Jaime
Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff, wen ich hier vor mir habe. Ich hatte fest mit Männern gerechnet, die für gelegentliche Alkohol- und Drogenexzesse infrage kämen. Berufssportler gehören da definitiv nicht zu.
Hier, in einem luxuriös im Industrial Stil gehaltenen Konferenzraum ohne Fenster, feiert der gesamte Kader der Miami Thunderbirds den achtundzwanzigsten Geburtstag eines Teammitglieds. Die Eishockeymannschaft hat sich auf mehrere Sitzgruppen aus schwarzem Leder aufgeteilt. Manche von ihnen rauchen diese nikotinfreien Vapes, deren süßlicher Geruch sich im ganzen Raum verteilt hat.
Negativklischees über Sportler gibt es viele, doch das, was sich hier vor meinen Augen gerade abspielt, übertrifft alles.
Zwei Angestellte in der gleichen Arbeitskleidung wie ich fahren einen überdimensionierten Servierwagen durch die Flügeltür. Darauf befindet sich, auf einer weißen Tischdecke drapiert, eine komplett nackte Frau, die zur Servierplatte umfunktioniert wurde. Ihre Augen sind mit einem schwarzen Satinschal verbunden. Ihr Intimbereich wurde großzügig mit Salatblättern ausgelegt, auf denen sich Unmengen an unterschiedlichem Fingerfood befinden. Und auch sonst ist sie über und über mit Röllchen, Sticks und Häppchen belegt. Etwa ein Drittel des Teams steht johlend bereit, während die anderen mehr oder weniger teilnahmslos zusehen.
»Männer, ihr seid total verrückt«, ruft der Spieler, der heute seinen Ehrentag hat, begleitet von einem hohen Lachen, und vergräbt das Gesicht in den Händen. Mit dem breiten Kreuz, den raspelkurzen Haaren und seiner ganzen Ausstrahlung erinnert er mich eher an einen Elitesoldaten als an einen Profisportler.
»Happy Birthday, Dan!« Ein Mitspieler von ihm zaubert ein mit rosa Plüsch besetztes Paar Handschellen hervor. »Und jetzt brav umdrehen, Rositzky! Dein Geburtstagsgeschenk darfst du nur unter erschwerten Bedingungen verdrücken.«
»Alter, wenn meine Frau das sieht …«
»Es bleibt alles in diesem Raum«, bringt sich ein anderer Spieler mit hellbrauner Haut und Afrotwists mit ein. »Genieß die Show ruhig. Wir gehen auch nicht petzen.«
»He, Kleine. Wo bleibt denn mein Bud?« Erschrocken drehe ich mich um und blicke auf drei Männer, die etwas abseits sitzen. Ein Typ mit schwarzen Haaren und gepflegtem Dreitagebart tippt auf seine leere Flasche.
»Entschuldigung, kommt sofort«, murmele ich und höre im Weggehen noch, wie sein Sitznachbar ihn ermahnt, nicht so herablassend zu sein. Wow, wie galant. Nicht.
Langsam, um bloß nicht umzuknicken, laufe ich zur Bar, an der ein Barkeeper die Getränke ausgibt. Als ich vor ihm stehe, zwinkert er mir kurz zu. »Ein Bud«, sage ich unauffällig, woraufhin er in den Kühlschrank greift und anschließend den Kronkorken abzieht. Er schaut sich um und beugt sich zu mir.
»Hast du ein paar Wanzen verteilen können?«
»Unter jedem Tisch«, antworte ich, ohne ihn dabei anzuschauen.
Mein Kollege sagt darauf nichts mehr und zwinkert mir motivierend zu. Ich nicke. Wir verstehen uns – auch ohne Worte.
Während ich zurück zu meinem Kunden laufe, versuche ich mir einzuprägen, wer die Männer sind, die sich hier einen gesalzenen Fehltritt leisten. Das Geburtstagskind heißt Dan und das andere Großmaul, dem ich gerade Nachschub bringe, Victor. Ich meine, er ist der Goalie. Dan Rositzky kenne ich tatsächlich vom Sehen. Und da ich die Eishockeyspieler, die ich schon mal gesehen habe, an einer Hand abzählen kann, dürfte er ein ziemlich Guter sein. Doch irgendwie kommt mir der Mann, der neben meinem aktuellen Kunden sitzt, ebenfalls bekannt vor. Zumindest muss ich ihn immer wieder anschauen. Ein kantiges Kinn, schmale Lippen, goldblonde Haare, die er unter einer falsch herum getragenen Miami-Marlins-Basecap versteckt. Vereinzelt schauen ein paar seiner lockigen Strähnen aus der Verschlussöffnung heraus. Süß sieht er aus. Und irgendwas hat er an sich, das meine Aufmerksamkeit an ihn fesselt. Wie ein original Surferboy aus Florida, den man zum Hauptdarsteller einer Eishockey-RomCom gemacht hat. Ein Typ, den man auf den ersten Blick einfach sympathisch finden muss.
Jedenfalls dann, wenn er nicht das tun würde, was er gerade tut.
Das Paradebeispiel dafür, dass man sich von Äußerlichkeiten nicht blenden lassen soll. Also, wie heißt er noch? Kenne ich ihn überhaupt, oder starre ich ihn aus anderen, niederen Beweggründen die ganze Zeit an? Ich komme nicht drauf.
Mit jedem Schritt, den ich in den Schnür-Heels zurücklege, wippen meine Brüste unangenehm mit. Dieser knappe Fummel bietet null Halt, was ich nicht gewohnt bin. Meine Oberweite ist zwar eher durchschnittlich groß, doch sonst trage ich tagsüber immer einen BH.
Immerhin, die Männer scheinen sich daran keineswegs zu stören. Insbesondere der Blick dieses blonden Marlins-Cap-Trägers klebt wie Leim auf meinem Körper. Mir wird heiß, wenn ich darüber nachdenke, dass ich ihm offensichtlich gefalle. Was zur Hölle ist los mit mir? Ich werde mich doch nicht zu einem Typen hingezogen fühlen, der seine Freizeit in illegalen Luxusbordellen verbringt?!
»Kann ich etwas für dich tun?«, frage ich ihn freundlich, jedoch mit deutlichem Unterton, als ich das Bier serviere und mich ungünstigerweise dafür bücken muss.
»Oh, nein. Wobei … Ich würde noch einen trockenen Rotwein nehmen.«
Ich schenke ihm ein gestelltes, breites Lächeln und laufe gleich darauf zu dem Servierwagen, auf dem die angebrochenen Flaschen stehen. Als ich wiederkomme, hält er mir das leere Glas hin.
»Wie ist eigentlich dein Name?«
»Denk dir einen Hübschen aus«, erwidere ich möglichst neutral, was mir nur mäßig gelingt.
»Sorry, ich wollte nur nett sein.«
Langsam drehe ich den Kopf und blicke zu seinen Teamkameraden, die sich gerade lachend, filmend und nur mit den Mündern über das sogenannte Buffet hermachen und währenddessen darüber diskutieren, wer die Mousse au Chocolat von den Nippeln der Frau ablecken darf.
Ein missmutiges Knurren entweicht dem Spieler mit dem Weinglas. »Glaub mir, das war nicht meine Idee.«
»Und trotzdem bist du hier.«
»Tatsache. Immerhin ist das hier die Geburtstagsparty von dem Dan Rositzky. Eishockey ist Teamsport, komm darauf klar oder lass es. Wir zahlen ’ne Menge Kohle dafür, dass wir hier zusammen etwas entspannen können. Wieso arbeitest du überhaupt in diesem Schuppen, wenn du so ein Riesenproblem damit hast?«
Kurz gehe ich auf Nummer sicher, dass gerade keiner auf dem Trockenen liegt. Dann setze ich mich für einen Moment zu ihm und entlaste meine geschundenen Füße ein wenig. Was soll ich darauf bloß antworten, ohne komplett zu lügen? »Weißt du, schon allein der Umstand, dass ich eine Frau bin, hat dafür gesorgt, dass mir das Millionengehalt eines Eishockeyprofis verwehrt blieb. Manche Menschen haben keine andere Wahl.« Okay, der letzte Satz war vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen. Vor dem Don muss ich mir solche Sprüche verkneifen. Ich würde es ja als Anfängerfehler betrachten, doch in so einer Situation kann ein falsches Wort im schlimmsten Fall mein Leben kosten.
Immerhin macht der Typ nicht den Eindruck, als würde es ihn stutzig machen. Wahrscheinlich hat er bereits genug Rotwein intus. Ein paarmal blinzelt er mich an, ehe er antwortet. »So ist halt das Leben. Knallhart und ungerecht. Es gibt immer jemanden, mit dem es das Schicksal besser gemeint hat. Glaub mir, bei mir ist es nicht anders. Die Kunst ist, sich damit abzufinden und das Beste draus zu machen. Nicht nach oben zu schauen, und sehen, was man nie erreichen wird, sondern gelegentlich mal nach links und rechts. Solltest du vielleicht auch mal machen. Du passt hier eh nicht so richtig rein, finde ich.«
Erneut blicke ich zu den Spielern um den Servierwagen. »Wer tut das schon. Oder denkst du etwa, dass eure Buffetplatte schon immer davon geträumt hat, sich hauptberuflich von Männern ablecken zu lassen? Übrigens, wenn du noch was essen möchtest, dann musst du dich beeilen. Gleich ist das Buffet komplett geplündert.« Mein aufgesetztes Lächeln untermale ich mit einem Augenzwinkern.
»Ich habe keinen Hunger«, antwortet er abrupt. »Sorry, falls mein Team und ich dich desillusioniert haben. Aber ich meinte das ernst. Ich weiß nicht, was ihr hier verdient, aber du sprichst perfekt Englisch und könntest auch woanders unterkommen. Wenn du einen anderen Job möchtest, melde dich doch mal bei unserer Geschäftsstelle. Du würdest sicher eine nette Hostess für den VIP-Bereich abgeben. Sag ihnen ruhig, dass ich dir das vorgeschlagen habe.« Auffällig schaut er auf meine Brüste. Ich kann es ihm nicht mal verübeln. Sie sind wirklich nicht zu übersehen in diesem zwei Nummern zu kleinen Triangel-Bikinioberteil.
Es ist schon fast lachhaft, wie sehr dieser Mann in seiner Promiblase gefangen ist. Er geht mit einer völligen Selbstverständlichkeit davon aus, dass ich weiß, wie er heißt.
»Vielen Dank für den Tipp. Ich denke drüber nach.« Augenzwinkernd stehe ich von dem Sofa auf und zupfe das knappe Höschen wieder zurecht. Das reicht an Interaktion für heute! Ich wollte schließlich nur stumpf meinen Job erledigen, für ein paar gute Aufnahmen sorgen und dann von hier verschwinden.
Doch natürlich kommt es anders.
»Hey, ich glaube, unsere Tommy Gun könnte heute mal wieder kräftig abfeuern«, ruft da jemand, der seine Lippen eben noch auf dem Bauch des lebendigen Tellers kleben hatte. Und das ist kein Geringerer als Dan Rositzky, der hier heute seinen Ehrentag feiert. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Tommy Gun? Bitte nicht auch noch das …
Gönnerisch legt er seinen schweren Arm um mich und zückt ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche. Eine penetrante Mischung aus Gin Tonic, Mundgeruch und Davidoff steigt mir in die Nase. Er braucht gar nicht weiterzureden. Ich fühle mich schon jetzt maximal erniedrigt. »Weißt du, mein Kollege Tom hier hat ein Dauerabo auf Wiedergutmachungen bei mir offen. Und du scheinst ihm ziemlich zu gefallen. Nennst du mir deinen Preis dafür, dass er dich ficken darf? Mein Lieblings-Ersatzflügelstürmer ist mir so einiges wert.«
Entsetzt und angeekelt blicke ich ihn an. Diese ganze Situation hier läuft gerade sowas von aus dem Ruder. Doch es ist nicht so, als hätte ich über dieses mögliche Szenario nicht bereits vorab nachgedacht. Daher hole ich einmal tief Luft und sammele mich, bevor ich freundlich und erneut mit deutlichem spanischen Akzent antworte: »Es tut mir leid, aber das mache ich nicht.« Er soll ruhig sehen, dass ich absolut nicht möchte. Wobei möchten hier ziemlich untertrieben ist, denn auf genau dieses Worst-Case-Szenario habe ich mich nur unzureichend vorbereitet.
Rositzky zieht einen Flunsch. »Och Chica … Es gibt hunderte Puck-Bunnys die ihn dafür bezahlen würden, dass er sie mal gepflegt durchvögelt. Weißt du eigentlich, wer wir sind? Ich meine, in Mexiko, oder wo du auch immer herkommst, wird eher weniger Eishockey geschaut, oder?«
»Dann sollte es doch kein Problem sein, jemanden für ihn zu finden. In dem Fall müssten wir auch nicht die Gesetze dieses Bundesstaats brechen.« Ich zwinkere ihm zu und versuche, mich galant aus seiner Umarmung zu lösen.
»Ach Süße, alles schon versucht. Er ist ein wenig wählerisch. Aber gut, wenn du dir das Geschäft deines Lebens entgehen lassen willst …« Wie die Schauspieler in den Mafia-Filmen blättert er durch die gebündelten Hundertdollarscheine. »Falls du es dir anders überlegst, wir sind ja noch ein oder zwei Stündchen hier. Wie sieht es denn ersatzweise mit einem kleinen Striptease aus?«
Plötzlich schiebt sich dieser Tom zwischen uns und packt seinen Teamkollegen etwas unsanft am T-Shirt. »Dan! Es ist mir scheißegal, was ihr heute Abend noch so treibt, aber lass mich raus aus der Sache, okay? Wir wollten ein bisschen hier abhängen und Spaß haben. Und keine Bordsteinschwalben knallen!«
Die Spannung, die zwischen diesen beiden Männern herrscht, ist so hochgradig toxisch, dass ich mich wundere, wie sie zusammen auf dem Eis stehen können. Wie zwei Kontrahenten in einem Spiel um Leben und Tod. Sind die immer so? Neugierig blicke ich in die Gesichter der anderen Teammitglieder, die den Disput weitestgehend uninteressiert beobachten. Gelegentlich verdreht einer die Augen. Offenbar steht irgendein gewaltiger Elefant im Raum.
Dan hebt die Augenbrauen an und reißt sich los. »Ist ja schon gut, Tom. Dann setz du dich wieder auf deinen Hintern und schau zu, wie man als erwachsener Mann Spaß hat.« Erneut wendet er sich mir zu. »Sorry, aber mein Bro hier hat seit letzter Zeit einen Hockeyschläger im Darm stecken. Mein Angebot steht jedenfalls: Das Oberteil, das dir eh viel zu klein ist, fliegt, und dafür gibt es fünf Riesen Trinkgeld. Deal?«
Am liebsten würde ich ihm hollywoodreif seine Geldscheine ins Gesicht knallen, doch würde eine Frau in meiner Position das wirklich tun? Würde Valentina, die illegal eingereiste Mexikanerin, die ihre Schleuserschulden in diesem Laden abarbeitet, fünftausend Dollar ausschlagen?
Nein. Würde sie nicht.
Don Camillo hat seinen Ruf nicht ohne Grund. Daher ersticke ich das auflodernde Feuer des Widerstands in mir und strecke die Hand nach dem Geld aus. »Nur das Oberteil. Und nur gegen Vorkasse.« Ich will die Kohle absolut nicht und werde sie komplett der Frauenhilfsorganisation spenden, die damals die erste Whistleblowerin zu uns geschickt hat.
»Halt«, brüllt Tom und geht auf mich zu. Wütend blickt er zwischen Dan und mir hin und her, ehe er das Wort an mich richtet. »Sechstausend von mir, wenn du es nicht tust.«
»Ähm, okay?« Das ist schräg! Verunsichert, was ich jetzt tun soll, schaue ich zu Dan, der sich ein Blickduell mit Tom liefert. Ich meine sogar, das Knacken in den Fingergelenken zu hören, während Tom die Hände zu Fäusten ballt. Shit! Mich würde echt mal interessieren, wer von denen wessen Mama als Erster beleidigt hat.
»Was zur Hölle ist dein Problem, McKennie?«
»Mein Problem ist, dass sie das offensichtlich nicht will!«
Wow, das Ganze hier ist ziemlich schnell eskaliert.
»Oha, bist du unter die feministischen Weltverbesserer gegangen? Dann verpiss dich einfach von hier! Wenn du Geburtstag hast, kannst du gerne in den Indoorspielplatz gehen!«
»Ist mir scheißegal! Es ist mein Geld und ich kann damit machen, was ich möchte. Und ich möchte nicht, dass sie vor meinem Team blankziehen muss! Reicht euch das denn hier nicht?« Mit vor Wut flackernden Augen deutet er auf die mittlerweile komplett nackte Frau auf dem Tablett, auf der nur noch hier und dort ein verrutschtes Salatblatt, eine undefinierbare Creme oder ein paar Krümel liegen.
Dans Augen verengen sich, als er sich langsam auf Tom zubewegt. »Merkst du eigentlich noch irgendwas, Tom? Sieh dich doch mal um. Macht auch nur ein Mann hier so einen Aufriss wegen ein bisschen Spaß auf dem Geburtstag des Kapitäns? Wir sind hier in einem verdammten Edelbordell!«
Tom senkt den Blick, als hätte Dan etwas angesprochen, dass ihn genau an seiner inneren Achillesferse trifft.
Doch der Kapitän legt nach: »Du bist kein Teamplayer, Tom. Wir alle wissen das. Und das ist schade, denn du hast theoretisch ’ne Menge drauf.«
Für einen Moment hängen die Worte schwer im Raum. Der Rest des Teams schweigt, niemand widerspricht.
Nach einigen Sekunden strafft Tom die Schultern. »Gut«, beginnt er und geht ein paar Schritte auf den nackten Frauenkörper zu. »Du willst, dass ich mich wie ein Teammitglied verhalte? Okay, was soll ich essen?«
Ein kollektives, verwundertes Raunen geht durch den Raum. »Nimm die Thunfischcreme, die ist geil«, ruft ein anderer Spieler. Um Tom hat sich ein Halbkreis gebildet. Die ganze Situation ist derart surreal, dass ich es kaum fassen kann.
Nüchtern senkt Tom seinen Mund auf den Unterbauch des lebendigen Buffettellers und leckt die Creme mit breiter Zunge ab.
Was für eine schräge Vorstellung. Am liebsten würde ich wegsehen.
Ein Spieler, dessen Name ich nicht mitbekommen habe, grummelt genervt. »So eine verdammte Kindergartenscheiße. Zum Glück bin ich nächste Saison hier weg.«
Mit leicht geöffnetem Mund stehe ich Sekunden später vor Tom, der mir ein Bündel Dollarnoten in die Hand drückt, die er kurz zuvor aus seiner Jacke hervorgeholt hat. »Leider sind es nur viertausend Dollar. Ich würde dir die restlichen zwei schicken, wenn du mir deine Mailadresse oder Kontonummer nennst.« Aus der Hosentasche zieht er sein iPhone und tippt auf dem Touchscreen herum.
Ich schaue mich um – es ist niemand in Hörweite.
»Schon gut«, flüstere ich und ernte darauf einen irritierten Blick.
Bitte, bitte! Mach, dass er nicht weiter nachbohrt. Denn auf keinen Fall darf irgendjemand von denen meine wahre Identität herausfinden, solange ich noch in Miami bin. Behaupten, dass ich keine Konten habe? Kauft er mir sicherlich nicht ab, wenn er nicht ganz so oft mit dem Kopf voran gegen die Bande gecheckt wurde.
»Schon gut? Ich dachte du …«
»Es ist okay so!« Eindringlich schaue ich ihm in die eisblauen Augen. Und, ähm, sie sind wunderschön. Das ändert natürlich nichts daran, dass Typen, die sich in illegalen und mit Zwangsarbeit in Verbindung stehenden Bordellen herumtreiben, eine absolute Red Flag sind. Aber er? Der hübsche Florida-Surferboy, der mich gerade mit einem Batzen Geld vor einer entwürdigenden Situation gerettet hat? Allein dieser Körper! Gut, was erwartet man bei einem Profisportler auch anderes?
Ein letztes Mal huscht sein Blick über meine Kurven, ehe er sich abwendet und sich wieder zu den drei Männern gesellt, die von der Buffetform ebenfalls mittelmäßig angetan waren und nur mal gelegentlich mit der Hand zugegriffen haben.
Mit einem komischen Gefühl im Bauch, was mich ein wenig an ein schlechtes Gewissen erinnert, wobei ich das in dieser Szenerie echt nicht zu haben brauche, mache ich mich auf in den Nebenraum, wo meine Tasche und Kleidung liegen. Die vier Riesen von Tom verstaue ich dort im Seitenfach und blicke auf mein Smartphone. Noch eine Stunde …
Tom
Die Miami Thunderbirds sind seit vier Tagen hochoffiziell Geschichte – genauso wie meine Profikarriere in der NHL. Der Besitzer hat die Mannschaft nach der desaströsen Heimniederlage, die auf den Don-Camillo-Skandal folgte, wie erwartet aufgelöst. Unsere Filetstücke, zu denen allen voran Kapitän Dan Rositzky gehört, wurden kurz darauf für andere Teams verpflichtet.
Ich habe die Netflix-Dokumentationsserie mit dem reißerischen Titel Broken Paradise – Miamis dunkle Geschäfte nur auszugsweise gesehen. In erster Linie geht es darin um Don Camillo und seine Verbindungen zu Politik und Prominenz. Um sein Geschäftsmodell und die lateinamerikanischen Schleuserbanden, die ihn mit Frauen versorgt haben. Es sind bloß zehn Minuten in der vorletzten Folge, in denen wir zu sehen sind. Fuck, scheinbar war der ganze Raum verwanzt und mit versteckten Cams ausgestattet und niemand von uns hat es gemerkt!
Wir wollten es nicht sehen. Genauso wie den Fakt, dass Don Camillo offensichtlich ein Verbrecher ist.
Wie die Aasgeier kreisten die Spielervermittler über unserem angeschlagenen Club, nachdem absehbar war, dass die Thunderbirds diesen Skandal nicht überleben würden. Dass Dan derjenige ist, von dem die pikantesten Aufnahmen über den bekannten Streamingdienst jederzeit abrufbar sind, scheint in Anbetracht der Tatsache, dass er der Spieler mit dem zweithöchsten Marktwert der NHL ist, kein Thema zu sein. Eine reumütige öffentliche Entschuldigung, eine Millionenspende an die unterfinanzierte Kinderkrebsklinik in Edmonton und Dan Rositzky hat sich in Rekordzeit in die Herzen der dortigen Fans eingeschleimt. Was eine gezielte Imagekampagne so alles bewirken kann.
Übrig bleibt der Rest, für den sich keiner so recht interessiert. Die Playoffs stehen nun an und die Thunderbirds haben sich ohnehin nicht qualifiziert. Es ist also passiert. Ich bin arbeitslos. Eventuell nimmt mich noch ein Team der AHL, die als Entwicklungsliga für zukünftige NHL-Spieler dient, doch dafür bin ich mit sechsundzwanzig Jahren schon fast zu alt.
Während ich über meine düsteren Zukunftsaussichten grübele, vibriert das Smartphone auf dem Tisch. Irgendjemand steht unten und vorm Aufzug. Ich öffne die Smarthome-App und sehe direkt in das breit grinsende Gesicht meines älteren, aber nicht größeren Bruders Shawn. Mein Bruder, der seit meinem Draft seinen Lebensunterhalt teilweise damit verdient, mich zu managen. Bisher haben wir nur über diesen Skandal getextet, da Shawn eigentlich bis morgen Urlaub hat. Wahrscheinlich möchte er mir jetzt persönlich den Arsch aufreißen und mich fragen, was ich mir dabei gedacht habe, Thunfischcreme vom Bauch einer illegal eingeschleusten Prostituierten abzulecken. Allein bei der Erinnerung daran wird mein Mund trocken und ich habe das Bedürfnis, meine letzte Mahlzeit wieder hochzuwürgen. Das kann ja lustig werden. Nicht.
Stöhnend genehmige ich die Aufzugfahrt in den Flur und drücke mich vom Sofa hoch, auf dem ich seit einer Ewigkeit herumlungere und die abgehangene Decke meines Appartements in South Beach anstarre. Dabei bieten mir die riesigen Fenster und die Tatsache, dass ich im dreißigsten Stock eines Wolkenkratzers mit Luxuswohnungen lebe, einen genialen Ausblick auf den Atlantik und die Skyline von Miami.
Barfuß tapse ich über die glatten dunklen Fliesen, auf denen sich die allmählich untergehende Sonne spiegelt. Die Sweatshorts, die ich als einziges Kleidungsstück am Körper trage, hängt gefährlich tief, weshalb ich die Bänder schnell noch straffer ziehe.
Nachdem sich die Aufzugtüren geöffnet haben, betritt Shawn den Flur. Wie immer trägt er ein weißes Hemd und eine Anzughose, heute sogar mit Krawatte. Manchmal frage ich mich, ob er überhaupt noch andere Kleidung besitzt. Oder schläft er eventuell in dem Outfit? Bis auf die Haarfarbe sehen wir uns nicht sonderlich ähnlich, und das nicht nur wegen des Kleidungsstils. Seine dichten, blonden Locken hat er schon als Kind gehasst, weshalb er sie stets kurz trägt. Wenn er sich dann noch, so wie heute, Gel in die Haare schmiert, erinnern sie mich auf seinem Kopf immer an diese kleinen geringelten Suppennudeln. Außerdem hat er die Figur eines Anfang dreißigjährigen Mannes, der viel Zeit am Schreibtisch verbringt und als Ausgleich zweimal die Woche joggen geht. Shawn könnte sich problemlos hinter mir verstecken, so dünn wie er ist.
Peinlich berührt kratze ich mich am Kopf. »Hi, Bro. Sieht so aus, als könnten wir bald viel Zeit miteinander verbringen, oder?«
Missbilligend blickt er mich an, ehe er kommentarlos ins Wohnzimmer schreitet und sich dort auf der dunkelbraunen Ledercouch niederlässt. Er zieht eine selbst für seine Verhältnisse extreme Duftwolke aus Männerparfüm hinter sich her. Leider erinnert sie mich daran, dass ich momentan rieche wie die MRHC Arena nach einem Sieg.
Ziellos laufe ich in meinem nur für mich zu großen Wohnraum herum, nur um nicht blöd in der Gegend herumzustehen. »Kommt da noch was oder fängst du gleich an zu singen wie bei High School Musical?«
Shawn fixiert mich mit seinen Augen. Sein Blick sagt alles. »Zum Singen ist mir seit dem Tag, an dem ich Videoausschnitte von meinem Bruder im Promi-Puff auf Netflix gesehen habe, nicht mehr zumute.«
Knurrend fahre ich mir durch die Haare und stütze mich auf der schwarzen Marmorarbeitsplatte der Kochinsel ab. »Verdammte Scheiße, wie oft willst du es noch von mir hören? Ich wollte da nicht hin! Und ich habe dieser nackten Tussi auch nicht die Mousse von den Nippeln gelutscht! Das war der Typ, der jetzt mit Edmonton in den Playoffs spielen wird, nachdem er die lächerlichen drei Sperren abgesessen hat.«
Begleitet von einem Seufzer lehnt er sich zurück und verschränkt die Finger hinter seinem Hals. »Tja, ein Dan Rositzky kann sich sowas halt erlauben. Ein Tom McKennie nicht. Hattest du seit der Auflösung eigentlich Kontakt zu ihm?«
»Nur getextet. Er ist durch den abrupten Wechsel und den Gesprächsrunden mit seinen Sponsoren ziemlich busy gewesen.«
Shawn brummt missbilligend. »So busy, dass er nicht mal klarstellen konnte, dass es seine verdammte Feier war, aber okay. Von ihm erwarte ich alles, nur nichts Gutes. Wie lange ist er jetzt verheiratet?«
»Acht Monate«, sage ich. »Aber Caylee hat schon ein Statement rausgehauen, dass sie ihm verziehen hat.«
Als Antwort hebt Shawn ungläubig eine Augenbraue.
»Keine Ahnung, ich verstehe das auch nicht. Aber ich verstehe auch nicht, dass sie ihn überhaupt geheiratet hat.«
»Tja, Fame und Kohle hat er reichlich, da wird es einen Zusammenhang geben. Aber zurück zum eigentlichen Thema: Habt ihr eine Idee, wie die Aufnahmen entstanden sind? Ein Maulwurf im Team?«
Ich schüttele den Kopf. »Es waren viele Angestellte dort, doch sie haben nicht viel geredet.« Es folgt eine Kunstpause. Soll ich erzählen, was mich seit Tagen nicht mehr loslässt? Ich glaube, ich sollte. Wenn ich jetzt damit anfange, Shawn Informationen vorzuenthalten, dann habe ich endgültig ausgeskatet. »Vielleicht war es die Kellnerin, die uns Getränke serviert hat«, fahre ich fort. »Mir ist schon damals aufgefallen, dass sie dort nicht richtig reingepasst hat. Weißt du, was ich meine? Sie kam mir nicht vor wie eine Frau, die respektlosen Scheißkerlen wie uns fast nackt Drinks bringt und für ein paar Tausend die Hüllen fallen lässt. Allein schon die Art, wie sie geredet hat. Zwar mit Akzent, aber sonst in perfektem Englisch. Sie war so … keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. Die anderen Angestellten dort waren komplett gleichgültig. Sie hat genau hingeschaut. Und ausgerechnet sie war verdammt heiß.«
»Heiß?« Mein Bruder lacht leise in sich hinein und schüttelt den Kopf. Ein verheirateter Mann, der sich gerade nonverbal damit brüstet, immun gegen hübsche Frauen in knapper Kleidung zu sein. Natürlich, Shawn …
»Ja, heiß. Und das nicht nur wegen ihrer knappen Arbeitskleidung, wenn du darauf anspielen willst. Einerseits wie eine Latina, doch ihre Augenfarbe ging ins Gräuliche. Diese Kombination habe ich noch nie zuvor gesehen. Sie war stark geschminkt, doch sie hatte niedliche Sommersprossen auf ihrer Nase. Und ihr Körper war … verdammt, ich konnte kaum wegschauen.«
»Tja, du verhinderter Romeo. Du wolltest sie ficken und jetzt hat sie dich gefickt, indem sie die Aufnahmen an die Presse vertickt hat. Wobei sie bei der hochauflösenden Kameraausrüstung wahrscheinlich selbst zum Team von Armstrong gehört.« Nun bricht Shawn richtig in Gelächter aus. Ich würde ja glatt mitlachen, doch sein Wortwitz ist sowas von alt … »Okay, hast du vielleicht einen Namen? Im Abspann zu der Doku steht etwas von einer Zoe Clardy als verantwortliche Journalistin, wobei das laut meiner Recherchen ein geschlossenes Pseudonym zu sein scheint. Eventuell könnte man den Schaden etwas begrenzen, indem wir die Lady mit ein paar Dollars zu der Aussage bringen, dass zumindest du und ein paar andere Spieler nicht die treibenden Kräfte bei der Aktion wart.«
Entgeistert blicke ich ihn an. »Du denkst nicht wirklich, dass sich jemand aus dem Team von einem Investigativjournalisten wie Billy Armstrong mit ein paar Tausend kaufen lässt, oder? Der Typ hat schon ganz andere Institutionen zu Fall gebracht.«
»Keine Ahnung! Hast du ’ne bessere Idee? Ich jedenfalls nicht. Dein Team ist komplett zerstritten und wir sind auf uns allein gestellt. Irgendwo müssen wir ansetzen. Also, kennst du einen Namen oder hast irgendeinen anderen Anhaltspunkt?«
Niedergeschlagen schüttele ich den Kopf. Sie hat mir mit Absicht nicht verraten, wie sie heißt. Und selbst wenn sie es getan hätte, wäre ich mir sicher, dass es ein Fake-Name gewesen wäre.
»Meine Fresse, ich kann nicht glauben, womit ich mich hier rumschlagen muss! Ein Geburtstagsdinner bei einem stadtbekannten Zuhälter, der Essen auf Frauenkörpern serviert und mit Menschenhändlern paktiert. Das ist echt die dümmste Aktion seit der Erfindung des Profi-Eishockeysports.« In kreisenden Bewegungen massiert sich Shawn die Schläfen.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, frage ich aufgebracht, gehe zur Spüle, reiße den Wasserhahn auf und klatsche mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Gebeugt stehe ich über dem Granitbecken, die Hände links und rechts aufgestellt und starre hinein. Ich spüre, wie die Tropfen von meiner Haut und aus meinem Haar abperlen. Selbsthass ist ein Arschloch!
»Definitiv hättest du einschreiten müssen. Und zwar sofort«, antwortet Shawn nüchtern. »Doch ich weiß, dass es für dich nicht so einfach ist, sich gegen das Team zu stellen. Vor allem nach dem, was damals auf der Uni -«
»Halt!« Bedrohlich richte ich den Zeigefinger auf ihn, bevor er weiterreden kann. »Das Thema wird nicht mehr angesprochen, schon vergessen?«
Shawn stöhnt laut und wirft den Kopf zurück. »Natürlich nicht. Doch du siehst, dass es dich immer wieder einholt. Wie lange soll das denn noch so weitergehen? Denk doch noch mal darüber nach. Es gibt gute Sportpsychologen, die sich mit sowas -«
»Themenwechsel«, bestimme ich, bevor ich mich in Gedanken weiter mit Dingen befassen muss, die ich krampfhaft verdränge, so gut es eben geht. Doch wie immer, wenn mir jemand sagt, ich solle bloß nicht an rosa Elefanten denken, denke ich an rosa Elefanten. Kälte steigt ausgehend von Händen und Füßen meine Glieder empor, obwohl mir eben noch so warm war, dass ich mich abkühlen musste. Meine Haare an den Armen stellen sich auf und ich spüre wieder diese blanke Angst, dass ich …
Themenwechsel! Sofort!
»Also, Brudi, bist du nur in Miami, um mir noch mal persönlich die Eier abzureißen, oder hast du eine Eingebung, wie es für mich weitergehen könnte?«
Shawn räuspert sich. Seine Gesichtszüge wirken schlagartig entspannter und ich meine, ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel nach oben beobachtet zu haben. »Tatsächlich habe ich gute Neuigkeiten im Gepäck. Jedenfalls würde ich sie als gut bezeichnen, wenn ich du wäre. Es wird eine Umstellung, doch ich denke nicht, dass du eine Wahl hast.«
Nun werde ich hellhörig. »Dann hau mal raus.« Schnell lasse ich mich auf dem Sessel gegenüber von Shawn fallen und kralle die Finger in die Armlehnen, als müsste ich mich festhalten. Ich bin mir bereits sicher, dass ein AHL-Club Interesse hat und einen zeitlich befristeten Vertrag, vielleicht für eine Saison, anbietet. Meinen Gehaltsanspruch werde ich jedenfalls drastisch herunterschrauben müssen, doch Shawn hat recht – ich bin nicht in der Position, wählerisch zu sein. Jetzt bin ich nur noch gespannt, wohin es mich verschlagen wird.
»Also, ich habe die letzten Tage nicht zu Hause gesessen und rumgeheult so wie du, sondern bin sofort nach eurer desaströsen Niederlage gegen Montreal nach New York geflogen, um im Headquarter der NHL ein bisschen herumzuschnüffeln. Mir war klar, dass die Zeit der Miami Thunderbirds nun abgelaufen ist.« Langsam richtet er sich auf und geht ein paar Schritte, bis er vor meinem riesigen Kühlschrank aus glänzendem Edelstahl steht. Ich drehe mich in seine Richtung, um keines seiner Worte zu verpassen. »Eigenlob stinkt ja bekanntlich, aber ich hatte da so eine Vorahnung und die hat mich nicht getäuscht. Ich bin ein Genie! Sagt dir der Name Louis Freeman noch was?«
Irgendwas klingelt da tatsächlich. Auf jeden Fall hat er was mit Eishockey zu tun. Oder? Angestrengt grübele ich, während mein Bruder für einen Augenblick den Inhalt des Kühlschranks mustert und schließlich eine Flasche Secco hervorholt, die eine Ex-Affäre vor Monaten mal hier angeschleppt hat. »Ähm, ist das nicht der Typ, der bei der Expansion der NHL vor ein paar Jahren komplett leer ausgegangen ist?«
»Exakt«, bestätigt mein Bruder und zeigt mit dem Zeigefinger der Hand auf mich, die zeitgleich zwei Sektgläser hält. Gemütlich kehrt er zur Sitzgruppe zurück und stellt die Gläser vor uns ab. »Louis Freeman träumt schon seit Jahren davon, Franchisenehmer der NHL zu werden. Früher mangelte es einfach an der Kohle, doch nun, da seine Firma weltweit Marktführer für Bildbearbeitungssoftware ist, wartet er nur auf die Gelegenheit, sich dort endlich einkaufen zu dürfen.« Mit einem lauten Plopp zieht Shawn den Korken aus der Flasche und befüllt vorsichtig die Stielgläser. Abwechselnd exakt so voll, dass der Schaum nicht den Glasrand passiert. »Dass nun ein Platz in der Eastern Conference frei wird, war ja absehbar. Freeman hat wie immer im Waldorf Astoria eingecheckt, wo ich ihm tatsächlich nach zwei Tagen in der Hotelbar begegnet bin. Ein wirklich ehrgeiziger Mann dieser Freeman. Er hat mir erzählt, dass er das Franchise unter der Voraussetzung genehmigt bekommen hat, innerhalb kürzester Zeit ein komplettes Team zusammenzustellen. Nur dann darf er bereits in der nächsten Saison starten.« Mit den Gläsern in der Hand kommt er zurück und drückt mir eines in die Hand, ehe er sich wieder auf der Couch niederlässt.
Ein paarmal blinzele ich. »Und da hast du mich ins Spiel gebracht?«
Das Lächeln meines Bruders wird immer breiter, während er mit dem Zeigefinger um den Rand seines Sektglases fährt. »Eigentlich wollte er von eurem Team aus moralischen Gründen komplett die Finger lassen, doch ich konnte ihn überzeugen, dir eine Chance zu geben. Schließlich warst du auf den abstoßendsten Bildern nicht zu sehen und saßt nur am Rand. Ich habe sehr viel Geld in teure Whiskeysorten investiert, um ihm einzutrichtern, wie sehr es dir leidtut, und dass du das alles nur widerwillig aus Gruppenzwang gemacht hast. Damit bin ich auf offene Ohren gestoßen. Auch wenn deine Leistung mit den Stars in letzter Zeit nicht mithalten konnte: Freeman ist nicht in der Position, einen Spieler mit NHL-Erfahrung einfach so abzulehnen. Also, lange Rede, kurzer Sinn: Er gibt dir eine Chance. Der vorerst auf eine Saison befristete Vertrag ist fertig und wartet nur darauf, von dir unterschrieben zu werden. Anderthalb Millionen Basisgehalt vor Steuern und Abgaben sowie Bonuszahlungen für die Playoffs, falls es dazu kommt. Verlängert wird er, wenn du es schaffst, dir ein gutes Standing im Team und bei den Fans zu erarbeiten. Die Position des Kapitäns ist komplett offen und wird noch mal deutlich besser dotiert. Daher, Brüderchen: Auf dich und die Cincinnati Sharks!« Selbstgerecht prostet er mir zu und leert das Glas in einem Zug zur Hälfte.
»Cincinnati?« Entgeistert ziehe ich die Nase kraus und beobachte die kleinen Kohlensäurebläschen, die sich im Glas bilden und wild an die Oberfläche steigen. Ich stelle es vor mir auf den Tisch. Verdammt, ich will da nicht hin! Mir fällt keine Stadt ein, die das US-Amerikanische Spießbürgertum des Mittleren Ostens besser repräsentiert als Cincinnati. Einen mittelprächtigen NHL-Spieler mit meiner jüngsten Biografie werden sie dort vermutlich mit Mistgabeln und Fackeln aus der Stadt verjagen. »Ich wusste, dass die Sache einen Haken hat.«
Dass meine, nett ausgedrückt, Skepsis nicht auf Begeisterung stoßen wird, war mir klar. Doch mein Bruder macht den Anschein, dass er damit bereits gerechnet hat. »Ich weiß genauso wie du, dass die Gegend ein reiner Prüderiecluster ist. Schließlich wohne ich nicht weit von dort. Doch ich frage dich: Denkst du im Ernst, dass du in der Position bist, eine Wahl zu haben? Wenn du lieber dein gesamtes Erspartes noch für ein paar Monate Miete in diesem Palast von einem Appartement verprassen willst: Feel free! Aber dann kannst du dir einen anderen Manager suchen. Oder am besten gleich einen Insolvenzverwalter! Das Maß ist seit diesem Skandal nicht nur voll, sondern gesprengt. Und ich habe keinen Bock mehr auf dein unprofessionelles Verhalten!«
Jammern auf hohem Niveau? Aber sowas von! Shawn hat völlig recht. Ich wäre ein gigantischer Volltrottel, wenn ich diese Chance auf einen Neuanfang nicht annehmen würde. An den Umstand, dass mein Leben hier in den letzten Zügen liegt, habe ich mich einfach noch nicht gewöhnt. »Ja, schon gut. Natürlich mache ich es, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich mich mit meinem versauten Ruf in einer Stadt wie Cincinnati einschleimen kann. Was bleibt mir auch anderes übrig?« Nun greife ich ebenfalls nach dem Glas und kippe mir dessen gesamten prickelnden Inhalt hinter die Binde. Er schmeckt ekelhaft süß, wie Sekt, in den man noch selbstauflösenden Zucker hineingekippt hat.
Eine bedrückende Stille entsteht. Die Sonne verschwindet nun komplett hinterm Horizont und wird durch die eingelassenen Deckenstrahler ersetzt, die sich automatisch einschalten. Ob Shawn ahnt, weshalb ich mit Cincinnati grundsätzlich ein Problem habe? Warum muss dieser eine Strohhalm, diese allerletzte Chance, die ich kriegen werde, ausgerechnet in dem Bundesstaat sein, in dem ich die schlimmste Zeit meines Lebens verbringen musste? Die Menschen, das Wetter, die Steuererklärung – alles dort wird mich daran erinnern, was auf der Uni passiert ist und wie froh ich gewesen bin, als mich die Miami Thunderbirds gedraftet haben. Ohne die Hoffnung auf die NHL-Karriere hätte ich die Zeit damals nicht überlebt. Ohnehin ist es ein Wunder, dass mein Name heute auf einem Trikot statt auf einem Grabstein steht.
»Ich mochte dieses Appartement nie.« Shawns Tonfall wirkt nachdenklich. »Es ist kalt und seelenlos. Da kann auch der Blick über den Atlantik nichts dran ändern.«
»Tja, wie die Bude, so der Mieter würde ich sagen.«
»Bullshit.« Shawn kippt sich das Glas erneut voll. »Ich weiß, du hältst deinen Draft für ein Geschenk des Himmels, doch ich sehe das mittlerweile anders. Miami hat dir nicht gut getan. Ich habe noch nie so viele oberflächliche Menschen auf einem Haufen gesehen wie auf der Riesenparty zu deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Und da habe ich dieses unbeschreibliche Arschloch, dem du die schlimmste Zeit deines Lebens zu verdanken hast, noch nicht mit eingerechnet. Mit Frauen hattest du hier ja auch kein Glück.«
Ich schnaube auf. Kein Glück mit Frauen … Das liegt definitiv im Auge des Betrachters. Ich liebe meine Freiheit und hasse es, ausgenutzt zu werden. Was ist an Gelegenheitssex verwerflich? Die Antwort ist klar: nichts. Es sei denn, man ist Shawn McKennie und erklärt eine monogame Ehe und ein paar Kinder zum alleinigen Lebensinhalt.
»Denkst du, ich kaufe mir in Cincinnati ein Häuschen in der Vorstadt, heirate die Tochter des örtlichen Pfarrers und poste bei Instagram dann diese peinlichen Weihnachtsmorgenfotos im Rentier-Onesie?«
Mit einem Augenzwinkern antwortet Shawn: »Wer weiß? Für mich klingt das nach einem richtig guten Plan. Dein Neffe würde sich über ein paar Cousins und Cousinen sicherlich freuen.« Und trinkt den pervers süßen Secco in wenigen Zügen aus.