1
George
1958
George lenkte den türkisfarbenen Buick Century rückwärts in die Parklücke, der Wagen mit Weißwandreifen und verchromten Heckflossen war Walthers ganzer Stolz. Es war das erste Mal, dass er mit dem Fahrzeug seines Vaters zur Universität gefahren war. Während seines Studiums in den letzten vier Jahren hatte er immer den Bus genommen, denn das Automobil wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt. Heute war einer dieser besonderen Tage. George hatte sein Studium an der Columbia Business School mit großem Erfolg abgeschlossen, und seine Mutter, die auf der Rückbank saß, platzte beinahe vor Stolz.
Sein Mund verzog sich zu einem liebevollen Lächeln. In ihrem neuen Ensemble, bestehend aus elegantem Midirock und passender Jacke, sah sie aus wie ein Filmstar. Nichts erinnerte mehr an die Nieterin, die körperlich hart gearbeitet hatte, um sich und ihren einzigen Sohn während der Kriegsjahre über Wasser zu halten. Sie trug ein kleines Cocktailhütchen mit Schleier und am Revers ihr Lieblingsaccessoire – die zierliche Libellenbrosche.
Auch wenn George längst kein kleiner Junge mehr war, freute er sich jedes Mal, wenn seine Mutter das Schmuckstück trug, das er ihr vor fünfzehn Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Das großzügige Trinkgeld von Mr. Clark hatte er sinnvoll investiert. Dank ihr hatte er in all den Jahren den Mut nicht verloren und für seine Träume gekämpft.
Der Traum, zu studieren, dazu an einer der renommiertesten und ältesten Ivy-League-Universitäten im Land, hatte sich erfüllt. An manchen Tagen fühlte es sich immer noch surreal an, denn er bewegte sich hier in einer ganz anderen Welt. Er teilte den Hörsaal mit jungen Männern, deren Familien Immobilien auf Cape Cod oder den Hamptons besaßen ‒ ein schickes Strandhaus und Segelboot inklusive ‒ und deren Väter und Großväter wichtige Posten in der Politik bekleideten oder ihr eigenes Unternehmen leiteten. Selbstverständlich hatten die Mütter seiner Kommilitonen niemals als Nieterinnen arbeiten müssen.
Ein schickes Cabriolet, das gerade die Einfahrt zum Parkplatz passierte, lenkte Georges Aufmerksamkeit auf sich. Dagegen wirkte der Wagen seiner Eltern geradezu solide.
Auch Walther, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, staunte ob der Luxuskarossen auf dem Campusparkplatz nicht schlecht. Sein Dad haderte an manchen Tagen immer noch mit sich, da er seiner Familie nicht mehr hatte bieten können. Dass er nach seiner Rückkehr aus Europa aufgrund einer Kriegsverletzung körperlich sehr eingeschränkt war, vergaß er in solchen Augenblicken.
George zog den Schlüssel ab und stieg aus. Anschließend öffnete er seinem Dad die Tür. Nur mit Mühe gelang es Walther, aus dem Auto zu steigen, doch wie immer ließ er sich von niemandem helfen. Auf die Achselkrücken, die er im Lazarett bekommen hatte und auf die er anfangs angewiesen gewesen war, konnte er mittlerweile verzichten. Doch an seinem langsamen Gang und dem rechten Bein, das immer noch hinkte, konnte man erahnen, was er im Krieg und der Gefangenschaft durchlebt hatte.
Seine Mom hakte sich bei ihrem Mann unter, und George bemerkte, wie sich die beiden einen liebevollen Blick zuwarfen. Trotz allem oder gerade wegen all der Höhen und Tiefen war die Liebe zwischen seinen Eltern unerschütterlich.
Sie nahmen den mit Hortensienbüschen gesäumten Weg, der zum heutigen Veranstaltungsort führte. Mittlerweile kannte George den Campus wie seine Westentasche. Zu Beginn jedoch hatte er seine Schwierigkeiten gehabt, sich auf dem riesigen Gelände mit seinen über zweihundert Gebäuden und Fakultäten zurechtzufinden. Trotz der eindrucksvoll in Stein gemeißelten Beschriftungen über den Torbögen und Eingängen.
Die Worte in lumine tuo videbimus lumen –in deinem Licht werden wir Licht sehen ‒ formten sich in seinem Kopf. Es handelte sich nicht nur um einen Bibelvers, sondern auch um das Motto der Universität.
Sein Mund verzog sich augenblicklich zu einem Lächeln. Er war nun ebenfalls ein Teil dieses Netzwerks aus Absolventen.
Viele Alumni hatten es weit gebracht. Es gab unter ihnen Nobelpreisträger, Oscargewinner und sogar Präsidenten.
Die kollektive Aufregung war geradezu greifbar, als sie nun auf den Festbereich zusteuerten. Hier wimmelte es nur so von Vätern in eleganten Anzügen und Müttern in Cocktailkleidern. Dazwischen tummelten sich Professoren und Gönner, die man sofort an ihren Tweedanzügen und Hornbrillen erkannte.
Wo sonst das altehrwürdige, von Efeu umrankte Gebäude alle Blicke auf sich zog, so war es heute der festlich geschmückte Rasenbereich unter den alten Eichen. Für den zeremoniellen Teil der Veranstaltung hatte man selbstverständlich die große Bühne aufgebaut und Klappstühle für die Gäste aufgestellt. Blaue Wimpel in den Farben der Universität schmückten die Bewirtungsstände.
„Da hinten ist John!“ Endlich hatte George in dem Getümmel einen seiner Kommilitonen ausfindig gemacht.
Laura und Walther folgten seinem Blick. „Oh, schaut nur, er trägt bereits Talar und Hut.“ Ein stolzes Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht seiner Mutter ab, nachdem sie den besten Freund ihres Sohnes entdeckt hatte, dann richtete sie ihren Blick auf George. Natürlich bemerkte er den verräterischen Glanz in ihren Augen sofort. Die heutige Absolventenfeier war Neuanfang und Abschied zugleich.
Laura schloss ihren Sohn in die Arme, und es war ihm egal, was die anderen dachten. Dieser Tag gehörte seinen Eltern ebenso wie ihm. Ohne sie hätte er es nicht geschafft.
„Na geh schon“, murmelte seine Mutter mit einem verschmitzten Lächeln, als sie sich von ihm löste, um sich mit ihrem bestickten Stofftaschentuch die Tränen abzutupfen.
„Wir suchen uns schon mal Plätze“, ergänzte sein Dad, der nicht minder stolz wirkte.
Als George zu seiner Klasse aufschloss und sich noch einmal nach seinen Eltern umdrehte, stellte er mit einem Schmunzeln fest, dass sie sich bereits in einer der vordersten Reihen platziert hatten. Von nun an würde er für seine Eltern sorgen, dieses Versprechen hatte er sich an seinem ersten Tag an der Columbia gegeben.
„Familie Wayne, bitte!“, rief die Assistentin des Fotografen, der professionelle Bilder von allen Absolventen mit ihren Familien machte.
George, der zwischen seinen Eltern stand und seinen Vater um einen Kopf und seine Mutter um ganze zwei überragte, setzte sein strahlendstes Lächeln auf, während seine Mutter schon wieder mit den Tränen kämpfte. Sein Dad dagegen schien neben ihm geradezu zu wachsen. Georges Herz floss über, denn er wusste, wie viel Kraft es Walther heute kostete. Sein Bein musste ihm zwischenzeitlich, nach mehreren Stunden auf den Beinen, höllisch wehtun.
„Dort drüben ist noch ein schönes Plätzchen frei, direkt unter dem blühenden Kirschbaum“, bemerkte Laura verzückt, als sich die Menge nach dem Fototermin in alle Richtungen zerstreute.
„Zu spät, Johns Familie ist uns zuvorgekommen.“ George schnitt eine Grimasse und sah sich um. „Dort hinten gibt es weitere Tische.“
„Alles okay, Dad?“ Er wandte sich mit besorgtem Blick an seinen Vater, der immer noch in Richtung Kirschbaum sah.
„Ja, alles in Ordnung. Ich dachte nur für einen Moment, ich hätte einen Geist gesehen.“ Walther schüttelte über sich selbst schmunzelnd den Kopf. „Der ältere Herr dort drüben könnte glatt als Bobby durchgehen.“
George musste nicht erst fragen, welchen Bobby er meinte – er kannte nur einen. Lieutenant Robert Stan, den alle nur Bobby nannten.
Im selben Moment, als das Wörtchen Stan in Georges Kopf nachhallte, wurde ihm bewusst, dass Johns Großvater, jener geschätzter Lieutenant war, für den Walther sein Leben riskiert hatte.
Als hätte Bobby die ungeteilte Aufmerksamkeit gespürt, richtete er seinen Blick auf Walther und George.
Die Spannung unter den blühenden Bäumen war nahezu greifbar. George musste seinen Dad nicht erst aufklären, dass er richtiglag. Wie in Trance setzte sich Walther in Bewegung und lief, das rechte Bein hinter sich herziehend, auf Bobby zu.
Nie im Leben hätte George damit gerechnet, dass es sich bei dem gepflegten Herrn um die Siebzig um jenen Mann handelte, der mit seinem Vater durch die Hölle gegangen war. Natürlich kannte er Johns Familie, seine Eltern sogar persönlich. Die Stans gehörten zu einer der einflussreichsten Dynastien an der Ostküste und bekleideten verschiedene Posten in der Politik. Erst kürzlich hatte John beiläufig erwähnt, dass sich sein Dad mit Senator Kennedy getroffen hätte – einem jungen Politiker aus Massachusetts.
„Walther?“ Mit fragendem Blick kam Bobby auf sie zu. Trotz des Altersunterschieds wirkte er noch rüstig und stark. „Bist du es wirklich?“
In Sekundenschnelle erfasste der Mann die körperliche Konstitution seines ehemaligen Schützlings. Ein schmerzlicher Schatten huschte über sein Gesicht, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen, nachdem sie euch …“
Er musste nicht ausführen, welches Schicksal Walther und seinen Kameraden widerfahren war, George kannte die Geschichte nur allzu gut.
Die beiden Männer fielen sich in die Arme und erst nach einer Ewigkeit, in denen jeder mit seinen eigenen Erinnerungen kämpfte, lösten sie sich voneinander.
„Dass wir uns ausgerechnet hier über den Weg laufen …“ Walther schmunzelte, dann fiel sein Blick auf seine Liebsten, die sich bis jetzt zurückgehalten hatten. Eilig fuhr er fort: „Das sind Laura und George.“
„Es freut mich, Sie endlich kennenzulernen.“ Robert reichte Laura mit einem strahlenden Lächeln die Hand. „Es ist kein Tag vergangen, an dem Walther nicht von Ihnen schwärmte.“
Die Wangen seiner Mutter färbten sich kirschrot, bevor sie einen fragenden Blick mit ihrem Mann tauschte. Walter jedoch zuckte nur verschmitzt mit den Schultern. Ganz offensichtlich hatte er nicht nur in seinen Briefen das Herz auf der Zunge getragen, sondern auch vor seinen Kameraden.
Nun richtete Bobby seine Aufmerksamkeit auf George. Es kam selten vor, dass er mit anderen auf Augenhöhe war, denn mit seinen eins neunzig stach er oft aus der Menge heraus. Aber es waren nicht nur Bobbys Größe und der maßgeschneiderte Anzug mit Einstecktuch, die ihm ein respektvolles Erscheinungsbild verliehen, so von Angesicht zu Angesicht spürte George auch dessen unglaubliche Aura. Nun verstand er endlich, warum sein Dad nach all den Jahren immer noch voller Respekt für seinen ehemaligen Lieutenant war. Es war, als würde ein Teil seines unerschütterlichen Glaubens auf ihn abfärben. Auch wenn der ältere Herr heute keine Uniform mehr trug, um eine ganze Einheit anzuführen, empfand George für ihn nichts als Ehrfurcht.
„Mr. Stan, es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.“
Selbst der Händedruck war aus einer anderen Liga. George entging nicht, wie Bobby ihn blitzschnell abzuscannen schien und sich sein Mund kurz zu einem anerkennenden Lächeln verzog.
„Mich freut es ebenfalls, dich kennenzulernen. Und herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abschluss ‒ eine Leistung, auf die du sehr stolz sein kannst.“
„Danke, Mister“, erwiderte George und sah zu John, der zwischenzeitlich zu ihnen aufgeschlossen hatte.
„John, ich hatte ja keine Ahnung, dass du die ganze Zeit von Lieutenant Stan gesprochen hast.“
Bobbys Enkel sah seinen besten Freund leicht verwirrt an. „Warum setzen wir uns nicht, und du klärst mich endlich auf?“
Wenige Minuten später war die Sitzgarnitur unter den duftenden Kirschblütenzweigen bis auf den letzten Klappstuhl besetzt, und Robert klärte seine Familie mit großer Begeisterung über die neuesten Ereignisse und ihre gemeinsame Vergangenheit auf.
Dieser Nachmittag fühlte sich für alle wie ein großes, langersehntes Familientreffen an, und George konnte sich nicht erinnern, wann er seine Eltern jemals so unbeschwert erlebt hätte.
Während die Damen an ihren eisgekühlten Limonaden nippten und darüber sinnierten, wie sich der frischgebackene GI Elvis Presley wohl im Armeedienst schlagen würde, wandte sich Bobby mit nachdenklichem Blick an George.
„John hatte mir gegenüber vor einiger Zeit erwähnt, dass du bereits mehrere vielversprechende Angebote von Firmen bekommen hast. Hast du dich schon auf eine Richtung festgelegt?“
Mit dieser Frage hatte George nicht gerechnet, weswegen er Bobby für einen Moment überrascht ansah. Schon gegen Ende des zweiten Studienjahres hatten sich führende Vertreter aus Wirtschaft und Politik bei den entsprechenden Klassen vorgestellt. Auf dem Campus der Columbia Business School war die Dichte der Headhunter besonders hoch gewesen. Offensichtlich suchte man an allen Ecken und Enden hochqualifiziertes Personal, um die Wirtschaft in Amerika wieder auf Kurs zu bringen. Namhafte Automobilhersteller und die Haushaltsgeräteindustrie ‒ Wäschetrockner waren der neueste Clou ‒ übertrumpften sich geradezu mit attraktiven Benefits. Er hatte sogar mit einem Mitarbeiter der neu gegründeten Weltraumagentur ein Gespräch geführt, das ihn in einem Zustand der völligen Faszination zurückgelassen hatte. Doch immer wieder war er zum selben Ergebnis gekommen: Weder Detroit noch Florida waren die Orte, wo er sich eine Zukunft aufbauen wollte. An New York hing sein Herz. Es ging nicht nur um seine Eltern, die immer noch in der kleinen Mietwohnung lebten, sondern auch um die Stadt, die so aufregend pulsierend war und ihn mitriss. Schon als Botenjunge der Kanzlei Miller hatten ihn die Wolkenkratzer und historischen Gebäude Manhattans fasziniert.
Viele Firmen, Versicherungen und Banken hatten in diesen Gebäuden ihre Headquarters, und er war bereits bei mehreren Vorstellungsgesprächen gewesen. Doch etwas hatte ihn bei all diesen vielversprechenden Karriereaussichten gestört:
Es ging überall nur um mehr Profit und Macht. An manchen Tagen wünschte er sich, er wäre so zielstrebig wie John. Sein bester Freund hatte schon am Immatrikulationstag gewusst, dass er einmal als CEO bei Chrysler arbeiten würde. Wahrscheinlich hatte er diese Entscheidung bereits in den Kinderschuhen getroffen. Bei diesem Gedanken musste George kurz schmunzeln.
Mit den Worten „Ich wünschte, ich wäre so entschlossen wie John“, wandte sich George wieder an Lieutenant Stan. „Es soll kein Großkonzern sein, sondern ein älteres Unternehmen mit Charme. Ein Ort mit immateriellem Wert und zugänglich für die breite Öffentlichkeit. Ich glaube kaum, dass ich diesen Ort in einem verspiegelten Wolkenkratzer finden werde.“
Bobby nickte verstehend. „Dann meinst du so einen Ort wie das Kaufhaus Macy’s oder das Grand Hotel?“
Für einen Moment überlegte George, ob er John gegenüber je das Hotel am Central Park erwähnt hatte. Nein, er wüsste nicht wann.
„Dann hat uns heute wohl das Schicksal zusammengeführt“, erwiderte Bobby mit feierlicher Stimme. „Ich habe vor einigen Monaten ins Grand Hotel investiert. Es dauert zwar noch eine Weile bis zur Wiedereröffnung im Herbst, doch ich könnte mir dich gut in der Stelle des Hotelmanagers vorstellen.“ Er sah den jungen Mann abwartend an.
George war sich immer noch nicht sicher, ob ihm seine Ohren nur einen Streich gespielt hatten. Seine Gedanken überschlugen sich geradezu, als ein lauer Windstoß duftende Kirschblüten auf sie herabrieseln ließ, die sanft auf dem Picknicktisch landeten. Sollte sich sein Kindheitstraum, der ihn durch all die harten Tage getragen hatte, heute wirklich erfüllen? George schluckte fest, dann sah er Bobby entschlossen an.
„Habe ich Sie eben richtig verstanden, Mr. Stan? Sie bieten mir gerade einen Job an?“
2
Catherine
An Tagen wie diesen konnte sich Catherine kaum vorstellen, dass ihr Leben noch schöner sein könnte. Seit Frank und sie vor einem halben Jahr in die Buttercup Lane gezogen waren, fühlte sich alles wie im Traum an. Ihr wunderschönes Einfamilienhaus befand sich in einer idyllischen Wohngegend, die Anfang der Fünfziger Jahre auf dem Reißbrett entstanden war und in der sich ein Haus an das andere reihte. Der Gründer der Siedlung konnte zu Recht als Genie bezeichnet werden, denn die verschiedenen Modelle gab es, bequem zum Auswählen, aus dem Katalog. In nahezu jeder Preisklasse war etwa Passendes dabei: kleinere Häuser mit den Namen Prince und Duke, größere, wie das King oder das absolute Luxusmodell President. Außerdem hatten sie hier alles für den täglichen Bedarf: Schulen, Ärzte, Kirchen und einen großen Supermarkt am Magnolia Drive. Es waren die unzähligen kleinen Details, die aus ihrer Nachbarschaft eine Welt machten, die zuweilen etwas surreal daherkam ‒ weil sie einfach zu perfekt wirkte.
Die Vorgärten, die sich mit ihren Blumen zu übertrumpfen schienen, die Auffahrten, auf denen nie auch nur ein einziges Blatt lag. Die schicken Karossen, auf Hochglanz poliert, sodass die verchromten Heckflossen in der Sonne glänzten und ihre männlichen Besitzer mit Stolz erfüllten. Und Cheryl, die als einzige Frau in der Straße ein Automobil besaß. Sie war eine der wenigen im Besitz eines Führerscheins, weil ihr Mann ihr die Erlaubnis dazu gab.
Catherines Blick wanderte zu dem schicken Cabrio ihrer Nachbarin, das nur wenige Meter entfernt in der Auffahrt parkte. Ganz offensichtlich hatte sie heute vor lauter Aufregung vergessen, das Verdeck zu schließen. Denn zwischenzeitlich hatten sich auf dem Armaturenbrett und den Sitzen einige Kirschblüten verirrt. Ein Missgeschick, mit dem sich Cheryl nicht weiter befassen würde, denn wie immer kümmerte sich Roberta darum. Die Schwarze Haushälterin würde alles dafür tun, um das perfekte Bild der amerikanischen Vorstadtidylle wieder herzustellen. Dies und die Tatsache, dass der Kirschbaum nicht zur Straße zeigte, waren wahrscheinlich die Gründe, warum der Baum noch da war, auch wenn er nur Arbeit machte.
Catherine liebte ihn. Er erinnerte sie nicht nur an ihre unbeschwerte Kindheit im ländlichen West Virginia, er bot ihr, wie in diesem Moment, eine willkommene Abwechslung während des Abwaschs, da ihr Küchenfenster zur Seite hinauszeigte.
Der Wecker, der das Ende der Backzeit des Lemon Curd Cake ankündigte, riss sie aus ihren Gedanken. Schnell trocknete sie sich die nassen Hände am Geschirrtuch ab und öffnete anschließend den hochwertigen Ofen – ihr ganzer Stolz, wie auch die neue Resopal-Einbauküche in Pastellgrün. Frank hatte schon immer viel Wert auf Qualität gelegt, doch seit er zum Produktentwickler einer der bekanntesten Hersteller für Haushaltsgeräte aufgestiegen war, brachte er regelmäßig ein neues technisches Spielzeug mit nach Hause.
Catherine machte die Stäbchenprobe, denn das konnte der neue 500 Deluxe noch nicht. Im Spaß hatte sie dies einmal Frank gegenüber erwähnt und es im Nachhinein bitter bereut. Er hatte über ihre Bemerkung nicht lachen können, schlimmer noch, er hatte sich dadurch provoziert gefühlt. Dieser Streit war so lächerlich gewesen, dass sie ihn seitdem nicht mehr auf Backöfen, Kühlschränke oder Waschmaschinen angesprochen hatte. Ganz offensichtlich nahm er seinen neuen Job bei General Electrics viel zu ernst.
Catherine schüttelte den Gedanken an diesen hässlichen Vorfall ab und holte die Backform aus dem Ofen. Ihr Mund verzog sich zu einem stolzen Lächeln. Der Biskuitteig war einfach perfekt. Sie hatte das Rezept in der neuesten Ausgabe der Modern Housewife entdeckt, und der Kuchen war wie geschaffen für die Tupperparty ihrer Nachbarin Cheryl an diesem Nachmittag. Auch wenn Catherine noch nicht wusste, was sie dort erwartete. Ganz offensichtlich war es eine große Sache, denn schon am Vormittag war ihr der rosafarbene Century Caballero am Straßenrand aufgefallen. Die engagierte Dame im schicken Kostüm und mit toupierter Frisur hatte einen Karton nach dem anderen in Cheryls Haus geschleppt. Catherine hatte zwar schon von dieser Art Partys gehört, die nur Frauen vorbehalten waren, war aber, wie sie zugeben musste, noch etwas skeptisch. Sie konnte sich nicht vorstellen, ausgerechnet Lebensmittel in Kunststoff zu packen, den sie mit stark riechenden Quetschflaschen und bunten Hula-Hoop-Reifen in Verbindung brachte.
Dennoch wollte sie dem Ganzen eine Chance geben, wenn Cheryl sie nun schon einmal eingeladen hatte. Für gewöhnlich ging ihr Verhältnis nicht über einen höflichen Gruß hinaus, da sie schlicht in ganz unterschiedlichen Welten lebten. Die kühle Blondine von nebenan, die ihr schulterlanges Haar elegant wie Grace Kelly trug, verbrachte den Großteil ihrer Zeit in schwindelerregenden Pumps.
Frank dagegen hatte noch nie Probleme damit gehabt, Anschluss zu finden, im Gegenteil, die ganze Straße liebte ihn. Sie hatten sich in den ersten Monaten vor Einladungen kaum retten können … hier ein Barbecue, dort ein Dinner oder ein Sportevent. Ihr Mann war überall ein gern gesehener Gast und hatte viele Freunde.
Catherine hätte allein schon eine liebe Freundin ausgereicht, mit der sie sich ab und zu in der Buttercup Lane hätte austauschen können. Aber ganz offensichtlich war sie hier die Einzige, die sich nicht nur für Mode, Frisuren und Partys interessierte. Musik, Literatur und ‒ in gesundem Maße auch Politik ‒ standen ganz oben auf ihrer Liste. Doch bisher war es nur Roberta gewesen, die sie auf ihr Buch angesprochen hatte. Sie hatte im Garten gelesen, als diese auf der anderen Seite des Zauns die Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Nur mit großer Mühe war es Catherine an diesem Nachmittag gelungen, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Sie schämte sich noch heute für ihre Vorurteile. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass ausgerechnet die Maid ihrer Nachbarin eine leidenschaftliche Leserin von englischer Literatur war. Wie sehr hatte sie solche Gespräche in den letzten Monaten vermisst. Vielleicht hätten sie später Gelegenheit, sich auszutauschen.
Catherine sah zur Uhr und verließ kurz darauf aufgeregt die Küche, um sich für die Party zurechtzumachen. Doch nach einem Blick in ihren Kleiderschrank verzog sie unschlüssig den Mund. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was sie zu dieser Tupperparty anziehen sollte. Für gewöhnlich trug sie auf Partys das schicke Cocktailkleid, in dem Frank sie so gerne sah, doch da noch helllichter Tag war, und sie bis zum Abend bestimmt wieder zu Hause sein würde, erschien es ihr unpassend. Catherine verzog nachdenklich den Mund. Sie wusste ja nicht einmal, was sie erwartete, wie sollte sie da ein passendes Outfit auswählen? Wenn sie es sich im Freien gemütlich machten, würden ihre pastellfarbenen Petticoatkleider, besonders das vanillefarbene, jedes Insekt im Umkreis einer Meile anziehen.
Am praktischsten wären wohl die Caprihosen im Gingham-Muster und die ärmellose Bluse, nur für den Fall, dass voller Körpereinsatz gefragt war. Cheryl hatte ihr immerhin so viel verraten, dass man im Anschluss jede Schüssel ausprobieren und mit dem Salat-Karussell sogar Lollo Rosso schleudern konnte.
Wenige Augenblicke später war Catherine schon im angrenzenden Badezimmer, um sich zu frisieren und zu schminken. Was das anging, hielt sie es schlicht. Sie fasste ihr braunes Haar lediglich zu einem Pferdeschwanz zusammen und toupierte anschließend ihren kurzen Pony. Diese Frisur war nicht nur sehr praktisch, sie lenkte den Blick zudem auf ihre ausdrucksstarken Augen. Für gewöhnlich verzichtete sie während eines nachmittäglichen Besuchs auf Make-up, aber heute war ja ein besonderer Tag, weshalb sie etwas Wimperntusche und einen Hauch von ihrem kussechten roten Lippenstift von Avon auftrug.
Ganz offensichtlich hatten die engagierten Vertreterinnen von Tupperware die geschäftstüchtigen Damen von Avon abgelöst, denn schon für den nächsten Monat hatte Pamela von Gegenüber ihr Debüt als Gastgeberin angekündigt.
Mit einem amüsierten Schmunzeln verließ Catherine das Badezimmer und lief die Treppen zum Erdgeschoss hinunter. Dort stürzte sie den noch lauwarmen Kuchen auf die kristallene Kuchenplatte, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, und verzierte ihn mit der Zitronencreme, die sie bereits am Morgen zubereitet hatte. Deren frisches Aroma vermischte sich mit dem Duft der Kirschblüten und zauberte ihr ein seliges Lächeln ins Gesicht. Ein leises Zwitschern hinter ihr lenkte ihre Aufmerksamkeit zum Fenster. Catherines Gesicht hellte sich auf, als sie erneut den winzigen Vogel zwischen den von Blüten bedeckten Zweigen entdeckte. Er kam seit einigen Tagen regelmäßig vorbei und leistete ihr beim Spülen oder im Garten Gesellschaft. Als Teenager hatte sie ihre Großmutter liebevoll mit ihrem Hobby als leidenschaftlicher Bird-Watcher aufgezogen, wenn diese mit ihrem Fernglas auf der Veranda gesessen und akribisch Buch über alle gesichteten Vögel geführt hatte … heute erfreute sich Catherine ebenfalls daran. Sie selbst führte zwar kein spezielles Notizbuch über ihre Sichtungen, aber der kleine Vogel hatte es immerhin in ihr ledernes Büchlein geschafft, in dem sie ihre Gedanken und Ideen festhielt.
Sie wandte sich wieder dem Kuchen zu, danach spülte sie den Löffel und die Glasschüssel, in der sie die Zitronencreme kaltgestellt hatte, noch schnell ab. Frank legte Wert darauf, nach einem langen Arbeitstag in ein schönes Zuhause zurückzukehren. Und da Catherine alles dafür tat, um eine gute Ehefrau zu sein, respektierte sie den Wunsch ihres Mannes.
Wenige Augenblicke später verließ die junge Frau samt Lemon Curd Cake ihr Zuhause und machte sich auf den kurzen Weg zu ihrer Nachbarin, die mit ihrem Mann Fred das Luxusmodell President bewohnte. Das Haus war um einiges größer als ihres und verfügte nicht nur über zwei Zimmer mehr, sondern auch über eine Doppelgarage. Von den zwei Stechpalmen hinter dem Haus, die im Preis inbegriffen gewesen waren, und der Vermittlungsgebühr einer Schwarzen Maid mal ganz zu Schweigen.
Wie zu erwarten, öffnete ihr nicht Cheryl die Tür, sondern Roberta. Wie immer steckte sie in der obligatorischen Dienstmädchenuniform. Diese bestand aus einem hellblauen Hemdblusenkleid und weißer Schürze. Die Maids trugen dazu festes Schuhwerk und, je nach Jahreszeit, blickdichte Strümpfe. Das dunkle Haar hatte Roberta zu einem strengen Knoten im Nacken zurückgekämmt.
Auf ihrem Gesicht erkannte Catherine aufrichtige Freude, die sich in tiefen Grübchen und einem Funkeln in den Augen widerspiegelte – aber auch etwas anderes. Die Frau mittleren Alters schien ganz offensichtlich überrascht zu sein, Catherine zu sehen. Doch Profi wie sie war, wechselte sie schnell zu ihrer förmlichen Dienstmädchenstimme.
„Mrs. Kelly, kommen Sie doch bitte herein.“
Catherine überreichte ihr den Kuchen und folgte ihr anschließend ins riesige Wohnzimmer. Mit einem freundlichen Nicken signalisierte Roberta ihr, dass sie von jetzt an auf sich allein gestellt war. Etwas hilflos sah sie der Frau hinterher, die mit dem Kuchen in der angrenzenden Küche verschwand.
Für einen Augenblick wünschte sich Catherine, sie könnte sich ebenfalls in der Küche verkriechen, aus der sie mehrere Stimmen und verhaltenes Kichern hörte. So wie es aussah, hatten einige der Frauen aus den President-Häusern ihre Dienstmädchen mitgebracht, damit diese Roberta unter die Arme griffen.
Gerade in dem Moment als sie ihren Blick sehnsüchtig von der Küche abwandte, stürzte sich Cheryl auf sie. Die Frau, die sich bis jetzt nicht sonderlich für sie interessiert hatte, schloss sie in die Arme, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen. Eine leichte Alkoholfahne flog Catherine entgegen, und nun war ihr auch klar, warum sie von der Gastgeberin so stürmisch begrüßt worden war. Ihr Blick wanderte missbilligend zu der riesigen Bowle auf dem Esszimmertisch, die offensichtlich der Grund allen Übels war. Denn nicht nur Cheryl hatte bereits gut getankt, auch Pamela war in bester Partylaune.
„Hallo, Catherine“, flötete die rothaarige Frau von Gegenüber. Wie immer steckte sie in skandalös engen Leggins und einem offenherzigen pinkfarbenem Top. Die Haare waren zu einem bedrohlichen Turm toupiert, und zwischen den manikürten Fingern klemmte eine qualmende Lucky Strike. Hinter vorgehaltener Hand nannte man sie Pam, der Männer mordende Vamp.
„Hallo, Cheryl, hallo, Pam.“ Catherine sah sich neugierig im Wohnzimmer um, in dem es zuging wie in einem Bienenstock. Wenn sie nicht alles täuschte, war hier heute nicht nur die gesamte Buttercup-Lane versammelt, nein, sie erkannte auch einige Frauen aus den anderen Straßen. Drei Damen, die in der Strawberry Lane wohnten, hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht, andere wiederum standen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Das Aufgebot an Farben und den neuesten Modekollektionen war beeindruckend und erinnerte an üppig dekorierte Buttercremetorten. Dagegen wirkte Catherine in ihren Caprihosen und dem Pferdeschwanz geradezu unscheinbar.
Ihr Blick wanderte zum Esstisch, der unter dem Gewicht an Auflaufformen, Platten, einer beachtlichen Auswahl an Südfrüchten und einem Käseigel fast zusammenbrach. Roberta, die in diesem Moment hereinkam, stellte den nun angeschnittenen Lemon Curd Cake neben den anderen Backwaren ab. Ihre Blicke trafen sich, und Catherine erkannte in ihren Augen für einen Sekundenbruchteil eine Mischung aus Scham und Mitgefühl. Kurz darauf war Roberta wieder eilig in der Küche verschwunden.
Catherine hatte keine Zeit weiter über sie nachzudenken, denn die engagierte Repräsentantin gesellte sich nun zu ihnen. Sie schenkte Catherine ein hinreißendes Lächeln, das sogar der gecasteten Mom aus der Kellogg’s -Werbung Konkurrenz machen konnte, und wandte sich dann im Flüsterton an Cheryl. Wenige Augenblicke später klopfte die Blondine an ihr gefülltes Bowleglas und signalisierte so den Damen, dass es jeden Moment losgehen würde. Zwischenzeitlich hatte die Repräsentantin ihren Posten hinter dem Klapptischchen bezogen und schaute sich mit erwartungsvoller Miene um.
„Ein herzliches Willkommen zu unserer Verkaufsveranstaltung. Ich bin heute hier, um ihnen die neuesten Produkte aus unserer Frühjahr-/Sommerkollektion vorzustellen.“
Ein amüsiertes Grinsen huschte über Catherines Gesicht, denn die Farben der dargebotenen Schüsseln spiegelten die Garderobe der anwesenden Damen wider. Von Vanillegelb bis Pastellgrün war alles dabei. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um Produkte, die ausschließlich weibliche Abnehmer ansprechen sollten. Allein der Gedanke, wie Cheryls Mann, der Direktor der örtlichen Bank und einige Jahre älter als seine Frau, mit der vanillegelben Backschüssel hantierte, ließ Catherine leise kichern.
Die Damen schienen von diesem Kunststoff, der die Zukunft versprach, allesamt verzaubert zu sein. Außerdem gab es für fast jede Schüssel den passenden Deckel, der den Inhalt nicht nur für einige Tage frisch hielt, sondern auch bestens für Ausflüge geeignet war.
Es brauchte nicht viel Verkaufsgeschick, und Catherine war ebenso verzaubert von den kleinen pastellfarbenen Puddingförmchen wie die alte Dame neben ihr. Die weißhaarige Frau, die ihr gerade einmal bis zur Schulter reichte, trug eine schicke Butterfly-Brille, die sie mit einem Goldkettchen um den Hals gesichert hatte. Catherine hatte sie schon ab und zu beim Einkaufen im Shop-O-Rama gesehen.
„Man kann einfach nicht genug davon haben“, gab die Dame ihr gegenüber mit einem herzlichen Lächeln zu. „Oh, entschuldigen Sie, wir haben uns noch gar nicht miteinander bekannt gemacht.“ Sie reichte Catherine die Hand. „Ich bin Abilene Foster, die ehemalige Rektorin der Meadow High.“
Catherine erwiderte den Händedruck. „Freut mich sehr, Mrs. Foster. Dann kennen Sie sicher den Großteil der anwesenden Damen?“
Ein verräterisches Zucken umspielte ihren Mund. „Oh ja und ob ich sie kenne … jede einzelne der Sahnehäubchen.“
Bei diesem Satz musste Catherine kurz schmunzeln, gleichzeitig spürte sie, wie sie sich von Minute zu Minute mehr entspannte. Die ehemalige Rektorin strahlte nicht nur eine außerordentliche Ruhe aus, es war noch etwas anderes … sie hatte das Gefühl, sie verstanden sich auch ohne Worte.
„Ihre erste Tupperparty?“, hakte Abilene kurze Zeit später amüsiert nach.
Catherine sah irritiert auf, denn sie hatte sich so auf die Präsentation konzentriert, dass sie für einige Minuten alles um sich herum vergessen hatte. Diese Frau war aber auch ein Original. Sie besaß nicht nur Verkaufstalent und hatte ein tadelloses Aussehen, sie war auch sehr überzeugend. Mit Eleganz und Leichtigkeit hobelte sie innerhalb von Sekunden eine ganze Salatgurke in eine Schüssel.
„Et voilà, und eine weitere gesunde Erfrischung für die nächste Gartenparty oder das Picknick im Grünen ist fertig. Ich empfehle dazu selbstgemachtes Dill-Dressing.“
Catherine kam auf Abilenes Frage zurück. „Ja, es ist meine erste Party, und ich bin begeistert!“
Im Kopf addierte Catherine bereits die Preise ihrer Einkäufe. Dabei waren sie noch nicht einmal bei der Salatschleuder, die auf dem Tisch auf ihren Einsatz wartete, angelangt. Mit Sicherheit hob sich die Frau diese für das große Finale auf.
„Schätzchen, das lässt auch wieder nach“, erwiderte die alte Dame mit einem Augenzwinkern und zeigte mit dem Finger zum Buffet. „Ich hol mir mal eben was zur Stärkung.“
Catherine verfolgte, wie die Frau zum Esstisch schlurfte und dort einige Worte mit Roberta wechselte. Auf einmal griff sie in ihre Tasche und steckte dem Dienstmädchen ein Buch zu, das diese blitzschnell in ihrer Schürze verschwinden ließ. Catherine schnappte kurz nach Luft, denn die beiden wirkten so, als hätten sie dies nicht zum ersten Mal gemacht. Anschließend klopfte sie Roberta kurz auf die Schulter und kam schließlich mit einem Stück Lemon Curd Cake zurück.
„Habe ich irgendetwas verpasst?“, fragte Abilene mit Unschuldsmiene.
Zwischenzeitlich war der Geräuschpegel im Wohnzimmer angestiegen, da nun einige Damen die Möglichkeit nutzten, die eben vorgestellten Produkte zu testen. Dabei hielt sich die Repräsentantin im Hintergrund und beantworte nur gelegentliche Rückfragen. Doch Catherines Interesse an der Schleuder war verschwunden. Ihr brannte eine ganz andere Frage auf den Lippen. Was hatten Abilene und Roberta miteinander zu schaffen? Die Maids waren unter sich und ebenso die Damen. Genau aus diesem Grund hatte es Roberta auch immer so eilig, wenn sie sich zufällig trafen. Sie wollte nicht mit Catherine gesehen werden, was der jungen Frau oft einen leichten Stich versetzte.
Für gewöhnlich ignorierten die Damen der Buttercup Lane die Schwarzen Maids. Sie waren für manche nicht mehr, meist sogar weniger wert, als das Inventar, um das sie sich zu kümmern hatten. Sie putzten, sie wuschen, sie kochten und zogen die Kinder ihrer Arbeitgeber groß, doch so sehr sie sich auch bemühten, sie würden niemals dazugehören.
Es war bereits früher Abend, als Catherine mit einem Glas Limonade und ihrem Notizbuch nach draußen trat. Nach der turbulenten Tupperparty vom Nachmittag war die Stille im Garten eine reine Wohltat. Da Frank erst in einer Stunde von der Arbeit zurückkehren würde, wollte sie die Zeit zum Schreiben nutzen. Erneut schüttelte sie über ihren Spontaneinkauf bei Cheryl den Kopf. Sie hatte bei ihrer Nachbarin ein halbes Vermögen für Kunststoff ausgegeben. Und selbst hier auf ihrer Terrasse wurde sie erneut damit konfrontiert. Das Material hatte sich auch im Outdoor-Bereich erfolgreich durchgesetzt. Die sonnengelbe Sitzgruppe aus Hartplastiklamellen zauberte ihr sofort ein Lächeln ins Gesicht. Die Stühle versprühten Urlaubsfeeling pur und ähnelten denjenigen in den riesigen Hotel-Resorts in Miami Beach. Catherine stellte ihre Limonade auf dem kleinen Servierwagen ab und setzte sich. Auch die mintfarbene Resopalplatte des Wagens fügte sich perfekt ins Bild. Nun fehlte nur noch der Pool, schoss es ihr amüsiert durch den Kopf. Doch dieser würde wohl für immer ein Traum bleiben, genauso wie die gestreifte Hollywoodschaukel mit Sonnendach auf dem Nachbargrundstück.
Dafür saß sie im Halbschatten des blühenden Kirschbaumes, der in diesem Moment duftende Blüten auf sie und die Sitzgruppe herabrieseln ließ. Ein kleiner, gelb gefiederter Vogel, der hoch oben in den Zweigen saß, zog Catherines Aufmerksamkeit auf sich. Für einen Augenblick blinzelte sie irritiert, es handelte sich dabei tatsächlich um einen Kardinal. Sie brauchte für die Identifikation noch kein Fernglas wie ihre Granny, ihr geschultes Auge erkannte den besonderen Vogel ganz ohne Hilfe.
Gerade als sie ihre seltene Sichtung in ihrem Notizbuch festhalten wollte, lenkte leichtes Plätschern, gefolgt von einem leisen Aufstöhnen ihre Aufmerksamkeit zurück zum Zaun. Doch es war nicht Cheryl, die sich in diesem Moment am Pool erfrischte, sondern Roberta, die Maid. Ihre Unterarme steckten bis zum Ellbogen im kühlen Nass, während sie für einige Momente erschöpft die Augen schloss. Erschrocken fuhr sie herum, als sie Catherine entdeckte.
„Hallo, Roberta.“ Die junge Frau erhob sich schnell und lief ihr entgegen. „Sind die letzten Partygäste gegangen?“
„Hallo, Mrs. Kelly. Ja, Gott sei Dank! Ich dachte mir schon, die gute Frau hört gar nicht mehr auf. Als sie endlich alle Kartons in ihrem rosafarbenen Caballero verstaut hatte, konnten Maybel, Florence und ich endlich aufräumen.“
Catherine schenkte der älteren Frau einen mitfühlenden Blick. Sie konnte sich gut vorstellen, dass solch aufwendige Partys ihren gesamten Ablauf durcheinanderbrachten.
„Haben Sie sich denn auch etwas Nettes gegönnt?“, hakte Roberta nun versöhnlicher nach. „Es hat mich übrigens außerordentlich gefreut, Sie heute ebenfalls auf der Party zu sehen. Ehrlich gesagt war ich ein wenig überrascht.“
„Tatsächlich habe ich mich selbst über Cheryls Einladung gewundert“, erwiderte Catherine ehrlich. „Aber ich muss zugeben, ich war neugierig, was mich dort erwarten würde. Außerdem habe ich heute endlich die Bekanntschaft von Abilene Foster gemacht. Sie ist eine unglaubliche Frau.“
„Das ist unsere Rektorin, in der Tat.“ Ein geheimnisvoller Ausdruck huschte über Robertas Gesicht und bestätigte Catherines Verdacht, dass die beiden unterschiedlichen Frauen etwas Verbotenes miteinander teilten.
„Darf ich Sie etwas fragen, Roberta?“
„Selbstverständlich, Mrs. Kelly.“
Catherine sah die ältere Frau für einen Moment nachdenklich an, ehe sie flüsternd fortfuhr. „Ich habe zufällig gesehen, wie Abilene Foster Ihnen dieses Buch zugesteckt hat. Ich weiß, es geht mich nichts an … aber wäre es wohl möglich, dass sie mich ebenfalls mit neuer Literatur versorgt?“
Sie hielt kurz inne, denn die nächsten Worte waren ihr nicht nur sehr unangenehm, sondern jetzt, wo sie sie laut aussprechen sollte, mehr als beschämend. „Mein Mann sieht es nicht gern, wenn ich mir mit Büchern die Zeit vertreibe – er sagt, sie bringen mich auf dumme Gedanken – und im Shop-O-Rama ist die Auswahl, wie Sie sicher wissen, sehr beschränkt.“
Die Maid drehte sich verstohlen zum Pool um, ehe sie Catherine antwortete.
„Können Sie ein Geheimnis für sich behalten? Genau aus diesem Grund hat Abilene Foster den geheimen Buchclub für uns Frauen gegründet!“