Leseprobe Nicht ohne meinen Duke

London Society Times

DER LETZTE VERBLIEBENE HERZOG

Liebe Leser,

ich, Ihr geschätzter Korrespondent, kann es nicht glauben. Nicht nur, dass dieser lüsterne Teufel, der Duke of Thornstock, tatsächlich geheiratet hat, er hat sich auch noch Miss Olivia Norley als Braut ausgesucht! Und das, nachdem sie ihn vor Jahren so schroff zurückgewiesen hat. Er muss sich gebessert haben, denn Unterzeichneter weiß ganz genau, dass Miss Norley ihn sonst nie geheiratet hätte.

Das bedeutet, dass sein Halbbruder Sheridan Wolfe, der Duke of Armitage, als einziger Sohn der Herzogin noch nicht verheiratet ist. Was für ein Fang für die junge Dame, die ihn sich schnappen wird! Obwohl wie üblich böse Zungen behaupten, dass er ein Vermögen heiraten muss, um seinen Besitz zu sichern, wird das für jemanden mit einer heiratsfähigen Tochter keine Rolle spielen. Immerhin ist er Herzog, und ein junger, gut aussehender noch dazu, was besonders selten ist. Ich wage zu behaupten, dass er nicht mehr lange unverheiratet bleiben wird. Wie herrlich wird es sein, ihn bei der Jagd nach seiner Braut zu beobachten. Armitage ist diskret, was Thornstock nicht war, und er lebt sogar noch zurückgezogener als sein anderer Halbbruder, der Herzog von Greycourt. Es wird also eine höchst faszinierende Dame sein müssen, die seine Rüstung durchdringt und das ungewöhnliche Herz erobert, das sicherlich darunter schlägt. Wir warten atemlos auf das Ergebnis.

1. Kapitel

Armitage House, London

November 1809

„Der Duke of Greycourt ist hier, um Sie zu sehen, Euer Gnaden.“

Sheridan Wolfe, der Duke of Armitage, blickte von der Liste der Pferde in den Ställen seines Familiensitzes, Armitage Hall, auf und sah seinen Butler in der Tür. „Führen Sie ihn herein.“

Grey, sein Halbbruder, sollte eigentlich in Suffolk sein.

Gott sei Dank war das nicht der Fall. Greys Besuch war eine willkommene Ablenkung von dem Versuch, zu entscheiden, welche Pferde versteigert werden sollten. Sheridan wollte sich von keinem der wirklich erstklassigen Reittiere trennen. Aber das Herzogtum Armitage wurde von einem Schuldenberg erdrückt, dank der Verschwendungssucht seines verstorbenen Onkels und der Tatsache, dass Sheridans Vater …

Dass sein Vater – Greys Stiefvater – viel zu früh gestorben war, saß ihm wie ein Kloß im Hals.

Sheridan schob die Liste beiseite. Verdammt, es war schon ein Jahr her. Warum verfolgte ihn Vaters Tod immer noch so sehr? Selbst Mutter schien besser damit fertig zu werden als er. Wenn Grey nicht gekommen wäre, würde er mit Juno im Hyde Park ausreiten, um sich abzulenken. Vielleicht später. Die Vollblutstute war besonders gut im …

Sheridan stöhnte, als er daran dachte, dass Juno ihm nicht mehr gehörte. Er hatte sie als Erstes verkauft, um sich finanziell über Wasser zu halten, und es war ihm sehr schwergefallen. Sie war das beste Reitpferd im Gestüt seines verstorbenen Onkels – doch sonst hätte er eines der Rennpferde verkaufen müssen, und mit denen ließ sich noch Geld bei Rennen und Ausstellungen verdienen, auch wenn sie nicht zum Reiten taugten. Was für ein deprimierender Gedanke. Er stand auf und ging zu dem Tisch, auf dem die Brandyflasche stand. Wahrscheinlich war es jetzt – am Nachmittag – noch zu früh für Alkohol, aber wenn er nicht reiten konnte, brauchte er einen Brandy und ein nettes Gespräch mit Grey. Er schenkte sich selbst ein Glas ein und wollte gerade eines für seinen Halbbruder füllen, als der Butler Grey eintreten ließ. Sheridans Vorstellung von einer gemütlichen Plauderei war wie weggeblasen. Sein Bruder sah aus, als habe er schon zu viel getrunken und sei nun dabei, seine Rechnung zu begleichen. Blass und nervös sah Grey sich misstrauisch im Arbeitszimmer von Sheridans Londoner Herrenhaus um, als erwarte er, dass jeden Augenblick ein Straßenräuber hinter einem Schrank hervorkommen würde.

„Möchtest du etwas?“, fragte Sheridan seinen Bruder und gab dem Butler ein Zeichen, einen Moment zu warten. „Tee? Kaffee?“ Er hob das Glas in seiner Hand. „Brandy?“

„Dafür habe ich keine Zeit, fürchte ich.“

Sheridan gab dem Butler ein Zeichen, zu gehen. Als die Tür geschlossen war, fragte er: „Was ist passiert? Ist es etwas mit Beatrice? Du bist doch sicher nicht wegen des Stücks in der Stadt, nicht unter diesen Umständen.“

In ein paar Stunden würde sich der Rest der Familie die Benefiz-Aufführung von Konrad Junckers The Wild Adventures of a Foreign Gentleman Loose in London im Parthenon Theater ansehen. Sheridan kannte den Dramatiker kaum, doch sein anderer Halbbruder, Thorn, hatte ihn gebeten, mitzukommen, weil die Wohltätigkeitsorganisation seiner Frau sehr am Herzen lag: Half Moon House, eine Einrichtung, die Frauen in allen Lebenslagen und aus allen Schichten half, wieder auf die Beine zu kommen.

Grey schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin gekommen, um einen Geburtshelfer für Beatrice zu holen. Unsere Hebamme im Ort sagt, meine Frau könnte früher als später entbinden, und sie befürchtet Komplikationen. Deshalb bin ich nach London geeilt, um einen Arzt zu finden, der Beatrice untersucht, falls die Hebamme recht hat. Der Mann wartet gerade in meiner Kutsche auf mich.“

Sheridan hob eine Augenbraue und sagte: „Ich hätte gedacht, dass du ,eher früher als später‘ das Bett mit Beatrice geteilt hast, aber ihr seid seit zehn Monaten verheiratet, also ist es keine Frühgeburt.“

„Nein, wirklich nicht. Und die Hebamme könnte sich irren, aber darauf kann ich mich nicht verlassen. Deshalb habe ich unterwegs hier angehalten. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

Sheridan legte den Kopf schief. „Leider kenne ich mich nicht damit aus, Babys auf die Welt zu helfen, daher …“

„Weißt du noch, wie wir beschlossen haben, dass ich Tante Cora zu den zwei Hauspartys befragen sollte, weil die Mörderin meines Vaters wahrscheinlich auf beiden zu Gast war?“

„Ja.“

Die fünf Geschwister waren zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter nicht durch bloßes Pech drei Mal verwitwet war. Jemand hatte ihre Ehemänner ermordet, darunter Maurice Wolfe, der Vater von Sheridan und Heywood und einstiger Duke of Armitage. Sie hegten den Verdacht, dass hinter den Morden eine der drei Frauen steckte, die alle bei den Hauspartys dabei gewesen waren, als die ersten beiden Ehemänner gestorben waren. Sheridan und seine Geschwister waren nun mit verdeckten Ermittlungen beschäftigt und hatten jeweils einen Auftrag erhalten. Grey hatte den Auftrag, seine Tante Cora, auch bekannt als Lady Eustace, zu befragen, die mit keiner der anderen Frauen verwandt war.

Sheridan wurde plötzlich klar, was für ein „Gefallen“ es sein sollte. „Nein. Gott, nein. Das werde ich nicht tun.“ Verdammt.

„Du weißt doch noch gar nicht, worum ich dich bitten wollte“, sagte Grey.

„Ich kann es mir schon denken. Du willst, dass ich Lady Eustace aushorche.“

Grey seufzte. „Ja, in Anbetracht der Situation.“

„Du wirst bald wieder in der Stadt sein. Bis dahin kann es doch warten, oder?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie lange ich noch auf dem Land bleiben muss.“

Sheridan holte tief Luft. „Ja, aber warum soll ausgerechnet ich das tun? Ich kenne sie doch kaum.“

„Die anderen kennen sie überhaupt nicht“, bemerkte Grey. „Aber du bist wenigstens mit Vanessa befreundet, und damit hast du einen Vorwand.“

Genau deshalb wollte Sheridan es nicht tun. Denn um Lady Eustace auszuhorchen, musste er in der Nähe ihrer Tochter sein – Miss Vanessa Pryde. Sie verdrehte ihm den Kopf mit ihrer Schönheit, ihren rabenschwarzen Locken, ihrer üppigen Figur und ihrem munteren Lächeln.

„Ich habe mich ein paar Mal mit Vanessa unterhalten“, sagte Sheridan. „Damit bin ich noch nicht der ideale Kandidat.“

„Ah, aber meine Tante und ich hassen uns. Damit bin ich ein noch schlechterer Kandidat, denn mir wird sie wohl nicht die Wahrheit sagen.“

Es war ein offenes Geheimnis in der Familie, dass Greys Onkel Eustace den Jungen Grey schlecht behandelt hatte, um ihn dazu zu bewegen, ihm mehrere Besitztümer zu überschreiben. Und dass Greys Tante Eustace die Augen davor verschlossen hatte.

Sheridan nippte an seinem Brandy. „Und warum sollte deine Tante mir die Wahrheit sagen?“

„Weil du ein Herzog im heiratsfähigen Alter bist. Und ihre Tochter ist eine junge Dame im heiratsfähigen Alter. Ich möchte nicht vorschlagen, dass du so tun solltest, als würdest du Vanessa den Hof machen, aber ihre Mutter wird die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und vielleicht nimmt sie sich dann weniger in Acht.“

„Da bin ich nicht so sicher. Deine Tante war immer sehr kühl zu mir, wahrscheinlich, weil ich ein zwar heiratsfähiger, jedoch armer Herzog bin. Sie ist auf der Suche nach einem reichen Mann für Vanessa, und ehrlich gesagt wird Vanessa auch einen solchen brauchen. Das Mädchen ist verwöhnt und unverschämt, und das ist eine gefährliche Mischung für einen Mann, der seiner Frau keine teuren Kleider, Pelze und Diamanten kaufen kann. Ich halte mich schon jetzt nur knapp über Wasser. Eine Frau wie Vanessa würde mich ertränken.“

Greys Augen wurden schmal. „Vanessa ist gar nicht so verwöhnt. Sie will nur immer ihren Kopf durchsetzen.“

„Wo ist da der Unterschied?“

„Ein verwöhntes Mädchen bekommt alles geschenkt und glaubt, in der Ehe würde es so weitergehen. Glaub mir, Vanessa hat zwar einige Vorteile genossen, aber auch sie ist in chaotischen Verhältnissen aufgewachsen. Deshalb ist sie so wild entschlossen, sich nie unterkriegen zu lassen.“

„Aber eine solche Frau zu heiraten, bedeutet, dass man in der Ehe ständig Streit hat.“

„Gwyn und Beatrice sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, und bisher sind Joshua und ich ganz zufrieden. Ich bin sogar sehr gern mit einer energischen Frau verheiratet, die weiß, was sie will.“

„Schön für dich“, sagte Sheridan knapp. „Aber du hast Geld wie Heu und kannst ihr alles bieten. Das kann ich nicht. Und deine Frau ist auch nicht in diesen elenden Dichter Juncker vernarrt.“

„Ah ja, Juncker.“ Grey rieb sich das Kinn. „Ich denke, das ist nur eine mädchenhafte Schwärmerei.“

„Glaub mir, ich habe sie schon oft von Junckers ‚brillanten‘ Stücken schwärmen hören. Einmal erzählte sie mir irgendeinen Unsinn darüber, dass Juncker mit der Wildheit eines ‚finsteren Engels‘ schreibe, was auch immer das heißen mag. Diese leichtfertige Gans hat keine Ahnung, was für einen Mann sie heiraten sollte.“

„Aber du weißt es offenbar“, sagte Grey mit einem seltsamen Funkeln in den Augen.

„Ja, allerdings. Sie braucht einen Mann, der sie im Zaum hält und ihren jugendlichen Überschwang in vernünftige Bahnen lenkt. Leider hat sie romantische Vorstellungen, die ihr nicht gut bekommen werden. Deshalb wünscht sie sich einen Mann, der unter ihrem Pantoffel steht, damit sie ihre Mitgift nach Belieben verschwenden kann.“

„Du meinst Juncker“, sagte Grey.

„Wen sonst? Du weißt ganz genau, dass sie seit mindestens ein paar Jahren hinter ihm her ist.“

„Und das stört dich?“

Die Frage traf Sheridan unvorbereitet. „Ganz bestimmt nicht.“

Grey grinste und Sheridan fügte mürrisch hinzu: „Ich gönne ihr diesen Juncker. Sie könnte vielleicht einen Besseren finden, aber auch einen viel Schlechteren.“

„Du hast mich überzeugt“, sagte Grey ruhig. „Es sei denn …“

„Es sei denn?“

„… es ist dir ein Dorn im Auge, dass sie glaubt, Herzöge seien arrogant und gefühllos oder ähnlicher Unsinn. Deshalb würde sie nie einwilligen, dich zu heiraten.“

„Ja, das hast du mir schon einmal gesagt.“ Sogar mehr als einmal. So oft, dass es ihm auf die Nerven ging. „Und ich bin nicht darauf aus, sie zu heiraten.“

„Vielleicht kannst du sie so umgarnen, dass sie dich irgendwann mag, aber mehr …“

Grey ließ den Gedanken in der Luft hängen und Sheridan knirschte mit den Zähnen. „Ich weiß, was du meinst.“

Sheridan hatte nicht vor, Vanessa zu umgarnen, damit sie ihn „mochte“. Sie war nicht die richtige Frau für ihn, das hatte er schon vor langer Zeit entschieden.

„Wolltest du nicht Vanessas Mitgift bezahlen?“, fügte Sheridan hinzu und trank noch einen Schluck Brandy. „Du könntest Lady Eustace unter Druck setzen, ihre Geheimnisse zu verraten – mit der Drohung, die Mitgift erst auszuzahlen, wenn deine Tante ausgepackt hat.“

„Erstens würde das nur Vanessa wehtun. Zweitens, wenn meine Tante in die Enge getrieben wird, wird sie einfach lügen. Außerdem hängt alles davon ab, dass du deine Ermittlungen weiterführst, solange die Mörderin noch denkt, sie würde ungestraft davonkommen. Deshalb habe ich Tante Cora und Vanessa nicht erzählt, dass wir wissen, woran mein Vater gestorben ist – an einer Arsenvergiftung. Auch deshalb solltest du meine Tante befragen. Bei dir wird sie keinen Verdacht schöpfen.“

„Was ist mit Sanforth?“, fragte Sheridan. „Eigentlich hatten wir ja beschlossen, dass ich mich in der Stadt umhören sollte. Was ist aus diesem Teil unseres Plans geworden, den oder die Mörder unserer Väter zu finden?“

„Heywood kann sich genauso gut in Sanforth umhören.“

Das stimmte wahrscheinlich. Sheridans jüngerer Bruder, ein ehemaliger Colonel aus der Armee, hatte sein eigenes bescheidenes Vermögen schon merklich vergrößert. Die wenigen Bewohner von Sanforth zu befragen, war dagegen ein Spaziergang.

„Du siehst also“, fuhr Grey fort, „es gibt keinen Grund für dich, überhaupt aufs Land zurückzukehren. Da du heute Nachmittag schon einmal in der Stadt bist, um dir das Stück anzuschauen, kannst du auch in die Loge des Bruders meiner Tante gehen und sehen, was du herausfindest. Du kannst so tun, als seist du da, um mit Vanessa zu plaudern.“

„Wenn sie sich das Stück überhaupt ansehen“, sagte Sheridan. „Ich glaube nicht, dass Lady Eustace etwas für Benefiz-Veranstaltungen übrig hat.“

„Oh, sie werden da sein“, sagte Grey. „Vanessa wird schon dafür sorgen. Es ist das Stück von Juncker, schon vergessen?“

„Richtig.“ Er starrte in den schimmernden Likör und verkniff sich einen Fluch. „Nun gut. Ich werde Lady Eustace’ Verdächtigungen ertragen, um so viel zu erfahren, wie ich kann.“ Das bedeutete, dass er auch Vanessas törichte Schwärmereien für Juncker ertragen musste. Ihm wurde die Kehle eng. Es war ihm egal. Es sollte ihm egal sein.

„Danke“, sagte Grey. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gern …“

„Ich weiß. Beatrice wartet auf dem Anwesen auf dich, und du hast eine ziemlich lange Reise vor dir.“ Er sah den besorgten Blick seines Bruders und fuhr milder fort: „Es wird alles gut gehen. Die Wolfes sind aus hartem Holz geschnitzt. Von unserer Mutter ganz zu schweigen. Sie war noch keine fünfundzwanzig, als sie drei Ehemännern fünf Kinder geboren hatte, da wird meine Cousine dir wohl ohne große Mühe einen Sohn schenken können.“

„Oder ein Mädchen. Es ist mir egal. Solange Beatrice überlebt und das Kind gesund ist …“

„Mach dich auf den Weg.“ Sheridan sah an Greys abwesender Miene, dass sein Bruder in Gedanken schon bei seiner Frau war. „Geh zu ihr. Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Sheridan wusste aus eigener Erfahrung, welchen Kummer die Liebe einem machen konnte, wie schmerzhaft die Schlinge drückte, wenn sie sich zuzog. Es war nicht Helenes Absicht gewesen, aber sie hatte ihn gelehrt, der Liebe zu misstrauen.

Genau deshalb wollte er nie wieder in eine solche Situation geraten. Greys Aufregung war ihm eine Warnung. Die Liebe kaute einen Mann gründlich durch und spuckte ihn schneller wieder aus, als seine Vollblüter rennen konnten. Sheridan hatte schon genug Sorgen. Er brauchte nicht noch eine in Gestalt einer Ehefrau.

2. Kapitel

„Warte, Mädchen“, sagte Vanessas Mutter und vertrat ihrer Tochter den Weg zur Loge der Familie Pryde. „Deine Kopfbedeckung sitzt schief.“ Sie steckte eine Hutnadel in Vanessas schicken Turban und stach ihr dabei in die Kopfhaut.

„Mama! Das tut weh!“

„Es ist nicht meine Schuld, dass er nicht sitzt. Bridget hat ihn wohl nicht ordentlich gewickelt. Es geschieht dir recht, wenn du dir keinen neuen Turban kaufst.“

Ihre Mutter wollte immer, dass sie etwas Neues kaufte, anstatt etwas auszubessern. Leider erbrachte der Nachlass von Vanessas verstorbenem Vater nicht genug Einkommen – und der Witwenanteil für ihre Mutter reichte nie weit genug –, sodass Vanessa ihr Geld nicht leichtfertig ausgeben konnte. Vanessa und ihr Dienstmädchen Bridget übten sich daher stets in kleinen Sparmaßnahmen, um sicherzustellen, dass sie und Mama nicht über ihre Verhältnisse lebten.

Mama sah den Sinn darin nicht. Erstens wollte sie ständig Leute damit beeindrucken, wie wohlhabend sie waren. Zweitens hegte sie die Hoffnung, dass Vanessa gut heiraten würde.

„Es liegt nicht an der Frisur, Mama“, brummte Vanessa. „Das ganze Ding sitzt schief, weil du daran herumgespielt hast.“

„Ich versuche nur, es in Ordnung zu bringen. Du musst für die Herren schön aussehen.“

Vanessa wollte eigentlich nur für einen Herrn gut aussehen, aber der würde sie wahrscheinlich wie immer ignorieren. Wenn er das tat, musste sie die Hoffnung aufgeben, jemals sein Interesse zu wecken. Bislang hatte in dieser Hinsicht nichts funktioniert.

Onkel Noah Rayner, neben ihrem Cousin Grey ihr liebster Verwandter, tätschelte Vanessa beschwichtigend den Arm. „Du kennst deine Mutter doch – sie denkt immer nur an deine Verehrer.“

„Und das aus gutem Grund“, sagte ihre Mutter. „Das Mädchen nutzt nicht den Verstand, den Gott ihm gegeben hat, wenn es um Männer geht. Sie sollte mit Greycourt verheiratet sein, aber stattdessen hat sie es verschlafen, und jetzt ist er mit dieser Bäuerin Miss Wolfe verheiratet.“

„Diese ‚Bäuerin‘“, sagte Vanessa bissig, „ist die Enkelin eines Herzogs, genau wie ich. Wenn sie von niedriger Geburt ist, bin ich es auch. Außerdem mag ich sie.“ Beatrice hatte sich als die richtige Partnerin für Grey erwiesen, als Vanessa schon verzweifelt gewesen war, weil sie befürchtet hatte, dass er nie heiraten würde.

„Natürlich magst du sie.“ Mama fingerte noch ein wenig am Turban herum. „Du suchst dir ja immer die falschen Leute aus.“

„Ich finde sie im Allgemeinen interessanter als die richtigen“, knurrte Vanessa.

„Wie dieser Schreiberling, in den du vernarrt bist?“ Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Manchmal denke ich, du willst den ärmsten Schlucker heiraten, den du finden kannst, nur um mich zu ärgern.“

„Mr. Juncker ist sehr begabt“, sagte Vanessa, und zwar aus genau dem Grund, den ihre Mutter genannt hatte – um sie zu ärgern. Trotz seines sehr deutschen Namens war Konrad Juncker als Sohn von Einwanderern London aufgewachsen. Er sah auch gut aus, mit einem gewinnenden Lächeln, schelmischen Augen und guten Zähnen, aber all das war Vanessa egal.

Ihr Onkel seufzte ungeduldig. „Werden wir die Loge noch vor dem Ende des Jahrhunderts betreten, Schwester?“

„Ach, hör auf, Noah. Das Orchester stimmt noch die Instrumente.“

„Das klingt für mich wie eine Ouvertüre“, sagte er. „Deshalb ist der Korridor auch leer, nur wir sind noch hier.“

„Ich bin gleich fertig.“ Ihre Mutter hörte endlich auf, Vanessas Turban zurechtzurücken, und zog nur noch Vanessas Mieder nach unten.

Vanessa stöhnte auf. „Es wird nur wieder hochrutschen. Ganz ehrlich, Mama, willst du, dass ich wie eine Hure aussehe?“

„Wenn du dadurch einen guten Ehemann bekommst? Auf jeden Fall. Du wirst nicht jünger, weißt du.“

Ihre Mutter kniff Vanessa fest in die Wangen.

Vanessa zuckte zusammen. „Ich glaube nicht, dass man durch Zwicken die Zeit zurückdrehen kann.“

„Du musst deiner Mutter in diesem Punkt vertrauen“, sagte Mama. „Ich schwöre, ich hoffe, dass du eines Tages ein Kind hast, das so widerspenstig ist wie du. Das würde dir guttun.“ Als Onkel Noah sich räusperte, warf Mama ihm einen bösen Blick zu und öffnete die Tür. „Nun gut, dann gehen wir jetzt hinein.“

Dem Himmel sei Dank. Bei Mamas Machenschaften und Versuchen, sie mit „dem Richtigen“ zu verkuppeln, fühlte sie sich immer wie auf einem Schiff auf hoher See. In einem Moment wurde es von einer leichten Brise auf seidenen Flügeln getragen, im nächsten drohte es in stürmischen Wellen zu versinken.

Sie wusste nie, was sie von ihrer Mutter zu erwarten hatte – schlechte Laune, kühle Verachtung oder ölige Freundlichkeit, die ebenso falsch wie süßlich war.

Mama hatte sie ihr ganzes Leben lang auf Trab gehalten.

„Erwartest du heute Abend jemand Bestimmtes?“, fragte Vanessa, als sie die Loge betraten. Ihre Mutter machte sie immer zurecht, aber diesmal gab sie sich mehr Mühe als sonst.

Mama senkte die Stimme, während sie den Blick über die Logen schweifen ließ. „Ich habe gehört, dass vielleicht der Marquess of Lisbourne kommt.“

Ein unwillkürlicher Schauer überlief Vanessa.

Ihre Mutter merkte es nicht und fuhr fort: „Man sagt, er sei sogar noch vermögender als dein Cousin. Und wenn er heute Abend kommt …“

„… wird er sofort beschließen, mich zu heiraten, weil meine Wangen rosig sind und mein Busen halb entblößt ist?“

„Männer tun so etwas“, sagte ihre Mutter. „Alles, was ihn auf dich aufmerksam macht, ist gut.“

„Lisbourne ist mindestens sechzig, Cora“, sagte Onkel Noah.

„Ein rüstiger Sechzigjähriger“, sagte Mama.

Und ein berüchtigter Frauenheld.

Onkel Noah schüttelte den Kopf. „Ich persönlich finde, meine Nichte sollte Armitage heiraten. Er passt altersmäßig besser zu ihr, ist in jeder Hinsicht der Richtige und mit deinem Neffen verwandt.“

„Aber wenn man dem Klatsch glauben darf, ist Armitage knapp bei Kasse“, sagte ihre Mutter.

„Er ist ein Herzog“, sagte Onkel Noah. „Solange er kein Spieler ist, kann er zu Geld kommen.“

Die Stimme ihrer Mutter wurde eisig. „Dann soll er es von Greycourt bekommen und nicht die Mitgift meiner Tochter anzapfen.“

„Meine Mitgift stellt Grey zur Verfügung, Mama. Also würde Armitage das Geld so oder so von Grey bekommen.“

„Ja, aber wenn Armitage deine Mitgift verwendet, um seine Schulden zu bezahlen, bleibt das Geld in Greycourts Familie. Dann muss er seinen Bruder nicht noch zusätzlich zu der Mitgift unterstützen. Ich brauche seiner Familie doch nicht die Taschen zu füllen, oder?“

Onkel Noah blinzelte. „Das ergibt keinen Sinn. Und was hast du eigentlich gegen Greycourt?“

„Er ist Mamas Erzfeind“, erklärte Vanessa seufzend. „Ich weiß nicht, was sie schlimmer findet – dass Grey ihren Versuchen, ihn mit mir zu verheiraten, widerstanden hat, oder dass ich ihn als den großen Bruder betrachte, den ich nie hatte.“

Mama schnaubte. „Hättest du einen großen Bruder gehabt, gäbe es kein Problem. Dieser Bruder hätte bereits das Vermögen deines Vaters geerbt, und wir wären nicht auf meinen kläglichen Witwenanteil angewiesen, um zu leben. Aber da du keinen echten großen Bruder hast, hättest du Greycourt heiraten sollen.“

„Mama! Ich wollte ihn nicht heiraten und er mich auch nicht. Außerdem ist er mehr als gütig zu uns gewesen.“

Vor allem, wenn man bedachte, wie ihre Eltern ihn behandelt hatten, als Vanessa noch ein kleines Kind gewesen war. „Abgesehen von meiner großen Mitgift bezahlt er die Miete für unser Stadthaus, damit wir in London bleiben können, was mehr als großzügig ist.“ Und er hatte es getan, damit Vanessa einen Ehemann finden konnte. Das war wirklich sehr großzügig von ihm.

„Trotzdem“, sagte ihre Mutter, „will ich dafür sorgen, dass du nicht Armitage heiratest. Wenn du Lisbourne heiratest, der allen Berichten zufolge reich ist, wirst du im Geld schwimmen.“

Zweifellos hoffte Mama, über Vanessa an dieses Geld heranzukommen.

„Aber wenn du Armitage heiratest“, fuhr ihre Mutter fort, „geht deine Mitgift für seine Schulden drauf. Dann wird dir kein Penny übrig bleiben. Grey hat deine Mitgift doch nur verdoppelt, weil er wusste, dass das Geld in der Familie bleibt – wenn er dafür sorgt, dass du seinen mittellosen Halbbruder heiratest.“

„Das ist doch lächerlich“, sagte Vanessa. „Sheridan – ich meine, Armitage – ist nicht mittellos. Außerdem hat er kein Interesse daran, mich zu heiraten.“ Das war schade.

Ihr Onkel stieß sie an. „Ich dachte, du wärst mit ihm befreundet.“

„Nicht direkt. Wir kennen uns und haben schon ein paar Mal miteinander getanzt, aber …“

Jemand in der Nähe brachte sie zum Schweigen, und sie nahmen ihre Plätze ein.

Seit ihrem ersten Tanz mit Sankt Sheridan – sie würde sich nie daran gewöhnen, ihn Armitage zu nennen – hatte der verdammte Kerl sie in die Rolle der lästigen kleinen Schwester gedrängt, obwohl er mit seinen neunundzwanzig Jahren nur vier Jahre älter war als sie. Bei ihrem dritten Tanz hatte Vanessa erkannt, dass sie nicht seine lästige kleine Schwester sein wollte. Sie wollte seine Frau sein. Das war sehr ärgerlich.

Warum er? Er war gar nicht ihr Typ. Ihr war es am wichtigsten, dass ein Mann keine Geheimnisse hatte und sich nicht verstellen konnte – mit anderen Worten, dass er das Gegenteil ihres verstorbenen Vaters war. Aber zu wem zog es sie hin? Ausgerechnet zu dem schweigsamen Sheridan, der sicher einen Haufen Geheimnisse hatte. Schlimmer noch, sie wollte sie zu gern ergründen. Verflixter Kerl.

Warum war ausgerechnet er der einzige Mann, der ihr Blut in Wallung und ihren Puls ins Stocken brachte? War ihr Körper so dumm? Denn trotz seiner unnahbaren Art und seiner typisch herzoglichen Zurückhaltung, die sie zu ignorieren versuchte, verursachte er ihr eine Gänsehaut … immer wieder.

Man hätte meinen können, er würde ein Spiel spielen, um sie einzufangen, aber er schien keine Spiele zu spielen. Er schien sie jedenfalls nicht auf diese Weise zu bemerken. Es war ihm auch egal, ob sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Und das machte sie wütend.

Wenn sie nur mehr über ihn wüsste, könnte sie beweisen, dass er ein guter Ehemann werden würde. Das war alles, was sie sich in diesen Tagen erhoffen konnte, da Mama immer verzweifelter versuchte, ihr einen reichen Mann zu verschaffen. Vanessa lebte in der täglichen Angst, dass ihre Mutter ihr eine Falle stellen würde, um sie in einer kompromittierenden Situation mit einem Mann wie Lord Lisbourne erwischen zu können.

Glücklicherweise war Sheridan nicht als Wüstling bekannt. Leider war er ihr nach ihren drei Tänzen aus dem Weg gegangen. Zuerst hatte sie es darauf geschoben, dass er in Trauer war. Aber seine Trauerzeit war Anfang der letzten Saison zu Ende gegangen, und trotzdem hatte er sie auf Abstand gehalten.

In der Zwischenzeit hatte Mama Vanessa ein halbes Dutzend Mal fast in Lisbournes Arme gestoßen. Eines Tages würde es ihr gelingen … wenn Vanessa nicht vorher selbst einen Ehemann fand.

Ihr Onkel beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn es nicht Armitage ist, auf den du ein Auge geworfen hast, wer ist es dann? Vielleicht Juncker, wie deine Mutter behauptet?“

O je, das war ein brenzliges Gespräch. „Mama weiß nicht, wovon sie redet.“

„Nein? Sie ist nicht die Erste, die sagt, dass du in ihn verliebt seist.“

Das war ihre eigene Schuld. Sie verfluchte den Tag, an dem sie Grey gesagt hatte, sie sei in einen unbekannten Dichter verliebt. Sie hatte es nur gesagt, um ihn zu necken … und damit er nicht erriet, dass sie eigentlich für Sheridan schwärmte. Denn wenn er es Sheridan erzählen und Sheridan sie dafür verachten würde, würde sie vor Kummer sterben.

Danach, auf Greys Hochzeit, hatte Sheridan sie ziemlich herablassend nach dem Namen des Dichters gefragt, in den sie verliebt war. Zuerst wollte sie Grey eine Standpauke halten, weil er Sheridan überhaupt von ihrem „Dichter“ erzählt hatte. Dann hatte sie fieberhaft überlegt, welchen Dichter sie vielleicht kannte, und da sie gerade einen Gedichtband von Mr. Juncker gelesen hatte, hatte sie Sheridan erzählt, es sei Mr. Juncker.

Seitdem stellte diese kleine Notlüge ihr Leben auf den Kopf.

Mr. Juncker hatte es herausgefunden und angefangen, mit ihr zu flirten. Grey hatte davon erfahren und zog sie ständig damit auf, und Thornstock hatte sie beiseite genommen, um sie vor Mr. Junckers raffiniertem Verhalten zu warnen. Sogar Mama hatte davon gehört und ermahnte sie nun oft, sich nicht von Leuten von Mr. Junckers „Sorte“, was auch immer das sein mochte, täuschen zu lassen.

Daraus ergab sich jedoch ein eindeutiger Vorteil. Sheridan hatte eifersüchtig gewirkt. Sicher sein konnte sie nicht, denn er war undurchschaubar wie immer. Aber dass er sie als erwachsene Frau betrachtete – egal wie selten – war besser, als dass er sie überhaupt nicht beachtete. Was die Frage aufkommen ließ: War Sheridan heute Abend überhaupt hier? Wenn Vanessa sich weit genug nach vorn beugte, um zu sehen, ob er in der Loge der Familie Armitage saß, würde das ihr Interesse verraten.

Dann kam ihr ein Gedanke. „Mama“, flüsterte sie, „hast du dein Periskop dabei?“

Ihre Mutter nickte und zog es aus ihrem Pompadour. Doch bevor Vanessa es nehmen konnte, fragte ihre Mutter: „Wen willst du damit beobachten?“

Nach der Tirade ihrer Mutter gegen Sheridan wagte Vanessa nicht zu sagen, dass es um ihn ging. „Den Marquess natürlich.“

„Halt mich nicht zum Narren, Mädchen.“ Seltsamerweise ging Mama immer davon aus, dass andere Menschen genauso viel logen wie sie selbst. „Ich weiß, dass du dich in diesen Dramatiker verguckt hast, und der ist weit unter deiner Würde.“

„Ja, Mama.“

Vanessa nahm das Periskop von ihrer Mutter, hielt es sich vors Auge und beugte sich vor. Mama hatte die Kuriosität nach Papas Tod gekauft, aber Vanessa hatte es nie benutzt.

Bis jetzt. Das Periskop sah genau so aus wie ein Opernglas oder ein Fernglas, was ironisch war, weil man damit buchstäblich die Leute in den Logen zur Rechten oder zur Linken ausspähen konnte, ohne dass es jemand merkte. Sie konnte problemlos alle sehen, die in der Armitage-Loge saßen.

Thornstock und Sheridan saßen hinter ihrer Schwester, Lady Gwyn, und ihrer Mutter. Die beiden Damen unterhielten sich offensichtlich und auch sein Bruder sagte von Zeit zu Zeit etwas, doch Sheridan wirkte geistesabwesend – entrückt und stoisch wie immer. Wie ein Heiliger.

Oder eine Sphinx. Eine Sphinx passte besser zu ihm, angesichts seines undurchdringlichen Charakters. Plötzlich sah er zu ihr hinüber und sie erschrak. Seine Aufmerksamkeit machte sie nervös, obwohl er sicher nicht wusste, dass sie ihn beobachtete.

Sie ließ das Periskop in ihren Schoß fallen.

„Ist er da?“, fragte Mama.

„Wer?“

„Dein Mr. Juncker.“

Großer Gott, sie hatte nicht einmal nachgesehen. „Ja“, sagte sie und betete, dass es so war. Sie hob das Periskop und nahm die anderen Logen ins Visier. Und da war er, Mr. Konrad Juncker, das angebliche Objekt ihrer Begierde. Viele Frauen verehrten ihn wegen seines unbändigen goldenen Haares und seiner nordisch blauen Augen, obwohl er in der guten Gesellschaft nicht wirklich akzeptiert war. Er kleidete sich wie ein Dichter und sprach wie ein Dramatiker.

In diesem Moment flirtete er eindeutig mit einer Dame, die Vanessa nicht einmal kannte. Deshalb würde sie sich auch nie in ihn verlieben. Man munkelte, er sei ein Frauenheld, und damit war er ihrem verstorbenen Vater zu ähnlich, um ihr zu gefallen. Trotzdem wünschte sie, ihr wären nie die Worte herausgerutscht, dank derer sie jetzt so tun musste, als sei sie in ihn verliebt. Wenn sie jetzt mit ihrer Zuneigung zu Sheridan umschwenkte, würde er sie für flatterhaft halten. Oder noch schlimmer – glauben, dass sie ein falsches Spiel spielte. Was sie anfangs nicht getan hatte.

Aber wie schon Sir Walter Scott geschrieben hatte: „Oh welch verworren Netz wir weben, wenn wir nach Trug und Täuschung streben.“ Sie verstrickte sich jeden Tag mehr in ihrem eigenen Netz.

Sie ließ das Periskop sinken. Vanessa hatte für eine Chance gebetet, mit Sheridan zu sprechen, aber wenig Hoffnung gehabt. Zumal sich der erste Akt seinem Ende näherte und ein rascher Blick auf die Loge von Armitage ihr sagte, dass er verschwunden war. Zweifellos flirtete er gerade mit einer anderen …

„Guten Abend“, sagte eine sanfte Stimme. „Ich nehme an, Sie genießen alle die Vorstellung?“

Vanessas Puls beschleunigte sich, als Sheridan die Stühle umrundete und sich an die Brüstung lehnte, ihr und Mama gegenüber. Sheridan in der Loge ihres Onkels! Wie unerwartet. Wie herrlich.

„Das tun wir – so gut es eben geht, wenn man bedenkt, dass es nicht neu ist“, sagte Onkel Noah von seinem Platz hinter Mama. „Aber ich ziehe ein altes Stück von Juncker einem neuen Stück von irgendeinem anderen Autor vor. Er weiß zu unterhalten, das muss man ihm lassen.“

Nur Sheridans leichtes Stirnrunzeln verriet ihr, dass er über das Lob für Mr. Juncker nicht erfreut war. Sie wollte zu gern wissen, warum.

„Armitage“, sagte Mama kalt. „Ich glaube, Sie kennen meinen Bruder noch nicht – Sir Noah Rayner.“

Bei Mamas ruppiger Begrüßung hätte Vanessa es Sheridan nicht übelgenommen, wenn er gleich wieder gegangen wäre. Glücklicherweise überspielte Onkel Noah die Situation, indem er aufstand, um Mamas Sitz herumging und Sheridan die Hand reichte. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Duke.“ Seine grauen Augen funkelten ein wenig. „Ich habe von meiner Schwester schon so viel über Sie gehört.“

„Sei nicht albern, Noah“, fauchte ihre Mutter. „Ignorieren Sie meinen Bruder, wenn ich bitten darf, Euer Gnaden. Ich bin keine Klatschbase.“

Was für eine Lüge. Mama war sowohl eine Klatschtante als auch eine Intrigantin.

Ihr Onkel deutete auf den Platz neben sich – direkt hinter Vanessa. „Setzen Sie sich doch zu uns. Meine Nichte hat gerade gesagt, dass sie gerne Ihre Meinung über die Aufführung hören würde.“

Offensichtlich war Mama nicht die Einzige, die eine Situation zu ihrem Vorteil verändern konnte. Aber Onkel Noah wollte sie wenigstens mit Sheridan verkuppeln und nicht mit Lord Lisbourne.

Als Sheridan seine herrlichen grünen Augen auf Vanessa richtete, setzte sie ein kokettes Lächeln auf. „Unsinn, Onkel. Ich kenne sein Urteil schon.“

Sheridan verzog keine Miene, auf seinem Gesicht spiegelte sich eine perfekte Mischung aus Langeweile und Nonchalance. „Ach? Und wie soll es lauten?“

„Dass die Eskapaden von Felix und seinen Freunden lächerlich sind. Dass du solche Frivolitäten kein bisschen unterhaltsam findest.“

„Wenn du das sagst.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, habe ich gar keine Meinung dazu.“

So etwas sagte er immer. „Ah, aber du musst zugeben, dass du meistens anderer Meinung bist als alle anderen. Ich habe einmal gehört, wie du dem Kriegsminister sagtest, Napoleon sei ein meisterhafter Stratege und würde uns besiegen, wenn wir das nicht erkennen und entsprechend handeln würden.“

„Das war keine Meinung, sondern die Wahrheit.“ Er starrte sie an. „Nur weil der Mann unser Feind ist, sollten wir ihn nicht für dumm halten. Größere Männer als unser Kriegsminister haben diesen Fehler gemacht, zu ihrem Nachteil.“

Diese Worte weckten die Neugier ihres Onkels. „Verzeihen Sie, Duke, aber sind Sie mit militärischer Strategie vertraut?“

„Mein Vater hat mich von klein auf darauf vorbereitet, in seine Fußstapfen im diplomatischen Dienst Großbritanniens zu treten, ein Beruf, für den man Strategien aller Art kennen muss. Also ja, Sir Noah, ich weiß eine ganze Menge.“

Mama rümpfte bei dem bloßen Gedanken die Nase. „Ich bin sicher, dass Ihr Vater erleichtert war, als Sie stattdessen der Erbe seines Herzogtums geworden sind. Das war eine glückliche Fügung.“

Sheridan wandte seine Aufmerksamkeit Vanessas Mutter zu. „Ich glaube nicht, dass Vater glücklich über den Tod seines Bruders war.“ Dann ging ihm wohl auf, dass Vanessas Mutter an seinen unverblümten Worten Anstoß nehmen könnte, und er schlug einen milderen Ton an. „Ich persönlich hätte dem Herzogtitel einen Posten im Ausland vorgezogen, aber es sollte nicht sein.“

Vanessa war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte. Er klang nicht überzeugend. Vielleicht versuchte er, sich selbst zu überzeugen?

Andererseits war es für ihn wahrscheinlich selbstverständlich, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und die Interessen Englands über seine eigenen zu stellen, wenn man seine Schweigsamkeit bedachte.

Mama schien sich das auch zu fragen, denn sie hob eine Augenbraue. „Sie wären glücklich gewesen, Ihr ganzes Dasein lang außerhalb Englands als ein unbedeutender Gesandter zu fristen?“

„Ich bin nicht in England geboren, Lady Eustace. Wenn ich also die Möglichkeit gehabt hätte, den Rest meiner Tage in Preußen zu verbringen, wäre ich rundum zufrieden gewesen.“

„Obwohl deine ganze Familie hier ist?“, fragte Vanessa, jetzt wirklich neugierig. „Würdest du sie nicht vermissen?“

Sein Blick schweifte zu ihr. „Doch, natürlich. Aber wenn ich noch im diplomatischen Dienst wäre, dann deshalb, weil mein Onkel noch leben würde und meine Eltern und Gwyn noch in Preußen wären.“

„Trotzdem, würdest du deine Brüder nicht vermissen?“, sagte Vanessa. Sie hätte Grey furchtbar vermisst, wenn er im Ausland gewesen wäre, und er war nur ihr Cousin.

„Bis letztes Jahr hatte ich sie ohnehin lange nicht gesehen.“ Ein leichtes Stirnrunzeln. „Ich hatte mich daran gewöhnt. Ich war noch ein Kind, als Grey ging, Heywood ging zum Militär, als ich siebzehn war, und Thorn ging, als ich neunzehn war. Ich habe neun Jahre ohne sie alle verbracht.“ Seine Stimme klang angespannt und strafte die unbekümmerten Worte Lügen.

„Aber Sie haben doch sicher Unterhaltungen wie diese oder Jagdgesellschaften oder unsere glanzvollen Bälle vermisst“, sagte Mama.

Onkel Noah schüttelte den Kopf. „Die gibt es auch in Preußen, nicht wahr, Duke?“

„Aber die werden nicht von Engländern besucht“, beharrte ihre Mutter. „Und diesen Preußen kann man nicht trauen.“

Vanessa unterdrückte ein Stöhnen. „Verzeih meiner Mutter. Sie findet alle Ausländer verdächtig.“

Sheridan ignorierte Vanessas Bemerkung. „Ich muss gestehen, Lady Eustace – die Hauspartys in Berlin verblassen neben denen aus der Jugend meiner Mutter in England, von denen sie immer erzählt. Preußische Hauspartys waren geordnete Veranstaltungen, bei denen jede Aktivität geplant war. Meine Mutter sagt, dass auf den Partys ihres ersten Mannes auf Carymont ein wildes Durcheinander herrschte und gar nichts organisiert war. Jeder hatte seine eigenen Ideen und niemand sprach sich mit den anderen ab.“

„Genau“, sagte Mama und strahlte. „So war es wirklich. Damals haben wir gemacht, was wir wollten. Nichts von diesem ‚Oh, die jungen Herren müssen besänftigt werden‘-Unsinn. Wir haben das Leben in vollen Zügen genossen.“

„Ich nehme an, dass die Gäste dann Zeit hatten, Carymont zu durchstreifen und zu erkunden“, sagte Sheridan.

„Und sich zu verabreden“, fügte Onkel Noah verschmitzt hinzu.

Mama versetzte ihrem Bruder einen Schlag mit ihrem Pompadour. „Niemand hatte eine Verabredung, Noah. Ich war frisch verheiratet und hatte nicht vor, meine Ehe für irgendeinen anderen Mann aufs Spiel zu setzen. Und mein Mann war nicht einmal dabei.“ Sie warf einen Blick auf Vanessa und wurde rot. „Nicht, dass er so etwas auch getan hätte.“

Vanessa blieb nur, die Augen zu verdrehen. Wie konnte Mama denken, dass Vanessa nicht bemerkt hatte, wie viele Zahlungen Papa im Laufe der Jahre an verschiedene Damen geleistet hatte? Vanessa hatte die Bücher für ihn geführt, seit sie alt genug war, um zu wissen, was ein Konto ist. Papa hatte keine gute Hand für Geld gehabt.

„Diese Feier in Carymont“, dachte Vanessa laut. „Was war der Anlass? Oder war es nur eine typische Hausparty?“

Ihre Mutter seufzte. „Wir wollten dort Greys Taufe feiern. Stattdessen …“

„… ist Greys Vater gestorben“, sagte Sheridan unverblümt.

Vanessa stöhnte auf. Sie hatte keine Ahnung davon gehabt, sonst hätte sie das Thema nie zur Sprache gebracht. Aber ihre Eltern hatten ihr nie Details über den Tod von Greys Vater verraten, außer dass Grey damals noch sehr klein gewesen war.

Onkel Noahs Blick flog zu Mama. „Da ist es passiert?“

„Ja.“ Sheridan richtete den Blick auf Mama. „Ich frage mich, wie die Gäste das aufgenommen haben, Lady Eustace. Die Stimmung muss rapide gesunken sein.“

Mama machte eine abwehrende Handbewegung. „Oh, lassen Sie uns nicht darüber reden. Es ist … zu schrecklich und traurig. Außerdem fängt der nächste Akt gleich an.“

Tatsächlich begann das Orchester, ein dramatischeres Stück zu spielen. Onkel Noah nahm seinen Platz ein, aber Sheridan lehnte weiter an der Balustrade.

„Möchtest du ein Zitronenbonbon, Sheridan?“, fragte Vanessa und holte eins aus ihrer Handtasche. Sie hoffte, ihn so zum Bleiben zu bewegen.

„Nein danke“, murmelte Sheridan und schenkte ihr den Hauch eines Lächelns. „In der Fastenzeit verzichte ich auf Süßigkeiten.“

Vanessa und Onkel Noah schmunzelten, doch Vanessas Mutter runzelte die Stirn. „Die Fastenzeit ist doch schon ein paar Monate her.“ Mama hatte noch nie viel Sinn für Humor gehabt.

„Genau, Schwester.“ Onkel Noah lächelte Vanessa an. „Aber ich nehme einen von diesen Zitronendrops.“ Und schon hatte er Vanessa die Süßigkeit entrissen.

Dann betrat ein Junge die Bühne und begann mit einer komödiantischen Einleitung zum zweiten Akt, die praktisch jede Unterhaltung beendete.

Sheridan sah frustriert aus – ohne dass Vanessa einen Grund dafür erkennen konnte – und stieß sich von der Brüstung ab, was ihre Aufmerksamkeit ungewollt auf seinen schönen Körper lenkte. Der Mann hatte die am besten trainierten Waden, die sie je gesehen hatte, ganz zu schweigen von einer Brust, die so breit war wie die eines Faustkämpfers und eindeutig jeder Kraftprobe standhalten würde. Und als ob das nicht schon genug wäre, um eine junge Dame in Versuchung zu führen, war da noch sein Haar … Oh, sie durfte nicht einmal an diese prächtigen goldbraunen Locken denken. Sie wäre am liebsten mit den Fingern hindurchgefahren – ein Gedanke, von dem er offensichtlich nichts ahnte, denn er ignorierte Vanessa völlig, beugte sich aber noch zweimal zu ihrer Mutter hinunter, um ihr etwas zuzuflüstern, als wolle er ihr Gespräch wieder aufnehmen.

Vanessas Freude verpuffte wie die Luft aus einem angestochenen Ballon. Er war hier, um Mama zu besuchen und mit ihr zu sprechen, denn selbst nachdem er hinter ihrer Mutter Platz genommen hatte, beugte er sich vor, um mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Vanessa verstand nicht warum, aber er war nicht ihretwegen hier.

Was musste sie tun, um mit ihm ins Gespräch zu kommen? Oder Notiz von ihr zu nehmen? Wenn ihr nichts einfiel, um ihn von Mama loszueisen, musste sie den törichten Traum, ihn zu heiraten, aufgeben und stattdessen einen anderen zuverlässigen und vorzugsweise jungen Mann finden, den sie heiraten konnte.

Mit Mamas Periskop musterte Vanessa die Logen in der Nähe und überlegte, was sie zu Sheridan sagen sollte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann entdeckte sie Mr. Juncker.

Ihre Mutter und Sheridan tuschelten immer noch miteinander, also brachte sie sie zum Schweigen. „Mein Lieblingsteil kommt gleich“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Den will ich nicht wegen eures Geflüsters verpassen.“

Sheridan und Mama verstummten. Vanessa wartete ab und fragte sich, ob Sheridan den Köder schlucken würde.

„Du hast eine Lieblingsstelle?“, fragte Sheridan schließlich leise.

Ihr Herz pochte. Er hatte angebissen, aber sie wünschte, es hätte nicht den Anstoß von Mr. Juncker gebraucht, um mit Sheridan ein Gespräch anzufangen. „Natürlich nicht nur eine.“ Sie drehte sich in ihrem Sitz, um mit Sheridan sprechen zu können. „Mr. Juncker ist ein so brillanter Autor, dass ich in jedem Stück drei oder vier Lieblingsszenen habe. Das ist ja auch kein Wunder.“

„Ich hätte gedacht, dass dir die Kostüme am besten gefallen“, sagte er mit sprödem Unterton, „bei deiner Leidenschaft für Mode.“

Sie wollte nicht die Beherrschung verlieren, also schaute sie wieder auf die Bühne. Ihre „Leidenschaft für Mode“! Er hielt sie wieder nur für ein oberflächliches Ding.

„Und ich dachte, dir würden die Witze am besten gefallen“, sagte sie schelmisch. „Aber vielleicht brauchst du jemanden, der sie dir erklärt.“

Sheridan stieß ein leises Lachen aus, das in ihrem Körper widerhallte und sie hatte Schmetterlinge im Bauch spüren ließ. Dann flüsterte er: „Willst du damit sagen, dass du mich für humorlos hältst, Miss Pryde?“

„Oh, war ich unhöflich? Das war nicht beabsichtigt.“

Vielleicht sollte sie sich einfach mit der Tatsache abfinden, dass Sheridan kein romantisches Interesse an ihr hatte. Egal, was sie tat, sie würde für ihn immer jemand sein, den er aufziehen und dann ignorieren würde. Er würde in ihr nie eine Frau sehen, die seine Frau werden könnte. Selbst als er mit ihr auf Bällen getanzt hatte, war es nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem ältesten Halbbruder geschehen. Wenn das Tanzen seine Wahrnehmung von ihr nicht verändert hatte, was blieb dann noch?

Auf der Bühne versuchte ein junger Mann der Dame, die für ihn bestimmt war, einen Kuss zu rauben. Das brachte Vanessa auf einen verwegenen Gedanken.

Ein Kuss. Das war es! Ihr Puls begann zu rasen. Sie musste Sheridan dazu bringen, sie zu küssen. Küsse konnten Wunder wirken. Nun ja – keiner, den sie je erlebt hatte, hatte das getan, aber offensichtlich hatte sie einfach noch nicht die richtige Person zum Küssen gefunden. Warum sonst verstärkten Küsse die krönenden Momente in Komödien, die schönen Stellen in Balladen und sogar die spannenden Verse in Gedichten?

Aber wie um alles in der Welt konnte sie Sheridan dazu bringen, sie zu küssen, wenn er sie nicht als die Verführerin sah, die sie für ihn sein wollte?

Lustlos nahm sie das Periskop. Wie um alles noch schlimmer zu machen, erblickte sie als erstes Mr. Juncker. Noch während sie zusah, erhob sich Mr. Juncker und wollte offensichtlich seine Loge verlassen.

Da kam ihr eine Idee. Sheridan dachte bereits, sie sei in Mr. Juncker verliebt. Das konnte sie noch ausnutzen. Aber zuerst musste sie Sheridan davon überzeugen, gemeinsam mit ihr die Loge zu verlassen.

Und ein Blick auf eine andere Loge lieferte ihr den perfekten Vorwand. Vanessa lehnte sich zurück und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich habe gerade eine Freundin in einer Loge am Ende des Ganges gesehen. Ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Würdest du mich begleiten?“

Er sah sie von der Seite an. „Was ist mit deiner Lieblingsszene?“

„Die ist gerade zu Ende“, sagte sie hastig. „Außerdem sieht es so aus, als würde meine Freundin gehen wollen, und ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen.“

„Warum fragst du nicht deinen Onkel, ob er mit dir geht?“

„Sie meinen den Onkel, der gerade laut schnarcht?“

Sheridan sah Onkel Noah an und schnitt eine Grimasse.

„Du kannst ruhig hierbleiben“, fügte sie hinzu. „Ich werde allein gehen.“ Sie erhob sich und betete, dass Mama sie nicht aufhalten und der überfürsorgliche Sankt Sheridan ihr folgen würde. Als er das tat, atmete sie tief durch.

Als sie auf dem nun leeren Korridor waren, murmelte Sheridan: „Wer ist eigentlich diese besondere Freundin von dir?“

Sie ging vor ihm her. „Miss Younger.“

„Ich habe noch nie von ihr gehört“, sagte er mit unverhohlener Skepsis.

„Das bedeutet gar nichts. Erstens lässt du dich nur selten in der Gesellschaft sehen, es sei denn, deine Familie zwingt dich dazu. Zweitens meidest du mich, wann immer es möglich ist, also wirst du ihr nicht unbedingt begegnet sein. Drittens …“

„Warten, warten – halt.“ Er packte sie am Arm, damit sie stehen blieb. „Was meinst du damit, dass ich dich meide? Willst du andeuten, dass ich eine Abneigung gegen dich hege?“

„Nenn es, wie du willst, aber du musst zugeben, dass du alles tust, um mir aus dem Weg zu gehen.“ Sie starrte ihn an, als warte sie auf Widerspruch.

„Ich habe nicht … ich habe nicht …“ Einen Moment lang sah er verwirrt aus. Es war ein ermutigender Gedanke, dass sie ihn verwirren konnte.

Dann nahm sein Gesicht wieder den üblichen grimmigen Ausdruck an, den es nur ihr gegenüber hatte. „Dann werden wir uns wohl darauf einigen müssen, dass wir uns nicht einig sind.“

„Hmm.“ Sie setzte ihren Weg durch den Korridor fort. „Jedenfalls hast du sie nie kennengelernt, denn sie hatte noch nicht einmal ihr Debüt.“

„Wie hast du dich dann mit ihr angefreundet? Du hattest dein Debüt vor einer ganzen Weile. Wenn deine Freundin in dem Alter ist, in dem sie ihr Debüt haben sollte, dann passt ihr Name gut zu ihr, denn dann müsste sie mindestens sechs oder sieben Jahre jünger sein als du.“

„Was für ein geistreiches Wortspiel mit dem Namen meiner Freundin.“ Sie spähte den Korridor hinunter und verlangsamte ihre Schritte. Wo um Himmels willen war Mr. Juncker?

„Ich bin klug genug, um zu begreifen, dass ein Name wie Younger erfunden ist.“

„Warum sollte ich einen Namen erfin…“ Sie blieb so plötzlich stehen, dass er auf ihre Schleppe trat. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte. Jetzt war ihre Chance. Sie drehte sich zu ihm um und sagte: „Schnell. Küss mich.“

„Was?“

„Küss mich!“ Als er nur eine Augenbraue hochzog, murmelte sie: „Ach, vergiss es. Ich mache es einfach selbst.“ Sie packte ihn an den Schultern und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Lippen auf seine zu pressen.

Er zuckte zurück und warf einen Blick den Korridor hinunter, um zu sehen, was sie gesehen hatte – Mr. Juncker kam auf sie zu. Dann drückte Sheridan sie mit einem Stirnrunzeln gegen die Wand und erwiderte den Kuss.

Nur dass sein Kuss oberflächlich war, der Kuss eines Mannes, der etwas gezwungen tat und nicht aus freien Stücken. Er ließ den Kuss auf höchst unbefriedigende Weise andauern, bis Mr. Juncker mit einem gemurmelten „Verzeihung“ an ihnen vorbeigeschlüpft war.

Erst dann ließ Sheridan sie los. Da wurde ihr klar, was er getan hatte: Er hatte sie wieder einmal beschützt und sie wie ein … dummes Schulmädchen behandelt. Er sorgte dafür, dass Mr. Juncker nicht sah, dass sie geküsst wurde, und küsste sie gleichzeitig überhaupt nicht.

Wut überkam sie und sie stieß ihn heftig von sich.

Er stolperte einen Schritt zurück. „Was zum Teufel sollte das?“

„Es sollte … ich wollte …“ Nun, sie konnte ihm kaum die Wahrheit sagen, sonst würde er erraten, was sie für ihn empfand. „Das weißt du genau.“

„Dass ich dich küsse?“

„Wenn man es so nennen kann.“ Nein, darüber konnte sie sich bei ihm nicht beschweren, sonst würde er noch erraten, dass ihm ihre Zuneigung galt. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als Mr. Juncker weiter hinterherzulaufen, so sehr es ihr auch zuwider war. Sie warf einen Blick in die Richtung, in die der Dramatiker gegangen war. „Du hast ihn nicht sehen lassen, dass ich dich küsse.“

Er sah sie scharf an. „Willst du deinen Ruf ruinieren, Vanessa?“

„Nein, ganz und gar nicht.“ Er hatte nicht verstanden, worum es ihr ging. Sie hob das Kinn und log, was das Zeug hielt: „Ich versuche, Mr. Juncker eifersüchtig zu machen. Aber wenn er nicht weiß, dass ich diejenige war, die geküsst wurde …“

„Wohl kaum diejenige, die geküsst wurde“, brummte Sheridan. „Du hast mich geküsst.“

„Das hätte er nicht gemerkt.“ Sie legte den Kopf schief. „Und wenn du ihn hättest zusehen lassen, hätte ich ihn mir vielleicht geangelt.“

„Ihn dir geangelt?“, Sheridan starrte sie an. „Dieser Mann wird dich niemals heiraten. Willst du also wirklich deinen Ruf einem Kerl opfern, der kein Interesse an einer ehrenwerten Verbindung mit dir hat?“

Sie sah Mr. Juncker durch den Korridor nach. „Woher willst du wissen, dass er keine ehrenwerte Verbindung wünscht? Oder hältst du mich einfach für zu dumm, einen geeigneten Bewerber zu finden?“

Sheridan blinzelte. „Das hat nichts mit dir zu tun. Er ist ein Schurke, und Schurken heiraten nicht.“

„Thorn schon.“

„Mein Halbbruder hatte andere Gründe dafür.“

Sheridans Gesicht verdüsterte sich. „Aber Juncker hat keine solchen Gründe – er muss keinen Erben zeugen und hat keinen Besitz, der eine üppige Mitgift erfordert. Außerdem kennt er jede Menge widerwärtige Frauen, die das Bett mit ihm teilen wollen, warum sollte er also heiraten?“

„Ich habe keine Ahnung und du auch nicht. Was weißt du schon von Schurken? Du bist nicht im Geringsten einer. Also kannst du unmöglich verstehen …“

Sheridan küsste sie erneut. Nur war es diesmal nicht oberflächlich oder vorgetäuscht. Diesmal gab er ihr die Art von Kuss, die ein Mann einer Frau gab, die er wirklich begehrt.

Vanessa schwirrte der Kopf, als sein Mund sie verführte, abwechselnd grob und zärtlich, sodass ihr die Knie weich wurden. Er stützte sich mit beiden Händen ab und drückte sie gegen die Wand, als wolle er sie zähmen. Aber sie ließ sich nur zu gern von ihm zähmen.

Himmel, er konnte küssen. Sie packte ihn an der Taille und musste sich festhalten, denn ihr war, als würde sie vom Boden abheben und bis in die Wolken schweben. In dem zugigen Theater verströmte sein Körper eine Wärme, die wie die Sonne auf eine Wiese schien, und er roch auch nach Sonne und Leder und einem würzigen Duftwasser.

Dann teilte er ihre Lippen und seine Zunge schob sich in ihren Mund. Großer Gott, was machte er da?

Was für ein herrliches Gefühl, so etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihre Arme schlangen sich um seine Taille – sie wollte ihn noch näher bei sich haben.

Und als er daraufhin stöhnte und sich an sie presste, schwelgte sie darin. Sie wurde weich wie ein Pudding, als der Kuss immer weiter ging und kein Ende nahm …

Ihm lag etwas an ihr. Endlich!