frau in den Vierzigern, die mit ihren betagten Eltern gleich westlich des Stadtplatzes lebte, hatte immer ein fröhliches Lächeln im Gesicht, wenn sie auf und ab der Harbor Lane Post verteilte. Sie war eine der ersten Personen, die sich vorgestellt hatte, als ich in die Stadt kam. Doch die übliche Fröhlichkeit war verschwunden, und sie sah aus, als würde sie kurz vor einer Ohnmacht stehen.

Ich wäre fast vom Rad gesprungen, während es noch in Bewegung war. »Maggie, was ist los?« Ich raste auf den Lastwagen zu und stoppte. Maggies zitternde Hand ergriff meine, aber sie konnte nicht sprechen. »Sie sollten sich hinsetzen.«

Maggie schüttelte den Kopf und schien einer Panikattacke nahe zu sein. Sie hatte Mühe, tief durchzuatmen. Gleichzeitig bemühte sie sich, Worte herauszubekommen. Als nichts kam, versuchte sie mit dem Finger zu zeigen. Ihr Finger zitterte, als wäre er aus Gummi, als sie in Richtung des Kürbisfelds auf der Kent-Farm zeigte.

»Ich glaube, sie ist tot«, stotterte sie zwischen flachen Atemzügen. »Ich glaube, sie ist tot.«

Ich nahm sie am Arm und führte sie zum Fahrersitz. »Setzen Sie sich.« Eine zerknüllte braune Lunchtüte war neben dem Fahrersitz eingeklemmt. Ich streckte die Hand aus und griff danach. Ich schüttete die übrig gebliebenen Brotkrusten aus der Tüte und blies hinein, um sie wieder in Form zu bringen. »Hier, Maggie, atmen Sie hinein, während ich nachschaue.«

Ich zog mein Telefon aus der Tasche und fragte mich plötzlich, ob in Port Danby dieselbe Notrufnummer verwendet wurde wie in der Großstadt. Schließlich war die Stadt so klein und vernetzt, dass man praktisch mit einem Megafon auf der Veranda stehen und die Polizei oder einen Krankenwagen rufen konnte. Ich hoffte nur, dass beides nicht nötig war und ich einfach feststellen würde, dass jemand ohnmächtig geworden oder unter einem Baum eingeschlafen war.

Diese Hoffnungen wurden augenblicklich zunichte gemacht, als die düstere Szene vor mir Gestalt annahm.

Ich erkannte die rosa geblümte Bluse sofort, auch wenn sie von den großen, fingerartigen Blättern der Kürbisranken verdeckt wurde. Ich hüpfte über die verworrenen Stängel und runden Kürbisse und ging noch einmal alle Schritte und Verfahren zur Herz-Lungen-Wiederbelebung durch. Seit meinem Medizinstudium waren zwar schon ein paar Jahre vergangen, aber ich war überzeugt, dass ich helfen konnte.

Ich erreichte die Frau und stolperte ein Stück zurück, da ich einen solch schrecklichen Anblick nicht erwartet hatte. Die Frau lag fast mit dem Gesicht nach unten und ihr Kopf steckte zur Hälfte in einem riesigen, zertrümmerten Kürbis. Ich hatte im Medizinstudium genügend Leichen gesehen, um mir ziemlich sicher zu sein, dass ich es mit einer toten Frau zu tun hatte.

Ich gab eine Nummer ein und hob das Telefon ans Ohr, während ich mich neben die Frau hockte. Ich drückte meine Finger gegen ihre Halsschlagader und wartete auf ein Lebenszeichen. Es gab keines.

»Hallo, verbinden Sie mich mit der Polizei von Port Danby. Und beeilen Sie sich bitte.«