KAPITEL 1
Port Danby war ohnehin schon eine malerische kleine Stadt, aber unter einer Schneedecke wirkte es geradezu idyllisch. Die Läden entlang der Harbor Lane, darunter auch mein eigener, Pink’s Flowers, erinnerten mich an Torten, die mit buntem Fondant verziert und einem Klecks zuckriger weißer Schlagsahne überzogen waren. Der Stadtrat und der Bürgermeister hatten keine Kosten gescheut, um die Innenstadt mit festlichen Girlanden zu schmücken. Lange Girlanden aus täuschend echt aussehendem Tannengrün waren zwischen den Straßenlaternen aufgespannt. Große goldene und rote Glocken baumelten an den Girlanden, verliehen der Szenerie echten Feiertagszauber und ließen ab und zu ein blechern klingendes Läuten erklingen.
Tagsüber wirkte der Ort mit seinem Farbenmeer und dem geschäftigen Treiben einer Stadt, die sich auf Weihnachten vorbereitete, magisch. Doch nachts, wenn die glitzernden Lichter auf den Dächern, dem Kai und dem Leuchtturm sich im Schnee und an der Küstenlinie spiegelten, war es, als wäre Port Danby in eine vergangene Zeit versetzt worden – direkt in einen alten Weihnachtsklassiker wie Eine Weihnachtsgeschichte oder Der Nussknacker. Es schien, als würden jeden Moment die Zuckerfeen aus den Schatten auftauchen und in bonbonrosa Tutus über die Bürgersteige wirbeln. Die gesamte Szene rief ein Gefühl von Nostalgie und Freude hervor, das mit einem Hauch Romantik umhüllt war.
Die Morgensonne glitzerte auf den üppigen Häufchen aus federleichten Eiskristallen, die sich auf Markisen und Fensterbänken gesammelt hatten, während ich den Gehweg entlang zu meinem Blumenladen ging.
Ja, die Schneeflocken brachten ab und zu eisige Pfützen oder rutschige Stellen auf dem Gehweg mit sich, aber das war nichts im Vergleich zu den Unannehmlichkeiten, die Schnee in der Großstadt mit sich brachte. Ich vermisste es ganz sicher nicht, durch grauen, matschigen Schnee zu stapfen, nur um rechtzeitig einen Bus oder eine grüne Ampel zu erwischen.
Ryder, mein Assistent, lehnte sich in das vordere Erkerfenster des Ladens, als ich eintrat. Ich begann mein zehnminütiges Ausziehritual, indem ich zuerst die Handschuhe und den Schal abstreifte.
Ryder richtete sich auf, um zu sehen, wer hereingekommen war. »Ich dachte, du würdest dir den Morgen freinehmen, Boss«, sagte Ryder. Er hatte sich angewöhnt, mich Boss zu nennen, und ich stellte fest, dass es mir nichts ausmachte. Das Ganze geschah mit Humor und Respekt. Und da es das erste Mal war, dass ich Boss war, gefiel mir der Klang ziemlich gut.
»Ich habe einfach zu viel zu tun. Ich muss einige Tischdekorationen für die Feiertage bestellen.«
Ryder strich sich den langen dunklen Pony aus den Augen, was er tausendmal am Tag tat, und dennoch kam er nie auf die Idee, seine Frisur zu ändern. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Der Haarschnitt – halb edgy, halb Schuljunge – passte perfekt zu ihm. Ryder Kirkland war von durchschnittlicher Größe und Statur, aber ansonsten war nichts an ihm durchschnittlich. Er hatte gerade seinen vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, war aber schon ziemlich reif. Er war so perfekt für meine Stelle als Floristenassistent, dass es mir manchmal so vorkam, als hätte ich ihn mir nur ausgedacht und er wäre direkt der Jobbörse entsprungen.
Ryder hatte sich mit seinem verschmitzten Lächeln und den großen blauen Hundeaugen bereits bei allen anderen Ladenbesitzern beliebt gemacht. Er war höflich, klug und hatte einen großartigen Sinn für Humor. Und abgesehen davon, dass er viele Instrumente spielte, war Ryder eine wandelnde Enzyklopädie. Er wusste erstaunlich viel über die unterschiedlichsten Themen – ganz besonders über Pflanzen, dank seines Abschlusses in Gartenbau. Außerdem hatte er Bildende Kunst als Nebenfach studiert, was ihm ein unglaubliches Auge für Design und Farben verlieh. Ryder war nach dem College in seine Heimatstadt Chesterton zurückgekehrt. Er arbeitete bei Pink’s Flowers, damit er Geld sparen und um die Welt reisen konnte, um exotische Pflanzen zu studieren. Ich war begeistert und glücklich, dass mein bescheidener kleiner Laden in seine Zukunftspläne gepasst hatte.
Ryder umrundete die Arbeitsinsel und schnappte sich eine Schere. »Wo ist Kingston?« Ryder hatte zu seiner Liste perfekter Eigenschaften noch etwas hinzuzufügen: Er war auch ein großer Fan meiner Hauskrähe, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Kingston neigte dazu, immer an der Arbeitsinsel herumzuhängen, wenn Ryder Arrangements machte oder Pflanzen eintopfte. Nicht jeder war begeistert davon, dass sie von einer großen schwarzen Krähe beobachtet wurden, während sie arbeiteten, aber Ryder fand es cool.
»Es war heute Morgen zu kalt für Kingston. Ich habe die Abdeckung von seinem Käfig gezogen und statt seines üblichen Tanzes hat er seinen Schnabel wieder unter seinen Flügel gesteckt, wie ein kleines Kind, das sich die Decke wieder über den Kopf zieht. Vögel und Winter passen einfach nicht zusammen, es sei denn, der Vogel ist ein Pinguin.«
Ryder klatschte laut in die Hände. »Pinguine! Das ist es. Das ist das Farbelement, das ich für die Schaufensterdekoration brauchte.«
»Ich halte Pinguine kaum für ein Farbelement, aber du bist derjenige, der Bildende Kunst studiert hat. Und ich habe keinen Zweifel, dass die Weihnachtsschaufensterdekoration, die du kreierst, den ersten Platz gewinnen wird. Aber ich muss dich daran erinnern, dass die Beurteilung nur noch wenige Tage entfernt ist.«
Port Danby war die letzte Station der jährlichen Harbor Holiday Lights Flotilla, einer Parade weihnachtlich geschmückter Boote, die jedes Jahr die Küste entlangfuhr. Um der Veranstaltung etwas Atmosphäre zu verleihen, hatte der Stadtrat beschlossen, einen Fensterdekorationswettbewerb in Port Danby zu veranstalten. Es war mein erster Winter in meiner neuen Stadt und die schwimmende Lichtershow durfte auf keinen Fall verpasst werden. Anscheinend zog die jährliche Veranstaltung eine riesige Menschenmenge an.
Die Idee für den Wettbewerb stammte von Stadträtin und Energiebündel Yolanda Petri, in der Hoffnung, dass Port Danby durch die zusätzliche Weihnachtsdekoration aus der Masse der anderen Küstenstädte hervorstechen würde. Soweit es mich betraf tat es das bereits. Trotzdem fand ich, dass der Wettbewerb eine großartige Idee war. Vor allem, weil mein Assistent beschlossen hatte, es zu seinem Projekt zu machen, und mir so der Stress erspart blieb, mir etwas auszudenken, das großartig genug war, um mit dem entzückenden Lebkuchendorf zu konkurrieren, das meine backende Nachbarin und Freundin Elsie seit der offiziellen Ankündigung des Wettbewerbs gebaut hatte.
Ich hängte meinen Mantel und den Schal an den Haken neben den Bändern.
»Keine Sorge, Boss, ich habe alles im Griff.« Ryder bewegte nachdenklich seinen Kiefer hin und her. »Ich frage mich, ob es im Futtermittelladen in Chesterton schwarze Sonnenblumenkerne gibt. Sie sind billiger und größer als Chiasamen.«
»Schwarze Sonnenblumenkerne? Für eine Feiertagsdekoration?«
»Für die Pinguine.«
Ich griff nach unten, um die Schachtel mit Mistelzweigen hochzuheben, die ich als Werbegeschenk im Laden gekauft hatte. Ich hatte vor, kleine Bündel mit roten und blauen Bändern zusammenzubinden und sie den Kunden beim Rausgehen zu überreichen. »Klingt interessant, aber wie verhinderst du, dass ein bestimmter Vogel den aus Samen bestehenden Pinguin frisst?«
Ryders Schultern sanken herab. Es tat mir leid, seinen Enthusiasmus zu dämpfen, aber es war besser, das jetzt anzusprechen, als ihn stundenlang ein Schaufenster mit Samen gestalten zu lassen – nur damit meine Krähe es später zerlegte.
»Ich hatte Kingston ganz vergessen. Ich schätze, schwarze Sonnenblumenkerne wären zu verlockend. Lass mich darüber nachdenken.«
»Oder ich könnte Kingston für ein paar Tage zu Hause lassen«, schlug ich vor. »Ich bin mir nicht sicher, was Nevermore davon halten würde, aber ich sag mir seit Tagen, dass ich mir mein Haus langsam von meiner Katze zurückholen muss. Gestern hatte Nevermore keine Lust mehr, mir bei der Arbeit am Computer zuzusehen, und ist ohne Vorwarnung einfach auf die Tastatur gesprungen und hat sich hingesetzt. Meine Tabellenkalkulationen sahen aus wie ein Gemälde von Picasso. Ich habe ihn angeschrien, aber er hat nur mit seinen großen bernsteinfarbenen Augen zurückgestarrt und angefangen, seine Pfote zu lecken.«
Ryder schüttelte lachend den Kopf. Er begann, mir dabei zu helfen, die Mistelzweige auseinanderzuziehen. »Kommt mir bekannt vor. Meine Mutter hat alle Wohnzimmermöbel so umgestellt, dass man vom Sofa aus in den Vorgarten und in die Küche blicken kann. Sie behauptet, ihr neun Kilogramm schwerer getigerter Kater Cooper sende ihr unterschwellige Signale wegen der Platzierung der Möbel. Cooper streckt sich gerne auf der Rückenlehne der Couch aus. Jetzt kann er mit einem Auge die Vögel im Auge behalten, die auf dem Rasen spielen, und mit dem anderen Auge den Dosenöffner, das magische Werkzeug, das ihm irgendwie sein Essen verschafft.«
Ich begann, das rote und blaue Band zurechtzuschneiden, um die Zweige zusammenzubinden. »Ich bin froh, dass ich nicht die einzige Person bin, die unterschwellige Katzenbotschaften hört.« Ich ließ die Schere für einen Moment sinken. »Weißt du was, Ryder? Mach einfach mit dem weiter, was du für das Schaufenster geplant hast. Kingston kann ein paar Tage zu Hause bleiben. Es ist ihm sowieso zu kalt und die Bäume entlang der Harbor Lane sind mit Eis statt mit Blättern bedeckt. Er hat keinen guten Platz zum Sitzen. Außerdem haben die meisten kleineren Singvögel die Stadt verlassen und sind in wärmere Gefilde gezogen, sodass er niemanden mehr belästigen kann.«
Ryders übliches Lächeln wurde noch breiter. »Bist du dir sicher?«
»Ja. Mach nur.«
»Fantastisch.« Ryder hielt einen Mistelzweig hoch. »Mist auf einem Zweig«, witzelte er. »Das ist die Bedeutung des Wortes ›Mistelzweig‹. Vögel und andere Tiere hinterlassen in der Nähe Kot, da sie die Mistel gerne als Unterschlupf nutzen.«
»Davon habe ich noch nie gehört. Das trübt irgendwie den Glanz der Kusstradition.«
»Es ist nicht nur der Name. Es ist schon ein merkwürdiger Gedanke, dass eine parasitäre Pflanze wie diese dafür bekannt wurde, Küsse zu stehlen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert hat man eine Mistelart mit klebrigen weißen Beeren aufgehängt. Bei jedem Kuss rissen sie eine Beere ab. Als die Beeren weg waren, war auch die Kusskraft weg. Mir ist aufgefallen, dass einige der kahlen Eschen hinter dem Bürgermeisteramt große, korbähnliche Mistelbüsche hatten. Sie werden Hexenbesen genannt, obwohl sie kaum wie Besen aussehen. Hast du die da her?«
Ich neigte meinen Kopf zu ihm. »Diese Bäume sind neun Meter hoch. Es war viel einfacher und weniger riskant, wenn auch weniger abenteuerlich, sie von einem Lieferboten bis an die Tür bringen zu lassen.«
Ryder schob seinen Pony beiseite. »Ergibt Sinn. Außerdem hättest du ein Falkennest stören können. Ich habe gehört, dass sie zum Eierlegen gerne Mistelzweige verwenden.«
»Also war es eine Win-Win-Situation. Die Falken behalten ihre Eier und ich behalte alle meine Knochen an ihrem Platz.« Ich fegte die Überreste der Bänder auf einen Haufen. »Ich werde eine Kreidetafel aufstellen, um die Kunden wissen zu lassen, dass es zu jedem Einkauf kostenlos Mistelzweige gibt. Vielleicht kannst du oben mit etwas rosa Kreide ein schönes Lippenpaar aufmalen.«
»Kein Problem. Ich habe mich im College viel mit Lippen beschäftigt, sowohl im Kunstunterricht als auch außerhalb«, fügte er lachend hinzu. »Dann sollte ich besser mit dem Fenster anfangen. Sonst wird es leer sein, wenn der Richter vorbeikommt.«
KAPITEL 2
Die Glocke an der Tür läutete. Lola stürmte in den Laden und schwang ein Bild von irgendetwas herum. »Ich bin eindeutig kein Multitasker«, behauptete sie selbstbewusst.
Ich machte mit meiner Kreidetafelwerbung weiter, während sie auf den Hocker hinter meiner Arbeitsinsel hüpfte.
»Ich habe an meinem Computer gesessen, wo ich gerade mit einem Klebestift einen neuen Flyer für den Laden zusammenbastelte. Daneben lag ein Lippenpflegestift, denn bei dieser kalten, trockenen Luft fühlen sich meine Lippen an, als würden sie in Flammen stehen. Rate mal, welchen ich auf meine Lippen geschmiert habe?« Bevor ich lachen konnte, redete sie schon weiter. »Ich gebe dir einen Hinweis. Als ich den Laden verließ, kam Kate Yardley in einem Kaschmirpullover vorbei, und ein paar Haare sind davongeflogen und klebten an meinen Lippen fest.«
Aus dem Erkerfenster drang ein tiefes Lachen.
Lola wirbelte herum und warf Ryder einen kurzen Blick zu. »Hey, Ryder, hab dich gar nicht gesehen.«
»Morgen, Lola!«, rief er gut gelaunt zurück.
Damit endete Lolas Begrüßung. Sie drehte sich wieder zu mir um. Seit ich meinen neuen Assistenten eingestellt hatte, hatte ich etwas über meine beste Freundin Lola gelernt. Sie war ständig auf der Suche nach einer festen Beziehung und war unbestreitbar verrückt nach Männern. Solange der nicht verrückt nach ihr war. Lola hatte sich sofort in meinen neuen Assistenten verknallt, noch bevor er im Laden angefangen hatte zu arbeiten, aber in der Sekunde, in der Ryder ihr Interesse erwiderte, war Lolas Schwärmerei vorbei. Offenbar war Lola mehr an der Jagd als an der eigentlichen Beziehung interessiert. Ryder tat mir leid, weil er immer ein wenig liebeskrank wirkte, nachdem er Lola gesehen hatte. Und ich war etwas verärgert über meine Freundin, weil sie eine erstklassige Gelegenheit verstreichen ließ. Natürlich war es wahrscheinlich auch gut, dass meine beste Freundin und mein Assistent nichts miteinander anfingen. Ich würde zwischen den Stühlen sein und das war nie eine gute Position.
Ich trat zurück und bewunderte mein Schild. Es brauchte nur ein Paar Lippen, um die Aufmerksamkeit der Passanten wirklich auf sich zu ziehen. Mir war aufgefallen, dass die Fußgänger angesichts der Winterkälte, die bis in jede Ecke der Stadt vordrang, dazu neigten, mit gesenktem Gesicht und halb hinter dicken Kragen oder tiefen Kapuzen versteckt zu gehen, um der eisigen Luft zu entgehen. Es brauchte mehr Mühe, sie in den Laden zu locken. Ich war mir sicher, dass ein kostenloser Mistelzweig und das Versprechen gestohlener Küsse der perfekte Köder wären.
»Warum verschenkst du die Mistelzweige?«, fragte Lola. »Tom und Gigi verlangen unten im Corner Market einen Dollar pro Tüte.«
Mein ganzer Körper sackte vor Enttäuschung in sich zusammen. »Ach ja? Warum verkaufen sie sie überhaupt? Sie haben einen Lebensmittelmarkt.«
Ryder hörte den Themenwechsel und kletterte aus dem Fenster.
»Das ist ihr beliebtester Artikel zu dieser Jahreszeit«, sagte Lola achselzuckend. »Die Highschool-Kids kaufen die Tüten schneller auf, als Gigi das Zeug verpacken kann. Und abgesehen von den Tüten ist das alles Profit. Tom klettert in die Eschen hinter dem Büro vom Bürgermeister und schneidet die Zweige selbst ab. Allerdings gab es letztes Jahr einen Zwischenfall mit einem brütenden Habicht, sodass seine Versorgungslinie unterbrochen wurde.«
Ryder und ich wechselten amüsierte Blicke. »Na ja, dein Mistelzweig ist immerhin gratis«, bemerkte Ryder in dem Versuch, etwas Positives zu sehen.
»Ja, bei einem Kauf«, fügte ich hinzu. »Und ich will nicht, dass Gigi und Tom verärgert sind. Vielleicht sollte ich die ganze Idee verwerfen.« Ich fuhr mit der Handfläche über den Stapel der in Zellophan eingewickelten Mistelzweige. »Aber was um alles in der Welt mache ich mit all dem – wie hast du es genannt?«, fragte ich Ryder. »Mist auf einem Zweig?«
Dieser Kommentar löste bei Lola ein schallendes Gelächter aus, das sie jedoch schnell mit der Hand unterdrückte, als sie sah, dass ich wirklich in der Klemme steckte. Ryder wollte gerade einen Vorschlag machen, als Lola ihn einfach übertönte.
»Ich habe eine brillante Idee!« Sie schnappte sich das Bild, das sie in den Laden mitgenommen hatte. »Ich wollte dich bitten, mir einen viktorianischen Kusszweig für mein Schaufenster anzufertigen. Ich war im Lagerraum und habe alle alten viktorianischen Spielsachen herausgeholt und das hier gefunden.«
Sie drückte mir das Bild in die Hände und Ryder kam um mich herum, um mir über die Schulter zu schauen. Das Bild war eine Bleistiftzeichnung einer Szene in einer Taverne oder einem anderen öffentlichen Versammlungsort. Ein rundlicher Mann in knielangen Kniebundhosen, Schnallenschuhen und einem John-Bull-Zylinder klammerte sich an eine Frau, die in ein rüschenbesetztes Fichu und eine bauschige Haube gehüllt war. Seine Lippen waren zu einem Kuss gespitzt, doch die Frau schien über diese Aussicht alles andere als erfreut. Über ihnen hing eine Kugel, die mit Stechpalmenblättern, Bändern und Früchten geschmückt war. Ein Bündel Mistelzweige hing von der Basis der Kugel herab.
Ich hatte viktorianische Kusszweige oder -bälle auf Bildern gesehen, aber ich hatte definitiv nie versucht, einen solchen herzustellen. »Ich weiß nicht, Lola. Es sieht kompliziert aus.«
»Die Engländer stellen diese Zweige seit dem Mittelalter her. Im neunzehnten Jahrhundert wurden sie sehr beliebt.« Ryder nahm das Bild in die Hand, um es sich genauer anzusehen. »Alles, was wir brauchen, ist etwas Draht und das Grünzeug, um es darum zu wickeln. Ich glaube nicht, dass es zu schwer wäre. Wir könnten sogar ein paar herstellen, um sie im Laden zu verkaufen. Vielleicht fängst du hier in der Stadt sogar eine neue Tradition an.«
Bei Ryders Vorschlag nickte Lola zustimmend. Er musste sein Lächeln unterdrücken. Ich glaube, Ryder hatte das Spiel durchschaut und beschlossen, sich gegenüber Lola zurückzuhalten.
Lola hüpfte vom Hocker. »Dann sind wir uns einig. Ein Kusszweig ist das perfekte letzte Detail für mein Fenster. Nicht, dass ich gewinne. Hast du Elsies Lebkuchenstadt gesehen? Wann schläft oder isst oder lebt diese Frau? Wenn sie nicht gerade backt, rennt sie durch die Stadt, und der Schnee hat sie überhaupt nicht gebremst. Wenn ich in ihrem Alter bin, hoffe ich, dass ich nur halb so viel Energie habe wie sie. Mann, ich wünschte, ich hätte sie jetzt.« Lola unterbrach ihre Tirade über Elsie und blickte zum großen Vorderfenster. Ryder hatte es komplett geleert. »Pink, fang lieber mit der Schaufensterdekoration an. Dir läuft die Zeit davon.«
»Ich habe alles im Griff«, versprach Ryder. »Mach dich darauf gefasst, aus den Socken gehauen zu werden.«
Lola sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Wenn du meinst.« Sie bemerkte nicht, wie er bei ihrer knappen Antwort ein wenig in sich zusammensank. Manchmal wollte ich sie einfach nur ein wenig schütteln. »Nun, ich sollte zu meinem eigenen Fenster zurückkehren. Ich bin mir nicht sicher, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ich habe so viel zu tun und trotzdem verbringe ich meine Zeit damit, mottenzerfressenes Spielzeug aus dem Lagerraum zu holen. Einige der Sachen sind mit Spinnweben bedeckt, und ich hasse Spinnen.« Sie ging zur Tür. »Die Boote laufen langsam in den Hafen ein«, sagte sie, während sie die Tür öffnete. »Möchtest du später etwas zu Mittag essen und dann runtergehen, um sie anzusehen?«
»Klar«, erwiderte ich. »Sobald ich herausgefunden habe, wie man einen viktorianischen Kusszweig baut.«
KAPITEL 3
Ein grauer Nebel hing über dem Meer, doch das hielt scheinbar niemanden in der Stadt davon ab, zum Kai hinunterzugehen und den einlaufenden Booten zuzusehen. Es war Mittag, also gab es noch keine schillernden Lichtspiele, und die meisten Boote hatten ihre Dekorationen für die Fahrt von Mayfield Bay nach Port Danby bereits befestigt oder entfernt. Es war wahrscheinlich eine kluge Vorsichtsmaßnahme. Das Wasser entlang des Jachthafens sah heute Nachmittag besonders trüb und unruhig aus. Selbst die Boote, die bereits in den Liegeplätzen vertäut waren, schlugen eine Art Melodie – ihre Rümpfe trommelten rhythmisch gegen den Steg.
An eine Sache hatte ich mich nicht gewöhnt: den unpassenden Anblick des Schnees, der sich entlang eines Strandes türmte. Eisige Schneeverwehungen wirkten inmitten eines Hafens fehl am Platz, doch die weißen Kappen auf den Masten und die Buge der rostigen Fischerboote brachten mich zum Lächeln. Ein Bootsbesitzer hatte sogar einen Miniatur-Schneemann geformt, der stolz am Heck thronte. Auf dem Kopf des Schneemanns saß in einem kecken Winkel eine Kapitänsmütze und als Augen und Nase dienten Muscheln.
So kalt es draußen am Kai auch war, Lola hatte darauf bestanden, sich für den Spaziergang ein mit Schokolade überzogenes Eis zu kaufen. Sie blieb plötzlich stehen und starrte verzweifelt auf ein großes Stück Schokoladenschale, das sich gelöst hatte. »Oh Mann, ich hasse es, wenn das passiert. Die Schokolade ist der beste Teil.«
»Ich glaube, das ist ein Satz, der in fast jedem Kontext verwendet werden kann.« Ich zeigte auf die großen hölzernen Lebkuchenmänner, die Hand in Hand auf den Planken des Piers standen. »Ich habe die Reihe der Lebkuchenmännchen bisher nicht gesehen. Sie müssen neu sein.« In Vorbereitung auf die Holiday Light Flotilla, ein Ereignis, das am Samstagabend sogar Nachrichtenteams anlocken würde, hatte die Stadt beschlossen, den gesamten Jachthafen zu schmücken. Pickford Marina bestand aus einem langen Kai, an dem Fischer ihren Fang säubern und Besucher ein Fahrrad mieten oder für einen Krabbensalat anhalten konnten. Neben dem Kai verlief eine lange Reihe paralleler Docks. Die verschiedenen Liegeplätze waren mit Sportbooten aller Größen und Formen besetzt. Weiter draußen befanden sich die größeren Liegeplätze für Fischerboote und gelegentlich auch für eine vorbeikommende Jacht. Die Boote, die für die Weihnachtslichter-Flotte in die Stadt gekommen waren, lagen vor Pickford Beach vor Anker, wo wir Landratten sie vom Kai oder vom Strand aus beobachten konnten.
»Diese Lebkuchenmänner werden dort jedes Jahr aufgestellt«, sagte Lola bei einem Bissen Eis. »Ich schätze, jemand hat sich endlich die Zeit genommen, sie neu zu streichen. Sie fingen an, ein wenig schäbig auszusehen.« Sie stieß mich mit dem Ellbogen an. »Schau mal, wen Yolanda wieder einmal dazu gebracht hat, mit den Lichtern zu helfen.«
Ich blickte zum Ende des Kais hinunter, wo mein großer, charmanter und unverkennbar gutaussehender Nachbar Dash gerade einen Kranz an einen Lichtmast hängte.
»Es überrascht mich nicht besonders, dass er hilft. Dash hat mir gesagt, dies sei seine ruhigste Zeit des Jahres. Bootsreparaturen und -wartung haben im Winter offenbar keine hohe Priorität. Allerdings hat er im Frühjahr, bevor die Saison beginnt, sehr viel zu tun.«
Die Schokolade war verschwunden, also warf Lola den Rest des Eises in den Mülleimer, als wir daran vorbeigingen. »Ich schätze, er ist wie der Buchhalter, der die Steuern macht. Ich frage mich immer, was die von Mai bis Dezember machen. Natürlich würde Dash hinter einem Schreibtisch, mit einem Bleistift zwischen den Zähnen und Zahlenkolonnen vor sich, keine gute Figur machen. Obwohl ich wette, dass er in einem Anzug spektakulär aussieht.«
Dash bemerkte, wie Lola und ich am Pier entlanggingen. Er winkte. Die hohe Leiter unter ihm wackelte, aber das schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen.
»Er entdeckt dich wirklich mühelos in einer Menschenmenge«, bemerkte Lola.
Ich blickte mich um. In diesem Moment waren die einzigen anderen Menschen in der Nähe die grob geschnitzten Lebkuchenmännchen. »In dieser Menge? Das hoffe ich doch.«
»Stimmt es, dass er nach Thanksgiving wieder mit Kate Yardley zusammengekommen ist?« Lola senkte ihre Stimme, aber wieder waren nur Lebkuchenmänner da, die unser Gespräch belauschten.
»Ich schätze, ich habe dir nicht erzählt, dass …«
Lola blieb stehen und drehte sich zu mir um. Ihre Augen waren vor Erwartung eines möglichen pikanten Klatsches weit aufgerissen. »Nein, hast du nicht. Was? Und lass nichts aus.«
»Es gibt nicht viel auszulassen. Dash hat mir erzählt, dass er seine ursprünglichen Pläne für Thanksgiving abgesagt hat, weil sich sein Vater auf dem Golfplatz den Knöchel verstaucht hat. Er ist nach Hause geflogen, um seinen Eltern zu helfen.«
»Seine ursprünglichen Pläne? Du hast mir erzählt, dass Kate ihn zu einem Treffen ihrer gemeinsamen Freunde eingeladen hatte.«
»Das hat mir Kate erzählt, aber Dash ist nicht ins Detail gegangen. Ich kann nur annehmen, dass er das Dinner bei Kate gemeint hat.«
»Interessant«, schnurrte Lola, als wir unsere ziellose Reise fortsetzten. »Nicht wirklich, aber wenn’s dich über Wasser hält. Wortspiel beabsichtigt.«
In Lolas Vorstellung existierte bereits eine Beziehung zwischen Dash und mir. So attraktiv, freundlich und galant mein breitschultriger, blonder Nachbar auch war, gab es zwischen uns nichts außer gelegentlichem Flirten und mehreren Vorfällen, bei denen er mir zu Hilfe kam. Darunter auch einem, bei dem ich ihm buchstäblich in die Arme fiel.
Nur aus dem einzigen Grund, dass Lola und ich gerade keine Lust hatten, wieder an die Arbeit zu gehen, stiegen wir die Treppen am Pier hinunter und liefen über den Sand, um die Boote anzuschauen.
Yolanda Petri war so sehr damit beschäftigt, ihr Klemmbrett zu studieren, dass sie beinahe mit uns zusammengestoßen wäre, als wir den Strand betraten. Yolanda war immer beschäftigt und in Eile. Obwohl ich wusste, dass sie völlig erschöpft war, saß an ihrem kurzen, ordentlich geschnittenen Bob kein einziges Haar fehl am Platz und sie schaffte es sogar, die Bügelfalten ihrer Jeans zu behalten.
»Lacey, Lola, könnt ihr glauben, wie viele Leute am Strand sind? Eigentlich sollte vor der Lichtershow niemand kommen, aber seht euch das an.« Sie machte eine ausladende Armbewegung. »Jede Klatschtante dieser Welt scheint heute hier zu sein – und das macht es für uns, die das Ganze organisieren, nur noch schwieriger.« Als sie sich wieder zu uns umdrehte, flog das oberste Blatt Papier von ihrem Klemmbrett weg.
Ich sprang ihm über den Sand hinterher und schaffte es, mit der Spitze meines Stiefels eine Ecke zu erwischen. Ich hob es auf und warf einen Blick darauf. Oben stand ›The Merry Carolers‹ und darunter war eine Liste mit Namen abgedruckt. Der Vorname, Charlene Ruxley, erregte meine Aufmerksamkeit aus keinem anderen Grund, als dass es ein ungewöhnlicher Nachname war. Ich reichte Yolanda das Papier.
»Danke, Lacey.«
»Gerne geschehen. Also wird eine Gruppe von Weihnachtssängern Teil der Feierlichkeiten sein?«
Yolanda lächelte stolz. »Ich hatte Glück, sie zu bekommen. Sie sind zu dieser Jahreszeit sehr begehrt. Sie sind bereits angekommen. Sie haben ihre beiden Wohnmobile auf dem Campingplatz Mayfield Bay geparkt.«
Lola stupste mich am Arm an, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, aber Yolanda war noch nicht fertig damit, über die Weihnachtssänger zu reden.
»Sie werden in viktorianischen Kostümen gekleidet sein. Ich habe Bilder gesehen. Es wird so viel Spaß machen. Ich habe sogar eine Pferdekutsche gemietet, um Leute durch die Stadt zu fahren. Es wird sein, als wäre Port Danby in einen Roman von Charles Dickens zurückversetzt worden«, fuhr Yolanda begeistert fort. Doch dann verfinsterte sich ihr Gesicht ein wenig. »Aber ohne Kopfsteinpflaster, Strohdächer oder Plumpudding.«
»Oder die coolen britischen Akzente«, warf Lola wenig hilfreich ein – offensichtlich ohne zu bemerken, dass Yolandas Vision mit jedem fehlenden Element mehr in sich zusammensackte wie ein alter Luftballon.
Ich tätschelte Yolandas Arm. »Und ohne den kohlschwarzen Nebel und das saure Gesicht von Ebenezer Scrooge.« Und gerade als ich den Namen zu Ende gesagt hatte, brüllte Bürgermeister Price vom Pier herunter zu Yolanda und widerlegte damit meinen zweiten Punkt. Ebenso wie seine Polyesteranzüge spannte sich auch der Mantel des Bürgermeisters über seinem runden Bauch. Sein schiefer Schnurrbart zuckte unter seiner Knollennase, als er Yolanda bedeutete, zu ihm zu kommen. Wie immer runzelte er finster die Stirn, als er mich neben Yolanda stehen sah. Dann blickte er, ebenfalls wie immer, zum Himmel auf, um zu sehen, ob er mein störrisches Haustier dabei erwischen könnte, wie es etwas Verbotenes tat. Ich war erleichtert, dass Kingston zu Hause war.
»Oh je«, murmelte Yolanda, »was will dieser Mann jetzt?«
Ich tätschelte ihr noch einmal mitfühlend den Arm. »Du machst einen tollen Job, Yolanda. Wir lassen dich weitermachen. Lola und ich machen nur einen kurzen Spaziergang und dann gehen wir aus dem Weg.«
Lola packte meinen Arm, als ich losging. »Ich habe versucht, deine Aufmerksamkeit zu bekommen.« Sie beugte sich näher. »Hast du gesehen, wer unten am Wasser gestanden, seinen Burger gegessen und sich mit einem Bootsbesitzer unterhalten hat?«
Der Nebel wurde dichter, aber ich konnte eine vertraute Gestalt sehen, die nur wenige Meter von der Stelle entfernt stand, wo das schäumende Wasser über den Sand glitt. Detective Briggs trug einen schwarzen Hut, um seinen Kopf warm zu halten. Er trug einen dicken Mantel über seiner üblichen geschäftsmäßigen Kleidung. Er war ein Mann, der im Anzug genauso gut aussah wie im Pullover oder T-Shirt. Wir hatten viel Zeit miteinander verbracht, während wir zwei unterschiedliche Mordfälle aufklärten. Das war etwas, das ich aufregend fand, besonders, als mein hervorragender Geruchssinn bei der Suche nach Beweisen eine Rolle spielte. Und wenn ich ganz ehrlich bin, fand ich die Zusammenarbeit mit Detective Briggs außerordentlich angenehm. Natürlich war Lola, die von Romantik besessen war und über eine überbordende Fantasie verfügte, zu dem Schluss gekommen, dass unsere Freundschaft mehr zu bieten hatte als nur gelegentliche Morde aufzuklären. Ich hatte ihr viele Male versichert, dass James Briggs nur an meinem Geruchssinn, meinen dürftigen medizinischen Kenntnissen und meiner Fähigkeit, in einem Mordfall Zusammenhänge herzustellen, interessiert sei. Was für mich völlig in Ordnung war. Als ich meinen gut bezahlten Job in einer Parfümerie aufgab, hinterließ ich auch einen nichtsnutzigen Schuft als Verlobten. Jetzt war ich eine unabhängige Geschäftsfrau und genoss meine Freiheit. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war ein Mann, der mir den Kopf verdrehte.
Und fast so, als hätte er diese Gedanken gelesen, trat Detective James Briggs aus dem wolkenverhangenen Nebel und blieb nur wenige Meter vor mir stehen.
»Detective Briggs«, entfuhr es mir nach einem schnellen Luftholen.
»Miss Pinkerton.« Der Mann schien genau zu wissen, wie er lächeln musste, um mir ein stummes Seufzen zu entlocken.
Es waren einige Wochen vergangen, seit ich Detective Briggs das letzte Mal persönlich gegenübergestanden hatte, daher dauerte es eine Sekunde, bis ich den Mann hinter ihm bemerkte. Er war kein Einheimischer. Er sah aus, als wäre er etwa vierzig, hatte rauchgraue Koteletten und welliges schwarzes Haar, das unter einer dunkelblauen Kapitänsmütze mit den in Gold gestickten Worten ›Sea Gem‹ versteckt war. Ich konnte nur annehmen, dass er mit einem der kleinen Ruderboote, die auf dem Sand lagen, ans Ufer gefahren war.
Briggs zeigte in Richtung Pickford Way. »Mr. Ruxley, wenn Sie diese Straße nach Osten nehmen und links in die Harbor Lane einbiegen, sehen Sie den Corner Market auf Ihrer rechten Seite.«
»Nochmals vielen Dank, Detective Briggs.« Der Mann ging in Richtung Pickford Way.
»Dieser Mann heißt Ruxley?«, fragte ich.
»Ja, Chad Ruxley. Ihm gehört die sechs Meter lange Segelschaluppe, die direkt hinter der Boje vor Anker liegt. Warum? Kennen Sie ihn?«
Ich blickte aufs Meer hinaus und sah, dass die Worte ›Ruxley Plumbing‹ auf ein Schild gemalt waren. Elsie hatte erwähnt, dass die Bootsbesitzer normalerweise Werbung für ihre Unternehmen machten oder Anzeigen schalteten, um die Kosten für die Teilnahme an der Flottille zu decken. »Nein, ich habe den Namen nur auf der Liste der Weihnachtssänger gesehen und dachte: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, diesen ungewöhnlichen Namen zweimal am selben Tag zu hören oder zu sehen?«
Briggs nickte Lola, die verstummt war, höflich zu. Sie hielt ein paar Schritte Abstand, als wäre sie Zuschauerin und nicht Teil eines Gesprächs zu dritt. Manchmal war sie unglaublich albern.
Briggs wandte sich wieder zu mir. »Dann schätze ich, dass die Wahrscheinlichkeit, diesen Namen dreimal am selben Tag zu sehen, noch geringer ist. Da draußen gibt es noch ein anderes Boot mit demselben Namen.« Briggs zeigte auf ein Ausflugsboot, an dessen Fenster im Steuerhaus ein großer Stechpalmenkranz hing. Auf dem Schild stand T. Ruxley Plumbing.
Ich blickte verwirrt zu Briggs zurück. »Gleiche Firma? Haben sie das T auf dem ersten Boot vergessen?«
Zu dritt gingen wir zurück zu den Stufen.
»Offenbar handelt es sich um zwei Brüder, die sich vor einigen Jahren zerstritten haben. Sie haben das Unternehmen aufgespalten. Also hat der zweite Bruder seinem Firmennamen ein T hinzugefügt«, erklärte Briggs.
»Das muss verwirrend sein«, meldete sich Lola endlich zu Wort.
»Das würde ich auch sagen.« Briggs achtete darauf, nicht in die Richtung von Dash zu blicken, der an den Lichtern arbeitete, und Dash schien sich ebenso große Mühe zu geben, Blickkontakt zu vermeiden. Ich hatte noch nicht herausgefunden, was zwischen ihnen vorgefallen war, und ich hatte nicht vor, es zur Sprache zu bringen.
»Ich schätze, Sie waren beschäftigt«, sagte Briggs, als wir das Ende des Piers erreichten. Lola ging weiter.
»Weihnachtszeit. Außerdem musste ich meinen neuen Assistenten anlernen. Nicht, dass das groß nötig gewesen wäre. Ryder ist eine so große Hilfe, dass ich jetzt mehr Freizeit habe. Tatsächlich habe ich vor, mich heute noch in den Hawksworth-Mordfall zu vertiefen. Ich gehe in die Chesterton-Bibliothek, genau wie Sie vorgeschlagen haben. Das bedeutet natürlich auch, dass ich Zeit habe, Ihnen bei der Aufklärung einiger aktueller Verbrechen zu helfen. Das heißt, falls Sie Hilfe brauchen.« Ich tippte auf meine Nase. »Bridget und ich sind einsatzbereit.«
»Bridget?«
»Was halten Sie von diesem Spitznamen für meine Nase? Zu kitschig?«
Er lachte und mir wurde klar, dass ich es seit Wochen nicht mehr gehört hatte. »Es ist Ihre Nase. Ich nehme an, Sie können sie nennen, wie Sie möchten. Viel Spaß mit dem Hawksworth-Fall und lassen Sie mich wissen, was Sie herausfinden. Oh, und Miss Pinkerton, ich sage Ihnen Bescheid, falls ich Sie und Bridget für einen Fall brauche.«
»Ja, jetzt, wo ich Sie das sagen höre, denke ich, dass es zu pompös ist. Und jederzeit!«
KAPITEL 4
Ich hatte Ryder knietief in Draht und Maschendrahtgeflecht zurückgelassen. Er hatte beschlossen, die gesamte Schaufensterdekoration geheim zu halten, selbst vor mir. Allerdings erhaschte ich einen Blick auf einen 2,5-Kilo-Sack mit schwarzen Sonnenblumenkernen, sodass ich zumindest vermuten konnte, dass in der Auslage ein Pinguin sitzen würde.
Ryder hatte denselben Draht und Maschendraht verwendet, um eine kugelförmige Basis für Lolas Kusszweig zu formen. Ich wusste genau, wo entlang der Culpepper Road einige üppige Stechpalmenbüsche wuchsen, und so war der Ast für mich der perfekte Vorwand, einen Ausflug zur Chesterton Library zu machen. Nachdem ich Detective Briggs früher am Tag gesehen hatte, verspürte ich das schreckliche Verlangen, in einen Mordfall einzutauchen. Und da es in letzter Zeit keine passenden Morde gegeben hatte, musste ich in der Zeit zurückgehen zum jahrhundertealten Geheimnis der Familie Hawksworth.
Der feuchte Nebel des Morgens hatte sich größtenteils verflüchtigt, und in den letzten Stunden ihres Laufs über den Himmel versuchte die Sonne mit aller Kraft, die Luft zu erwärmen. Ich fuhr mit meinem Auto an den Straßenrand und sprang mit meinem Stechpalmen-Sammelzeug, einer Gartenschere und einer Papiertüte heraus. Die Stechpalmenbüsche waren weitläufig und wild ineinander verwachsen. Es schien, als wären sie vor vielen Jahren entlang der Culpepper Road gepflanzt und dann sich selbst überlassen worden. Sie hatten sich ziemlich gut geschlagen und sogar der jährlichen Schneedecke standgehalten.
Ich war mit dem Zuschneiden schnell fertig und füllte die Tasche mit Stechpalmenzweigen und Beeren. Die Chesterton Library würde in einer Stunde schließen und ich wollte die Zeit nutzen, um die Stapel alter Zeitungen durchzusehen, mit denen sie auf ihrer Website prahlten.
Ich stieg wieder ins Auto und tauschte meine nassen Handschuhe gegen trockene aus, bevor ich in Richtung Highway 48 und der Stadt Chesterton fuhr. Bis ich auf dem kleinen Parkplatz mit Platz für sechs Autos vor der Bibliothek eingeparkt hatte, blieben mir noch fünfundvierzig Minuten zum Stöbern.
Die Chesterton Library sah aus wie ein Haus, das man in jeder kleinen Nachbarschaft sehen würde. Es war in einem kräftigen Scheunenrot gestrichen, das perfekt mit den strahlend weißen Fensterrahmen und Fensterläden harmonierte. Die Vordertür war dunkelblau gestrichen und hatte zwei Seitenfenster. Zwischen zwei immergrünen Setzlingen stand ein Fahrradständer aus Metall. Beide jungen Bäume wurden mit Holzpfählen gestützt, damit die Meeresbrise ihre zarten Stämme nicht abbrechen konnte.
Ich ließ meinen Mantel und meine Handschuhe im Auto und entschied, dass ich den kurzen Weg zur Tür auch ohne ertragen könnte. Ich wollte nicht, dass sie mir im Weg waren, wenn ich die Stapel durchsah. An der Vorderseite der Holztheke waren verschiedene Flyer mit Werbung für alles Mögliche befestigt, von der örtlichen Weihnachtsbaumfarm bis hin zur Holiday Lights Flotilla.
Auf dem Hocker hinter dem Ausleihschalter saß ein junges Mädchen mit einem Freiwilligenabzeichen. Ihr langer, lohfarbener Pony fiel ihr über die Augen, während sie auf ihr Handy starrte. Sie war von wunderbaren Büchern umgeben, konzentrierte sich jedoch auf ihr Telefon.
Ich räusperte mich und sie hob den Kopf. »Wir schließen in dreiundvierzig Minuten.« Es schien, als ob sie die Schließzeit auf die Sekunde genau kannte. Ich konnte nur annehmen, dass ihr Berater ihr geraten hatte, die Freiwilligenstelle anzunehmen, um ihre College-Bewerbung aufzuwerten.
»Ja, ich weiß, wie spät es ist. Können Sie mir den Weg zu den alten Zeitungsstapeln zeigen?«
Sie neigte den Kopf. »Ich hätte Sie eher als Leserin von Belletristik, Thrillern oder vielleicht Liebesromanen eingeschätzt.«
»Und Sie hätten nicht unrecht. Also, wie Sie bereits erwähnt haben, sind es nur noch dreiundvierzig Minuten bis zur Schließung.«
»Zweiundvierzig, aber wer zählt schon.«
»Sie anscheinend. Die Zeitungen?«
Sie beugte sich so weit nach vorne, wie sie konnte, ohne vom Hocker zu fallen. »Durch diese Tür und nach links. Aber Sie müssen Tilly fragen, bevor Sie zu den Zeitungen gehen.«
Ihr letzter Kommentar ließ mich innehalten. »Tilly?«
»Tilly Stratton, die leitende Bibliothekarin. Sie können Sie nicht verfehlen. Sie trägt eine Weihnachtsschürze. Sie hat gerade die Geschichtenstunde im Kinderbereich beendet.«
Ich folgte den Anweisungen des Mädchens und betrat einen großen Raum, der mit hohen Bücherregalen und strategisch platzierten Tischen und Stühlen in verschiedene Bereiche unterteilt war. Überall im Raum hingen weiße, kugelförmige Pendelleuchten, die jedem Bereich seinen eigenen runden, warmen Schein verliehen. Unter einer Reihe von Postern mit verschiedenen berühmten Autoren wie Austen und Twain befand sich eine kleine Ecke mit Computern und einem Schild mit der Aufschrift ›Nur für Hausaufgaben‹. Abgesehen von zwei Highschool-Schülern, die mehr aneinander als an ihren Mathe-Hausaufgaben interessiert zu sein schienen, war der Raum leer.
Ich drehte mich um, als gerade eine Frau mittleren Alters mit topfförmigem Haarschnitt und etwas zu langen Vorderzähnen aus einem Büro kam. Eine leuchtend rote Schürze mit Rüschen und den mit grüner Seide aufgestickten Worten ›Mrs. Claus‹ auf der Vorderseite versicherte mir, dass ich die leitende Bibliothekarin gefunden hatte.
Tilly Stratton sah durch ihre runden Brillengläser zu mir auf, als ich mich dem Ausleihschalter näherte. Beim Lächeln rutschte ihre Oberlippe nach oben, wodurch ihre Vorderzähne noch größer wirkten. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, danke. Ich möchte mir die Chesterton Gazette ansehen. Soweit ich weiß, handelte es sich um eine Zeitung, die um die Jahrhundertwende in Chesterton und den umliegenden Städten im Umlauf war.«
»Das stimmt. Der Druck dieser Zeitung wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg eingestellt. Die Menschen waren nicht länger an lokalen Nachrichten interessiert. Ich schätze, der Krieg hat ihnen die Augen dafür geöffnet, dass da draußen eine viel größere Welt existiert.« Sie trat hinter einem schwingenden Tor hervor und bedeutete mir, ihr zu folgen.
»Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sind Sie von hier?«, fragte sie, als sie mich durch eine Tür und einen kurzen Flur entlang führte.
»Ich bin im Frühherbst nach Port Danby gezogen. Ich habe einen Blumenladen in der Stadt. Und nachdem ich nun gesehen habe, wie wunderbar Ihre Bibliothek ist, denke ich, dass Sie noch mehr von mir sehen werden.« Ich konnte sehen, wie sie sich stolz aufrichtete, als ich ihr ein Kompliment für ihre Bibliothek machte. Ich war schnell zu dem Schluss gekommen, dass es klug wäre, mich bei ihr einzuschmeicheln, wenn ich schon Zeit mit der Recherche im Fall Hawksworth verbringen wollte.
Wir betraten einen Raum, der dunkel war, bis sie das Licht anmachte. Er war nicht so gemütlich eingerichtet wie die Haupträume der Bibliothek und wirkte durch die Regalreihen an jeder Wand kleiner, aber in der Mitte des Raumes standen ein Tisch und Stühle. Sofort stieg mir der Geruch von trockener, abgestandener Tinte und vergilbtem, staubigem Papier in die Nase. Die Regale und der Raum wirbelten für eine Sekunde um mich herum, während ich versuchte, meine empfindliche Nase wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Tilly blieb stehen und tippte sich ans Kinn. »Lassen Sie mich raten. Sie interessieren sich für die Hawksworth-Morde.«
Meine Augen weiteten sich vor Überraschung. »Nun, ja. Woher wissen Sie das?«
Sie ging zu einem bestimmten Regal. »Die Leute kommen ständig hierher und fragen danach. Sogar Ihr Bürgermeister.« Ihre Brille wippte auf und ab auf ihrer Nase, als sie sie rümpfte. »Wie hieß er noch?«
»Bürgermeister Price.«
»Ja, das ist er. Früher kam er hierher, um in den Artikeln zu dem Fall zu stöbern, aber ich habe ihn seit mindestens einem Jahr nicht mehr gesehen.« Sie griff nach einem der Regale und zog ein Paar Latexhandschuhe aus einer Schachtel. Sie gab sie mir. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Zeitungen zersetzen sich schneller, wenn sie fettig werden. Die Daten finden Sie auf der Vorderseite der Regale. Auf dem Tisch liegen einige Zettel und Bleistifte, aber bitte schreiben Sie nicht auf die Zeitungen. Ich fürchte allerdings, dass Ihnen nicht mehr als dreißig Minuten zur Verfügung stehen. Wir schließen bald.«
»Alles klar. Dreißig Minuten. Das ist ein guter Anfang.« Ich zog die Handschuhe an. »Vielen Dank.«
Meine Zeit war begrenzt. Anstatt mich auf das Offensichtliche zu konzentrieren, nämlich die Zeitungen vom Oktober 1906, dem Monat und Jahr der Morde, beschloss ich, die Schlagzeilen auf den Titelseiten aus früheren Zeiten zu überfliegen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie wichtig die Familie Hawksworth zu dieser Zeit war.
Nachdem ich gut ein Drittel meiner kostbaren kurzen Zeit im Zeitungsraum vergeudet hatte, erhaschte ich einen Blick auf den Namen Hawksworth auf der Titelseite der Chesterton Gazette. Es war auf den 3. Februar 1901 datiert, also gut fünf Jahre vor den Morden. Das Bild, das von Anfang an etwas unscharf war, war mit der Zeit verblasst und vergilbt. Aber die Schlagzeile war eindeutig. ›Hawksworth beginnt mit dem Bau der Werft.‹
Ich trug die Zeitung zum Tisch und setzte mich, um den Artikel zu überfliegen und mir das Bild in der Überschrift und die beiden kleinen Bilder darunter genauer anzusehen. Ich setzte meine Lesebrille auf. In dem Artikel wurde erwähnt, dass der millionenschwere Geschäftsmann und Unternehmer Bertram Hawksworth nach einem dreijährigen Kampf mit lokalen und staatlichen Behörden endlich einen Termin für den Start seiner riesigen Schiffswerft gefunden habe. Die Schiffsbauanlage würde sich über drei Kilometer entlang der Küste erstrecken und direkt südlich der Schifffahrtswege von Port Danby enden. Damals war Port Danby noch ein wichtiger Anlaufpunkt für Handelsschiffe. Jahrzehnte später galt der Hafen als überholt und verlor Aufträge an die größeren, besser erreichbaren Häfen weiter südlich. Meine malerische neue Heimatstadt, ein beliebter Touristen- und Küstenort, hätte ganz anders ausgesehen, wenn sie ein Schifffahrtshafen geblieben wäre.
Ich beugte mich vor und brachte mein Gesicht näher an das Bild. Ich hatte Bertram Hawksworth auf mehreren Familienporträts gesehen, auf denen er mit versteinerter Miene posierte, um wie der typische düstere viktorianische Mann des Hauses auszusehen. Er wirkte streng und grimmig. Aber dieses Foto zeigte einen viel fröhlicheren Mann. Seine buschigen Koteletten sahen aus wie riesige, flauschige Raupen, die seine runden Wangen säumten, während er ein breites, stolzes Grinsen in die Kamera warf. Ein anderer Mann stand in der Nähe und hielt Bertrams schwarzen Mantel und Zylinder, während Hawksworth eine Schaufel in den Boden stieß. Dabei trug er sein weißes Hemd mit überschnittener Schulterpartie und hochgekrempelten Ärmeln – ein Anblick, der damals selbst für einen Mann skandalös verwegen war. In der Ferne formte sich der Ozean zu weißgekrönten Wellen. Dem Fotografen war es sogar gelungen, eine Möwe einzufangen, die über das Wasser flog. Der Steg rechts von der Stelle, an der die Männer standen, bildete noch heute eine natürliche, raue Grenze zwischen Mayfield und Port Danby. Ich war mehr als einmal an diesem Strandabschnitt gewesen, und ich konnte mich nicht erinnern, jemals eine Werft oder auch nur die Überreste von etwas so Großem und Industriellem gesehen zu haben, das groß genug zum Schiffsbau gewesen wäre.
Tilly steckte ihren Kopf in den Raum. »Ich wollte Ihnen nur zehn Minuten Vorwarnung geben. Und bitte lassen Sie einfach alle Zeitungen auf dem Tisch liegen. Ich sortiere sie lieber selbst ins Regal. Ansonsten geraten sie in Unordnung.«
»Kein Problem. Ich bin gerade fertig.«
Sie ging wieder raus.
Ich ließ meinen Blick auf das Bild unter der Schlagzeile sinken. Es war Bertram Hawksworth, wieder in Mantel, Hemd und Krawattenschal gekleidet. Er saß hinter einem aufwendig geschnitzten Mahagonischreibtisch und sah sehr wichtig und beinahe präsidial aus, während er mit einer Feder einige Dokumente unterzeichnete. Die Bildunterschrift lautete: ›Mr. Bertram Hawksworth unterzeichnet Vertragsdokumente für die Hawksworth Werft.‹
Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Meine Zeit war um. Ich hatte heute wahrlich nicht viele Informationen aufgeschnappt, aber ich würde zurückkommen, wenn ich mehr Zeit hätte. Ich stand auf und starrte auf das Bild, während ich die Handschuhe auszog.
»Er unterschreibt mit der linken Hand«, murmelte ich in einen leeren Raum. Soweit ich sehen konnte, fehlte seiner rechten Hand nichts. Sie lag einfach auf dem Schreibtisch, während er mit der linken Hand die Papiere unterschrieb. Wenn Bertram Hawksworth Linkshänder war, warum zeigte ihn das grausige Bild des Mord-Selbstmordes dann mit der Waffe in der rechten Hand?