Leseprobe Mordsmäßig versaut

Kapitel 1

„Du hast ihn umgebracht!“, sagte ich schockiert und legte eine Hand auf meine Brust.

Erschrocken sah Jonas auf. „Es war ein Versehen. Ich hab ihn nicht gesehen.“

„Das hilft ihm jetzt auch nicht mehr“, stellte ich fest und fiel eilig auf die Knie, um zu sehen, ob ich noch etwas tun konnte. Die Gliedmaßen lagen merkwürdig von seinem Körper abgewinkelt und waren an mehreren Stellen gebrochen. Mein Mund wurde trocken, mein Herz schlug schneller und meine Augen brannten. „Er … er war noch so jung“, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. „Er hatte noch sein ganzes Leben vor sich.“

„Lou, gib dir keine Mühe“, meinte Florian trocken und stellte sich neben seinen Bruder. „Ich glaub, du kannst ihn nicht retten. Er sieht wirklich ziemlich tot aus.“

„Etwas kann nicht ziemlich tot aussehen“, sagte ich und sah verärgert zu ihm hoch. „Entweder etwas ist tot – oder es lebt.“ Ich wusste das, ich hatte in meinem Leben schon drei Leichen gesehen und dort hatte nie zur Debatte gestanden, ob sie ihren letzten Tanz getanzt hatten oder nicht.

„Nee.“ Jonas schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Flo hat recht. Wenn Joshi achtundvierzig Stunden gearbeitet hat, sieht er etwas tot aus. Wenn du uns so böse anguckst wie jetzt, sehen wir fast tot aus … dieser Kaktus hier sieht ziemlich tot aus.“

Mit den Füßen stupste er die Überreste der Sukkulente an, die soeben den Stachel abgegeben hatte. Ich schlug ihm gegen den Knöchel und betrachtete besorgt den Kaktus, dessen Wurzeln sich vom Körper getrennt hatten. Die Pflanze sah aus, als hätte sie einen schrecklichen Frisörbesuch hinter sich – und widerwillig musste ich Jonas recht geben. Sie war ziemlich tot.

„Ihr seid allesamt Pflanzenmörder. Eure ganze Familie!“, stellte ich missbilligend fest, sammelte die Tonscherben des kleinen Blumentopfs ein, der ihn nicht hatte schützen können, und rappelte mich auf. Der beige Teppich war nun mit brauner Erde verschmiert. Das erhöhte sicherlich seinen Coolnessfaktor vor anderen Teppichen, weil es wirkte, als hätte er sich mit einer Erd-Gang angelegt, doch höchstwahrscheinlich würde er in den Müll wandern.

Rispo würde entzückt sein. Eine Pflanze und ein totes Gewebegemisch weniger in der Wohnung. Seit ich hier vor ein paar Monaten eingezogen war, hatte sich einiges geändert und Josh gab mir immer wieder subtil zu verstehen, dass ich zu viel Kram hatte und die Wohnung mehr einem Gewächshaus als einem wünschenswerten Lebensraum glich.

Da mein wünschenswerter Lebensraum allerdings ein Gewächshaus war, hatte ich Schwierigkeiten, seine Kritik nachzuvollziehen.

„Sorry“, sagte Jonas schuldbewusst. „Ich bin in letzter Zeit so schnell gewachsen, ich habe mein Körpergefühl verloren.“

„Du bist einundzwanzig und gehst einmal die Woche bouldern!“, erinnerte ich ihn grimmig, lief in die Küche, in der sich das dreckige Geschirr vom eben beendeten Abendessen stapelte, und suchte nach einem Kehrblech, um dem Kaktus ein anständiges Begräbnis im Biomüll zu ermöglichen.

Er grinste. „Ach ja. Dann muss es ein anderer, nachvollziehbarer Grund sein. Aber tut mir wirklich leid. Der Kaktus war … ähm … sehr stachelig. Klasse Pflanze.“

Seufzend winkte ich ab. „Schon okay. Halb so wild.“ Ich besaß eine Menge bewundernswerter Fähigkeiten. Zum Beispiel konnte ich in unter einer Minute ein annehmbares Blumengesteck basteln. Oder einen hübschen Dinosaurier zeichnen. Außerdem war ich dazu in der Lage, zwölf Kekse gleichzeitig in meinen Mund zu stopfen.

Doch lange auf einen der Rispo-Jungs wütend zu sein, hatte ich nie gemeistert. Josh war da vielleicht eine Ausnahme, aber mit ihm schlief ich auch und er wusste genau, welchen Knopf er drücken musste, damit ich in die Luft ging. Das war etwas anderes.

„Sagt mal, wo ist eigentlich Finn?“, wollte ich wissen und gab Jonas das Kehrblech.

Ich hatte Josh dazu überredet, seine Brüder einmal im Monat zu uns einzuladen und sicherzustellen, dass sie etwas anderes als Pizza, Bier und Aspirin zu sich nahmen. Er hatte gemeint, wenn ich ihm unbedingt regelmäßig Kopfschmerzen bereiten wolle, könnte ich ihm genauso gut alle vier Wochen seine Waffe stehlen und einem Mörder nachstellen, so wie ich es sonst immer tat.

Das hatte ich als großzügige Zustimmung meines Vorschlags betrachtet.

„Er will dich nicht sehen“, sagte Jonas lapidar, reichte Florian das Kehrblech weiter und wedelte zu den Pflanzenresten hinüber. „Er ist der Meinung, dass die Manu-Frauen die Ausgeburt der Hölle sind, die ihn von seinem rechten Pfad abbringen wollen.“

„Rechten Pfad?“, sagte ich ungläubig. „Finn saß schon öfter in einer Gewahrsamszelle als Buddha im Schneidersitz.“

Abwehrend hob Jonas die Hände. „Es waren seine Worte. Ich bin natürlich der Meinung, dass die Manu-Frauen engelsgleiche Wesen sind, die unsere Welt mit Licht und Lachen erfüllen.“

Ich schnaubte und presste die Lippen zusammen. Es war nicht fair, dass Finn seine Wut an mir ausließ! Ich war es nicht gewesen, die ihn drei Tage vor der Hochzeit hatte sitzen lassen. Diese Ehre gebührte meiner Schwester Emily, die etwas zu spät bemerkt hatte, dass eine ernste, erwachsene Beziehung keinen Spaß machte und Kompromisse nicht in ihren Lebensplan passten.

Und überhaupt: Es war vier Monate her! Ich hatte gehofft, dass er sich mittlerweile etwas beruhigt hatte.

„Geht es ihm denn sonst … gut?“, wollte ich zögerlich wissen, nahm dem verdatterten Flo den Handfeger aus der Hand und verfrachtete ihn zurück in Jonas’ Arme.

Der seufzte schwer, sank jedoch auf die Knie, um den Dreck wegzumachen. „Flo, geht es Finn gut?“, gab er die Frage an seinen Bruder weiter.

„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“

„Ja, ich weiß es sicherlich auch nicht“, beschwerte sich Jonas.

„Aber ihr seht ihn doch andauernd“, stellte ich verwirrt fest. Die fünf Rispo-Brüder mochten oft miteinander streiten, aber sie standen sich dennoch näher, als sie zugeben wollten. Sie hatten in jungen Jahren ihre Mutter verloren und das hatte sie eng zusammengeschweißt.

„Ja, klar“, meinte Flo leichthin, „aber wir reden nicht über so einen Blödsinn, wie zum Beispiel, wie sich der andere fühlt oder ob er Probleme hat!“

Ich verdrehte die Augen. „Worüber redet ihr denn sonst?“

Flo runzelte die Stirn und kratzte sich an der Schläfe. „Keine Ahnung. Welches Tier im Zoo gerade was Witziges gemacht hat. Ab wann Kinder im Uterus etwas hören können. Wo man das beste Gras herbekommt. Normale Dinge eben.“

Ja. Das klang logisch. „Ihr seid nutzlos“, stellte ich das Offensichtliche fest, und beide Brüder nickten. So als würden sie nicht eine Sekunde an diesem Fakt zweifeln.

Ach, na gut. Ich würde Finn die Woche mal anrufen und selbst nachfragen. Ich mochte ihn. Ich wollte nicht, dass er mich nicht mehr ansehen konnte, weil er dachte, ich würde ihm ebenso das Herz brechen, wie Emily es getan hatte. Obwohl ich mir da nicht sicher sein konnte. Ihre Beziehung war immer etwas speziell gewesen.

Jonas kehrte pflichtbewusst die Überreste der Sukkulente auf und rieb dabei die Erde weiter in den Teppich. Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass es das Ziel war, den Dreck zu entfernen, nicht, ihn zu verewigen, als eine laute Männerstimme die Stille durchbrach.

„Was zur Hölle soll das denn heißen?!“ Das Geschrei drang so schrill durch die Schlafzimmertür, dass wir alle drei zusammenzuckten. „Ich bin hier, weil du es so wolltest – und jetzt bist du wütend, weil ich meine Füße nicht stillhalten, sondern Sachen in die eigene Hand nehmen will?“

„Du bist kein verdammter Polizist, Mo! Du hast nicht das Recht, irgendetwas zu tun!“ Das war Josh. Sein Brüllen würde ich unter hunderten wiedererkennen. Größtenteils, weil ich so oft der Grund dafür war.

„Louisa ist auch keine Polizistin und mischt sich überall ein – sie hast du auch noch nicht verknackt“, schrie Mo zurück. „Nur, weil ich keine Brüste habe und nicht mit dir ins Bett steige, habe ich nicht dieselben Rechte?“

Ich öffnete automatisch den Mund, um zurückzuschreien, dass Josh mich sehr wohl schon einmal verknackt hatte, doch ich kam nicht dazu.

„Es ist egal, was Lou getan hat!“, fuhr Josh ihn an. „Es geht hier um deine Dummheiten, nicht ihre.“

Moritz, der zweitälteste Rispo-Sohn, erwiderte etwas Hitziges, das ich nicht verstand, doch wahrscheinlich endete es nicht mit verzwicktes Marschdocht.

„Es muss ungewohnt sein, nicht diejenige zu sein, die Josh anschreit“, überlegte Jonas leise und nickte mir zu.

Düster sah ich ihn an. „Josh schreit gar nicht so häufig“, log ich. „Er hat einfach einen … großen Drang, sich deutlich auszudrücken.“

Die Tür vom Schlafzimmer flog auf und Mo stapfte daraus hervor, sein Kopf so rot wie eine schüchterne Tomate.

„Oh, zwick dich doch selbst, Mo!“, drückte Josh sich deutlich aus und lief ihm ins Wohnzimmer nach – auch wenn er nicht zwick sagte. „Du warst im Amazonas unterwegs, hast mit Mädchen im Bikini geflirtet und Steine fotografiert, während ich die Drecksarbeit gemacht hab! Willst du mir dafür jetzt allen Ernstes Vorwürfe machen?“

Wütend fuhr Mo herum. „Menschen machen Fehler, Josh! Das ist alles, was ich sagen möchte.“

„Ich nicht. Nicht dabei!“, erwiderte Rispo kalt, seine sonst hellbraunen Augen schwarz.

„Jaja“, sagte Mo verächtlich und schlüpfte in seine Schuhe, die bei der Tür standen. „Du bist ein beschissener Heiliger ohne Fehler und dein Gehirn ist so groß wie eine verdammte Bowlingkugel, genauso wie dein Ego!“ Er reckte den Mittelfinger in die Höhe. „Danke für nichts, Josh! Wenn ich mich das nächste Mal vernünftig mit jemandem unterhalten will, rede ich mit meinem Rasierer! Der hat genauso viele überzeugende Argumente.“ Im nächsten Moment riss er die Wohnungstür auf und verschwand im Flur.

Jonas und Florian sahen mich an, sahen einander an … und stürzten ihm hinterher. Er war ihre Mitfahrgelegenheit. „Danke fürs Essen! War sehr harmonisch“, rief Florian noch, dann fiel die Tür ins Schloss.

Langsam wandte ich mich zu Josh um. Seine schwarzen Haare standen zu allen Seiten ab, als wäre er etliche Male mit den Händen hindurchgefahren, und sein markanter Kiefer knackte. Sein Blick flackerte zu mir herüber und über seine Lippen drang ein einziges Wort: „Nein.“

Unschuldig hob ich die Augenbrauen, bevor ich vorsichtig fragte: „Na … habt ihr euch über die neue Sommerkollektion unterhalten?“

Rispo sah mich düster an, bevor er mir ruckartig den Rücken zuwandte und anfing, die restlichen Sachen vom Tisch zu räumen.

Okay. Das Gespräch hatte sich offensichtlich nicht um luftige Kleidchen und Heidi Klums Meinung dazu gedreht.

„Josh …“, fing ich an, doch er unterbrach mich, bevor ich zum zweiten Wort ansetzen konnte.

„Nein, Lou!“

Ich verdrehte die Augen. „Denkst du nicht, dass das Gespräch gerade etwas aus dem Ruder gelaufen ist? Wenn man bedenkt, dass Mo dich mit den freundlichen Worten ‚Kann ich kurz mit dir reden, bitte? Ich habe tolle Neuigkeiten‘ zu einem privaten Gespräch in unserem Schlafzimmer eingeladen hat?“

Wütend fuhr er zu mir herum. „Es war deine Idee, Lou. Deine blöde Idee, sie schon wieder einzuladen – und letztendlich bin ich es, der am Herd steht und mir Scheiße anhören muss!“

Abwehrend hob ich die Hände. „Wir beide wissen, dass niemand essen möchte, was ich koche – und von was für einer Scheiße redest du?“

Josh presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und fing an, die Essensreste in eine Tupperdose zu kratzen.

Ich seufzte schwer. Mit Rispo über seine Gefühle zu reden, war wie eine offene Herz-OP an einer Wespe. Es benötigte eine Menge Fingerspitzengefühl, Geduld – und war eigentlich eine idiotische Idee. „Josh, du hast versprochen, dass du mir mehr über deine Gefühle erzählen willst“, erinnerte ich ihn.

„Okay. Ich fühle mich … nicht danach, dir meine Gefühle mitzuteilen.“

Düster sah ich ihn an. „Neuer Versuch.“

„Na gut, ich will ehrlich sein“, sagte er schroff. „Ich fühle mich sehr unzufrieden.“

„Weil?“

„Ich unzufrieden bin.“

„Warum?“

„Weil mir meine Zufriedenheit fehlt.“

„Josh!“ Ungeduldig nahm ich ihm die Dose aus der Hand, damit er nicht auf die Idee kam, herauszufinden, wie fest er sie gegen die Wand werfen musste, um ein hübsches Loch zu erzeugen.

„Schön, ich sag dir, wie ich mich fühle“, meinte er ernst und beugte sich zu mir herunter. „Ich fühle mich von meiner Freundin im Stich gelassen, weil sie nicht akzeptieren kann, dass ich nicht über meine Gefühle reden will.“

Ich hob eine Augenbraue. „Diese Freundin, von der du redest, hat mir gerade mitgeteilt, dass sie überlegt, ihren Beziehungsstatus auf Facebook in kompliziert zu ändern.“

„Das ist kein Problem“, meinte er. „Niemand benutzt heutzutage noch Facebook.“

Ich schnaubte. „Sag mir nur, worüber ihr euch gestritten habt, dann halte ich die Klappe.“

Rispo verengte die Augen und musterte mich nachdenklich. „Erinnere mich kurz: Warum liebe ich dich noch gleich?“

„Weil ich süß bin und niemand lateinische Pflanzennamen so sexy ausspricht wie ich.“

„Ach ja, richtig“, sagte er trocken, bevor er tief durchatmete und die Arme verschränkte. „Es ging um Mamas Fall. Er will ihn wieder aufnehmen. Er hat ihre Akte durchgearbeitet und ist der Meinung, dass die Polizisten damals schlampig recherchiert haben.“

„Aber da stimmst du ihm doch zu“, sagte ich verwirrt. Joshs Mutter war Journalistin gewesen, hatte sich zu tief in die Hintergründe eines Enthüllungsberichts verstrickt und war vor mehr als fünfzehn Jahren in einer dunklen Gasse erschossen worden.

„Natürlich stimme ich ihm zu“, knurrte er. „Deswegen bin ich, sobald ich es zum Kommissar gebracht hatte, jeder einzelnen Spur selbst noch einmal nachgegangen. Ich habe jeden Zeugen noch einmal befragt, die Tatortbilder bis zum Erbrechen studiert und jede Aussage doppelt und dreifach überprüft. Doch es gab nichts zu finden! Alle Spuren sind seit Jahren kalt. Wenn der Mörder irgendeinen Hinweis hinterlassen hat, den die Polizei damals übersehen hat, dann hätte ich ihn gefunden.“

Ich nickte, denn ich glaubte ihm. Rispo war unglaublich präzise und genau, wenn es um Mordfälle ging. Den Fall seiner Mutter würde er aus jeder möglichen Perspektive betrachtet haben.

„Hast du Mo das gesagt?“

„Natürlich habe ich das – und mein wundervoller Bruder hat bemerkt, dass jeder Mensch Fehler macht und ich von dieser Regel nicht ausgeschlossen bin.“

Ah. Der Groschen fiel. Mo hatte Joshs Fähigkeiten als Kommissar kritisiert und somit den Finger in die offene Wunde gedrückt. Die Wunde, die die Tatsache hinterlassen hatte, dass er den Mord, der ihm am meisten am Herzen lag, nicht hatte lösen können.

Mitfühlend sah ich ihn an, bevor ich die Tupperdose auf den Tisch stellte und sanft die Hände um sein Gesicht legte. „Mo hat es nicht so gemeint, Josh“, flüsterte ich. „Er hat lediglich eine Hoffnung ausgesprochen. Ich glaube nicht, dass er wirklich denkt, dass du was übersehen hast. Er ist frustriert und verletzt, weil er ebenso wenig wie du akzeptieren kann, dass der Mörder da draußen noch immer frei herumläuft.“

Josh kniff die Augen zusammen und nickte. „Ich verstehe es, okay? Mein Empathievermögen ist scheiße, aber so weit reicht es noch. Das Ding ist … es wird ihn nicht glücklich machen. Sich die Bilder immer wieder anzusehen, bis sie ihn in seinen Träumen verfolgen. Von einer Wand gegen die nächste zu rennen, während er nicht mehr herausfindet, als dass Menschen grausam sind. Mich hat es damals wahnsinnig gemacht“, murmelte er und öffnete die Augen, die mittlerweile wieder ihren warmen Hellbraunton angenommen hatten. „Der Fall hat mich so unglaublich lang verfolgt und mich so viel Geduld und Energie und Leid gekostet … ich will den Scheiß nicht noch mal durchmachen und Mo sollte es auch nicht müssen.“

Ich nickte und fuhr mit dem Daumen über seine Wange. „Auch wenn ich mir sicher bin, dass du diesen Standpunkt mit deinem Gebrüll nicht effektiv verdeutlicht hast … es wird ihm egal sein. Er muss selbst herausfinden, dass der Mord nicht lösbar ist, damit er es akzeptieren kann.“

„Ja“, sagte er düster. „Und genau das wird er tun.“

Ich nickte. „Okay, ich … ich verstehe nur nicht, warum dich das so aufgeregt?“, fragte ich sanft und ließ meine Hände zu seinen Schultern sinken. „Soll er doch Zeugen befragen und seine Zeit verschwenden. Das ist doch nicht schlimm.“

„Aber dabei wird es nicht bleiben“, sagte er scharf. „Mo weiß nicht, wann er aufhören muss. Er wird sich Zugang zu Orten verschaffen, an denen er nichts verloren hat. Gesetze brechen, wie sie ihm in den Weg fallen. Mich wieder und wieder um Hilfe bitten, wenn er nicht weiterkommt … Und seien wir ehrlich: Für dumme Kamikazeaktionen und illegale, hirnrissige Mörderjagden habe ich doch schon dich, nicht wahr?“

Ich lief rot an, räusperte mich und strich mir die Haare hinter die Ohren. „Ich habe seit Monaten keiner Leiche mehr nachgestellt.“

Josh schnaubte. „Ja, aber wahrscheinlich hast du gerade allein mithilfe dieser Worte eine neue heraufbeschworen.“

Das konnte ich leider nicht ausschließen, meine Erfahrungswerte unterstützten Joshs These.

Ich seufzte schwer und legte die Arme um ihn. „Danke, dass du deine Gedanken mit mir geteilt hast.“

„Mhm.“

Ich lächelte zu ihm auf. „War das so schwer? Oder soll ich dir das nächste Mal lieber eine Puppe besorgen, damit du an ihr zeigen kannst, wo es dir wehtut?“

Er schnaubte, doch seine Mundwinkel zuckten und seine Hände glitten in meinen Nacken. „Ich teile mir dich schon mit deinem verhaltensgestörten Kater, deiner wahnsinnigen Familie und einer Armee aus Pflanzen. Ich will keine Plastikfigur zu dieser Liste hinzufügen.“

„Twinky hat schon zur Lösung von zwei Mordfällen beigetragen“, sagte ich stolz. „Er ist nicht verhaltensgestört, er ist ein exzentrischer Meisterdetektiv.“

„Er hat Blut getrunken, Lou. Wenn du mir erzählen willst, dass das normal ist, haben wir ganz andere Probleme.“

Ich musste lachen. „Da mir im Angesicht von Blut schwindelig wird, hast du nichts von mir zu befürchten.“

„Schön zu hören“, stellte Rispo fest, bevor er mein Kinn mit dem Daumen anhob und mich küsste.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn besser zu erreichen, und murmelte: „Weißt du, irgendwie macht es mich immer ein wenig an, wenn du deine Gefühle mit mir teilst.“

Josh lachte leise und glitt mit den Händen in meine Haare. „Tatsächlich?“

„Ja. Denn es bedeutet, dass du mir vertraust.“

„Mhm“, machte er. „Das ist wohl wahr. Ich vertraue dir überall außer in der Küche.“

Ich zog eine Grimasse. „Ich kann Nudeln kochen und die Mikrowelle bedienen.“

„Und ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt. Apropos Kochen: Hast du Samstagabend Zeit?“, murmelte er, küsste meine Wange, meinen Hals …

„Ja“, wisperte ich und schloss die Augen. „Wieso? Willst du, dass ich meine Kochkünste demonstriere?“

„Nein, ich will, dass du deine Esskünste demonstrierst“, korrigierte er mich und wickelte eine Haarsträhne von mir um den Finger. „Ich dachte, wir könnten uns mal zur Abwechslung wieder einen Abend zu zweit machen. Ohne meine oder deine schwachsinnige Familie. Ich würde was kochen und habe bereits deinen Lieblingswein besorgt.“

Ich wanderte mit den Händen zurück zu seinem Nacken und lächelte breit. „Sehr gerne. Gibt es was zu feiern?“

Josh hob die Schultern. „Ein Abend ohne Familie ist immer ein Grund zum Feiern.“

Ich lachte und küsste ihn erneut, während Joshs Hände an fragwürdige Gegenden vordrangen.

Sobald er sich wieder von mir löste, räusperte ich mich. „Vielleicht sollten wir das Aufräumen einfach verschieben?“, schlug ich vor, doch Josh war mir schon einen Schritt voraus und schob mich aus der offenen Küche.

„Brillanter Vorschlag“, flüsterte er an meinen Lippen. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass deine letzte Idee war, meine Brüder zum Essen einzuladen.“

Ich grinste, zog ihn an seinem Hemdkragen zu mir herunter, um mit dem Küssen weiterzumachen … und wurde von meinem Handyklingeln unterbrochen.

Ich hielt inne, wollte schon in meine Tasche greifen, als Josh meine Hand abfing. „Ignorier es.“

„Es könnte wichtig sein …“

Das hier ist wichtig“, murmelte er, küsste meinen Nacken, meine Schulter … und ich vergaß, was ein Handy überhaupt war.

Wohlig seufzte ich auf, ließ die Mailbox drangehen … und keine Sekunde später klingelte Joshs Handy.

Frustriert ließ ich von ihm ab und schob ihn weg. „Es ist anscheinend doch wichtig. Wir gehen besser ran.“

Josh atmete tief ein und aus, als würde ich ihn zwingen, vor dem gesamten Präsidium zuzugeben, dass er ein bestimmtes Lied von Taylor Swift gern mochte, bevor er sein Handy aus der Tasche zog.

Er warf einen Blick auf das Display, bevor er das Telefon an mich weiterreichte. „Es ist Trudi. Wie auch immer sie sich in meine Telefonliste verirrt hat. Hatte ich dir nicht verboten, ihr meine Nummer zu geben?“

Ich zog eine Grimasse und nahm das Handy entgegen. Ja, hatte er. Doch ich war nicht besonders empfänglich für Verbote. Außerdem sagte er das so leicht. Sollte er doch mal versuchen, meiner ehemaligen, fast fünfundsiebzigjährigen Angestellten einen Wunsch abzuschlagen, während sie einen Teller warmer, duftender Chocolate-Chip-Cookies in den Händen trug. Das war eine Sache der körperlichen Unmöglichkeit.

„Hey, Trudi“, hob ich ab. „Alles klar?“

„Louisa“, zischte die alte Dame mit gedämpfter Stimme. „Gott sei Dank erreiche ich dich.“ Ihre Stimme war so aufgeregt, dass sie an die eines Eichhörnchens erinnerte, das zu viel Helium inhaliert hatte.

Alarmiert richtete ich mich auf. „Trudi? Was ist los?“

„Ich … ich habe eine Leiche gefunden!“, stieß sie aus und klang dabei genauso verängstigt wie stolz. „Ich weiß, normalerweise ist das deine Sache, aber … ich habe es nicht absichtlich getan, also werde nicht eifersüchtig.“

Schockiert klappte mein Mund auf, bevor ich fragte: „Was? Wo? Was ist passiert?“

Josh hob derweil besorgt die Augenbrauen.

Ich schluckte und formte das Wort „Leiche“ mit den Lippen.

Sofort fiel die Sorge von seinem Gesicht und schnaubend schüttelte er den Kopf. „Manfred mag tot aussehen, aber er ist nur alt, Lou. Sag ihr das.“

Manfred war Trudis „besonderer Freund“, wie sie ihn nannte, und älter als die Wörter knorke und fesch zusammen.

„Es ist nicht Manni!“, sagte Trudi sofort, sie schien Josh gehört zu haben. „Er steht neben mir und ist quietschfidel.“

„Manni ist es nicht“, gab ich an Rispo weiter.

Er seufzte schwer und rieb sich widerwillig über die Stirn. „Um wen geht es dann?“

Gute Frage. „Um wen geht es, Trudi?“

Kurze Stille entstand, bevor sie nachdenklich sagte: „Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau … Es ist zu neblig.“

Ich runzelte die Stirn, sah aus dem Fenster in die sternenklare Nacht und wieder zu Josh. Zugegeben, Trudis Augen waren nicht mehr die besten, erst letztens hatte sie geglaubt, die Taube auf dem Dach ihres Nachbarn sei der Weihnachtsmann, aber dennoch … Nebel hatte sie sich noch nie eingebildet. „Wo genau seid ihr, Trudi? Bei einem Trockeneisfachhandel?“

„Kokolores!“, sagte Trudi aufgebracht. „Wir stehen vor der Dampfsauna, in der ich die Leiche gefunden habe!“

Ich blinzelte verwirrt. „Ihr steht … was?“

„Vor der Dampfsauna, Lou! Meine Güte, du bist heute langsam.“

„Ähm, okay, klar. Ihr steht vor einer Dampfsauna, wo auch sonst? Habt ihr dem Personal Bescheid gesagt? Die Polizei gerufen?“

Wieder entstand eine unangenehme Stille, bevor Trudi langsam sagte: „Nun, das beides ist etwas problematisch.“

„Warum?“, wollte ich wissen und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. „Trudi, was genau ist passiert? Fang bitte am Anfang an, okay?“

„Also, ich und Manni wollten ein paar gemeinsame Stunden verbringen und er kannte zufällig dieses bestimmte Altenheim, in dem die Bewohner eine Dampfsauna haben …“

„Also seid ihr dort eingebrochen, um sie zu benutzen?“, half ich ihr säuerlich auf die Sprünge.

„Nun, ja. Als wärst du so unschuldig“, sagte sie pikiert. „Du bist schon öfter irgendwo eingebrochen als Kinder auf einem gefrorenen See.“

Dass Leute mir das immer wieder zum Vorwurf machten! „Okay, Trudi. Was dann? In der Sauna habt ihr die Leiche entdeckt?“

Entdeckt ist vielleicht nicht das richtige Wort“, sagte sie und räusperte sich. „Wie gesagt, es ist sehr neblig. Es ist vielmehr so, dass ich deutlich etwas Lebloses gespürt habe.“

„Etwas Lebloses?“, hakte ich zweifelnd nach. „Und … gespürt?“ Unsicher kratzte ich mich im Nacken. Es war bereits nach zehn und normalerweise befand sich Trudi zu dieser Uhrzeit im Bett. Ihr Geist befand sich also nicht auf seiner Höhe. Ich konnte nicht ausschließen, dass ihre Hand eingeschlafen war, sie im Nebel nach den Sitzen getastet und eine Eisenstange für einen leblosen Körper gehalten hatte. Eigentlich war das sogar recht wahrscheinlich. Je müder sie wurde, desto fantasievoller wurde sie.

„Lou“, sagte Josh trocken und schüttelte den Kopf. „Leg einfach auf, okay?“

Ich seufzte. „Geht nach Hause, Trudi, ja?“, sagte ich ins Telefon. „Ihr seid offenbar erschöpft und …“

„Louisa Josephine Manu!“, unterbrach sie mich laut. „Ich weiß sehr wohl, wenn ich mich auf eine Leiche setze, vielen Dank. Man hat schließlich nicht alle Tage fremdes Blut am Hintern!“

Ich zog eine Grimasse und blickte zu Rispo. „Sie ist sich ziemlich sicher, Josh.“

Er schnaubte nur. „Trudi kann eine Tomate nicht von einem Bund Spargel unterscheiden und jetzt soll ich glauben, dass sie in einer dunklen Dampfsauna eine Leiche entdeckt hat?“

Meine Wangen liefen rosa an. „Ähm, nein … Sie hat sie mit ihrem Po ertastet.“

Er presste die Lippen aufeinander und nickte. „Ah, ja. Das klingt viel glaubhafter.“

Okay, ich musste zugeben, dass das alles absurd wirkte, aber ich hatte mich schon zu oft in Trudis Situation wiedergefunden, um nicht etwas Mitgefühl mit ihr zu haben. Mir sagten auch immer alle nach, dass ich mir die abgetrennten Körperteile, die ich in meinem Alltag fand, nur einbildete. „Sie hat Blut an ihrem Hintern, Josh.“

„Hat sie es mal probiert? Blut, das nach Ketchup schmeckt, ist meistens Ketchup.“

„Josh …“

„Louisa! Es reicht jetzt“, unterbrach Trudi mich scharf. „Ich weiß, was ich gespürt habe, und Manni denkt auch, dass es Blut ist, also … wenn du und dein Kommissar nicht in einer halben Stunde hier seid, backe ich dir keinen einzigen Keks mehr, haben wir uns verstanden?“

Ich öffnete meinen Mund, um ihr zu sagen, dass mir das egal war … Doch das konnte ich nicht. Die Lüge war zu groß. Mist.

„Wir sind gleich da, Trudi. Schick mir einfach die Adresse“, bemerkte ich seufzend und legte auf.

Was?“, fragte Josh ungläubig.

Ich sah ihn ernst an. „Es ist ihr nun einmal sehr wichtig, Joshi.“

Kopfschüttelnd musterte er mich. „Hat sie dir damit gedroht, dir ihre Backkünste zu verwehren?“

„Ich will nicht darüber reden“, murmelte ich gereizt und lief zu meinen Schuhen.

Kapitel 2

Das Altenheim, zu dem Trudi und Manni sich illegal Zutritt verschafft hatten, lag in Köln-Rodenkirchen am Rand des Rheins. Nur ein Blick auf das riesige Gebäude reichte, um zu sehen, dass es sich dabei um die Elite der Seniorendörfer handelte. Der Eingang war ein drei Meter hohes Holztor, das von zwei marmornen Säulen gesäumt wurde, die ich eigentlich nur bei einem römischen Tempel erwartet hätte. Es war nach elf, sodass es trotz langer Sommertage bereits stockdunkel war, doch das störte nicht, denn zwei riesige Scheinwerfer strahlten das Haus und den goldenen Schriftzug über dem Tor an.

Seniorenheim Himmelspforte stand dort und ich musste zugeben, dass das Haus dem Namen gerecht wurde. Keine Graffiti zierten die makellos weißen Wände, keine Taubenscheiße die roten Dachschindeln und die breite Treppe, die zu dem Heim hochführte, sah frisch poliert aus.

„Und da sagen sie alle, Altenheime wären so furchtbar“, bemerkte ich beeindruckt.

„Glaub mir, das hier ist die Ausnahme“, murmelte Josh abwesend und sah sich um. Obwohl er auf der Autofahrt mehrfach beteuert hatte, dass Trudi unsere Zeit verschwendete, war er im Polizistenmodus. Sein Blick wachsam, die modische Stirnfalte zwischen den Augenbrauen deutlich zu erkennen, seine Worte leise und bedacht. „Ich habe schon so viele Todesfälle in den letzten Löchern untersucht, die sie Seniorenheim nennen, dass dir übel werden würde.“

Leider glaubte ich ihm das, deswegen konzentrierte ich mich lieber auf das hübsche Heim vor uns. „Trudi meinte, wir sollen den Seiteneingang nehmen, sie hätten die Tür für uns aufgelassen.“

„Wir Glücklichen“, bemerkte Josh knapp und folgte mir einen modernen Kiesweg hinab. Wir liefen an den Treppen und der Eingangstür vorbei in einen wunderschönen Garten, den ich selbst nicht hübscher hätte gestalten können.

Es war August und der heiße, trockene Sommer war grausam für das Gras gewesen, denn die meisten Halme waren gelb und verdorrt. Doch das machten die blühenden Gladiolen, die den Weg säumten, die gelben Sonnenblumen, die einen runden Springbrunnen akzentuierten, und die violett leuchtende Liatris, die in Blumentöpfen neben den im Kreis angeordneten Bänken stand, wieder wett. Schade, dass man die Sonnenblumen nur von hinten sehen konnte, denn sie waren mit ihren Köpfen zur Hauswand direkt gegenüber von uns ausgerichtet.

Der Kiesweg führte bis zu einer wie versprochen offen stehenden Eisentür, die wahrscheinlich für das Personal gedacht war.

„Na, zumindest müssen wir jetzt nicht einbrechen“, warf ich ein. „Du stehst doch drauf, das Gesetz zu befolgen.“

Rispo presste kopfschüttelnd die Lippen zusammen. „Lou, nur, weil eine Tür offen steht, heißt das nicht, dass es kein Hausfriedensbruch ist, wenn man durch sie hindurchgeht!“

Ich runzelte die Stirn. In meiner Moralvorstellung sah das ganz anders aus. Denn wenn das, was er sagte, stimmte, war ich eine Schwerverbrecherin. Und das passte einfach nicht zu dem Bild des Unschuldslamms, mit dem ich mich gerne bedachte. „Wenn es illegal ist, warum kommst du dann mit?“

„Weil ich meine Kollegen nicht aus dem Bett klingeln will, nur weil Trudis Hintern sich Leichen einbildet“, stellte er klar.

Ach so. Das. Ich winkte ab und stolperte bei der abrupten Geste fast über meine Füße. Es war wirklich schrecklich dunkel hier. „Wenn das Seniorenheim nicht will, dass man einfach so ein und aus geht, hätten sie ihre Sicherheitsvorkehrungen erhöhen sollen.“ Schließlich waren Manni und Trudi auch einfach so reingekommen und die beiden waren so subtil wie eine pflichtbewusste Alarmanlage.

„Weißt du“, bemerkte Rispo im Plauderton, während der Kies unter seinen Füßen knirschte, „immer, wenn du so etwas sagst, bin ich mir nicht sicher, ob du einen Scherz machst oder den Schwachsinn, der aus deinem Mund kommt, wirklich glaubst. Und das ist sehr beängstigend, Lou.“

Na, wenn er das schon beängstigend fand, dann gab ich ihm lieber keine ehrliche Antwort auf seine Frage.

Zum Glück erreichten wir in diesem Moment die Tür und mir blieb es erspart, etwas zu erwidern, denn Josh legte einen Finger an die Lippen. Es war offensichtlich, dass er nicht hier sein wollte – aber ebenso wenig wollte er offenbar erwischt werden und erklären müssen, warum ein Kriminalkommissar nachts in einem fremden Altenheim herumstromerte.

Der Flur, der vor uns lag, war stockdunkel. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Veilchen – ein bisschen wie ein blumiges Krankenhaus – und das einzige Geräusch, das ich vernahm, war ein blechernes Klappern, das von der offenen Tür ausging.

Irritiert sah ich zu Boden und bemerkte, dass ein schwarzer, metallischer Stab mit ein paar ebenso schwarzen Drehknöpfen an seinen Enden zwischen Tür und Angel klemmte und sie so vorm Zuschlagen bewahrte. Er rappelte immer wieder gegen Tür und Wand, tat seinen Job jedoch einwandfrei.

Vorsichtig beugte ich mich vor und sah mich um. Ich überlegte gerade, ob Trudi etwas davon geschrieben hatte, in welche Richtung wir nach Betreten des Heims abbiegen sollten, als ich rechts einen matten Lichtschimmer erkannte.

Rispo voran trat ich ein und bewegte mich an den blanken Wänden vorbei über den gefliesten Boden auf den Lichtschimmer zu. Er rührte von einer halb geöffneten Tür her und wurde bald immer heller, bis sie aufgezogen wurde und zwei Gestalten in den Lichtschein traten. Soweit ich aus der Ferne erkennen konnte, standen sie in einem kleinen ovalen Raum, der sich mit seinen Abflusssieben und dem Geruch nach Chlor tatsächlich als Saunavorraum zu erkennen gab.

Doch weder das Zimmer noch die beschlagenen Glasscheiben, die zu der besagten Dampfsauna gehören mussten, zogen meinen Blick auf sich. Mein Gehirn war damit beschäftigt, eine gänzlich andere Information zu verarbeiten.

„Herrgott, sie sind nackt“, bemerkte Josh stöhnend und schlug sich subtil die Hand vor die Augen.

„Du bist Polizist, Josh, ein wenig mehr Professionalität, bitte!“, sagte ich missbilligend und schüttelte seine Hand ab, die er, als wäre ich sein Blindenhund, auf meine Schulter gelegt hatte. Gleichzeitig kniff ich meine Augen zu, sodass Trudis und Mannis faltige Körper nur noch eine verschwommene Masse waren. Genug gesehen hatte ich trotzdem.

„Ist es merkwürdig, dass ich mich frage, wo Trudi ihr Handy verstaut hatte?“, fragte ich unsicher.

„Nein“, sagte Josh knapp. „Es ist alles, woran ich denken kann.“

Meine Mundwinkel zuckten und ich reckte das Kinn, als wir die beiden rotgesichtigen FKK-Senioren erreichten. Das gedämpfte Licht, bemerkte ich, stammte von einer einzigen runden Deckenlampe, die keinen guten Job machte. Die gläserne Sauna leuchtete zwar von innen, dennoch war es unmöglich, durch die beschlagenen Fenster zu erkennen, ob sich etwas darin befand – wie zum Beispiel eine Leiche.

„Siehst du, Manfred? Ich habe dir gesagt, dass man sich auf Lou verlassen kann“, stellte Trudi zufrieden fest und warf ihrem Liebsten einen pikierten Blick zu.

Ja, meine Zuckersucht war offenbar sehr vorhersehbar.

„Ja, ich sehe es“, erklärte Manni und nickte nicht weniger zufrieden. „Und Kommissar Risotto ist auch dabei! Sehr beruhigend.“

Josh seufzte leise.

„Beschwer dich nicht, Risotto ist die beste Reisspeise von allen“, murmelte ich ihm zu, bevor ich lauter sagte: „Natürlich kannst du dich auf mich verlassen, Trudi.“ Ich hob die Hand, um ihren Arm zu tätscheln – überlegte es mir jedoch auf halbem Weg anders und lächelte ihr lediglich zu.

Josh drückte meine Schulter, so als begrüßte er meine Entscheidung, bevor er fragte: „Wie seid ihr hier hereingekommen?“ Den Blick hielt er dabei gekonnt über Trudis Schultern, auch wenn die alte Dame gerade diesen Moment aussuchte, um sich ein wenig zu strecken und ihre alten Knochen knacken zu lassen.

„Oh, die Seitentür stand bereits offen, als wir ankamen“, sagte sie fröhlich. Den Schock von vorhin hatte sie offenbar überwunden. „Wir dachten eigentlich, wir müssten uns als Bewohner ausgeben, aber wir hatten Glück. Gott sei Dank! Ich meine, niemand hätte uns geglaubt, dass wir hier zusammen mit den alten Leutchen leben!“

„Mhm“, machte ich unschlüssig und presste die Lippen zusammen, bevor mir noch unbedachte Worte wie: Trudi, ihr seid beide sehr alt, herausrutschten.

Ich blickte zu Josh, der mit dem Blick den Boden abtastete und zwischen Trudis Füßen hängen blieb. „Scheiße“, wisperte er rau und verzog das Gesicht. Verwirrt schaute ich ebenfalls dorthin … und mein Magen zog sich unwohl zusammen. Rote Tropfen sprenkelten die Fliesen unter Trudis pink lackierten Nägeln. Blutrote Tropfen.

„Seid ihr allein hier, Trudi?“, wollte Josh scharf wissen. „Habt ihr irgendwen in die Sauna gehen oder aus ihr herauskommen sehen?“

„Nein. Aber sie war bereits eingeschaltet, als wir kamen.“

„Okay. Weißt du, ob ihr allein in der Sauna wart?“

Verärgert zog Trudi die Augenbrauen zusammen. „Junger Mann, meine Ohren sind ähnlich gut wie meine Augen – natürlich weiß ich nicht, ob wir allein waren. Der Nebel war doch sehr dicht und mein Hintern hat nur die Leiche identifizieren können, keine anderen Personen. Ich bin doch keine magische Wahrsagekugel!“

Ein ungutes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, das sich nur verstärkte, als Rispo langgezogen ausatmete und im nächsten Moment eine Pistole unter seiner dünnen Lederjacke hervorzog.

Ungläubig sah ich ihn an. „Du hast deine Waffe mitgenommen?“

„Wenn man mit dir und Trudi unterwegs ist, ist es immer ratsam, bewaffnet zu sein“, sagte er abwesend und starrte auf die beschlagenen Scheiben der Dampfsauna, unter dessen Tür noch immer leichter Nebel hervorzog.

Ich hätte ihm gerne widersprochen, doch es war spät und lügen war auf Dauer anstrengend. „Du … du denkst also wirklich, dass es Blut ist?“, fragte ich nervös.

„Finden wir es heraus“, murmelte er und sah erneut zu Trudi. „Wisst ihr zufällig, wie man die Sauna abstellt?“

„Schon getan“, sagte Manni und streckte stolz die Brust. „Der Dampf ist schon viel weniger geworden.“

„Habt ihr noch einmal reingeguckt?“, fragte ich und sah skeptisch auf die beschlagene Glastür.

Trudi schüttelte den Kopf. „Ich habe von dir gelernt, dass man einen Tatort möglichst nicht beflecken sollte“, erklärte sie in monotonem Ton.

Rispo warf mir einen beeindruckten Seitenblick zu. „Das ist dir klar? Und trotzdem hast du mehr Fingerabdrücke an Tatorten hinterlassen als jeder Serienmörder?“

Ich verdrehte die Augen. „Ist es meine Schuld, dass Tatorte meistens rutschig sind?“

„Es ist deine Schuld, dass du nicht besser aufpasst“, bemerkte Rispo, bevor er mit der Waffe im Anschlag die Tür zur Sauna öffnete.

Ein Schwall weißer, dicker, nach Minze riechender Nebelschwaden drang daraus hervor und ließ mich husten. Meine Güte, sie mussten die Hitze voll aufgedreht haben, damit so viel Wasser in so kurzer Zeit verdampfen konnte! Das war nicht normal.

Josh und ich traten beiseite, um möglichst viel Kälte hineinzulassen, besser sehen zu können und schließlich einen Schritt in den nicht allzu großen Raum hineinzuwagen …

„Fuck“, sagte Josh laut und ließ die Waffe sinken.

Zwei Dinge wurden sehr schnell klar. Erstens: Nur eine Person befand sich in der Sauna. Zweitens: Sie war mehr als nur ziemlich tot. Sie war verdammt tot. Toter als tot.

Übelkeit schoss in meinen Magen und flutete meinen Körper. Meine Atmung wurde hektisch und ein Schwindelgefühl erstickte jeden meiner Gedanken, während mein Blick durch den Raum hastete. Ich konnte nicht hin- aber auch nicht wegsehen. Beides schien unmöglich.

In den letzten Jahren hatte ich schon einige Tatorte gesehen, doch keiner war so wie dieser gewesen.

Eine Frau lag seitlich auf einer der Steinbänke, den einen Arm ausgestreckt unter ihren Kopf gelegt, als sei sie ohnmächtig darauf gekippt, den anderen im rechten Winkel gegen die Rückenlehne der Bank aufgerichtet. Ihr gesamter Körper war mit Kratzspuren übersät und Blut tropfte aus mindestens sieben verschiedenen Stichwunden. Es benetzte Bank und Boden, zog dickflüssige Fäden und vermischte sich mit der Feuchtigkeit zu einem rötlich glänzenden Film auf Haut und Fliesen. Sie war splitterfasernackt und entweder lag sie hier schon ein paar Jahrzehnte oder sie musste um die achtzig Jahre alt sein. Tiefe Falten zierten ihr Gesicht, auch wenn die Hälfte davon von den grauen Haaren verdeckt wurde, die an ihrer Haut klebten. Die Haare sahen merkwürdig aus. Auf den ersten Blick dachte ich, dass sie sich blaue Strähnchen gefärbt hatte, doch bei näherem Hinsehen wurde klar, dass es Bindfäden waren, die in ihrem Haar hingen. Nicht viele, nur ein, zwei Stück, aber dank ihrer dunkelblauen Farbe dennoch nicht zu übersehen.

Mit zitternden Beinen wanderte mein Blick weiter die Leiche hinab. Kleine Blutpfützen sammelten sich in ihren Körperfalten, und die Übelkeit in meinem Magen wurde abrupt so schlimm, dass ich mich würgend vornüberbeugen musste. Mein Blick landete zwangsweise auf dem Boden, der jedoch nicht viel besser aussah.

Scheiße. Es war eine einzige Sauerei.

Mein Atem wurde schleppender und das Abendessen bahnte sich einen Weg meinen Hals hinauf. Wieder würgte ich, schnappte nach Luft, krallte meine Fingernägel in meine Jeans und versuchte, mich zusammenzureißen.

„Wenn du dich auf meinen Tatort übergibst, wird deine Kotze zum Beweisstück“, murmelte Rispo gelassen und legte beruhigend eine Hand auf meinen Rücken. „Willst du das, Lou?“

Augenblicklich ging es mir besser, wenn auch nur marginal. Ich war ohnehin schon die Lachnummer auf dem Präsidium, da wollte ich nicht auch noch, dass sie stolze Besitzer meines Mageninhalts wurden.

Ich schluckte, kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich weiter darauf, die stickige Luft einzuatmen. „Wie kannst du so ungerührt dastehen? Sie … sie ist ein Mensch!“

„Ja“, sagte er abwesend. „Aber jetzt ist sie mein Job – und wenn mir übel wird und ich mich nicht konzentrieren kann, mache ich ihn beschissen. Glaub mir, die ersten Male waren so schlimm, dass ich innerhalb eines Monats fünf Kilo abgenommen habe, aber mittlerweile …“ Er hockte sich langsam zu Boden und verengte die Augen. Konzentriert starrte er auf eine Stelle direkt vor seinen Füßen. Ich tat es ihm gleich und stutzte, als ich etwas silbrig Glänzendes erkannte.

War das eine Nadel? Eine … Stecknadel?

Ich tastete weiter den Boden mit meinem Blick ab und blieb erneut an den Bindfäden aus Blut hängen, die vom Sitz tropften. Wieder würgte ich.

„Geh bitte raus, Lou“, sagte Josh knapp. „Der Tatort ist schon nutzlos genug, nachdem zwei nackte Senioren ihn besudelt und die Feuchtigkeit und Hitze wahrscheinlich jeden Fingerabdruck unbrauchbar gemacht haben.“

Zum ersten Mal in meinem Leben fiel es mir überhaupt nicht schwer, einer von Rispos Anweisungen zu folgen.

„Uiuiui, Louisa. Du siehst ganz schön blass aus“, stellte Trudi fest, sobald ich aus der Sauna stolperte. „Also hatten wir recht, ja?“, fragte sie neugierig und nicht ohne einen gewissen Grad an Genugtuung in ihrer Stimme. „Jemand hat einen … Blutaufguss vorgenommen?“

Ich nickte und sog zischend Luft ein. Hier draußen war der Sauerstoff so viel besser, dass mein Magen sich langsam wieder beruhigte. „Es ist … es ist eine ältere Frau. Wahrscheinlich war sie eine Bewohnerin des Altenheims.“ Zumindest war das meine Vermutung.

„Donnerwetter“, bemerkte Manni kopfschüttelnd. „Kaum, dass ich dich kenne, Trudi, habe ich schon gleich mit zwei Toten zu tun! Du bist wirklich aufregend.“ Er klang hörbar begeistert.

„Oh, dafür kann ich keine Lorbeeren einheimsen“, sagte die alte Dame bescheiden und winkte ab, sodass ihre Brüste wackelten. „Lou ist der Leichenmagnet. Ich sonne mich nur in ihrem Talent. Sie ist der eigentliche Leichenspürhund.“

Unglücklich verzog ich das Gesicht. Als Talent würde ich meine Fähigkeit, über tote Leute zu stolpern, jetzt wirklich nicht bezeichnen. Andererseits war es süß, dass Trudis Glas immer noch halb voll war, obwohl sie das Blut einer toten Frau an ihrem Hintern kleben hatte.

Josh trat aus der Sauna, seufzte schwer und zog sein Handy aus der Tasche. „Herzlichen Glückwunsch, Trudi. Ich schulde dir eine Entschuldigung. Ich werde die Tastfähigkeiten deines Hinterns nie wieder anzweifeln“, bemerkte er trocken.

Mhm. Das war auch so ein Satz, den ich nie aus seinem Mund erwartet hätte.

„Danke“, sagte meine ehemalige Angestellte stolz. „Also ist es Mord? Ein Mord, den ich entdeckt habe?“ Hoffnungsvoll hob sie die Augenbrauen.

Ich schnaubte. Wieso bekam ich auf einmal das Gefühl, dass ihr Lebenslauf bald eine neue Ergänzung bekommen würde?

„Ja. Definitiv Mord“, murmelte Josh und hielt sich das Handy ans Ohr. „Ihr seid also auf eurem Weg hierhin niemandem begegnet?“

„Nein“, sagten Manni und Trudi im Chor.

„Auch nicht auf dem Parkplatz?“

Wieder schüttelten sie den Kopf.

Josh nickte, bevor er in den Hörer sagte: „Hey, Marvin. Ich bin’s. Ich habe hier eine Leiche im Seniorenheim Himmelspforte in Rodenkirchen. Ich brauche ein Spurensicherungsteam sowie ein paar Beamte, die neugierige Leute fernhalten. Außerdem …“ Sein Blick schweifte zu Trudi und Manfred, bevor er sich räusperte. „Bringen sie außerdem zwei große Bademäntel mit.“

„Wofür?“, hörte ich Joshs Partner verwundert fragen.

„Zum Wohle der Menschheit, Marvin“, erwiderte Josh erschöpft. „Zum Wohle der Menschheit.“

 

Zwanzig Minuten später wimmelte es im Altenheim von Frauen und Männern in Uniform. Die meisten von ihnen kannten mich beim Vornamen. Einfach aus dem Grund, weil sie mich schon mehr als einmal vernommen oder festgenommen hatten – und Rispo meinen Namen regelmäßig wütend im Revier herumbrüllte. Es war schön, dass sie nicht allzu überrascht waren, mich anzutreffen, und sich in Rispos Gegenwart nicht trauten, laut zu lachen. Es war jedoch etwas zermürbend, dass achtzig Prozent von ihnen fragten, ob ich nur mit Josh zusammen wäre, um näher am Geschehen zu sein und meine Leichensammlung zu erweitern.

„Oh, bitte“, meinte Trudi und schnalzte mit der Zunge, als eine Beamtin vorschlug, ich solle doch einfach den Polizeifunk abhören und dann zu Tatorten hetzen, wie jeder normale Psychopath auch. „Als würde sie bei ihrem hotten Polizisten bleiben, um seinen Einfluss auszunutzen. Es muss der Sex sein.“ Überzeugt von ihrer Aussage nickte sie fest. „Denken Sie nicht auch, dass Sex mit Joshua Rispo grandios sein muss?“ Fragend wandte sie sich an Marvin, Rispos Partner, nicht zu vergessen sein größter Fan, der mit einem Notizblock neben uns stand und bis eben Trudis Aussage aufgenommen hatte.

Der dünne Polizist nickte pflichtbewusst. „Ähm, ja. Ich stelle es mir … sehr angenehm vor, mit Rispo zu schlafen! Also, für Lou jetzt!“ Er lief puterrot an. „Nicht, dass ich je darüber nachgedacht hätte, mit ihm … also nicht, dass er nicht attraktiv wäre, aber …“

„Beruhige dich, Marvin“, sagte ich seufzend. „Niemand von uns glaubt, dass du mit Josh ins Bett willst.“

Auch wenn ich mir seiner sexuellen Orientierung noch nicht ganz im Klaren war. Letztens hatte er zwar einer Frau auf den Hintern gestarrt, jedoch nur, um ihr zwei Sekunden später mitzuteilen, dass ihr Handy gefährlich weit aus der Hosentasche ragte und sie sich lieber vor Taschendieben in Acht nehmen solle.

Marvin war in etwa so groß wie ich, besaß jedoch zehn Kilo an Muskelmasse weniger – und das sollte was heißen. Meine Muskelmasse bestand derzeit nämlich aus einem kleinen Bizeps vom Erdeumgraben und drei Kilo Keksspeck, den ich als Muskeln bezeichnete, um mich besser zu fühlen.

Er war ein liebenswürdiger Kerl mit dem Kleidungsstil einer vierzigjährigen Frau und dem Selbstbewusstsein eines Jungen, der seinem Date aus Versehen in den Mund gespuckt hatte. Das Beeindruckendste an ihm war sein Nachname. Er hieß nämlich Held.

„Also, ich würde mit Joshi ins Bett hüpfen“, sagte Trudi ohne Umschweife, bevor sie laut überlegte: „Ich könnte ihm bestimmt noch das ein oder andere beibringen.“

„Ah, Trudi. Ich fürchte, du wärst zu viel für mich“, sagte Josh in diesem Moment trocken. Er war aus dem Flur hinter uns aufgetaucht. „Und außerdem würdest du Manni das Herz brechen.“

Manfred schüttelte nur den Kopf, bevor er an Josh auf und ab sah und sagte: „Ich würde es verstehen.“

„Ich nicht“, meinte eine neue Männerstimme. „Ich wette, selbst im Bett versucht er noch unter jedem Umstand zu beweisen, dass er besser ist als du.“

Intuitiv wollte ich den Mund öffnen und antworten, dass das zwar stimmte, aber durchaus seine positiven Seiten hatte, als ich bemerkte, wer da sprach.

Es war Mo, den vierten Rispo-Bruder Flo im Schlepptau und ein selbstgefälliges Lächeln auf dem Gesicht.

Joshs Miene verdüsterte sich so schlagartig, dass ich automatisch die Hand nach seiner ausstreckte. Das letzte Mal, als er so ausgesehen hatte, war er kurz davor gewesen, einen anderen Polizisten niederzuschlagen – und ich hatte heute schon genug Blut gesehen.

„Hey, Mo“, sagte ich hastig, bevor Josh etwas knurren konnte. „Was machst du hier?“

„Oh, ich bin der neue Kriminalreporter des Kölner Blatts“, sagte er leichthin. „Wenn du dich heute Abend nicht wie ein Arschloch aufgeführt hättest, hätte ich dir das sogar noch erzählt, Joshi. Na ja … als der Name Louisa Manu im Polizeifunk fiel, wurde mir sehr schnell klar, dass das hier mein erster Fall sein würde.“ Nachdenklich wandte er sich mir zu. „Die Zeitung hat da ein Motto: Fällt der Name Louisa Manu, schreib alles mit und hör gut zu. Deine steile Karriere als Pseudo-Detektivin ist beeindruckend. Du hast dir da einen schönen Ruf aufgebaut, Lou.“

Ich stöhnte leise und bemerkte alarmiert, dass eine Ader auf Joshs Stirn hervorsprang.

„Ein Scheiß bist du“, sagte er bissig.

„Nein, Kriminalreporter“, erklärte Mo geduldig. „Ich musste schließlich umschulen. Reisejournalisten müssen reisen – und das ist schwierig, wenn du mir verbietest, die Stadt zu verlassen.“

Josh schnaubte. „Ich habe dir überhaupt nichts verboten.“

„Oh, ich meine, mich daran zu erinnern, dass der Satz ‚Wenn du mich wieder mit der Scheiße alleinlässt, bringe ich dich um!‘ gefallen ist.“

Mehrere Polizisten wurden hellhörig und sahen verwirrt auf.

„Er macht Witze!“, sagte ich hastig.

„Nein, das habe ich ernst gemeint“, widersprach Josh mir kalt und starrte Mo unverwandt an.

„Josh“, zischte ich wütend. „Du saßt erst vor Kurzem wegen Mordverdacht in Gewahrsam, möchtest du das wiederholen?“

Er beachtete mich nicht. „Es gibt nicht mal richtige Kriminalreporter“, fuhr er Mo an. „Das ist eine Berufsbezeichnung aus den Fünfzigern!“

Sein Bruder zuckte nur die Achseln. „Dem Kölner Blatt ist es egal, als was ich mich bezeichne, solange ich ihnen unterhaltsame und reißerische Artikel liefere.“

Rispos Kiefer knackte bedrohlich. „Schön. Mo ist hier, um mich anzupissen – was ist deine Ausrede, Flo?“

Der zweitjüngste Rispo hob eine dunkle Augenbraue. Er war der schmächtigste und stillste von den Brüdern – dennoch war er unverwechselbar mit ihnen verwandt. Denn auch er hatte ein Talent dafür, Gesichtsausdrücke zu benutzen, die ausgeglichene Menschen vor Wut die Wände hochtrieben. „Oh, ich bin sein Praktikant“, sagte er zufrieden.

Ungläubig sah Josh zu Mo.

„Hey, du hast gesagt, ich sei damit an der Reihe, mich um die Familie zu kümmern“, sagte er und hob unschuldig die Hände.

„Aber nicht, indem du sie an Tatorte schleppst!“, fuhr Josh ihn an. „Florian ist Student, er hat genug zu tun.“

„Ich studiere was mit Medien, Josh“, erinnerte Florian ihn weise. „Erfahrung als investigativer Journalist könnte gut auf meinem Lebenslauf aussehen.“

„Wenn du weiterredest, musst du dir bald keine Gedanken mehr darum machen, jemals wieder einen zu schreiben“, wisperte Josh bedrohlich.

„Oh, ich find euch alle klasse“, meldete sich Trudi zu Wort und klatschte in die Hände. „Mit euch wird es nie langweilig! Alle streiten sich immer und blicken düster umher. Wie dieser Schneemann bei Game of Thrones!“

„Schneemann?“, fragte Flo verdattert.

„Na, du weißt schon. Johann Schneemann. Der Typ, der immer guckt, als hätte er ein Gewicht an seinen Eiern hängen.“

Flos Mundwinkel zuckten. Marvin verschluckte sich an seiner Spucke und beugte sich hustend vor. Mo fragte Trudi, ob er sie interviewen könne, sie schien eine dankbare Zeugin zu sein. Ich seufzte schwer und Joshs Lippen wurden zu einer so dünnen Linie, dass selbst Chuck Norris ein Problem damit gehabt hätte, auf ihr zu balancieren.

„Okay, es reicht jetzt. Das hier ist ein Tatort, kein verdammtes Familientreffen. Spiel du ruhig weiter Kriminalreporter, Mo, aber mach es auf einem anderen Spielplatz. Nur, weil du dir einen hübschen Titel zurechtgelegt hast, heißt das noch lange nicht, dass du hier sein darfst. Also verschwinde. Ich muss eine weitere Zeugin befragen und wenn ich in zehn Minuten zurück bin, möchte ich nur noch Lou hier vorfinden.“

Ich lächelte ihm zu. „Vielen Dank für dein Vertrauen.“

Er schnaubte. „Gib dich nicht dem Irrtum hin, dass ich deine professionelle Einsicht als Blumendetektivin haben will. Aber wir sind mit einem Auto hier und Marvin fährt wie eine Schnecke, die über Sekundenkleber gelaufen ist. Dieser Fall ist weder persönlich noch hat dich jemand um Hilfe gebeten – du hast also keine Ausrede, dich wieder kopfüber in die Scheiße zu reiten. Diesmal wirst du es einfach lassen, verstanden?“ Er verengte die Augen, als ahnte er, dass ich ihm widersprechen wollte. Doch in seinem Blick schwang die stumme Bitte mit, diese wehleidige Schallplatte bitte erst später abzuspielen, also nickte ich nur. „Wundervoll“, sagte er schroff, bevor er sich an Florian und Moritz wandte. „Was euch zwei Clowns angeht: Ich erteile euch Hausarrest, bis ihr über die Konsequenzen eurer Taten nachgedacht habt.“ Ruckartig drängte er sich an seinen Brüdern vorbei und lief den Gang hinab, aus dem er soeben gekommen war.

„Du kannst uns keinen Hausarrest mehr geben“, rief Florian ihm zornig hinterher. „Wir sind keine sechzehn mehr!“

Manfred legte interessiert den Kopf schief. „Ihr habt mit sechzehn noch Hausarrest bekommen?“

„Nur, wenn ich zu lange aufgeblieben bin und den Schulbus verschlafen habe“, meinte Flo missmutig, bevor er sich zu Mo wandte. „Ich weiß nicht, ob es das wert ist, Alter!“ Im nächsten Moment lief er Josh nach. Vielleicht, um mit ihm zu reden, vielleicht aber auch nur, um zurück an die frische Luft zu gelangen.

Mo schien seinem Bruder jedoch nicht zuzustimmen. Er sah sehr zufrieden aus.

Seufzend blickte ich ihn an. „Ich möchte mich nicht in euren Streit einmischen“, sagte ich ruhig. „Aber du bist es nicht, der mit ihm zusammenwohnt. Ich schon. Versuche dieses Wissen in deine übereilten Entscheidungen miteinfließen zu lassen.“

„Lou, ich liebe Josh“, sagte Mo feierlich. „Er ist der beste große Bruder, den wir uns hätten wünschen können. Ich weiß, dass er nach Mamas Tod eine Menge Scheiß durchgemacht und die Verantwortung übernommen und uns alle beschützt hat. Aber er kann mir nicht sagen, was ich tun und lassen soll. Wenn ich mich recht erinnere, kotzt dich diese Eigenschaft auch verdammt an.“

Ich öffnete meinen Mund … schloss ihn jedoch direkt wieder. Denn natürlich hatte er recht damit, dass Josh ein Kontrollfreak war und er mich deswegen zur Weißglut brachte.

Vehement räusperte ich mich. „Ich will nur nicht, dass du ihn absichtlich provozierst.“

„Das ist sehr schade, denn ich bin sehr gut darin und baue auf meine Stärken“, stellte Mo fest und hob die Schultern.

Wieder seufzte ich schwer, während Trudi an meinem T-Shirtsaum zupfte.

„Seid ihr fertig, Louisa?“, fragte sie aufgeregt und senkte ihre Stimme so effektiv, dass nur noch alle Leute in einem Zwei-Meter-Umkreis sie hören konnten. „Ich würde nämlich gerne wissen, ob das hier unser neuer Fall wird? Wenn du ihn nicht übernehmen willst, kann ich das tun! Ich denke, ich bin bereit, selbst Recherchen aufzunehmen. Ich bin schließlich schon lang genug deine Assistentin.“

Alles an dem, was Trudi gerade gesagt hatte, ließ mir den Schweiß ausbrechen. Trudi hatte das Feingefühl eines Oktopus ohne Arme und ihre alleinige Tätersuche würde sehr schnell zur Sargsuche werden.

„Warum bringe ich euch beide nicht zu eurem Auto?“, bot ich an und sah hoffnungsvoll zu Manni. „Die Polizei meinte, ihr dürft gehen. Über alles andere können wir dann morgen reden.“

Ich musste darauf setzen, dass Trudis löchriges Gedächtnis mir den Gefallen tat, diese Nacht besonders viel auszusortieren.

„Ich bin tatsächlich ziemlich müde“, meinte Trudi verwundert. „Leichen zu finden ist sehr erschöpfend. Das hast du mir nie erzählt, Lou.“

„Tja, jetzt weißt du es“, bemerkte ich und zog sie und Manni vorsichtig Richtung Seitenausgang. Bevor wir ihn jedoch erreichten, wandte ich mich noch einmal zu Mo um. „Er will dich immer noch schützen, Mo. Das weißt du, oder?“ Dann trat ich aus der Tür.

Kapitel 3

Ich wachte auf, weil ich davon träumte, beobachtet zu werden.

Meine Haut kribbelte am ganzen Körper, meine Brust war eng, mein Atem flach – und ich war furchtbar froh, als ich aus dem Traumland in die Realität glitt.

Müde gähnte ich und öffnete die Lider.

Eine dunkle Gestalt stand über mir. Die Augen zu Schlitzen verengt, die Arme verschränkt.

Abrupt zuckte ich zusammen und schlug mit dem Schädel gegen den Bettkopf. „Heiliger Blumentopf“, stieß ich aus und legte eine Hand auf die Brust, als ich erkannte, dass es nur Rispo war. „Kannst du bitte nicht dastehen, als wärst du ein Serienmörder, der mir gleich einen Smiley ins Gesicht ritzen will?“

Josh schüttelte den Kopf. „Ich hätte dir nie von dem Smiley-Mörder erzählen sollen.“

Nein, hätte er wirklich nicht. Meine Albträume waren seitdem so viel facettenreicher geworden. „Benimm dich nicht wie der Smiley-Mörder, dann haben wir kein Problem“, murmelte ich und gähnte erneut.

Josh nickte. „Ich wollte mich nur verabschieden, ich muss zur Arbeit.“

Mein Blick fiel auf den Wecker. Es war kurz nach sechs. Viel zu früh also.

„Okay“, sagte ich schläfrig, blinzelte und sank zurück in die Kissen. „Dann geh und spiel mit deinen Mördern.“

Rispo rührte sich nicht.

Skeptisch sah ich ihn an. „Ist irgendwas?“

„Ja.“

„Ich habe deinen Rasierer nur aus Versehen benutzt, wirklich!“, sagte ich sofort.

Seine Mundwinkel zuckten. „Darum geht es nicht. Wir … wir kamen gestern nicht dazu, ein Gespräch zu führen.“

„Es ist mir egal, was du sagst, Josh. Faultiere sind süßer als Hunde, auch wenn sie dümmer sein mögen.“

Grimmig presste er die Lippen zusammen. „Du weißt genau, worum es geht.“

Ja, wusste ich. Doch mir gefiel es nicht, dass es an diesem Morgen um meine Dummheiten und nicht um Mos ging. „Ich werde mich nicht in den Fall einmischen“, murmelte ich, setzte mich auf und streckte die Arme über den Kopf.

Josh war so überrascht von meinen Worten, dass er einen Moment lang aussah wie eine Cartoonfigur. „Du widersprichst mir also nicht?“, sagte er verwundert. „Ich weiß nicht, ob mich das freut oder mir Angst macht.“

Ich schnaubte. „Ich reiße erst den nächsten Fall wieder an mich“, sagte ich und winkte ab.

Sofort wurde Rispos Miene wieder unglücklich, was mich zum Lachen brachte.

„Das war ein Witz, Josh!“

Er schüttelte den Kopf. „Deine Witze werden zu oft Realität, Lou. Und warum genau willst du nicht wieder auf Mörderjagd gehen? Das irritiert mich.“

„Na, die Gründe, die du gestern genannt hast. Es ist nichts Persönliches, niemand hat mich um Hilfe gebeten …“

Außerdem war mir der Tatort etwas zu gruselig gewesen. Dass jemand vor ein paar Monaten versucht hatte, mich zu erschießen, saß mir immer noch in den Knochen.

Klar, ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht darüber nachgedacht hatte – Mörder zu suchen machte süchtig, egal wie oft man unter Todesangst litt –, aber ehrlich gesagt hatte ich im Moment einfach zu viel zu tun, um meinen Kopf mit unnötigem Ballast, wie der Frage, warum eine Stecknadel am Tatort gelegen hatte, zu füllen. Mein Blumenladen lief super. Ich hatte eine festangestellte Floristin, eine Aushilfe, einen Blumenlieferanten und würde im September sogar anfangen, meine erste Azubine auszubilden. Was einen Schritt nach vorn, aber auch eine Menge Arbeit bedeutete. Doch Leonie, die gerade frisch von der Realschule kam, hatte ein so sonniges Gemüt und war so unglaublich wissbegierig, dass ich mir sicher war, sie würde ein voller Erfolg werden. Aufträge zu Hochzeiten bekam ich am laufenden Band und seitdem ich Floristin des Vertrauens für ein Bestattungsinstitut war, hatte ich auch dort eine feste Einnahmequelle.

Zusätzlich zu den Verpflichtungen als Ladeninhaberin kamen meine privaten Themen: Wie zum Beispiel die Tatsache, dass Emmi sich in den letzten Wochen äußerst merkwürdig benahm, Finn nicht mehr mit mir redete, meine beste Freundin Ariane die furchtbare Idee hatte, ihre Haare zu färben, und meine Mutter mich schon länger nicht mehr kritisiert hatte – was mich zunehmend nervös machte.

Ich brauchte keine weiteren Ablenkungen.

„Lou, du weißt, dass ich dir vertraue“, sagte Josh langsam. „Aber … ich glaube dir nicht.“

Frustriert atmete ich aus. „Josh, ich schwöre dir: Ich habe gar kein Interesse, den Mörder zu finden“, beharrte ich und strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Der Fall ist mir ehrlich gesagt etwas zu … blutig. Ich mag meine Opfer vergiftet oder erschlagen.“

Rispo verengte noch immer skeptisch die Augen.

„Ich meine es ernst, Josh“, meinte ich lachend und zog ihn zu einem Kuss heran. „Geh zur Arbeit und zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber. Ich verspreche dir feierlich: Ich werde nicht auf Mördersuche gehen.“

 

„Ich habe eine brillante Idee, wie wir den Mörder finden können, Louisa!“, begrüßte mich Trudi vier Stunden später, als sie in meinen Laden wehte.

Mein erster Gedanke war: Mist, sie hat es nicht vergessen. Mein zweiter: Wo ist meine Sonnenbrille, wenn ich sie brauche?

Denn Trudis Erscheinung blendete mich. Ich war es gewohnt, dass sie sich unkonventionell kleidete, doch heute schoss sie den Vogel wirklich ab – oder sollte ich sagen den Leoparden?

Sie trug ein bodenlanges, weites unförmiges Kleid, das an Steinzeit-Barbie oder einer Wildkatze mit gutem Willen okay ausgesehen hätte. An ihr jedoch wirkte es, als habe sie einen Leoparden erlegt und präsentierte ihn nun auf ihren Schultern, um die anderen Mitglieder ihres Stammes einzuschüchtern. Aus unerfindlichen Gründen trug sie außerdem eine Warnweste über ihrem Ensemble, die dem Outfit das fehlende Orange gab, das es nicht brauchte.

Langsam legte ich die Gartenschere auf den Tresen, mit der ich vor einer Sekunde noch Efeu für einen Türkranz zurechtgeschnitten hatte, bevor ich unauffällig den Blick nach oben schweifen ließ, auf der Suche nach ihren Katzenohren, doch ich konnte keine entdecken.

Es war kurz nach zehn und noch war ich allein im Laden. Sonja, meine angestellte Floristin, verspätete sich wegen eines Bahnchaos und irgendwie war ich froh darum. Sie war nicht so talentiert wie ich darin, ihren Unglauben gegenüber Trudis Erscheinung zu verstecken.

Ich räusperte mich und klopfte Pflanzenreste von meinen Händen. „Du … was?“

„Ich habe eine brillante Idee für unsere Mördersuche“, wiederholte sie, ein Glitzern in ihren Augen, das mir eine Gänsehaut bereitete. Es war nicht so, dass ich Trudi nicht für klug und aufmerksam und großartig hielt. Sie war ein toller und kreativer Mensch. Leider folgten auf ihre brillanten Ideen jedoch meistens Feuersbrünste, Strafanzeigen und eine Menge blaue Flecke.

„Okay“, sagte ich und blinzelte mehrfach. „Zunächst: Was genau hast du da an, Trudi?“ Ich musste einfach fragen. Mein Gehirn könnte explodieren, wenn ich es nicht tat.

„Oh, gefällt es dir?“, fragte sie entzückt und watschelte einmal im Kreis, um mir das Ungetüm auch von hinten zu zeigen. „Normalerweise würde ich mich etwas gediegener anziehen, aber das hier gehört alles zu meiner Undercover-Persönlichkeit!“

Ungläubig sah ich sie an. „Deiner was?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich eine brillante Idee habe, den Mordfall möglichst effektiv aufzuklären!“, sagte sie ungeduldig und schnalzte mit der Zunge. „Du musst besser zuhören, Louisa.“

„Und zu deiner Idee gehört eine … eine Undercover-Persönlichkeit?“ Mir schwante Übles.

„Natürlich!“ Verwirrt sah sie mich an. „Wie sonst sollte ich mich unbemerkt in das Heim Himmelspforte einschleusen und für dich recherchieren?“

Oh … Scheiße.

Ich wollte gerade den Mund öffnen, um Trudi behutsam näherzubringen, dass das eine furchtbare Idee war, als das Ladentelefon auf dem Tresen klingelte.

„Okay, behalte deinen Gedanken im Kopf“, murmelte ich und hielt einen Zeigefinger hoch, bevor ich ans Telefon ging. „Louisas Flower Power, Louisa am Apparat.“

„Ja, hallo“, meldete sich eine männliche Stimme. „Ich rufe wegen Talia an. Ich würde gerne einen Termin mit ihr vereinbaren.“

„Was?“, fragte ich perplex. „Talia? Ich kenne keine Talia. Sie arbeitet hier nicht.“

„Ähm … Talia?“, sagte der Typ unsicher. „Die mit dem Tulpentanz?“

Ich schnaubte. „Entschuldigen Sie, Sie müssen die falsche Nummer haben.“ Kopfschüttelnd legte ich auf, um wieder das Problem vor mir zu fixieren. „Also, Trudi … du hast dir überlegt, mithilfe einer Undercover-Persönlichkeit das Altenheim zu infiltrieren und so den Mörder zu schnappen?“, fasste ich noch einmal zusammen, in der Hoffnung, dass sie bemerkte, wie wahnsinnig diese Idee klang.

„Exakt!“, sagte sie mit strahlendem Gesicht.

Mission fehlgeschlagen.

Ich seufzte schwer und beschloss, kurz mitzuspielen. Wenn ich ihr sagte, dass ihre Idee hirnrissig sei, ohne sie ganz angehört zu haben, würde sie mir nur den Vogel zeigen und mich als engstirnig bezeichnen. „Erzähl mir von deiner Undercover-Persönlichkeit“, bat ich deswegen und gab mir Mühe, meinen Gesichtsausdruck möglichst neutral zu halten.

Trudi klatschte in die Hände. Sie schien auf einmal sechzig Jahre jünger. „Sie ist ziemlich gewieft! Sie deckt alle Eventualitäten ab und erklärt, warum ich mich manchmal merkwürdig verhalte und komische Fragen stelle.“ Sie zwinkerte mir zu. „Also, ich heiße Brunhilde von Lömmelzahl, kurz Hildi Lömmel. Ich bin auf einer einsamen Insel nahe Afrika unter Eingeborenen groß geworden, die mir eine Menge beigebracht und mir die Liebe zu allen Kulturen aufgezeigt haben. Meine Eltern sind von altem Adelsblut und stinkreich, doch das wurde mir erst klar, als ich mit zwanzig nach Deutschland zurückkehrte. Hier setze ich mich für die Erhaltung seltener Tierspezies ein und fröne einem ausgelassenen Leben mit einer Menge Gemüse und Wein. Ich liebe Tiramisu und lange Waldspaziergänge und ich träume davon, einen bengalischen Tiger zu reiten.“

Ich blinzelte und war einige Momente lang sprachlos. Wer hätte ihrer Fantasie eine solche Geschichte zugetraut?

Schließlich sagte ich: „Aha … und was hat das jetzt mit dem Kleid zu tun?“

„Oh, ich habe von den Eingeborenen gelernt, dass man sich am besten mit Leopardenmustern tarnt – und diesen Modestil habe ich nie abgelegt.“

„Und die … die Warnweste?“

„Ich habe panische Angst, von einem Auto überfahren zu werden, weil mir vorher nur Ameisenstraßen ein Begriff waren.“

„Sicher“, sagte ich tonlos und wenn ich ehrlich war, leicht überfordert. Alles, was Trudis Mund verlassen hatte, war so absurd, dass – wenn ich sie nicht kennen würde – ich mit einer versteckten Kamera gerechnet hätte.

„Ähm“, sagte ich nach einer halben Ewigkeit. „Ich hab nur eine kurze Frage …“

„Worüber redet ihr?“, unterbrach eine Stimme uns und als ich aufblickte, erkannte ich Emmi, meine zwei Jahre jüngere Schwester, in der Tür. Ihre Haare waren zurzeit genauso braun wie meine, aber da hörten unsere Gemeinsamkeiten auch schon auf.

Sie war ein paar Zentimeter kleiner als ich, fünfzehn Kilo leichter und siebzig Prozentpunkte verantwortungsloser.

Sie bezeichnete sich selbst gerne als Lebenskünstlerin und Opportunistin, doch wir beide wussten, dass sie sich einfach nur weigerte, erwachsen zu werden, weil das viel zu anstrengend war. Warum sollte man mit siebenundzwanzig auch über so etwas wie Rente oder Festgeldanlagen nachdenken?

Seit sie die Hochzeit mit Finn abgesagt hatte, war sie noch ein wenig wankelmütiger geworden. Vielleicht, weil sie sich daran erinnert hatte, dass sie es konnte. Vielleicht aber auch, weil sie ihn vermisste und nicht bereit war, es zuzugeben.

Als ich sie das letzte Mal gefragt hatte, wie es ihr ginge, hatte sie mich nur verwirrt angesehen und gesagt: „Ich bin jung und hübsch und intelligent, Lou. Wie soll es mir schon gehen?“

Ich hatte sie nicht noch einmal darauf angesprochen.

„Wir haben einen neuen Mordfall“, sagte Trudi begeistert und zerrte mich zurück in die Realität.

Emmis Augen weiteten sich und sie antwortete etwas, während ich darüber nachdachte, wann und wie Trudi, meine Schwester und ich zu einem Wir zusammengewachsen waren, sobald es um tote Menschen ging. Da band man den ein oder anderen zum Schmierestehen ein und schon war man eine feste Gruppe?

„… sie sah übel aus, musst du wissen“, berichtete Trudi gerade. „Ziemlich blutig und alt. Aber eine Tote in einer Dampfsauna? Der Fall ist vielversprechend, oder?“

Emmi nickte nachdenklich, sah aber nicht übermäßig begeistert aus. Ich konnte sie verstehen. Vor ein paar Monaten war sie noch in eine Schießerei verwickelt gewesen, sie würde unmöglich wieder bei einem Fall … „Okay, ich bin dabei“, sagte sie und nickte fest. „Um ehrlich zu sein, kann ich zurzeit etwas Ablenkung gebrauchen.“

„Warum kannst du Ablenkung gebrauchen?“, wollte ich verwirrt wissen.

Unsicher flackerte ihr Blick zu mir, bevor sie die Hände in die Hosentaschen schob und die Achseln zuckte. „Nur so.“

Okay. Was war da los? „Was tust du überhaupt hier?“, fragte ich weiter nach. „Musst du nicht arbeiten?“

„Trudi hat mich gestern angerufen. Sie meinte, sie hätte gutes Material für mein neues YouTube-Projekt, da habe ich mir Urlaub genommen.“ Sie winkte mit ihrer Kamera.

„Du hast dir spontan für heute Urlaub genommen?“, fragte ich verdutzt.

„Na ja, ich habe mich krankgemeldet.“

Stöhnend ließ ich den Kopf in den Nacken fallen – als erneut das Ladentelefon klingelte.

Gereizt hob ich ab: „Louisa‘s Flower Power, Louisa am Apparat.“

Es war wieder eine unbekannte Männerstimme, die antwortete. „Hallo. Ich wollte wissen, ob Ruby noch einen Platz morgen um sieben frei hat?“

„Was?“

„Ruby? Ich würde gern ihr sinnliches Rosenbad in Anspruch nehmen.“

„Was?“, wiederholte ich dümmlich.

„Ähm … bin ich hier nicht richtig?“, fragte die Männerstimme verwirrt. „Oder ist Ruby ausgebucht?“

Ungläubig nahm ich den Hörer von meinem Ohr, sah ihn kopfschüttelnd an und legte auf. Was war denn heute los mit den Leuten?

„Okay, Mädels, es tut mir leid, aber ich muss die Party beenden“, sagte ich angespannt und hob die Hände. Ich hatte genug. Wenn ich jetzt nichts sagte, würde das Ganze aus dem Ruder laufen. „Ich habe Josh versprochen, diesem Mord nicht nachzugehen, und ich werde mich daran halten. Sorry, dass du schon so viel Aufwand betrieben hast, Trudi, aber … ich kann nicht.“

„Das ist gar kein Problem, Louisa“, sagte sie großmütterlich und klopfte mir auf die Schulter. „Wenn du nicht mitmachen möchtest, übernehmen Emily und ich das allein, nicht wahr?“

Erwartungsvoll sah sie zu meiner Schwester. Die hob nur eine Schulter. „Darf ich dich bei der Recherche filmen?“

„Aber natürlich, wir erzählen einfach allen, dass du eine Dokumentarfilmerin bist, die meine Autobiographie dreht.“

Ein penetranter Kopfschmerz setzte in meinen Schläfen ein.

„Weißt du, auch mir kommt dieser Mord nur recht“, fuhr Trudi fort. „Klar, es tut mir schon leid, dass die arme Frau tot ist. Aber vielleicht hatte sie es ja auch verdient? Das wissen wir ja gar nicht. Ehrlich gesagt langweile ich mich etwas. Kai verbietet mir jedes aufregende Hobby.“

„Was sind das für Hobbys?“, wollte Emmi interessiert wissen.

Mein Kopfschmerz wurde augenblicklich schlimmer. Als ob Trudi Inspiration dazu bräuchte, was für hirnrissige Dinge sie in ihrer Freizeit anstellen konnte!

„Na ja, ich darf nicht lernen, wie man Schwerter schluckt, keine Pudel züchten, nicht Fallschirmspringen, und mit Kettensägen Kunstwerke zu erschaffen hat er mir auch verboten. Es ist, als wollte er einfach nicht, dass ich in meinem Leben noch Spaß habe.“

Ja, ihr Sohn Kai war zu Recht besorgt – und wenn ich ehrlich war, war ich es auch.

Rispo mochte zwar immer behaupten, dass meine Vorgehensweise bei widerrechtlichen Mordermittlungen absurd, gefährlich und zum Haareausreißen war, aber Trudi und Emily stellten mich ohne Probleme in den Schatten.

Doch was blieb mir für eine Wahl? Wenn ich sie einfach machen ließ, würde ich mir nie verzeihen, falls ihnen etwas zustieß. Ich könnte mir natürlich ein Bein ausreißen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen … oder ich konnte in einem Mord ermitteln, der blutig und gruselig war, obwohl ich Josh versprochen hatte, es nicht zu tun.

Ich steckte in einem echten Dilemma.

„Was sind unsere ersten Schritte?“, fragte Emily derweil und packte ihre Kamera weg.

„Ich gehe undercover in das besagte Altenheim“, erklärte Trudi. „Es ist ja wohl klar, dass der Mörder sich dort irgendwo herumtreiben muss, und dann höre ich mich subtil ein wenig um.“

„Wie hieß denn überhaupt das Opfer?“, fragte Emily weiter.

„Oh …“ Trudi blickte zu mir. „Ähm … das werde ich dann herausfinden, denke ich.“

Ich schloss die Augen, massierte meine Schläfen und atmete tief durch. Okay, einen letzten Versuch war es wert.

„Ich halte das für keine gute Idee“, sagte ich mit Nachdruck. „In dem Altenheim wurde jemand ermordet, Trudi. Wie sicher kann es dort schon sein? Was, wenn es der Mörder auf hübsche ältere Frauen abgesehen haben? Du könntest sein nächstes Opfer werden.“

„Papperlapapp. Eine Leiche macht noch lange keine Gefahr. Außerdem habe ich mich bereits dort angemeldet, mit ein paar Scheinen gewunken und kurzfristig einen Platz ergattert.“

Natürlich hatte sie das.

Ich zog eine Grimasse und rieb mir mit der Hand fieberhaft über die Stirn. Was sollte ich tun?

„Du solltest ein bisschen beeindruckter sein, Lou“, stellte sie fest. „Sie haben eine lange Warteliste. Andere würden töten für diesen Platz!“ Ihr Gesicht erhellte sich. „Oh, das sollte ich mir direkt als mögliches Mordmotiv aufschreiben. Hast du Stift und Papier?“

Ich antwortete nicht. In meinem Gehirn ratterten alle Räder, die ich zur Verfügung hatte – doch sie waren nicht genug.

So ein Mist. Das konnte doch nicht wahr sein! Kaum sah ich nicht hin, meldete Trudi sich in einem Altenheim an, um undercover in einem Mordfall zu recherchieren, während ich Josh geschworen hatte, dass ich ihn nicht untersuchen würde?

Was tat ich denn jetzt? Ich konnte unmöglich zulassen, dass Trudi sich als Hildi Lömmel dort einschleuste. Sie würde entweder vom Mörder getötet werden oder vom Pflegepersonal einen guten Psychiater empfohlen bekommen, der ihre Warnweste durch eine Zwangsjacke ersetzte. Wie es auch endete, es sah nicht gut aus.

Tief atmete ich durch. Ich musste Schadensbegrenzung betreiben. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, da ich Trudi am Vortag nicht direkt ausgeredet hatte, sich des Falls anzunehmen. Aber wer hätte ahnen können, dass sie so voreilig handelte?

Jeder, der sie kennt, Lou, flüsterte meine innere Stimme. Einfach jeder, der sie kennt.

Verdammt, mein Unterbewusstsein hatte recht.

„Okay, Trudi … wenn du wirklich unbedingt dort ins Altenheim willst, solltest du dich vielleicht einfach als du selbst einschleusen“, sagte ich langsam. „Deine geheime Identität könnte man mit einer einzigen Google-Abfrage aufdecken.“

„Mhm.“ Sie runzelte die Stirn und dachte sichtlich angestrengt über meine Worte nach. „Na gut. Ist vielleicht keine blöde Idee. Das andere ist auch etwas kompliziert. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste und ich habe die Hälfte meiner Geschichte schon wieder vergessen. Ich werde mich einfach als alte Dame ausgeben und meine eigene Geschichte behalten.“

„Trudi … du bist eine alte Dame“, erinnerte ich sie.

„Pustekuchen. Ich bin vielleicht etwas angelaufen an den Ecken, aber ansonsten noch topfit!“

Da waren ihr Kardiologe und der Chirurg, der ihr ein neues Hüftgelenk eingesetzt hatte, anderer Meinung, aber ich hielt lieber die Klappe.

„Und wenn ihr beide unbedingt ein wenig Herumschnüffeln wollt …“ Ich seufzte schwer. „Dann kann ich schon ein wenig helfen.“

Trudi nickte und Emily grinste breit. „Du wirfst deine Vorsätze auch schneller über Bord als ein sinkendes Schiff seinen Ballast, oder?“

„Nein!“, widersprach ich sofort. „Ich werde mich nicht in den Fall einmischen. Ich werde ihn nur … beaufsichtigen.“

Wie hoch war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich Josh diese Lüge verkaufen konnte?

„Jaja“, sagte Emmi, eine Unschuldsmiene auf ihrem Gesicht. „Du wirst dich nicht einmischen, aufhören, Kekse zu essen und in Afrika Elefanten jagen.“

Ich wollte gerade etwas Wütendes erwidern, als schon wieder das Telefon klingelte.

Frustriert stieß ich Luft aus, bevor ich abhob. „Louisa‘s Flower Power, Louisa am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“

„Ja, guten Morgen. Ich feiere Samstag spontan einen Jungessellenabschied und interessiere mich für Candys Feuchtfröhliches-Flower-Fest?“

„Wovon zum Teufel reden Sie?“, fuhr ich den Fremden an. „Ich beschäftige weder eine Talia noch eine Ruby noch eine Candy! Und was zur Hölle ist ein Feuchtfröhliches-Flower-Fest?“

„Aber Ihre Website sagt doch eindeutig, dass …“

„Wie bitte?“, fragte ich ungläubig. „Meine Website sagt was?“

„Nun, Sie müssen doch wissen, was auf Ihrer Website steht … das ist doch Louisa’s Flower Power, oder nicht?“

„Ja“, sagte ich verdattert. „Aber wir bieten kein Feuchtfröhliches-Irgendwas an!“

„Ähm, Louisa“, machte sich Trudi bemerkbar, die mittlerweile über Emilys Schulter auf das Handy in ihrer Hand starrte. „Laut deiner Website ist das Feuchtfröhliche-Flower-Fest dein Bestseller. Ich wusste gar nicht, dass du dein Geschäftskonzept erweitert hast …“

Mein Mund wurde trocken und stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf.

„Ich muss auflegen. Sie verwechseln da was“, sagte ich harsch in den Hörer und ließ das Telefon sinken, bevor ich um den Tresen herumging, um mir anzusehen, was Emily auf ihrem Handy hervorgefischt hatte.

Es war meine Website.

Mein Blumenlogo schmückte die obere linke Ecke, mein Schriftzug die rechte – doch da, wo meine Blumen-Bestseller beworben werden sollten, gab es eine Menge Bilder, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte.

Meine Augen wurden immer größer und mein Herz zog sich abrupt zusammen. „Das ist … was zur Hölle?“

Es war nicht so, dass die Fotos thematisch vollkommen fremd waren. Nein, eine Menge Blumen war zu sehen. Doch sie waren ausnahmslos um die halbnackten Körper von großbusigen Schönheiten drapiert, die mich verheißungsvoll anlächelten.

Blumig-süße Stripperinnen für kleines Geld!, stand in roter geschwungener Schrift darüber und eine Zeile darunter: Echte Blumen, echte Brüste – für Ihre ganz persönliche und stilvolle Party!

Mit jeder Zeile, die ich las, wurden meine Augen größer und mein Herzschlag schneller.

Da war Talia, die mit ihrem Tulpentanz warb. Das „Rosenbad mit Ruby“-Angebot … Calendula-Candy, deren Spezialität Süßigkeiten und Sonnenblumen waren.

„Scheiße“, fuhr ich auf, ließ das Handy zurück in Emmis Hand fallen und rannte zu meinem Büro. Hastig kletterte ich unter der Schreibtischplatte durch, tauchte auf der anderen Seite wieder auf und fuhr meinen Computer hoch.

Das konnte nicht wahr sein! Welcher bösartige Mensch machte sich einen Spaß daraus, unschuldigen Blumenladeninhaberinnen das Leben schwer zu machen? Und wie viele potenzielle Kunden hatten die Angebote auf meiner Website schon gesehen?

„Oh, die sind wirklich sehr ästhetisch, die Mädels“, hörte ich Trudi im Verkaufsraum anerkennend sagen. „Ich war schon immer der Meinung, dass Lou eine aggressivere Verkaufstaktik entwickeln müsse. Schön, dass sie jetzt auf mich hört.“

„Ich habe diese Bilder nicht online gestellt!“, rief ich wütend und öffnete meinen Internetbrowser. „Das war jemand, der meinem Geschäft offensichtlich schaden will.“

„Bist du sicher?“, rief Emily skeptisch. „Talia und ihr Tulpentanz klingt nach einem Wortwitz, den du zu schätzen wüsstest …“

Ja, natürlich würde ich das! Die Namen und Angebote waren ein Meisterwerk! Aber nur, weil der Hacker offensichtlich Humor hatte, machte mich das nicht weniger wütend. „Ich war es nicht und wenn sich herumspricht, dass ich plötzlich auch Stripperinnen anbiete, dann bin ich ruiniert!“

Meine Finger flogen über die Tastatur und innerhalb weniger Minuten hatte ich ein Foto der Schandtat gemacht und die Website eingefroren. Jetzt würde einem potenziellen Kunden angezeigt, dass wir die Seite gerade umbauten.

„Hast du Feinde, Louisa?“, überlegte Trudi und streckte den Kopf durch meine Tür.

Nun … Feinde war ein so hartes Wort. Ich hatte Leute, die wirklich nicht meine Freunde sein wollten, aber … Feinde?

Klar, da war Felicitas, der ich in der Grundschule absichtlich drei Kaugummis in die Haare geschmiert hatte. Der ein oder andere Mörder, den ich zur Strecke gebracht hatte. Meine Postbotin, die ich unglücklicherweise für einen Mann gehalten hatte. Chris, mein Ex-Freund, den Rispo lächerlich gemacht hatte. Inessa, Joshs Ex-Verlobte, der ich damit gedroht hatte, ihr ein Bügeleisen ins Gesicht zu drücken, wenn sie ihm noch einmal zu nahe kam.

Mhm. Jetzt, da ich darüber nachdachte, schien meine Liste an Nicht-Freunden relativ lang. Dabei war ich doch sonst so nett!

Schwer seufzend ließ ich mich wieder unter den Tisch fallen und krabbelte in den Verkaufsraum. „Ich werde über meine Liste an Feinden nachdenken“, murmelte ich. „Aber jetzt warte ich erst mal, bis Sonja da ist … und dann muss ich damit zur Polizei.“

„Polizei?“ Emmi machte große Augen. „Aber das sieht doch eher wie ein dummer Streich aus.“

„Ist mir egal, es schadet mir und ich will wissen, wer das war!“

„Na gut“, sagte Emily und zog eine Grimasse. „Du warst schon länger nicht auf dem Präsidium. Sie vermissen dich bestimmt schon. Ich komme mit.“

„Okay, ich auch“, sagte Trudi, bevor sie hinzufügte: „Hey, meint ihr, es ist Diebstahl, wenn ich die Blumen-Stripperinnen-Idee nehme und selbst zu einem Geschäft mache?“

Ich seufzte nur und hob hilflos die Schultern – ich würde sie ja doch nicht davon abhalten können, mitzufahren.