Kapitel 1
Feinkörniger Schnee fiel an jenem Abend auf die dunkle Einöde herab. Immer wieder wurde er vom eisigen Nordwind durchmischt und mitgenommen. Auf Dauer konnten die Eiskristalle der Schwerkraft jedoch nicht trotzen und wehten unweigerlich den trüben Lichtern eines kleinen Ortes entgegen. Longyearbyen. Der Ort, der einst von dem amerikanischen Unternehmer John Munroe Longyear als Bergbausiedlung gegründet worden war. Die Siedlung war die größte auf Spitzbergen und einer der nördlichsten Außenposten der Menschheit, danach kamen nur noch eisiges Polarmeer und irgendwann das Packeis. Der Ort schmiegte sich an einen Ausläufer des Isfjorden, der zu dieser Jahreszeit mit dickem Eis überfroren war.
Eine Flocke landete sanft und ohne einen Laut im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Ansonsten war es finster, es gab kein Mondlicht, das von der eisbedeckten Landschaft hätte reflektiert werden können. Das war nichts Ungewöhnliches. Zu dieser Jahreszeit, Ende Februar, war es hier oben auf Spitzbergen fast immer dunkel. Jedoch würde sich die Sonne schon bald ihren Weg zurück an den Horizont erkämpfen.
Die Straßenlaterne, in deren Licht die Schneeflocke bereits von unzähligen ihrer Artgenossen überlaufen worden war, stand an der Hauptstraße am östlichen Rand der Ortschaft. Außer dem leisen Säuseln des Windes war es vollkommen still. Es fuhren keine Autos. Zu dieser Zeit blieben die Menschen in ihren Häusern. Schon allein wegen der Kälte, doch auch, um nicht auf einen streunenden Eisbären zu treffen. Abseits des Weges lagen verschiedene Lagerhallen. Vor einer der Hallen stand ein überdimensionierter gelber Radlader.
Die Tür einer nahegelegenen Baracke öffnete sich und ein breitgebauter Mann in Winterarbeitskleidung trat heraus. Sein Atem kondensierte in der klirrenden Kälte und bildete eine Wolke, die er hinter sich herzog. Der Mann hatte keine Eile, trottete gemächlich durch den Neuschnee auf die Maschine zu. In einer behandschuhten Hand hielt er eine Thermoskanne und mit der anderen wischte er sich etwas Schnee aus dem bärtigen Gesicht. Das Profil der isolierten Arbeitsstiefel erzeugte ein knirschendes Geräusch in dem feinen Schnee, der seit ein paar Tagen wieder fest gefroren vom Himmel gefallen war.
Der Mann blickte in das Licht der Straßenlaterne drüben an der Straße und hielt einen Augenblick inne. Endlich gab es wieder richtigen Schnee und Minusgrade, auch wenn das für ihn mehr Arbeit bedeutete. Die Woche davor war es nichts als Matschepampe gewesen. Das war völlig untypisch für die Jahreszeit und hatte sich nicht richtig angefühlt.
Alf-Inge Brubakk wischte sich erneut den Schnee aus dem Gesicht und seufzte. Er stellte den Kaffee auf einem der riesigen Radkästen ab und trat erst mit dem rechten, dann mit dem linken Stiefel gegen den stählernen Fußtritt des Volvo Radladers, vor den eine kraftvolle Schneefräse gespannt war. Dann stieg er die wenigen Stufen hinauf. In der Kabine angekommen startete er den Motor und wartete einen Augenblick, bis endlich warme Luft aus dem Gebläse kam. Er zog die Handschuhe aus und nahm sich ein Snus aus der Tasche, füllte dann etwas Kaffee in den Becher, gab behutsam einen Zuckerwürfel in die dampfende Tasse und nippte vorsichtig daran. Gedankenversunken blickte er aus dem Fenster. Durch den feinen Schnee und die Dunkelheit verborgen lag hinter der Straße die charakteristische, plateauförmige Bergwand, die hinter dem Ort steil anstieg. Alf-Inge liebte diese schroffe, unnachgiebige Natur und konnte es kaum erwarten, dass das Licht zurückkehrte. Seit Ende Februar hatte es wieder so etwas wie eine Dämmerung gegeben und das wenige indirekte Tageslicht hatte ihm gutgetan. Auch wenn die Sonne noch nicht über die Bergwipfel kam und nicht wirklich zu sehen gewesen war. Das würde erst in zwei Wochen, am 10. März geschehen. Es war trotzdem schön. Alf-Inge brauchte das Licht zum Leben, so wie eine Blume es zum Wachsen benötigte. Er sah auf seine groben, von der Arbeit gezeichneten Hände und lächelte. Was für ein unpassender Vergleich. Er war nun wirklich keine zartfühlende Pflanze und das war auch gut so.
Alf-Inge blies sich etwas warme Luft in die Hände und rieb die Handflächen gegeneinander. Dann betätigte er einen Joystick und die Hydraulik hob die Schneefräse vorsichtig an. Er legte einen Gang ein und rollte zu guter Letzt langsam vom Hof. An diesem Abend würde es seine Aufgabe sein, die Hauptstraße, die vom Flughafen im Nordwesten der Stadt durch den Ort führte und letztlich im Adventdalen im Südosten endete, zu räumen. Die Straße war zwar den ganzen Winter über geräumt worden, jedoch hatten sich durch die Arbeit meterhohe Schneewände zu beiden Seiten der Fahrbahn gebildet. Es war, als ob man durch einen Tunnel ohne Decke fuhr. Jetzt war es an der Zeit, diese Wände einzureißen und die Straße wieder zu verbreitern. Die kalte Jahreszeit war hoffentlich bald vorüber. Alf-Inge lenkte den Stahlkoloss durch eine langgezogene Kurve und biss sich sanft auf die Unterlippe. Was für eine Schande der letzte Winter doch gewesen war; im Januar hatte der Gradstock acht Plusgrade angezeigt und es hatte geregnet. Normal waren da eher minus fünfzehn Grad. Blieb zu hoffen, dass das wenigstens einen guten Sommer bedeutete.
Alf-Inge wartete einen Kleinbus ab und sah auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr gerade durch. Er bog auf die Hauptstraße, die es zu räumen galt. Es gab um diese Tageszeit kaum Verkehr im Ort. Daher arbeiteten sie in der Nacht – um die Reisebusse zu umgehen, die sonst vollgepackt mit Touristen oder Grubenarbeitern unterwegs waren.
Bald hatte er die letzten Häuser des Ortes hinter sich gelassen. Vor ihm erstreckte sich die längste Straße der Insel, nicht mehr als eine verschneite Piste, die am vereisten Fjord entlang in das weite Adventdalen führte. Die Scheinwerferkegel des Volvos huschten über die Schneewüste. Darunter lag eine Landschaft, die auch im Sommer karg und von tundraähnlicher Vegetation geprägt sein würde. Im schummrigen Licht der polaren Nacht konnte Alf-Inge nun die Konturen der schneebedeckten Berge zu seiner Rechten erahnen. Immer seltener war abseits der Straße irgendeine Form der Beleuchtung auszumachen. Das waren die endlose Einsamkeit und Kälte, war das ultimative Gefühl der Isolation und Wildnis, das die Touristen hier suchten.
Alf-Inge kratzte sich am Bart. Dieses Jahr würde es wegen des Wetters sicher weniger Touristen geben. Ihm war das gleich, für ihn war dieser Job sowieso nur eine Gefälligkeit für seinen Vater, dem das Unternehmen gehörte. FBT, Fred Brubakk Transport, stand in blauer Schrift auf der Tür der Maschine geschrieben. Fred hätte es gefallen, wenn er das Unternehmen eines Tages übernehmen würde. Aber Alf-Inge hatte andere Pläne. Er startete den Podcast, in dem es um Aktienhandel ging. Es war vielleicht seine letzte Saison im Winterdienst auf diesem Radlaster, auf dem er endlose Polarnächte verbracht hatte. Er würde kündigen, um sich vollständig um seine Aktien zu kümmern. Fred würde es verkraften müssen, dass sein Sohn nicht die gleiche Arbeitsmoral hatte wie er. Er lächelte und öffnete einen Schokoriegel, den er auf dem Armaturenbrett abgelegt hatte. Dann blickte er auf das GPS-Gerät, um seine Position zu überprüfen. Mit der anderen Hand hielt er das Lenkrad. Er spürte die Vibrationen des riesigen Dieselmotors, der die Maschine antrieb. Schließlich verlangsamte er die Fahrt. Hier musste es gleich sein, die Stelle, an der er am Vorabend aufgehört hatte. Er rollte langsam noch ein paar Meter weiter, bis er in dem kalten Licht der Neonscheinwerfer erkannte, dass sich der Weg vor ihm verengte. Dort war deutlich eine Schnittkante in dem komprimierten Schnee zu erkennen. Heute Nacht würde er vielleicht ein oder zwei Kilometer schaffen, mehr war nicht drin. Die weiße Wand war hier zu beiden Seiten des Weges an die zwei Meter hoch und hart wie Eis: Der überfrierende Regen hatte sich wie ein Sarkophag über den Schnee gelegt.
Alf-Inge seufzte und fuhr den Radlader rechts an den Fahrbahnrand. Er senkte die Fräse und betätigte ein paar Knöpfe. Sofort war ein ansteigendes mechanisches Dröhnen zu vernehmen, als die Hydraulik begann, die Zähne der Fräse in Gang zu setzen. Alf-Inge spitzte die Lippen und stellte den Fuß behutsam auf das Gaspedal. Man musste vorsichtig sein, um die teuren Geräte nicht zu beschädigen. Jedoch hatte er jeden dieser Handgriffe bereits tausendfach ausgeführt. Im Licht der Scheinwerfer fuhr er langsam an und alsbald ertönten das charakteristische Schlagen und Jaulen des Metalls, das sich seinen Weg in das Eis schnitt. Das Rauschen des pulverisierten Schnees, der durch das System schoss, war zu hören. Schließlich stob feiner Puderschnee durch einen Auswurf etwas oberhalb und wurde rechts neben den Weg in die Luft gepustet.
Alf-Inge bewegte seinen Kopf in kreisenden Bewegungen. Er wischte sich ein paar Schokoladenreste vom Mund und gähnte. Dieser Teil der Arbeit war am langweiligsten, es ging nur langsam voran und er musste bloß ab und zu das Lenkrad ein paar Zentimeter justieren, um dem Verlauf der Straße zu folgen. Ansonsten würde er die nächsten Stunden nicht viel zu tun haben. Er würde den Podcast hören und sich gegebenenfalls ein paar Notizen machen, zu Aktien von Unternehmen, die er sich genauer anschauen wollte. Er musste nur wach bleiben, das war meistens das Schwierigste.
Plötzlich ein Klötern, dann ein metallisches Rattern. Alf-Inge verzog das Gesicht und sah auf. Allerdings kam nur etwas Erde durch den Auswurf herausgeschossen. Er war offenbar über irgendeinen Erdhaufen gefahren. Kein Problem für das Gerät, die Steine durften nur nicht zu groß sein, sonst könnten sie das Fräswerkzeug verbiegen und er würde eine Stunde in der Kälte verbringen müssen, um ein Blatt auszutauschen. Im schlimmsten Fall würde er für heute aufhören müssen, um die Fräse im Hauptlager reparieren zu lassen.
Er gähnte erneut und lehnte sich zurück. Einen Augenblick sah er auf sein Handy, wählte einen anderen Podcast aus und ließ diesen über die Anlage in der Kabine laufen. Er zog seine Jacke aus, denn es war mittlerweile mollig warm geworden.
Plötzlich machte die Fräse erneut ein Geräusch, dieses Mal etwas leiser. Alf-Inge warf einen Blick zum Auswurf, aus dem nun gar kein Schnee mehr kam. Irgendetwas musste das gottverfluchte Gerät verstopft haben. Er biss sich auf die Zunge.
So ein Scheiß, muss ich jetzt doch raus in die verdammte Kälte?
Er stoppte die Fräse und ließ das Gerät einen Augenblick rückwärts laufen. Dann schaltete er wieder auf normale Funktion. Ein einfacher Trick, um eine Verstopfung mit einem kleineren Gegenstand zu beheben. Es ertönte ein Aufheulen und der Schneestrom aus dem Auswurf war wieder der alte. Nur dass der Schnee etwas verfärbt wirkte. Alf-Inge kniff die Augen zusammen. Der Schnee war dunkelbraun. Nein, rötlich. Alf-Inge trat auf die Bremse und stoppte die Fräse. Vielleicht ein totes Rentier oder ein Fuchs, irgendein Tier, das irgendein Teufel im Herbst überfahren und nicht gemeldet hatte.
Alf-Inge fluchte laut auf und stöhnte dann. Es half nichts, er sollte wohl aussteigen und nachsehen. Er blickte auf die Temperaturanzeige und kratzte sich den Hinterkopf. Minus sieben Grad. Mit einem Schulterzucken schaltete er das Gerät erneut ein. Das Tier war tot, keine Frage. Was machte es da für einen Unterschied? Wieder sah er zum Auswurf. Ein unangenehmes Geräusch erklang, als ob ein Stock oder Knochen brechen würde. Dann kamen ein paar größere Brocken aus der Fräse.
Alf-Inges Augen weiteten sich und er stieß einen erstickten Schrei aus. Das waren Körperteile. Und zwar keine, die zu einem gottverfluchten Rentier gehörten. An den Körperteilen klebten Kleidungsreste.
Kapitel 2
Auf dem norwegischen Festland, etwas über eintausend Kilometer weiter südlich, war es ebenfalls ein finsterer Abend. Der Mond war nicht zu sehen, zudem war der meiste Schnee, der sonst noch etwas Licht reflektiert hätte, geschmolzen. Kirkenes lag still und ruhig am östlichen Rand der Finnmark, nicht weit von der russischen Grenze entfernt. Die meisten Bewohner hielten sich zu dieser Zeit in ihren Häusern auf und aus vielen Schornsteinen quoll träge der Rauch der Kaminöfen, der in die Nacht hinausgetragen wurde. Nur aus einem Garten im Doktor Palmstrøms Vei auf der Prestøy Halbinsel kam etwas Licht. Hinter einem gelben Holzhaus hatte jemand ein Feuer in einem Feuerkorb angezündet, um das Feuer herum standen zwei Campingstühle und ein kleiner Tisch mit einigen leeren Bierdosen und einer Schale mit Dill-Chips darauf. Auf den Dosen war eine dunkle, skandinavische Waldlandschaft in der Abenddämmerung vor einem endlosen See und Bergen zu sehen. Im Wald stand ein Elch und darüber stand in großen, roten Buchstaben Nordlands Gull geschrieben. Ein schwedisches Bier. In einem der Stühle saß ein blonder Mann in eine Fleecedecke eingewickelt, blickte gedankenversunken in die Flammen. Plötzlich sah er auf zu der Veranda; die Tür war aufgerissen worden und heraus kam ein größerer Mann mit lockigem Haar. Er hatte in jeder Hand zwei Bierdosen und war daher gezwungen, die Verandatür mit dem Fuß hinter sich zuzuziehen.
„Das wird auch Zeit“, sagte Mats und warf noch ein Holzscheit in den Feuerkorb. „Ich dachte schon, du hättest mich hier draußen vergessen und wärst ins Bett gegangen.“
Karl grinste und trat in die Einfahrt. Der graue Kies, der vom flackernden Feuerschein angeleuchtet wurde, knirschte unter den Sohlen seiner Crocs. Karl war zufrieden, das Geräusch war eine willkommene Abwechslung zum Knirschen des Schnees, der erst vor wenigen Tagen geschmolzen war. Frühling lag in der gleichwohl noch immer kühlen Luft.
Als er sich dem Feuer näherte, stieg ihm der Rauch in die Nase; das Aroma von Tannenharz und Rinde, der Geruch des Waldes. Ein angenehmes Geruchserlebnis.
„Aufgepasst, Mats!“ Karl warf ihm eine Dose zu. Das Bier aus Nordschweden hatten sie von einer der letzten Wochenendtouren mitgebracht, sie waren Ski gefahren und wie schon öfter zuvor hatten sie dafür Mats’ Hütte in Nordbottenlän genutzt.
Zu guter Letzt ließ sich Karl neben seinem Kollegen in den freien Campingstuhl fallen und wickelte sich ebenfalls in eine zerschlissene Fleecedecke ein, in der einige kleine Brandlöcher zu sehen waren. Zufrieden stellte er die anderen Dosen auf den Tisch und warf ebenfalls ein Holzscheit in den Korb. „Und?“, fragte er und sah seinen Partner mit einem Lächeln an.
Mats öffnete sein Bier und trank einen Schluck. „Ich muss zugeben, dass es mir gefällt. Ich hätte nicht gedacht, dass es schön sein würde, Ende Februar draußen ein Feuer zu machen. Auf die Idee wären wir in Schweden niemals gekommen.“
Karl nickte wissend, öffnete ebenfalls ein Bier und prostete dem Kollegen zu. „Ich auch nicht. Aber mein alter Herr hat das immer getan. Um die Sonne zu begrüßen, hat er gesagt, damit sie schneller zurückkommt. Ich habe den Feuerkorb beim Aufräumen im Schuppen gefunden und dachte, diese Tradition werde ich von nun an weiterführen. Schön, dass du mitmachst.“
Einen Augenblick saßen die beiden Männer still um das Feuer und sahen dem flackernden Lichtschein zu, der zuckend über die gelbe Holzfassade und die kahle Hecke hinter ihnen sprang. Ein lautes Knacken ertönte, als ein paar Funken aus dem Korb flogen. Die meisten landeten im Kies; einer jedoch traf Karls Fleecedecke. „Verdammt!“ Er schlug den Funken mit der Hand weg. Dann lächelte er und nahm erneut einen Schluck. „Und Elin, deine Schwester ist fertig in Schweden? Sie hat die Polizeiausbildung geschafft?“
Mats nickte. „Ja, Elin ist jetzt auch Polizistin, genau wie unser Vater. Etwas anderes können wir Samuelssons anscheinend nicht.“
Karl schwieg einen Augenblick. Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn er der Berufswahl seines Vaters gefolgt wäre. Er wäre sicherlich arbeitslos gewesen, denn die Salzmiene, in der Olav bis zu seinem Tode gearbeitet hatte, war längst geschlossen.
„Meinst du, sie bekommt dort in Umeå einen Job?“
Mats zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie ist am Überlegen, wie es weitergeht. Vielleicht geht sie in den Süden, nach Stockholm oder Malmö. Da stellen sie wohl momentan noch neue Polizisten ein. Überall sonst müssen sie sparen.“ Er verzog den Mund und sah Karl an. „Aber das würde Silja das Herz brechen. Du weißt ja, wie gut die beiden befreundet sind.“
Karl nickte, wusste er doch, dass Mats’ Schwester Elin und seine Freundin Silja schon seit der Kindheit eng befreundet waren. „Na ja, Elin könnte sich auch hier bei uns bewerben.“
Mats lachte laut auf. „Das aus deinem Mund. Ich weiß noch, was du damals für einen Aufstand gemacht hast, als ich eingestellt worden bin.“
Karl bewegte bedächtig den Kopf hin und her. „Wenn man erst mal einen Schweden eingestellt hat, dann ist es eh zu spät. Dann ist der zweite auch egal.“
Mats zog die Decke fester um sich. „Um ehrlich zu sein, habe ich ihr das auch schon vorgeschlagen. Aber wenn du wüsstest, wie stur Elin ist. Wenn eine Idee von ihrem großen Bruder kommt, dann kann sie ja nicht gut sein. Sie muss das Gefühl haben, dass sie selbst darauf gekommen ist. Aber es gibt noch Hoffnung. Ich bin mir sicher, dass Silja sie ebenfalls bearbeitet. Für sie wäre das der größte Traum, Elin hier bei uns zu haben.“
Karl steckte sich ein Snus in den Mund. „Wie geht es Silja denn nun, da ihre andere Freundin wieder nach Schweden zurückgezogen ist?“
Sofia war vor Weihnachten in ihre Heimat zurückgekehrt. Ein Grund war gewesen, dass ihre Aushilfsstelle im Kindergarten nicht verlängert worden war. Ein anderer, dass die Beziehung mit Karl sie überfordert hatte.
„Um ehrlich zu sein, ist Sofia ihr ziemlich auf die Nerven gegangen. Trotzdem ist sie enttäuscht, dass du sie nicht zum Bleiben überredet hast.“
Es wurde einen Augenblick still um das Feuer. Schließlich fuhr Mats fort: „Es war auch ziemlich blöd von dir, Karl. Wer weiß, wann mal wieder irgendeine Frau überhaupt etwas mit dir zu tun haben will. Du wirst schließlich nicht jünger.“
Karl stöhnte theatralisch auf. „Ich habe doch versucht, sie zu überreden. Aber es war zu spät. Sie hatte ihre Entscheidung gefällt.“
Mats lachte. „Ja, weil sie das Foto von Kari in deinem Portemonnaie gefunden hat. Obwohl du versprochen hattest, die alle wegzuwerfen.“
Wieder saßen die beiden Männer einen Augenblick still nebeneinander und nur das gelegentliche Knacken des Holzes durchdrang die Stille. Karl sah in den sternenklaren Himmel über ihnen hinauf.
„Sieh es mal so“, begann er schließlich. „Es ist doch gut, dass ich wieder Single bin. Dann kann Elin bei mir einziehen, wenn sie nach Kirkenes kommt. Sie spart sich also die Miete.“
Mats schüttelte energisch den Kopf. „Ich kenne die Männer, mit denen Elin zusammen war. Die haben trainiert, sahen gut aus und hatten alle etwas mehr Niveau als du, Karl Sortland.“
Karl ließ sich nicht beirren. „Elin Sortland. Deine vielleicht letzte Chance auf Verwandtschaft mit mir!“
Jetzt war es Mats, der wieder ein Holzscheit in den Korb warf. Die Flammen stoben bereits hoch aus dem Korb. Ein sogenanntes Touristenfeuer, hätte Olav gesagt.
„Du hast sie ja noch nicht einmal getroffen“, sagte Mats.
„Ich habe aber Bilder gesehen“, konterte Karl. „Elin ist eine weibliche Version von dir. Nur ihre Nase ist schön, viel besser als deine. Und sie hat keine Geheimratsecken, der Haaransatz ist noch dort, wo er hingehört. Könnte also schlimmer sein.“
Er gähnte, sah auf die Uhr. Es war schon kurz vor Mitternacht.
„Spaß beiseite. Es wäre toll, wenn sie sich hier bewirbt. Für sie würde das einen guten Job bedeuten, nicht allzu weit von Umeå entfernt. Und für dich wäre es auch super, weil du dann deine Schwester hier hättest. Deine Familie. Und natürlich würde Silja sich freuen. Wenn ich also etwas tun kann, dann musst du es nur sagen. Ich helfe ihr gern.“
Mats nickte und atmete langsam aus. „Danke, Karl.“
Karl wischte sich durchs Gesicht. „Das mit Sofia tut mir im Übrigen leid. Es war zum Teil sicher meine Schuld. Aber es hat sich in der letzten Zeit einfach nicht mehr richtig angefühlt.“
Noch bevor Mats antworten konnte, gab Karls Mobiltelefon ein gedämpftes Piepen von sich. Er kramte es umständlich aus seiner Tasche, musste dazu erst die Fleecedecke ablegen. Die Nachricht war von ihrer Vorgesetzen. Er kratzte sich gedankenverloren an der Stirn.
„Was ist denn?“, fragte Mats.
„Aino. Sie schreibt, dass wir unsere Winterkleidung wieder vom Dachboden holen sollen. Alles Weitere erzählt sie uns morgen.“
„Oh, vielleicht geht es wieder auf die Bäreninsel, nach Bjørnøya.“
Karl bemerkte den erfreuten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des Kollegen. Er schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nicht. Aber wer weiß, was Aino uns wieder eingebrockt hat.“
Die beiden Polizisten prosteten sich zu und sahen schweigsam in die Flammen, die aus dem Feuerkorb loderten. Das flackernde Licht erleuchtete noch die Rückseite des Hauses und die Garage. Die Vorderseite des Hauses lag im Dunkeln. Das gelegentliche Knacken der Holzscheite und das Gespräch der beiden Männer waren unten am Doktor Palmstrøms Vei schon nicht mehr zu hören.
Kapitel 3
Karl klopfte an die Glastür und trat ein, noch bevor er die Antwort der Abteilungsleiterin gehört hatte. Aino schien dies heute nicht zu stören, die Vorgesetzte winkte ihn und Mats einladend herein, sodass ihre braunen Locken über ihre Schultern wippten. Dann neigte sie den Kopf und es lag ein feines Lächeln auf ihren Lippen. „Wo sind eure Koffer?“ Karl sah seinen Partner an, der verdutzt zurückblickte. Dann kniff er die Augen zusammen und musterte die Chefin. „Hast du das ernst gemeint, dass wir Wintersachen packen sollen? Bitte sag nicht, dass wir wieder nach Bjørnøya müssen.“
Aino gluckste vergnügt und deutete auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch.
„Setzt euch. Ich habe gute und schlechte Nachrichten. Welche möchtet ihr zuerst hören?“
Karl wollte sagen, dass er die negativen Neuigkeiten zuerst abhaken wollte, er handhabte das immer so. Jedoch fiel sein Partner ihm ins Wort: „Die gute zuerst!“
„Schön. Die gute Nachricht ist, dass ihr euren Kumpel Mikkel Kuhmunen wiedersehen werdet. Wenn ihr wollt.“
„Okay“, antwortete Karl zögerlich. „Das wäre schön.“ Ihm war der Kollege aus Spitzbergen durch die gemeinsame Arbeit an zwei Fällen ans Herz gewachsen, auch wenn Mikkel es wie kaum ein anderer verstand, Karl zu necken. Das fing schon damit an, dass er ihn ständig Karlemann nannte. Aber daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Dazu war Mikkel ein außerordentlich guter Polizist mit einem feinen Instinkt, mit dem die Arbeit Spaß machte.
„Also, die schlechte Nachricht ist“, fuhr Aino fort und legte eine lange Kunstpause ein, „dass ihr dazu nach Spitzbergen reisen müsst.“
Karl biss sich auf die Unterlippe. Er hatte schon vermutet, dass Aino die beiden mal wieder an irgendeine andere Kommune ausgeliehen hatte. Und das nur, um vor dem Polizeipräsidenten gut dazustehen.
Mats hatte seinen Gesichtsausdruck bemerkt. „So schlimm ist das doch nicht, oder?“
Karl blickte ihn finster an. „Weißt du eigentlich, wie kalt und dunkel es momentan auf Spitzbergen ist?“
Aino lachte. „Die haben dieses Jahr einen außergewöhnlich warmen Winter gehabt. Plusgrade im Januar. Außerdem feiern sie dort am 10. März den Tag, an dem die Sonne zurückkommt. Also in nicht mal zwei Wochen.“ Sie nickte ernst. „Aber Spaß beiseite, sie brauchen Hilfe dort. Der Sysselmester, der Chef der dortigen Polizei, wurde angeschossen. Er heißt Fred Hansen, ich kenne ihn gut.“
„Davon stand gar nichts in der Zeitung“, antwortete Karl.
„Nein, nein. Es ist vorgestern erst passiert und sie wollten das nicht an die große Glocke hängen, bis sie wissen, was genau geschehen ist. Es kann natürlich einfach ein Unfall gewesen sein. Ihr wisst ja, dass dort so gut wie alle ein Gewehr bei sich tragen, wegen den Eisbären. Außerdem findet im Mai ein Treffen der NATO auf Spitzbergen statt, da möchte man keine unnötige Unruhe erzeugen. Die Bevölkerung wird informiert, sobald ein paar weitere Beamte vor Ort sind. Und da kommt ihr ins Spiel. Sie haben dort nämlich nur drei Polizisten und einer von ihnen liegt im Krankenhaus. Bei einer Ausfallquote von einem Drittel ist ein Ersuch um Amtshilfe keine Überraschung, oder?“
„Waren es vielleicht NATO-Gegner?“, fragte Mats vorsichtig.
Aino zuckte mit den Schultern. „Kann sein, kann auch etwas anderes sein. Oder wirklich einfach ein Unfall. Wie dem auch sei, der Sysselmester wurde nach Tromsø geflogen, liegt dort im Krankenhaus. Er wird überleben. Leider kann er sich an nichts erinnern. Deshalb hat mich der Polizeipräsident angerufen. Sie haben es auch in Tromsø versucht, sind dort aber abgeblitzt. Die sind angeblich selbst völlig unterbesetzt zurzeit.“
„Und wir sollen dabei helfen, das aufzuklären?“, fragte Karl.
„Na ja, dabei auch. Aber sie brauchen insgesamt einfach mehr Personal, um vor dem NATO-Treffen Präsenz zu zeigen. Und um die gewöhnlichen Aufgaben der Polizei wahrzunehmen. Ihr wärt sozusagen die Kavallerie, die Ritter in weißer Rüstung, die zur Rettung eilen.“
Sie lächelte zufrieden ob des Vergleichs und schob Karl über den Tisch einen Ausdruck zu. Darauf war eine Flugreise beschrieben, die noch am selben Tag stattfinden sollte: Widerøe von Kirkenes nach Tromsø, dann später am Abend weiter mit SAS nach Longyearbyen.
„Ach ja. Man hat dort zudem eine Leiche gefunden. Lag ihm Schnee. Eine Fräse hat sie deshalb ziemlich übel zugerichtet. Trotzdem sieht es nicht nach einem natürlichen Tod aus. Vielleicht ein Unfall mit Fahrerflucht. Ihr seht, die haben da einiges zu tun und Mikkel könnte wirklich eure Hilfe gebrauchen.“ Sie nahm ihre Brille ab und musterte die beiden Männer. „Nun, was sagt ihr zu ein paar Wochen auf Spitzbergen? Wenn ihr Ja sagt, dann buche ich eure Flüge.“
„Ich wäre dabei“, sagte Mats prompt.
Karl schüttelte den Kopf. „Willst du nicht erst mal Silja fragen? Sie wäre ja schließlich die ganze Zeit mit Timmy alleine.“
„Ja, natürlich, werde ich gleich machen“, antwortete Mats und nickte Aino zu.
„Wer ist denn Timmy?“, fragte diese.
Karl grinste. „Timmy ist ein junger Schäferhund, den Killgren in dem verlassenen Bürogebäude gefunden hat, wo die Edelweiß-Junkies gehaust haben. Ein Obdachloser wollte sich nicht mehr um ihn kümmern, oder konnte es nicht. Killgren hat ihn mitgenommen und Mats hat ihn adoptiert.“
„Ach, wirklich? Das ist ja nett.“ Sie lächelte, wurde dann wieder ernst. „Frag Silja, ob es in Ordnung ist. Nicht, dass du sie und Tony im Stich lässt“, sagte die Abteilungsleiterin.
„Der Hund heißt Timmy“, sagte Karl mit getragener Stimme. „Timmy, nicht Tony.“
Aino blickte ihn irritiert an, nickte dann.
„Ich werde Silja natürlich fragen“, wiederholte Mats. „Aber wenn sie nichts dagegen hat, dann sollten wir reisen.“ Er stieß Karl in die Seite. „Mikkel hat uns doch auch geholfen, als bei uns Not am Mann war.“
Das stimmte. Mikkel Kuhmunen hatte sich im letzten Jahr freiwillig gemeldet und ein paar Wochen in Kirkenes gearbeitet, als eine Drogenepidemie in der Finnmark grassierte. Der Polizist aus Spitzbergen hatte geholfen, die Hintermänner dingfest zu machen und den Import aus Russland zu stoppen. Dabei war Mikkel sogar in eine Schießerei verwickelt worden. Karl musste sich eingestehen, dass sie ihm einen Gefallen schuldig waren. Trotzdem holte er sein Handy aus der Tasche und öffnete demonstrativ die App des norwegischen Wetterdienstes YR.
„Willst du gucken, wie das Wetter da jetzt ist“, fragte Aino.
Karl nickte.
„Wenn du nicht möchtest, dann frage ich statt dir Killgren. Der kann auch mit Mats fliegen.“
Karl schloss kurz die Augen. Natürlich wollte er dabei sein; nur sofort zustimmen wollte er nicht: ein Tanz, den er mit Aino zur Perfektion weiterentwickelt hatte. Er ließ das Handy auf den Tisch fallen. „Und wer macht an unseren Fällen weiter, während wir weg sind?“
„Der Raub in dem Juwelierladen? Das kann nun wirklich warten. Was ist denn dein Problem?“
„Ich will ja helfen. Aber ich frage mich, warum immer Mats und ich weggeschickt werden. Wenn Spitzbergen mehr Leute braucht, warum stellen sie nicht mehr ein?“
Aino atmete leise aus. „Karl, du weißt doch, dass einige Gemeinden hier im Norden nur wenig Personal haben. Da helfen wir uns eben gegenseitig, anders geht es nicht. Kirkenes hat auch schon häufiger um Amtshilfe gebeten. So ist es hier oben nun einmal. Das nächste Mal sind wir es, die Hilfe bekommen.“
„Aber warum immer Mats und ich?“
Aino grinste breit. „Na, ich schicke eben unsere besten Leute. Damit wir einen guten Eindruck hinterlassen. Ist das nicht logisch?“
Karl verdrehte die Augen und stand behäbig auf. „Was solls. Dann fahren wir jetzt eben heim und packen.“ Als er beinahe die Tür erreicht hatte, drehte er sich erneut um. „Wie sieht es denn mit Überstunden aus?“
„Raus mit dir!“, sagte Aino mit einem Zwinkern. „Ich buche jetzt eure Flüge. Kommt später mit eurem Gepäck wieder zu mir. Dann gebe ich euch die Tickets und ein paar weitere Informationen.“