Kapitel eins
Es war später Freitagnachmittag. Sarah sprach mit dem Handy fest am Ohr mit Nick über ihre Wochenendpläne, während sie mit der anderen Hand auf der Tastatur tippte. Sie waren an diesem Abend zu einer Wohnungseinweihungsparty eines früheren Kommilitonen von Sarah eingeladen. Charlie war während der gemeinsamen Unizeit ein geselliger, frecher und witziger Zeitgenosse gewesen. Im Laufe der letzten paar Jahre tauchte er immer wieder unverhofft in ihrem Leben auf, arbeitete mal hier, mal da, hatte ständig wechselnde Jobs und Beziehungen, schien nie älter zu werden – oder erwachsen. Manchmal, wenn sie mit ihrem Studium zu kämpfen hatte und dann in den anstrengenden Stunden bei der Arbeit als Assistenzärztin, war Sarah neidisch auf sein Leben gewesen.
An diesem Nachmittag, ausgelaugt nach einer besonders anstrengenden Woche in einer überlaufenen Praxis, empfand sie eher Ärger als Neid. Aufgrund seiner gewöhnlichen Rücksichtslosigkeit hatte Charlie wahrscheinlich Gott und die Welt in seine neue Mietwohnung eingeladen. Die Party würde sicher laut und voll werden. Alles Leute, die weder sie noch Nick kennen würden. Und wiederum andere, die sie kannte, aber nicht mochte. Nach einer vollen Woche wäre sie lieber zu Hause geblieben, hätte Essen bestellt und einen guten Film geschaut. Sie wusste, dass Nick das ähnlich empfand.
Immerhin wollte er von vornherein nicht hingehen. „Charlie wird mit dir flirten, wie immer. Oder, wenn nicht er, dann einer seiner gruseligen Freunde“, hatte er gesagt. „Können wir das nicht ausfallen lassen?“
Sie setzte ihren Willen aber durch. Denn seit sie geheiratet hatten, wollte Nick nie mit jemandem aus ihrem Freundeskreis ausgehen. Zunächst hatte sie die romantischen Abendessen à deux genossen. Nick war ein aufmerksamer und charmanter Begleiter. Erst als aus den Wochen Monate wurden, als die Aufmerksamkeit begann, sie zu erdrücken, und als sie Nachrichten bekam, in denen sich ihr Freundeskreis erkundigte, ob sie vom Erdboden verschluckt worden war, hatte sie vorgeschlagen, dass sie sich alle wie in alten Zeiten in ihrem Lieblingspub treffen sollten.
„Ich mag es, dich nur für mich zu haben“, hatte Nick gesagt, als sie die Idee angesprochen hatte. Er war mit einem riesigen Blumenstrauß nach Hause gekommen, sodass es damals fies gewesen wäre, auf einem Treffen zu bestehen. In der nächsten Woche gelang es ihr schließlich, ihn zu überreden, sich mit ein paar Leuten aus ihrem Freundeskreis zu treffen, um sie kennenzulernen.
„Ich würde alles für dich tun“, sagte er und küsste sie auf die Wange. „Aber ich mag es immer noch lieber, dich nur für mich zu haben. Na ja“, fügte er hinzu, „ich kenne ja bereits Jade, oder?“
Jade, Sarahs engste Freundin. Er konnte gar nicht anders, als sie kennengelernt zu haben. Sie und Sarah waren praktisch ein Leben lang befreundet. Es war allerdings eine Schande, dass Nick und Jade sich direkt von Anfang an nicht besonders mochten. Es war auch eine Schande, dass er keine andere Person aus ihrem Freundeskreis zu mögen schien und ihre männlichen Freunde offensichtlich misstrauisch beäugte, was Sarah anfangs noch amüsant fand. Weniger charmant fand sie das alles aber, als Nick jedes Mal, wenn einer von ihnen ihr zu nahe kam, einen besitzergreifenden Arm um sie legte.
„Vertraust du mir nicht?“, hatte sie gesagt.
„Natürlich tue ich das“, war seine überraschte Antwort. „Ich vertraue aber ihnen nicht.“
Sarah wollte lachen und sagen, dass immer zwei dazugehörten. Das hätte sie auch getan, wäre ihr nicht ein paar Wochen nach ihrer Hochzeit klar geworden, dass Nick keinen besonders guten Sinn für Humor hatte.
Sie hörte nur halb zu, während er weiterhin über ihre Entscheidung, Charlies Einladung anzunehmen, jammerte. Es wäre nicht besonders klug, jetzt zuzugeben, dass sie selbst nicht mehr länger hingehen wollte. Das würde einen Präzedenzfall schaffen und so das Hin und Her bei der nächsten Einladung zu einem Treffen mit ihrem Freundeskreis erschweren. Wenn sie erst einmal zu Hause war, sie geduscht und ihr schickes Outfit angezogen hatte, dann würde es ihr besser gehen. Sie tippte weiterhin geduldig Patienteninformationen mit einer Hand ein und wandte sich erst von dem Computerbildschirm ab, als sie bemerkte, dass Nick aufgehört hatte, zu reden. Sie nahm die Hand von der Tastatur und versuchte, die Falten, die ihre Stirn schon den ganzen Vormittag so unschön bedeckten, wieder zu glätten. Waren sie getrennt worden? Oder hatte er einfach aufgelegt? „Nick?“
„Wir müssen reden.“
Es lag Anspannung in der Luft. Vier einfache Worte, aber so aneinandergereiht und in einem Tonfall, der nur Böses erahnen ließ, ließen sie Sarah den Atem stocken.
Sie könnte die Verbindung trennen. So tun, als hätte sie das nie gehört. In so etwas war sie gut. Niemand war so taub wie die, die nicht hören wollten. Die, die sich entschieden hatten, die Schwierigkeiten, die ihnen im Leben begegneten, immer wieder zu ignorieren, anstatt schwierige Entscheidungen zu treffen. Sie tat das bereits seit Monaten. Sie ignorierte die wachsende Distanz zwischen ihnen, ebenso wie die langsam größer werdende Erkenntnis, dass ihre Ehe ein Fehler gewesen war und ihre Beziehung schon ihr Ablaufdatum überschritten hatte. Vielleicht hatte sie das bereits bei ihrer Hochzeit bemerkt, vor genau einem Jahr.
Sie waren nicht besonders lange zusammen gewesen, als Nick ihr den Antrag gemacht hatte. Nur ein paar Monate. Sie hatte ihn gerade mal ein paar Wochen nach der Trennung von Clem getroffen; einen Mann, nach dem sie so verrückt gewesen war, dass sie noch an ihre Beziehung geglaubt hatte, obwohl sie bereits längst hätte aufgeben sollen. Clem war während ihrer dreijährigen Beziehung unzuverlässig und vermutlich untreu gewesen.
Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie sich so schnell in Nick verguckt hatte. Er war zuverlässig, aufmerksam, nett und machte es besonders deutlich, dass er ihr komplett verfallen war. Er war wie ein Verband für ihr angeschlagenes Ego und ihr angeknackstes, blutendes Herz gewesen. Als er ihr den Antrag gemacht hatte, als er auf die Knie in einem edlen italienischen Restaurant gegangen war und „Sarah, ich liebe dich, willst du mich heiraten?“ gesagt hatte, war sie nahezu sprachlos.
Ihr erster Instinkt war ein Nein! gewesen. Sie hatte ihn sich genau angesehen, wie er mit einem verliebten Ausdruck im Gesicht vor ihr kniete, mit einer kleinen Schachtel in der Hand, in der ein glänzender Diamantring war. Sie sagte schließlich „Natürlich will ich das“ mit solch einem übertriebenen Elan, dass Nick niemals diesen kleinsten Moment des Zögerns bemerkt hatte, der ihrer Antwort vorausgegangen war.
Kapitel zwei
Die Monate zwischen Antrag und Hochzeit waren so voller Aufregung, dass jede Art von wiederkehrendem Zweifel, den Sarah vielleicht gehabt hatte, verdrängt wurde. Der erste Schritt war, es beiden Elternpaaren zu erzählen. Sie freute sich, wie glücklich Nicks Eltern darüber waren, dass ihr einziges Kind heiraten würde, und war nicht das kleinste bisschen von der Reaktion ihrer Mutter überrascht: erleichtert, dass Sarah sich mit einem guten Mann niederließ. Ihr Freundeskreis war entweder überrascht oder bereits aufgeregt wegen der bevorstehenden Feierlichkeiten. Sie bestanden auf eine Verlobungsfeier und waren sich, sobald diese abgehakt war, darüber uneinig, was für die jeweiligen JGAs geplant werden sollte.
„Ich war selbst noch bei keinem“, hatte Nick mehr als einmal gesagt, als die Vorbereitungen immer komplizierter wurden. „Vielleicht sollten wir einfach durchbrennen.“
Sarah lachte noch beim ersten Mal und lächelte dann nur noch beim zweiten Mal. Aber als er es zum zehnten oder zwanzigsten Mal erwähnte, war sie verärgert genug, um zu fragen: „Bereust du deinen Antrag schon? Denn wenn du das tust, sag es lieber jetzt, bevor es zu spät ist.“
Er bemühte sich schnell darum, ihr gut zuzureden: Er fände es aufregend, zu heiraten, er hätte nur nicht mit dem ganzen Trara deswegen gerechnet.
„Das ist kein Trara, das ist Tradition“, wehrte sie sich. Und während sie sich um die ganzen Arrangements kümmerte, wurde jedes Zögern und jede Art von Zweifel, die sie hatte, zusammen mit allem anderen verdrängt.
Er hatte angesprochen, bei ihr einzuziehen, aber sie hatte gelacht und mit ihrer Hand in ihrer kleinen Wohnung herumgewedelt. „Die ist ja kaum groß genug für mich.“ Seine Enttäuschung war klar für sie zu erkennen und daher gab sie ihm die Schlüssel für die Haus- und Wohnungstüren. „Hier, du kannst manchmal hier übernachten.“ Sie hatte damit die eine oder andere Übernachtung nach ihren eigenen Vorstellungen gemeint, fand es aber dann doch schwierig, sich zu beschweren, wenn sie nach Hause kam und er es sich bereits auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem gemacht hatte und auf sie wartete. In solchen Momenten sprang er dann auf und übersäte sie mit Küssen. Wie konnte sie sich über so etwas je beschweren? Bald schon würden sie sowieso jeden Tag zusammen verbringen. Sie brauchten einfach nur eine größere Wohnung.
Sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie sich etwas Passenderes mieten würden, aber Nick bestand darauf, dass Kaufen die bessere Option wäre. Sie stimmte zu, bis er erwähnte, dass er gerne etwas finden würde, noch bevor sie verheiratet waren. Das war alles zu viel. Der Stress bei der Wohnungssuche – ganz zu schweigen von etwas, das zum Verkauf stand – traf mit voller Wucht auf den Stress der Hochzeitsvorbereitungen. Beides gleichzeitig machte jede Art von logischem Denken nahezu unmöglich. Dann kam noch ihre nervenzehrende Arbeit hinzu und Sarah wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.
Als sie sich mehrere Wohnungen in ihrer bevorzugten Wohngegend anschauten und ihnen die nackte Wahrheit klar wurde, dass sie sich nicht mal die kleinsten und schäbigsten unter ihnen leisten konnten, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und weigerte sich, sich noch weitere anzusehen. „Das hat alles keinen Zweck“, sagte sie bestimmt. „Wir können es uns nicht leisten, irgendeine davon zu kaufen, es sei denn, wir erweitern unseren Radius und suchen uns etwas, das weniger zentral liegt und damit günstiger ist“
Selbst wenn sie die lächerlich teure Hochzeitslocation gecancelt hätte, wie auch den dreitägigen Junggesellinnenabschied nach Marrakesch und das Hochzeitskleid, in das sie sich verliebt hatte und das viermal so teuer gewesen war, als sie es erwartet hatte, würde nichts von diesem zusätzlichen Geld einen Unterschied machen.
Zwei Wochen vor der Hochzeit kam sie nach einem anstrengenden Tag müde nach Hause, als Nick ihr Lieblingsgericht gekocht hatte. Er hatte Kerzen angezündet und auf Spotify liefen ihre Lieblingslieder. Sie jauchzte vor Freude, streifte ihre Schuhe ab, vergrub die Zehen in dem weichen Teppichflor, ließ sich entspannt auf das Sofa fallen und freute sich über das Glas Wein, das er ihr mit einem Lächeln überreichte. „Das ist genau das, was ich jetzt brauche“, sagte sie und platzierte einen Kuss auf seiner Wange.
„Ich habe ein paar gute Neuigkeiten.“
Er stieß mit seinem Glas an ihres, mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht, das sie verwirrte. Er mochte es, Ratespiele zu spielen, sie manchmal auch. Aber nach der Woche, die hinter ihr lag und die mit einem Tag aus der Hölle geendet hatte, war sie dazu nicht in der Stimmung. Sie nahm an, dass sie dankbar hätte sein sollen, dass er gute Nachrichten gesagt hatte und nicht nur Nachrichten. Auf einmal dachte sie darüber nach, zu dem Pub zurückzugehen, an dem sie noch vor ein paar Minuten vorbeigelaufen war. Dieses Mal würde sie aber der Versuchung, einen Kurzen zu trinken, nachgeben, bevor sie wieder nach Hause ging.
Es würde nicht das erste Mal sein, dass sie so etwas tat. Sie kannte die Gefahren und wusste um den schmalen Grat, auf dem sie sich bewegte: den zwischen einem kurzen Moment der Entspannung vom Alltagsstress und ungesunden Trinkgewohnheiten. Deswegen war sie an diesem Tag auch am Pub zielstrebig vorbeigegangen: um sich selbst zu beweisen, dass sie es konnte. Jetzt bereute sie es. Egal welche Neuigkeiten Nick hatte, egal ob gute oder schlechte, sie wären einfacher mit einem doppelten Wodka im Magen zu ertragen gewesen.
Sie gab sich damit zufrieden, ihr Weinglas in zwei großen Schlucken praktisch leerzutrinken, was Nick eine verwunderte Augenbraue nach oben ziehen ließ. Als ob er mit seinem bequemen Bürojob auch nur die geringste Ahnung davon hatte, was harte Arbeit wirklich bedeutete. Zum Glück breitete sich der Wein schnell in ihrem Magen aus, in den sie den ganzen Tag über nichts außer dem schrecklichen Kaffee aus der Praxis geschüttet hatte. Sie hatte eigentlich vorgehabt, eine Pause für das Mittagessen einzulegen – das nahm sie sich immer vor. Aber sie war schließlich eine gute Ärztin, und als die Behandlung ihrer letzten Patientin am Vormittag etwas mehr Zeit in Anspruch nahm, konnte Sarah nicht einfach in die Pause gehen. Dafür gingen die dreißig Minuten drauf, die sie eigentlich fürs Mittagessen eingeplant hatte. Da der Terminplan am Nachmittag zu vollgestopft war, konnte sie die Pause auch nicht nach hinten verschieben und später anfangen. Statt etwas zu essen, stürzte sie daher einen Kaffee nach dem anderen runter und pfiff auf dem letzten Loch.
Sie leerte den letzten Rest des Weines auf einmal und stellte das Glas ab, bevor sie nach dem Scheck griff, der ihr hingehalten wurde. Nach einem kurzen Blick auf die Zahl darauf schaute sie auf Nicks gut aussehendes Gesicht. Er strahlte mit einem Mix aus Stolz und Vorfreude. Vielleicht war der Alkohol zu schnell durch ihre Blutbahnen geflossen und hatte ihre Gedanken vernebelt. Warum sonst wäre ihre erste Reaktion das erschreckende Gefühl, in der Falle zu sitzen? Mit einem Ruck, der sie torkeln ließ, stand sie auf. Sie wollte ihm sagen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, dass sie wieder raus wollte. Stattdessen gab sie ihm den Scheck zurück und zwang sich zu lächeln. „Das ist fantastisch.“
„Es ist ein Darlehen“, sagte er, „aber eines, das wir über die Jahre zurückzahlen können, wie und wann wir wollen. Zinsfrei. Das bedeutet, dass wir eine hübsche Wohnung kaufen können..“
Sarahs Lächeln wurde zu einer schmerzhaften Grimasse, als ihr klar wurde, dass das jetzt ihr Leben war. Ihre Zukunft war in Stein gemeißelt. Die kommenden Jahre würden aus Arbeit, der Ehe mit Nick, dem Leben in London und dem Abbezahlen des Darlehens bestehen.
Das war, was sie wollte, oder?
***
Sarah drückte das Handy an ihr Ohr, versuchte, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und Nicks ungewöhnlich ernstes ‚Wir müssen reden‘ zu verdauen.
„Sarah? Bist du noch dran?“
Sie konnte einen Hauch von Angst in seiner Stimme hören. Das war so typisch für ihn. Er war ein redegewandter, aber kein besonders mutiger Mann, daher verließ ihn sein Mut oft schnell. Wir müssen reden. Vielleicht hatte er endlich den Entschluss gefasst, das zuzugeben, was sie bereits seit Monaten wusste: dass ihre Ehe ein Fehler gewesen war. Er war vielleicht kein mutiger Mensch, aber sie war ein totaler Feigling. Sie bevorzugte es, mit dem Strom zu schwimmen, anstatt sich den Konsequenzen jedweder Entscheidung zu stellen. Deswegen war ihr Leben ein solches Durcheinander.
„Ja, ich bin noch dran, aber ich muss los. Mein nächster Patient wartet bereits. Wir können später reden oder, noch besser, am Wochenende, ja?“
„Morgen Abend. Ich reserviere uns einen Tisch im Alfredo’s.“
Das war das Restaurant, in dem er ihr den Antrag gemacht hatte. Eine gute Wahl. Morgen würden sie diesen Kreis schließen. Zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatten, sich im Guten trennen und getrennte Wege gehen.
Kapitel drei
Sarah verließ die Praxis später, als sie eigentlich geplant hatte. Die letzten beiden Patienten des Tages litten an komplizierten gesundheitlichen Problemen, was Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie brauchten auch beide verzweifelt jemanden zum Reden: jemanden, der sie verstand, der sich die Zeit nahm, ihnen eine ganzheitliche Behandlung zukommen zu lassen, und der sie als Menschen sah, statt einfach als Krankheiten oder Pflegefälle. Sarah hatte ihr professionellstes Lächeln aufgesetzt. Und als sie zunächst zögerten, offen zu sprechen, redete sie ihnen gut zu, sodass sie sich wohl genug fühlten, um sich mitzuteilen. Es war in solchen Momenten, dass sie sich erinnerte, warum sie Ärztin werden wollte.
Als Kind klebte sie vor dem Fernseher und schaute jede Episode von Peak Practice. Damals hatte sie sich entschieden, später Ärztin zu werden, und dieser Traum hatte sich nie geändert. Was sich verändert hatte, war die Location. Manchmal, wenn sie sich in ihrem Büro in der riesigen, weitläufigen Praxis umsah, fragte sie sich, was aus diesem Landärztin-Traum geworden war.
An diesem Abend blieb aber keine Zeit, sich über irgendetwas groß Gedanken zu machen. Sie schaute auf ihre Uhr und verzog das Gesicht. Fast achtzehn Uhr. Es würde zwanzig Minuten dauern, bis sie zu Hause war, noch mal zwanzig, um zu duschen und in etwas Passendes für Charlies Party zu schlüpfen. Und weitere fünfzehn, um zu ihm zu fahren. Er hatte ab sieben gesagt. Sie und Nick hatten bereits abgemacht, dass sie früh da sein wollten, um dann wieder früh zu gehen, bevor die Party sich in ein lautes Alkohol- und Drogen-Chaos verwandelte.
Ein Drink würde ihr allerdings helfen, durch den Abend zu kommen. Also tat Sarah das, was sie immer häufiger tat – sie machte einen Zwischenstopp in dem kleinen Pub, nur einen kurzen Weg von der Zwei-Zimmer-Wohnung entfernt, die sie mit Unterstützung von Nicks Eltern gekauft hatten. Der Pub war keiner, den sie und Nick häufig besuchten. Sie war klüger als das. Dass sie das Gefühl hatte, dass sie aus ihrem Trinken ein Geheimnis machen musste, bereitete ihr Kopfzerbrechen, bis der erste große Schluck des doppelten Wodkas seine Wirkung zeigte und die Sorgen einfach wieder wegspülte.
Nick war längst zum Aufbrechen bereit, als sie kurz vor sieben die Wohnungstür öffnete. Der eine doppelte Wodka war nicht genug, um die Anspannungen des Tages wieder zu lockern, also hatte sie einen zweiten bestellt. Ein dritter wäre perfekt gewesen, aber sie war noch nicht so weit vom Weg abgekommen, noch nicht so dumm. Die beiden Drinks könnten noch als Absacker zum Ende der Woche durchgehen, aber die Wirkung von dreien hätte sie all ihre Hemmungen verlieren und sie vielleicht etwas Dummes sagen oder tun lassen. Sie wäre vielleicht sogar Nicks Wir müssen reden zuvorgekommen und hätte die Wahrheit in drei klaren Worten rauspurzeln lassen: Es ist vorbei.
„Sorry“, sagte sie und lehnte sich nach vorn, um ihn auf die Wange zu küssen. Er sah besonders gut aus. Sein weißes Hemd brachte seine Bräune gut zur Geltung, die er sich bei ihrem letzten Urlaub auf Mauritius geholt hatte. Er war ein gutaussehender Mann. Ein guter Mann. Es war einfach eine Schande, dass sie ihn nicht liebte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das jemals getan hatte. „Ich dusche nur schnell, ziehe etwas dem Anlass Angemessenes an und bin in fünfzehn Minuten fertig, okay? Du könntest das Taxi bestellen für …“ Sie schob den Ärmel ihrer Jacke zurück, um auf die Uhr zu schauen. „… Sagen wir Viertel vor acht, um auf der sicheren Seite zu sein.“
„Wir wollten um sieben da sein“, sagte er missmutig.
„Na ja, jetzt wird es eben acht“, sagte sie mit einem Grinsen, das vielleicht etwas zu fröhlich und etwas zu sehr vom Alkohol getränkt war. „Wir können immer noch früh die Party wieder verlassen, mach dir keine Sorgen.“ Sie wuschelte ihm durch die Haare, verschwand dann im Schlafzimmer. Sie hatte bereits entschieden, dass sie das schwarze Slip Dress, das ihre Figur und ihre sonnengeküsste Haut besonders betonte, anziehen wollte. Nach einer kurzen Dusche warf sie es sich über und ließ es sich an ihre Kurven schmiegen.
Sie legte etwas mehr Make-up auf, als sie tagsüber trug, und löste ihre Haare aus dem praktischen Dutt des Arbeitsalltages, sodass sie über ihre Schultern fielen. Dann die High Heels, die sie wahrscheinlich nach noch ein paar Drinks mehr wieder ausziehen würde, und eine Stola für den Fall, dass der Abend etwas kühler werden würde. Sie schaute sich im Spiegel genau an. Ihr Spiegelbild war verschwommen. So weichgezeichnet sah sie jünger als achtunddreißig aus. Weichgezeichnet – sie hatte nach den zwei Doppelten aufgehört, oder? Oder hatte sie doch noch einen dritten getrunken?
Sie trat näher an den Spiegel und versuchte, die Wahrheit in den verschwommenen Umrissen zu erkennen. Wenn sie da irgendwo lag, konnte sie sie nicht sehen. Mit einem Stöhnen ließ sie alle Zweifel im Spiegel zurück, drehte sich weg, schnappte sich ihre Tasche und ging aus dem Zimmer.
***
Die Party war genauso, wie sie es erwartet hatten. Wenn sie um sieben angekommen wären, wie sie es ursprünglich geplant hatten, dann hätten sie die Chance gehabt, mit dem Gastgeber zu sprechen. Aber als sie kurz nach acht ankamen, platzte die bescheidene Wohnung nahezu aus allen Nähten und Charlie war nirgendwo zu sehen.
„Er kann sich glücklich schätzen, wenn er nicht rausgeworfen wird“, sagte Nick mit der Hand an Sarahs Hüfte.
Sie murmelte zustimmend. In Mietwohnungen galten Partys gemeinhin als ein absolutes No-Go. „Lass uns was trinken, Charlie suchen, Hallo sagen und uns schnell wieder verziehen. Wir könnten zu Alfredo’s gehen, vielleicht kriegen wir ja einen Tisch. Ich könnte was zu essen vertragen.“
Nick zog sie näher zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Schon wieder keine Zeit fürs Mittagessen gehabt?“
„Ich hatte eine Banane.“ Das entsprach nicht so ganz der Wahrheit. Sie hatte eine geschält. Nur so weit war sie gekommen. Seine hochgezogenen Augenbrauen brachten sie zum Lächeln. Er war ein guter Mann. Sie hoffte, sie könnten nach ihrer Trennung befreundet bleiben.
Sie waren bereits bei ihrem zweiten Drink, bevor sie bemerkten, wie Charlie sich seinen Weg durch die Menge auf sie zu bahnte. Sarah brauchte keinen Röntgenblick, um zu erkennen, dass ihr Freund bereits high war. Seine Pupillen waren erweitert und zu gruseligen schwarzen Löchern geworden. Er bewegte sich abgehackt und unruhig. Er umarmte sie beide und hielt Sarah länger in seinen Armen, als ihr lieb war. Er hielt sie auch enger, als sie es wollte, so eng, dass sie den unverkennbaren und verräterischen Geruch von verbranntem Gummi wahrnehmen konnte, der vom Crack kam. Sie schaute über seine Schulter in Nicks Augen mit einer klaren Nachricht. Hol mich hier raus.
„Wie geht es dir, Alter?“ Nick zog an den Armen, die um Sarah gelegt waren, bis sie endlich losließen.
Sie war nicht davon geschmeichelt, wenn Charlie sie anmachte. Das tat er immer. Es war ein Spiel, das sie spielten, mit Witzeleien, die sie beide amüsant fanden. Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, dass Nick das nicht gut fand. Aber statt mit der Flirterei aufzuhören, überspitzte er das Ganze noch und fand Gefallen an Nicks genervter, frustrierter Reaktion. Sie hatte Nick gebeten, ihn zu ignorieren, aber das war auch nicht von Erfolg geprägt.
Aber an diesem Abend machte Charlie sie nicht an oder flirtete mit ihr. Er benutzte sie nur, um nicht direkt auf sein Gesicht zu fallen. „Er ist high“, sagte sie und gab sich dabei kein bisschen Mühe, leise zu sprechen. Wenn Charlie es gehört hatte, dann schien es ihn nicht zu interessieren.
„Toll, euch beide zu sehen“, sagte er, taumelte nach vorne und hielt inne, als Nicks Hand sich fest um seinen Arm legte. Er schaute auf die Hand hinunter, griff dann mit seiner freien Hand danach, um sie wegzuschieben, verfehlte sie aber und fasste um seinen eigenen Arm. „Ups“, sagte er, bevor er sich wieder aus seinem eigenen Griff befreite. „Muss mich unter die Leute mischen, einen schönen Abend noch.“
„Den werden wir haben.“ Sarah griff nach Nicks Hand. „Lass uns verduften. Es wird ihm gar nicht auffallen, ob wir hier sind oder nicht.“
Draußen auf der Straße nutzte Nick sein Handy, um herauszufinden, ob bei Alfredo‘s noch ein Tisch frei war, und bestellte ein Taxi. Nach ein paar Minuten waren sie schon auf dem Weg ins Restaurant.
Im Taxi schloss Sarah ihre Augen und lehnte ihren Kopf zurück. Nicht zum ersten Mal gab sie sich selbst das Versprechen, dass sie mit dem Trinken aufhören würde. Oder zumindest mit diesen leicht zwielichtigen Besuchen im Pub auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Aber nicht an diesem Abend. Sie würde noch ein paar Gläser Wein zum Abendessen trinken. Es würde dabei helfen, das Gespräch hinunterzuspülen, das Nick an diesem Abend mit Sicherheit noch führen wollte, anstatt doch noch bis zum kommenden Tag zu warten.
Sie drehte sich zu ihm, um ihn anzuschauen. Er starrte geradeaus mit einem leicht störrischen Ausdruck auf dem Gesicht. Es sah nicht danach aus, dass er warten wollte, bis sie im Restaurant waren, um zu sagen, was er zu sagen hatte. Glaubte er, dass sie wütend sein würde? Dass sie zusammenbrechen und ihn anflehen würde, sie nicht zu verlassen? Sie griff mit einer Hand nach seinem Arm, umschloss ihn und drückte sanft zu. Sie wollte ihn bestärken, dass ihre Trennung die beste Option war. Für sie beide.
Er nahm ihre Hand, legte sie in seine und verdrehte sich dann merkwürdig, um sie anzusehen. „Du weißt wahrscheinlich, worüber ich sprechen möchte.“ Er lächelte. „Ich habe wenig subtile Anspielungen gemacht.“
Wenig subtile Anspielungen? Er war etwas distanzierter als sonst gewesen. Oder vielleicht war sie es gewesen? Sie war ziemlich gedankenverloren in letzter Zeit. Über die Hälfte der Zeit hörte sie ihm nicht zu, ließ ihn vor sich hinplappern – meistens redete er in solchen Momenten über Fußball. Sie hatte zumindest etwas Ahnung von diesem Sport, aber wenn er anfing, über Cricket zu reden, schaltete sie vollkommen auf Durchzug. Ihm fiel nie auf, dass sie nichts beizutragen hatte; er ließ sich von seiner eigenen Überschwänglichkeit mitreißen.
„Also, was denkst du?“
Was sie dachte? Dass diese zwei Gläser Wein, die sie – zusätzlich zu dem Wodka im Pub – bei der Party getrunken hatte, ihr Gehirn in Matsch verwandelt hatten. Sie versuchte, die alkoholgetränkte Umnebelung abzuschütteln, um zu antworten. „Ich denke, du hast recht.“
Das war offensichtlich die richtige Antwort. Er sackte vor Erleichterung zusammen. „Ich war mir nicht sicher, ob du zustimmen würdest. Du hast immer gesagt, das wäre nichts für dich.“ Er führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie. „Ich bin der glücklichste Mann der Welt.“
Wie viele Drinks hatte sie gehabt? Sie war erleichtert, dass ihre Trennung freundschaftlich ablaufen würde, aber das ging dann doch etwas zu weit. Sie zog ihre Hand weg und setzte sich aufrechter hin. Der Anschnallgurt fühlte sich eng an, schränkte ihre Bewegungen und Atmung ein. Sie suchte nach dem Knopf, mit dem sie das Fenster öffnen konnte, atmete tief die abgasgefüllte Luft ein, die von der Straße hereinwehte.
„Alles okay bei dir?“ Nicks Stimme klang besorgt.
Sie atmete noch mal tief ein, bevor sie das Fenster wieder schloss, um die Abgase und den Lärm auszusperren. „Ja, entschuldige, mir geht es gut.“ Irgendwo in einem Teil ihres Gehirns schrie eine kleine Stimme Worte der Warnung. Vielleicht hätte sie, wenn sie absolut nüchtern gewesen wäre, verstanden, was die Stimme ihr zu sagen versuchte. In diesem Moment konnte sie aber nur Nick anstarren. „Du bist der glücklichste Mann der Welt? Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstehe.“
Und dann erklärte er alles.
Kapitel vier
Sarah floh am Samstag aus dem Haus. Sie sagte Nick, dass sie schon lange geplant hatte, sich mit ihrer Freundin Jade zu treffen. „Es tut mir so leid, ich dachte, ich hätte es dir erzählt. Es macht dir doch nichts aus, oder?“ Sie wusste, das würde es nicht. Am Nachmittag war ein wichtiges Cricket-Spiel. Er würde in ihren Lieblingspub gehen und dort mit anderen Leuten sein Team anfeuern.
„Wenn du früher fertig bist, komm doch vorbei und gesell dich zu mir“, sagte er. „Wir werden gewinnen. Das wird richtig aufregend sein.“
„Das mache ich vielleicht“, sagte sie, obwohl sie nicht das kleinste bisschen vorhatte, das wirklich zu tun. Denn, sobald sie und Jade sich trafen, verging die Zeit meist wie im Fluge. Es gab kein langgeplantes Treffen, aber sie hatte ihrer Freundin direkt am Morgen schnell eine Nachricht geschickt, in der sie sie anflehte, ihre Pläne für den Tag abzusagen und sich mit ihr zu treffen. Sie starrte so lange auf ihr Handy, bis eine Antwort kam.
Hatte mich auf einen Gammeltag eingestellt. Hört sich ernst an. Treffen wir uns zum Mittagessen bei mir. Wir können Wein trinken und uns um das kümmern, was dir Sorgen bereitet.
Sarahs Anspannung ließ etwas nach, während sie anfing, zu tippen.
Du bist die Beste! Bis dann.
Nick widmete sich immer noch der Zeitung, als sie dabei war, das Haus zu verlassen. Sie stand im Türrahmen und beobachtete ihn. Er hatte wirklich keine Ahnung, was er ihr angetan hatte. Das Durcheinander, das er verursacht hatte. Die schlimmen Gedanken, die ihr Herz zum Rasen brachten. Sie war versucht, durch den Raum zu gehen, sich die Zeitung zu schnappen, sie vor seinen Augen zu zerreißen und auf ihn zu werfen. Aber das tat sie nicht. Genauso wie sie am Abend zuvor auch nichts getan oder gesagt hatte, als sie es hätte tun sollen – ihm die Wahrheit hätte sagen sollen, statt wie eine kopflose Idiotin albern zu nicken. Sie fühlte sich wie betäubt. Das war ihre Ausrede dafür, dass sie nichts gesagt hatte. So weggetreten, angeschickert und dann betrunken, wie sie gewesen war, erinnerte sie sich nicht an das Essen, das sie gegessen hatte. Oder ob sie überhaupt etwas gegessen hatte. Sie wusste nicht, wie sie das Restaurant verlassen hatte oder wie die Fahrt nach Hause abgelaufen war. Da war nur eine vage Erinnerung, wie Nick ihr aus den Klamotten half.
„Wir sehen uns später“, sagte sie und lenkte seine Aufmerksamkeit von der Zeitung weg. „Viel Spaß mit dem Spiel.“
Genauso wie sie es erwartet hatte, stand er auf und kam zu ihr, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. „Mach dir eine schöne Zeit und grüß Jade von mir. Vergiss nicht, später in den Pub zu kommen.“
Sie schmiegte sich an ihn und legte ihre Wange an seine, als sie antwortete: „Das mache ich.“
Dann war sie weg.
***
Sarahs Freundin wohnte in einem wunderschönen Reihenhaus, eine kurze U-Bahnfahrt entfernt. Sie waren seit ihrer Jugend befreundet, als die Familie Potter von Yorkshire nach London gezogen war. Jade arbeitete für ein Pharmaunternehmen und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit bei Konferenzen überall auf der Welt, weswegen sie oft unterwegs war. Sarah hörte dann wochenlang nichts von ihr, manchmal sogar monatelang, wenn sie besonders eingespannt war. Irgendwann bekam sie dann aus dem Nichts eine Nachricht von Jade, die sie wissen ließ, dass Jade wieder in der Stadt war, etwas Freizeit hatte und erwartete, dass Sarah sich mit ihr traf, um sie auf den neusten Stand der Gerüchteküche zu bringen.
Die gesamte Gerüchteküche! Zum Glück war Sarah scharfsinnig genug, um zu erkennen, dass ihre Freundin nicht wirklich noch mehr Aufregendes wollte, sondern einen Hauch von alltäglicher Normalität. Und traurigerweise konnte Sarah ihr genau das bieten.
Sie lächelte, als sich die Tür öffnete und Jade mit weit ausgestreckten Armen und einem Lächeln auf ihrem atemberaubend schönen Gesicht dastand. „Du steckst in Schwierigkeiten“, sagte sie und nahm Sarah fest in die Arme. „Lass uns mal schauen, ob ich dir da raushelfen kann.“ Sie legte einen Arm um ihre Hüften und führte sie ins Haus. „Nimm Platz, ich hole den Wein, und du kannst mir erzählen, was für die Sorgenfalten da auf deinem Gesicht sorgt.“
Sarah war glücklich damit, den Anweisungen ihrer Freundin Folge zu leisten, und setzte sich auf das bequeme Sofa. Ihr Blick wanderte wie automatisch zum Fenster mit Aussicht auf den Garten.
„Bitteschön.“ Jade überreichte ihr ein Glas Wein.
Ein ziemlich großes Glas: Es war beinahe bis oben hin gefüllt. Sarah lachte kurz und schüttelte den Kopf, bevor sie es nahm und ein paar große, schnelle Schlucke trank.
„Vielleicht hätte ich einfach einen Strohhalm in die Flasche stecken sollen.“ Jade setzte sich neben sie auf das Sofa und legte eine Hand auf Sarahs Knie. „Es kann doch sicher nicht so schlimm sein.“
Sarah konnte es immer noch nicht glauben, dass sie so falsch gelegen hatte. Als Nick ihr das gesagt hatte, von dem er behauptete, dass er es bereits wochenlang angedeutet hatte, war sie schockiert gewesen. Dieses Gefühl hatte wieder nachgelassen, jetzt war sie nur noch fassungslos. Sie stellte ihr Glas ab und drehte sich auf ihrem Platz etwas zur Seite, um den neugierigen Blick ihrer Freundin zu erwidern. „Nick will, dass wir ein Kind bekommen.“
Jade trank gerade in diesem Moment einen großen Schluck Wein. Sie verschluckte sich wenig elegant daran und wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht. „Willst du mich umbringen?“ Sie klopfte mit der Hand auf ihre Brust und hustete noch einmal. „Verdammt noch mal, das nenne ich mal eine Überraschung. Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, schienst du unglücklich gewesen zu sein. Ich hatte eher den Eindruck, dass eure Ehe in Schwierigkeiten steckt. Lag ich da falsch?“
„Nein, du hattest recht.“ Sarah fasste das, was am Abend zuvor geschehen war, schnell für sie zusammen. „Er sagte, er wolle reden. Ich dachte, dass er die Dinge ähnlich sieht wie ich. Er war in letzter Zeit so distanziert.“ Sarah schnaubte laut. „Er hat gesagt, er hätte Andeutungen gemacht. Das zeigt nur, wie wenig ich ihm zuhöre, denn ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwas über ein Baby gehört zu haben. Nicht ein verdammtes Wort.“
„Also hast du ihm gesagt, dass das eine verrückte Idee ist, oder?“ Jade wartete einen Moment, seufzte dann. „Das hast du doch, stimmt‘s?“
Sarah griff wieder nach ihrem Glas, führte es an ihren Mund und drückte es fest an ihre Unterlippe.
„Das hast du nicht!“ Jade lehnte sich mit einem frustrierten Schnauben zurück.
Sarah zuckte mit den Schultern. Sie hatte weder Ja noch Nein zu Nick gesagt. Sie hatte gar nichts gesagt. Sie konnte es nicht. So überrumpelt und betrunken war es ihr nicht möglich, etwas Vernünftiges zu sagen. Nicht, wenn Nick ihre Hand hielt und ihr mit einem dummen Grinsen auf dem Gesicht in die Augen starrte, während das Taxi sich seinen Weg bahnte. Sie hatte zwar nichts gesagt, aber hatte sie genickt? Oder hatte er ihr Schweigen einfach als Zustimmung betrachtet? Denn er lehnte sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück, den er für den Rest der Autofahrt auch nicht mehr abschüttelte.
„Als er sagte, dass er reden wolle, dachte ich, dass er Schluss machen will, dass er sagen würde, dass er unglücklich mit unserer Ehe ist.“
„So wie du es bist“, sagte Jade, als Sarah nichts mehr sagte.
War sie das? Sarah war sich wegen gar nichts mehr sicher.
„Du hast gesagt, du möchtest keine Kinder.“ Jade lachte und wedelte mit einem Finger. „Allerdings hast du auch gesagt, dass du niemals heiraten würdest, und schau dich jetzt an!“
Sarah nickte. Es gab keinen Grund, zu widersprechen. Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, als ihre vorherige Beziehung gescheitert war. Hatte versucht, der Welt zu zeigen, dass es ihr egal war und sie ohnehin nicht an Ehe oder Kindern interessiert war. Alles nur ein Haufen Müll, den sie da von sich gegeben hatte. „Du weißt, wie niedergeschlagen ich war, als Clem unsere Beziehung beendet hat. Ich wollte ihn heiraten, Kinder mit ihm haben, und auf einmal war ich fast achtunddreißig und Single. Mir blieb nichts mehr nach den drei Jahren, die wir zusammen waren.“ Sie war so verletzt gewesen und Nick hatte sie gerettet. „Nick ist ein guter Mann, der mich liebt. Kinder würden …“
„Was?“ Jade unterbrach sie. „Dafür sorgen, dass du dich in ihn verliebst?“
Sarah wollte sagen, dass sie ihn sehr wohl liebte, aber sie wusste, dass ihre Freundin die Lüge durchschauen würde. „Ich denke, Kinder würden uns zusammenschweißen. Er ist blöderweise irgendwie liebenswert. Er wird ein toller Vater sein. Und ich werde auch nicht jünger, ticktack, du weißt, was ich meine.“
Nick würde ein toller Vater sein.
Es spielte keine Rolle, dass sie ihn nicht liebte, oder?
Sie konnte nicht klar denken. Sie gab dem ohrenbetäubenden Lärm dieser verdammten biologischen Uhr die Schuld. Tick-Scheiße-noch-mal-tack.
Kapitel fünf
Ich hatte immer gedacht, dass ich der Liebe niemals begegnen würde. Sex war da noch mal eine ganz andere, verlockende Frucht, an der ich mich so oft bediente, wie ich es wollte – tatsächlich weitaus mehr, als ich sie brauchte. Aber sie machte, wie die meisten Freuden, süchtig. Es war die Art von magenumdrehender, den Puls hochtreibender, verwirrender Liebe, die mir nie gelungen war zu finden. Als sie mir also an diesem einen faszinierenden, erinnerungswürdigen Tag begegnete, war es so, als ob meine Augen endlich geöffnet worden waren und jeder meiner Sinne zum Leben erweckt worden war. Die Farben waren heller, die Welt schien glücklicher, sogar die verdammten Vögel schienen lieblicher zu zwitschern.
Das Lustige ist, dass ich gar nicht danach gesucht hatte. Normalerweise suchte ich, egal wo ich hinging, meine Umgebung nach möglichen neuen Bekanntschaften ab. Nicht immer für Sex, manchmal einfach nur, um eine oder zwei gemütliche Stunden zu haben. Aber an diesem Tag hatte es stundenlang stark geregnet und ich hatte ein Loch in meinem Schuh bemerkt, nachdem ich beim Überqueren der Straße in eine riesige Pfütze getreten war. Also war ich nicht in der Stimmung für irgendwelchen Unfug, als ich die Tür zu meinem Stammlokal in der Mittagspause öffnete. Diese verschlechterte sich nur noch mehr, als mir klar wurde, wie voll es dort war. Jeder Tisch und nahezu jeder Sitzplatz waren von Menschen aus den umliegenden Büros besetzt, die zum Mittagessen hier waren.
Sie blieben normalerweise nicht lange. Daher hoffte ich darauf, dass ich, wenn ich erst mal bestellt hatte, doch noch irgendwo einen Platz finden würde, damit mein müder, durchnässter Körper sich ausruhen konnte. Unglücklicherweise war eine Gruppe von drei Leuten vor mir und als ein Tisch frei wurde, schnappten sie ihn sich.
Ich hatte keine Wahl, außer mich auf die Freundlichkeit derer zu verlassen, die bereits an einem Tisch saßen und bereit waren, ihn mit mir zu teilen. Ich zählte nicht auf das ältere Paar, das sich wahrscheinlich mit mir unterhalten wollte, und auch nicht auf zwei Anzugträger, die Mäntel und Aktentaschen auf zwei leeren Stühlen ausgebreitet hatten, als ob sie sagen wollten: Wag es ja nicht.
Gerade in dem Moment, als ich dachte, dass das ältere Paar meine einzige Alternative wäre, bemerkte ich zwei Frauen, die ihre Sachen zusammenpackten und sich aufmachten, zu gehen. Ich ging schnell hin, bevor mir eine andere Person den Platz wegschnappte, und lächelte dabei die Frauen an, die dabei waren, das Lokal zu verlassen.
Aber nicht alle von ihnen – eine blieb sitzen. Sie hatte ihren Kopf in ein Buch gesteckt, das auf dem Tisch neben einem halbleeren Cappuccino lag. Sie drückte den Umschlag des mit Eselsohren übersäten Buches durch und hielt es mit einem langen, unlackierten Fingernagel an Ort und Stelle. Da ich annahm, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn ich einen der leeren Plätze besetzte, setzte ich mich hin, um etwas zu essen.
Während ich aß und es nichts gab, was meine Gedanken beschäftigte, beobachtete ich, wie sie Seite um Seite mit voller Konzentration umblätterte. Ich wusste ein gutes Buch zu schätzen und fragte mich, welches da so sehr ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Wenn sie es zuklappte, bevor sie ging, würde ich vielleicht die Chance bekommen, einen Blick auf das Cover zu erhaschen.
Aber als sie das Buch zuklappte, blickte sie mit einem entzückten Gesichtsausdruck auf, der jegliche anderen Gedanken aus meinem Kopf verdrängte.
Ich habe niemals den Titel des Buches herausgefunden. Es verschwand in der zerschlissenen Umhängetasche, die sie dabeihatte, und ich sah es nie wieder. Viel später erfuhr ich, dass sie eine begeisterte und eifrige Leserin war, die drei oder vier Bücher in der Woche las, sie wie ein echter Bücherwurm verschlang. Aber damals, in diesem Café, war mir eher daran gelegen, mehr über sie zu erfahren. Die so besonders lebendige Frau aus Fleisch und Blut mit auffällig hellblauen Augen, einem großen, weichen Mund, dem herzförmigen Gesicht und glänzenden kastanienbraunen Haaren. Ich glaube, ich suchte nach etwas, das mich wieder auf den Boden der Tatsachen brachte, aber nichts konnte das, und ich saß da wie ein Kind, das den Weihnachtsmann zum ersten Mal gesehen hatte.
„Nichts kann ein gutes Buch schlagen“, sagte sie und stellte ihre Tasche auf den Boden.
Ich versuchte, an etwas Schlaues zu denken, das ich hätte erwidern können, aber Schlagfertigkeit war nicht gerade meine Stärke. In diesem Moment hätte ich mich mit etwas einigermaßen Intelligentem zufriedengegeben. Meine Zunge fühlte sich riesig und schwer in meinem Mund an und brachte mich zum Stottern, als ich das Erste sagte, was mir einfiel. „Es ist sch-schwer, de-definitiv.“ Die Röte stieg mir vor Scham ins Gesicht. Ich spürte, wie meine Wangen glühten. Mir war durchaus bewusst, dass das gut zu erkennen war. Ich blickte schnell zu Boden. Es wäre am einfachsten gewesen, den halbgetrunkenen Kaffee stehenzulassen und zu gehen. Der Regen würde zischen, wenn er auf meine Wangen träfe.
„Obwohl eine gute Tasse Kaffee nah drankommt“, sagte sie lachend.
Ich nahm meine Tasse, hob sie zum Toast in ihre Richtung, um ihrer Bemerkung Anerkennung zu zollen, und nahm einen Schluck. Das lockerte meine Zunge und Gedanken, sodass ich ihr antworten konnte, ohne mich dämlich anzuhören. „Da hast du recht, das tut sie.“
Sie lächelte, hob ihre eigene Tasse, reichte sie über den Tisch und stieß leicht an meine. Das Klackern des Porzellans war noch nicht ganz vergangen, als mir ein intensiver, unglaublicher Gedanke kam.
Diese Frau würde mein Leben verändern.
Kapitel sechs
An diesem Abend saß Sarah mit der Pillenverpackung in der Hand auf dem Bett und starrte darauf. Sie könnte natürlich einfach lügen: Nick sagen, dass sie aufgehört hatte, zu verhüten, aber in Wirklichkeit die Pille dennoch weiterhin heimlich nehmen. Ihm sagen, dass Mutter Natur die Entscheidung für sie getroffen hatte. Sie könnte das tun, aber Sarah war eine sehr schlechte Lügnerin. Was sie tun sollte, war, ihm die Wahrheit zu sagen: dass sie sich nicht sicher war, ob sie ein Kind haben wollte. Oder sie könnte einfach vollkommen ehrlich sein und zugeben, dass sie kein Kind mit ihm haben wollte.
Aber da war noch diese verdammte biologische Uhr, die tickte. Sie war achtunddreißig. Sie war bereits im AMA, Advanced Maternal Age, oder auch im fortgeschrittenen mütterlichen Alter. Ein Begriff, der sich weitaus besser anhörte als sein Vorgänger, späte Erstgebärende, der aber auf dasselbe hinauslief – sie war durchaus alt, um erst ihr erstes Kind zu bekommen, und würde auch nicht mehr jünger werden.
Sie klopfte mit der Verpackung auf ihre Handfläche im Rhythmus der Musik, die aus dem Wohnzimmer zu hören war, wo Nick mit einem Buch in der einen Hand und einer Dose Bud in der anderen saß. Er war ein guter, lieber Mann. Gutaussehend auch. Ihr gemeinsames Kind würde sicher fantastisch werden.
Er würde ein guter Vater sein, sie eine gute Mutter.
Sie warf einen letzten Blick auf die Verpackung in ihrer Hand, zielte dann auf den Mülleimer in der Ecke. Wenn sie reingehen würde, würde sie das als Zeichen betrachten, die Pille nicht mehr zu nehmen. Wenn sie auf dem Boden landen würde, würde sie sie weiterhin nehmen und sich zu einem späteren Zeitpunkt über die Konsequenzen Gedanken machen.
Da war sie also – eine der wichtigsten, lebensverändernden Entscheidungen, die sie jemals treffen musste. Und sie würde durch einen Schwung aus dem Handgelenk entschieden werden. Das verkörperte mit dem Strom schwimmen bis aufs Äußerste, oder? Oder legte sie ihr Leben einfach nur in Gottes Hand und ließ das Schicksal entscheiden?
Warum denn auch nicht? Sie warf die Verpackung weg und folgte ihr mit den Augen, während sie durch die Luft flog. Welches Ergebnis würde ihr eher zusagen? Wenn sie ein Kind hätten, würde das ihre angeknackste Ehe besser machen? Nicks Liebe konnte erdrückend sein. Wäre es nicht besser, wenn er eine zweite Person hätte, mit der er sie überschütten könnte? Als die Verpackung landete, klackerte sie im Inneren des Metalleimers. Sarah dachte darüber nach, schnell hinzurennen, ihn auf dem Boden auszuleeren und so zu tun, als hätte sie daneben geworfen. Aber es schien so, als ob das Schicksal die Entscheidung für sie getroffen hätte.
Der Eimer klackerte lauter, als sie so fest dagegentrat, dass er gegen die Wand sprang und umfiel. Aber sogar auf dem Boden liegend behielt er die Tabletten im Inneren. Das Schicksal, Sarahs biologische Uhr und sogar der verdammte Eimer hatten sich gegen sie verschworen.
***
Sie hatte die Pille jahrelang genommen. „Es dauert eventuell ein paar Monate, bis sich mein Körper umgewöhnt“, sagte sie zu Nick. „Für manche Frauen ist es schwierig, schwanger zu werden, weißt du. Ich gehöre vielleicht zu den Unglücklichen.“ Oder den Glücklichen. Der Gedanke ließ sie zusammenzucken. Wie könnte sie je eine gute Mutter sein, wenn sie sich nicht sicher war, ob sie ein Kind haben wollte oder nicht?
Sie dachte, dass ihr auf jeden Fall ein paar Monate bleiben würden, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, und als ihre Periode ausblieb, machte sie sich keine weiteren Gedanken. Es war nur ihr Körper, der sich umgewöhnte. Nichts weiter. Sie konnte auf keinen Fall so schnell schwanger geworden sein. Selbst als ihr drei Tage hintereinander morgens übel wurde, schob sie die Schuld auf den Fisch, den sie am Wochenende gegessen hatte, und die Milch, die etwas komisch geschmeckt hatte. Einfach auf alles, außer die offensichtlich naheliegende verdammte Wahrheit. Sie war schwanger.
Sie machte morgens auf der Personaltoilette einen Schwangerschaftstest – den Daumen in ihrer freien Hand dabei fest gedrückt – und hoffte, er würde negativ ausfallen. Sie schwor hoch und heilig, dass, wenn er das sein würde, sie mit Nick sprechen und ihm sagen würde, dass es eine verrückte Idee gewesen war, dass sie nicht zur Mutter taugte. Sie taugte ja nicht mal zur Ehefrau. Sie müssten sich trennen, jeder von ihnen sollte herausfinden, was man wirklich wollte. Nick würde jemand anderen finden – er war so ein lieber Mann. Jemand, der sich den Haushalt organisierte, Kinder haben wollte und sich um sie kümmern würde. Und sie – vielleicht würde sie sich für eine Stelle als Landärztin bewerben, von der sie als Kind geträumt hatte. Es musste doch noch mehr als das hier geben. Sie dachte immer noch darüber nach, was sie tun und wohin es sie verschlagen würde, als der Schwangerschaftstest, den sie wie in einem Todesgriff festhielt, sie wissen ließ, dass sie nirgendwo hingehen würde. Zumindest nicht allein.
Sie wollte erst noch ein paar Wochen vergehen lassen, bevor sie jemandem davon erzählte, sogar Nick. Aber die Morgenübelkeit wurde immer stärker, bis aus leichtem Unwohlsein richtiges Erbrechen wurde. Am zweiten Tag, an dem sie sich übergeben musste – sie auf den Knien vor der Toilette hockte, mit einer Hand ihr Haar zurückhielt und mit der anderen an der Rolle Toilettenpapier zog, würgte und ihren Mund abwischte, spülte und dann wieder würgte – wurde ihr klar, dass sie das Geheimnis nicht länger für sich behalten konnte.
Nick überreichte ihr einen feuchten Waschlappen. „Das ist der zweite Tag hintereinander, an dem du dich übergeben musst.“
Sie spülte noch einmal, atmete tief ein und stand auf.
„Ist dem so …?“ Er versuchte, verständnisvoll zu wirken, aber die steigende Vorfreude war dennoch gut zu erkennen. „Bist du schwanger?“
„Vielleicht“, sagte sie, nicht gewillt, ihm die Wahrheit zu sagen: dass sie einen Test gemacht und ihm nichts davon erzählt hatte. „Oder vielleicht ist es auch nur ein Infekt. Covid geht immer noch rum, weißt du.“ Sie sah zu, wie er mit der Enttäuschung kämpfte, dabei einen Arm um ihre Schultern legte und sie zu sich zog.
„Du solltest dich für ein Weilchen hinlegen. Ich rufe in der Praxis an und sage ihnen, dass du heute nicht kommen kannst.“
Sie schüttelte seinen Arm ab. „Nein, das geht schon. Ich fühle mich besser. Oder zumindest werde ich das. Machst du mir vielleicht einen Ingwertee? Das wird meinen Magen beruhigen.“
Er war erfreut, sich nützlich machen zu können, und nickte. „Setz dich erst mal hin.“ Er zögerte, sie allein zu lassen, wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, und beobachtete sie genau, bis sie ihn mit einem aufmunternden Lächeln anschaute, damit er seiner Wege ging. Ein paar Minuten später hörte sie, wie die Küchenschränke laut geschlossen wurden, während er einen nach dem anderen auf der Suche nach dem Ingwertee öffnete, der sich irgendwo versteckte. Sie hoffte, dass er gegen die Übelkeit helfen würde. Sie fühlte sich lächerlich schwach.
„Bitteschön.“ Nick kam zurück und hielt ihr eine Tasse Tee hin. „Ich habe ein wenig kaltes Wasser nachgeschenkt, sodass du ihn direkt trinken kannst. Ich habe auch ein paar Scheiben in den Toaster gesteckt. Das soll bei Morgenübelkeit helfen, habe ich irgendwo gelesen.“
Sie nippte am Tee. Er hatte die perfekte Temperatur. Sie trank noch mehr und freute sich über die wärmende Wirkung des Ingwers. „Du hast das irgendwo gelesen?“
„In dem letzten Krimi, den ich gelesen habe, da war die Ehefrau des Detektivs schwanger. Er machte ihr ständig Toast und kaufte ihr salzige Cracker.“
„Ich würde definitiv die Cracker weglassen, aber eine Scheibe Toast ist vielleicht genau das Richtige.“ Sie brauchte etwas zu essen. Seit einer kleinen Schüssel Cornflakes gestern Vormittag hatte sie nichts mehr gehabt. Wenn sie Glück hatte, wäre das mit der Morgenübelkeit in ein paar Tagen … oder Wochen vorbei.
Aber sie hatte kein Glück. Wie es sich herausstellte, war sie eine der besonders Unglücklichen, deren Morgenübelkeit den ganzen Tag über anhielt. An manchen Tagen konnte sich nichts drinbehalten. Nicht den Ingwertee oder die Scheibe Toast, nicht mal die verdammten Cracker, die Nick unbedingt kaufen musste. Als sie für drei Tage hintereinander nichts bei sich behalten konnte – trotz der Medikamente gegen Übelkeit, die ihr verschrieben wurden –, wurde sie ins Krankenhaus gebracht, um intravenöse Infusionen zu bekommen.
Sie musste nicht über die Diagnose informiert werden. Hyperemesis gravidarum.
„So wie Kate Middleton, als sie schwanger war“, sagte Jade, als sie zu Besuch kam.
„Na ja, sie hatte nicht unbedingt einen so anstrengenden Job wie eine Ärztin, die kaum eine Pause einlegen kann, weil sie so beschäftigt ist, oder?“ Sie hatte auch keinen Ehemann, dessen Fürsorglichkeit sie verrückt machte.
„Du wirst dir freinehmen müssen, oder?“
Welche Wahl hatte Sarah schon? Sie konnte ja kaum Patienten untersuchen und sich dann zwischendurch entschuldigen, weil sie sich übergeben musste. „Hoffentlich wird das im Laufe der Wochen wieder besser.“
„Können sie dir nichts verschreiben, das hilft? Irgendwas gegen Übelkeit oder so?“
„Sowas nehme ich schon, aber das hilft nur ein bisschen. Ich muss mich darauf einfach besser einstellen. Essen, wenn es geht. Viel trinken für die Flüssigkeitszufuhr.“
„Aber keinen Wodka.“
Sarah starrte ihre Freundin böse an. „Ich habe keinen Tropfen angerührt, seit ich herausgefunden habe, dass ich schwanger bin. Ich bin vielleicht eine Idiotin, aber ich werde kein Risiko eingehen und meinem Baby schaden.“ Sie erwähnte nicht, wie schwierig das gewesen war. Oder gab zu, wie oft sie auf ihrem Nachhauseweg in den Pub gegangen war, dort einen Drink bestellt und davon nur den kleinstmöglichen Schluck getrunken hatte, bevor sie ihn wieder zur Seite schob und den Rest stehen ließ. Auch erzählte sie Jade nicht, wie oft sie sich selbst verflucht hatte, weil sie so dumm gewesen war, schwanger zu werden.
Sie wurde mit einer Liste mit Vorgaben nach Hause geschickt. Als ob sie nicht genau wüsste, was sie zu tun hatte. Sich ausruhen. Abwarten. Hoffen, dass sich ihr Zustand verbessern würde. Mindestens genug, damit sie wieder arbeiten gehen konnte.
Es wurde tatsächlich etwas besser. Sie blieb bei kleinen Portionen, viel trockenem und geschmacksarmem Essen, hielt sich von Milchprodukten fern, trank Wasser oder Saft, und wenn sie beides nicht mehr ertragen konnte, lutschte sie an Eiswürfeln. Sie war im vierten Monat schwanger, bevor es ihr langsam wieder besser ging. Nur langsam. Die Übelkeit war weiterhin da, aber immerhin übergab sie sich nicht länger mehrmals am Tag.
Sie war im fünften Monat, bevor sie sich wieder gut genug fühlte, um zur Arbeit zurückzukehren.
„Bist du dir sicher?“, sagte Nick. „Denkst du nicht, dass du zu Hause bleiben solltest, bis das Baby kommt?“ In der Zeit, in der es ihr nicht gut ging, hatte er angefangen, von zu Hause aus zu arbeiten. Sie versuchte, dafür dankbar zu sein. Aber jedes Mal, wenn sie ihre Augen öffnete, war er da, saß entweder neben ihr mit seinem Laptop vor sich oder, schlimmer noch, stand da und starrte von oben auf sie hinunter. Der einzige Ort, an dem sie Privatsphäre hatte, war das Badezimmer.
„Nein, mir geht es gut. Es ist besser, wenn ich wieder arbeiten gehe“, sagte sie durch ihre knirschenden Zähne. „Wenn ich noch einen Tag rumsitzen muss, ohne etwas zu tun, kann ich nicht mehr für meine Taten garantieren.“ In der vorangegangenen Woche hatte sie zwei Gläser an die Wand gedonnert, ein Buch so fest gegen den Fernseher geworfen, dass er auf den Boden knallte und kaputtging, und war so oft in Tränen ausgebrochen, dass er ihre Mutter angerufen hatte, um nach Rat zu fragen. Als ihre Mutter sie daraufhin anrief, machte das Sarah noch wütender.
Als Sarah auflegte, warf sie das Telefon auf Nick. „Du hast meine Mutter angerufen!“
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, sie könnte helfen.“ Er hob das Telefon auf und legte es auf den Tisch neben ihr. Dann schüttelte er ein Kissen auf, legte es unter ihren Kopf und zog den Schemel für ihre Füße heran. „Ich mache dir mal etwas Ingwertee. Der wird dir helfen, dich zu entspannen.“
Sie wollte keinen Tee, wollte nicht ständig von ihm umsorgt werden. Sie wollte definitiv nicht wie ein rohes Ei behandelt werden. Ihr wurde wieder übel und sie schluckte schwer. Langsame, tiefe Atemzüge halfen ihr – wie auch die Tasse mit Ingwertee, die Nick ihr brachte. „Danke“, sagte sie und trank einen kleinen Schluck. „Es tut mir leid, wenn ich dir zu viel Mühe mache. Mir wird es wieder besser gehen, wenn ich wieder arbeiten gehe.“
„Du machst mir keine Mühen.“ Er saß neben ihr und legte eine Hand auf ihren Babybauch. „Du bist mit unserem Kind schwanger und ich liebe dich. Ich will nur, dass du glücklich bist. Wenn du also wieder arbeiten gehen willst, dann tue das.“
Er war so nett, so vernünftig. Es war nicht fair von ihr, dass sie seine zärtliche Geste wegschlagen wollte, also tat sie es auch nicht. Das hätte sie aber tun sollen, denn er machte weiter und seine Finger schlängelten sich unter das lockere T-Shirt, das sie anhatte.
„Wenn du zurück zur Arbeit gehen willst, ist das ein Anzeichen, dass du dich besser fühlst. Und wenn du dich besser fühlst“, er stand auf und griff nach ihren Händen, um sie hochzuziehen, „wäre es doch schade, wenn wir nicht das Beste daraus machen.“
Sie hatten keine Liebe mehr gemacht, seit den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft. Ihr war schlecht gewesen oder sie war zu kränklich. Und wenn keines von beidem der Fall war, tat sie so. Sie war sich nicht sicher, ob er es bemerkt hatte. Sie schaute ihm in die Augen, aber wenn er Verdacht geschöpft haben sollte, dann war dieser unter solch offensichtlicher Lust vergraben, dass Sarah Gänsehaut bekam. Er schien dies als ein Zeichen ihres Verlangens zu sehen, denn er lachte und führte sie ins Schlafzimmer.
Sie konnte damit umgehen, konnte das Liebemachen ertragen, selbst wenn es das Letzte war, was sie tun wollte. Denn sie fühlte sich so schuldig, weil sie ihn nicht liebte.
***
Wieder in der Praxis zu sein, war besonders in den ersten paar Tagen anstrengend, als alles, was Sarah eigentlich tun wollte, war, nach Hause zu gehen und zuzugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Wegen des Jobs, wegen des verfluchten Babys, das tagsüber so schmerzvoll auf ihre Blase drückte und nachts um eine olympische Medaille im Turnen zu konkurrieren schien.
Sie war zickig, leicht zu verärgern, ausgelaugt, weinerlich und hatte verdammt noch mal die Schnauze voll. Das war alles Teil der Hyperemesis gravidarum und hatte natürlich nichts mit der Erkenntnis zu tun, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Zwei Fehler, wenn sie es genau nahm – die Ehe und ein Kind mit einem Mann zu bekommen, den sie nicht liebte, ein Kind, das es schwerer machen würde, sich zu trennen.
In den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft war die Übelkeit verschwunden. Das brachte Sarah aber kaum Erholung. Denn das Erbrechen wurde nahezu umgehend durch immer größere körperliche Einschränkungen abgelöst, da sie wie eine überreife Frucht anschwoll. Sie betrachtete sich selbst nicht als eitle Frau, aber sie war es gewohnt, dass ihr Körper dünn und elegant war, war es gewohnt, sich schwungvoll zu bewegen. In den letzten paar Wochen ihrer Schwangerschaft fühlte sie sich eher wie ein Nilpferdbaby, und egal, wie sehr sie auch versuchte, es nicht zu tun, watschelte sie wie eine Ente. Eine fette, hässliche Ente.
„Du bist wunderschön“, versicherte Nick, als sie ihm offenbarte, wie sie sich fühlte.
„Wunderschön!“ Sie schob das Kissen unter sich und hob ihre Füße, um sie auf dem Schemel abzulegen. Jede Bewegung war schwierig, ungelenk und unbequem. „Ich bin ein Berg. Ein verdammter Vulkan, der darauf wartet, auszubrechen.“ Sie fuhr sich mit der Hand über den Bauch. „Noch zwei weitere Wochen. Ich kann es kaum abwarten, bis es draußen ist.“
„Es!“ Nick lachte, setzte sich dann auf das Sofa neben sie und legte ihre Hand in seine. „Sie ist zusammengekuschelt und wartet darauf, uns kennenzulernen. Ich wette, sie ist so schön wie ihre Mutter.“
Sie. Sarah fand es schwierig, an das Lebewesen, das sich in ihr breitmachte, als Person zu denken. Als sie gefragt wurden, ob sie das Geschlecht des Babys wissen wollten, hatte sie nur mit der Schulter gezuckt. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass sie den Morgen über der Toilettenschüssel verbracht hatte, aber sie konnte sich kaum auch nur das kleinste bisschen über etwas freuen, das sie sowieso nicht ändern konnte. Sie wollte auch genau das sagen, bis sie Nicks glänzende Augen und aufgeregten Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich denke, es wäre schon nett, es zu wissen“, war ihre Antwort darauf, und sie versuchte dabei, etwas Begeisterung in ihre Stimme zu legen.
„Es ist ein kleines Mädchen“, hatte die Ärztin strahlend verkündet.
Sarah schaute daraufhin nach unten auf die glänzende Bauchkuppel. „Nicht klein genug.“
Nick lachte, bevor er sich nach vorn beugte, um sie auf die Wange zu küssen. „Ich hoffe, sie hat deinen Sinn für Humor.“
Die Ärztin lächelte zwar, aber Sarah hatte ihren verhaltenen Blick bemerkt. Als ob sie abwägen würde, ob die werdende Mutter unglücklich damit war, was sie da sehen konnte. Es bestand kein Zweifel, dass sie eine Notiz in diese Richtung gemacht hatte – mit Rot unterstrichen –, um ihre Kollegen anzuhalten, das genau im Auge zu behalten. Das war aber nicht nötig. Sarah hatte vor, eine gute Mutter zu sein. Es war schließlich nicht die Schuld des Babys, dass sie sich mehr und mehr eingesperrt fühlte.
Wenn das Baby da war, würde sie sicher einen Sinneswandel haben und sie würde es lieben.
Es.