Leseprobe Mord Life Balance | Ein unterhaltsamer Krimi an der Ostsee

Kapitel 1 – Ich habe Work, aber wo ist mein Life?

Mein Finger drückte eben die Maustaste nach unten, als Polizeihauptmeister Stefan Nowak das Großraumbüro betrat. Ich ignorierte seine Hochrisikospielmiene, die meist Überstunden bedeutete, und tat so, als wäre ich ultrabeschäftigt.

Eine Box mit einer sich drehenden Sonne erschien auf dem Bildschirm: Buchung bestätigt.

Zehn Tage am weißen Sandstrand, umrahmt von Palmen, in deren Schatten ich Cocktails aus Kokosnüssen schlürfen würde. Vor mir das türkisblaue Meer, allein von der Natur erschaffen, um auf einer Postkarte zu glänzen. Über mir Sonne, Sonne und noch mehr Sonne.

Und das Beste?

Endlich hätte ich keinen Grund mehr, das Unausweichliche hinauszuzögern. Im Paradies werde ich mich mit dem gehobenen Dienst auseinandersetzen müssen – oder präziser gesagt: Damit, wie ich ihn umschiffen konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Denn jeder schien davon auszugehen, dass ich nachts von einer bahnbrechenden Karriere bei der Polizei träumte. Wie jeder.

Zugegeben, die Gehaltsklasse war ein Ansporn – Hamburg war ein sündhaft teures Pflaster. Die Stadt kletterte jedes Jahr auf der Beliebtheitsskala nach oben, und mit ihr die Mieten.

Aber Geld allein war nicht alles.

Mit Geld konnte man sich keine Zeit kaufen.

Stefan, der garantiert nicht eine Sekunde gezögert hatte, als man ihm nahelegte, seine Karriere auf das nächste Level zu bringen, suhlte sich in der ungeteilten Aufmerksamkeit der Kollegen und Kolleginnen. Er räusperte sich.

„Ja bitte?“, fragte ich im allerfreundlichsten Ton.

Er atmete tief ein, und kurz rechnete ich damit, dass er mir eine Szene machen würde. Die Stimmung war geladen und als er sich abwandte, spannte das Hemd an seinem Rücken sichtbar.

Am anderen Ende des Büros grinste Tim bis über beide Ohren. Er liebte Dramen in jeder Variante. Theater, Kino, Büro. „Komm schon, Nowak, spann uns nicht so auf die Folter. Sonst geizt du doch auch nicht so mit Infos!“

Stefan räusperte sich erneut. Übersprungshandlung, dachte ich genüsslich und fühlte mich sogleich schlecht wegen meiner schäbigen Gedanken. Für mich wäre es die unterste Hölle, an seiner Stelle zu stehen. Unter seiner harten Schale lag Unsicherheit – und für die hatte ich vollstes Verständnis.

„Wie Sie sicherlich mitbekommen haben, wird Deutschland in diesem Jahr die Fußballeuropameisterschaft ausrichten“, sagte er mit kratziger Stimme. Erneutes Räuspern, ehe er deutlich klarer fortfuhr: „Eine der Austragungsstätten ist Hamburg. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und endlich wurden mir die Eckdaten zugetragen. Wie bereits vor Monaten angedeutet, besteht während des gesamten Turnierzeitraums eine Urlaubssperre, also von Mitte Juni bis Mitte Juli.“

Auf der Schreibtischunterlage prangten die mit Bleistift hastig notierten Flugdaten. Das durfte doch nicht wahr sein – mein Urlaub! Mir entfuhr ein Stöhnen.

„Gibt’s ein Problem?“ Stefan warf mir einen warnenden Blick über die Schulter zu.

„Nein!“ Unter keinen Umständen würde ich ihm von der Reise erzählen.

„Gut.“ Erneutes Räuspern. „Jeder verfügbare Mann, jede Frau, jede Maus muss für Sicherheit sorgen.“ Einmal in Fahrt gekommen, schreckte er nicht einmal vor einer absurden Klimax zurück. „Alle Welt guckt uns auf die Finger, und es darf nichts, ich betone, rein gar nichts schieflaufen. Die EM ist das wichtigste Ereignis des Jahres. Ich will in diesem Zeitraum weder einen Krankenschein sehen noch irgendwelche planbaren Arzttermine oder sonstigen Firlefanz. Verschieben Sie alles, was nicht das Wort Europameisterschaft im Namen trägt. Notfalls auch den Tod Ihrer Mutter! Reißen Sie sich zusammen, damit wir vortrefflich aus der Chose hervorgehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Ein „Jawohl, Sir“ hing in der Luft. Mein Blick glitt über die Kollegen und Kolleginnen, die wie ein Rudel Wackeldackel nickten. Dem soeben noch feixenden Tim leuchteten die Augen wie bei einem verknallten Teenager.

Himmel. Was stimmte mit denen nicht? War denen denn nicht klar, was das bedeutete? Dienst auf Abruf, unbezahlte Mehrarbeit, die heißesten Sommermonate auf einer Asphaltwüste in voller Montur.

War ich wirklich die einzige Person in diesem Raum, die keinen Bock auf Urlaubssperren und 24-Stunden-Dienste hatte? Die sich eine Struktur wünschte, mit der man so etwas wie ein Privatleben pflegen konnte?

In jeder anständigen Firma würde man ein halbes oder sogar ein gesamtes Jahr vorher wissen, wann die gesamte Belegschaft benötigt wurde. Nur uns, den Handlangern des Staates, die mit Vertragsunterschrift Leib und Seele verkauften, informierte man zuletzt. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass jedem Hotel, jedem Restaurant und jeder Sicherheitsfirma im Umkreis von einhundert Kilometern die Veranstaltungsdaten seit Monaten vorlagen.

Mein Blick fiel erneut auf die Buchung. Bisher war ein bereits genehmigter Urlaub ein Notfallticket in die Freiheit gewesen.

„Sehr gut“, lobte Stefan. „Das war genau die Reaktion, die ich mir von Ihnen erhofft hatte. Die WM 2006 hat Maßstäbe gesetzt, die wir halten wollen. Gleichzeitig sind die Anforderungen gewachsen. Mehr Risiken durch eine höhere Gewaltbereitschaft, Alkohol- und Drogenkonsum außerhalb der regulierten Zonen, eine instabile weltpolitische Lage, welche die Gemüter zusätzlich erhitzt. Da kommt einiges auf uns zu, doch wenn ich mich so umgucke, sehe ich Zusammenhalt und eine große Bereitschaft.“

Dann wandte er sich mir zu, und mein Magen sackte ab. „Was mich zu Ihnen führt, Frau Kettler.“ Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, wie angepisst er war – und jeder bekam es mit. „In mein Büro. Sofort!“

„Musste das sein?“ Krachend schlug ich die Tür hinter mir ins Schloss und lehnte mich mit verschränkten Armen dagegen. Das brachte uns auf maximalen Abstand, was nicht annähernd ausreichte. Aber selbst ein Fußballstadion wäre zu klein gewesen. Das flaue Gefühl war vom pochenden Puls vertrieben worden. „Mich in dein Büro zitieren, als hätte ich eine Bombe am Schreibtisch gelötet?“

Stefan schnaubte. „Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast mich vor der versammelten Mannschaft zum Affen gemacht.“ Er umrundete den gewaltigen Schreibtisch. Stefan liebte das Ding heiß und innig, weil es ihm ein Gefühl von Macht verlieh.

Nach kurzem Zögern ließ er sich auf den Drehstuhl sinken. Die Unzufriedenheit, rein physikalisch zu mir aufzusehen, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Als hätte Stefan sich selbst in meinem Ausdruck gespiegelt, beugte er sich vor und faltete die Hände auf dem Tisch, was dazu führte, dass er wie ein Abklatsch des Polizeidirektors wirkte.

„Du brauchst mich nicht, um dich lächerlich zu machen, Stefan. Seit du zum Kommissar ernannt wurdest, hast du einen Stock im Arsch. Und falls es dir selbst noch nicht aufgefallen sein sollte: Das ist ein gefundenes Fressen für Tim und die anderen Kindsköpfe. Oder glaubst du, die hätten sich beim alten Müller getraut, auch nur einen einzigen Spruch vom Stapel zu lassen? Ich weiß, wie sehr du dich bemühst, ein guter Chef zu sein“, fügte ich in deutlich milderem Tonfall hinzu. „Aber Spoileralarm: Die merken das.“

„Es wäre einfacher, wenn nicht eine gewisse Frau Polizeimeisterin meine Auftritte torpedieren würde.“

„Einfacher?“ Ich schmunzelte. „Wo ist dein Kampfgeist? Ich dachte, du stehst auf Herausforderungen.“ Jedenfalls hatte er das immer behauptet.

„Im Gegensatz zu dir hege ich gewisse Ambitionen, ja. Daran ist nichts verwerflich. Meine neue Position bringt es mit sich, dass ich dein Verhalten nicht dulden kann, Nini. Jedem anderen würde ich die Leviten lesen, aber ich trete nicht nach, da du offensichtlich immer noch verletzt bist. Stattdessen fordere ich dich höflich auf, dich künftig meiner Stellung angemessen zu verhalten.“ Er tippte eine Notiz in den Computer, während ich das soeben Gehörte verarbeitete. Ob ihm bewusst war, dass er mich bei meinem Kosenamen genannt hatte, als wären wir Freunde? „Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dieses Gespräch nicht zu führen, führt kein Weg daran vorbei. Als dein Vorgesetzter muss ich dich ausdrücklich bitten, das Private vom Beruflichen zu trennen. Komm endlich drüber weg, die Sache ist Monate her. Vorschlag: Falls dir das hilft, steigen wir aufs Siezen um.“

Es kostete mich alle Mühe, die nächsten Worte gleichgültig klingen zu lassen. „Das mag jetzt hart für dich sein, Stefan, aber es geht nicht um dich.“

„Ach, worum dann?“

Um die überfüllten Fanzonen an einem heißen Sommertag am Rande der Reeperbahn, wo das zwanglose Partyvolk nur deshalb bedenkenlos feierte, weil es Menschen gab, die im Hintergrund das Geschehen im Blick hielten. Die sich dazwischen stellten, wenn sich Betrunkene und Gewaltbereite gegenseitig die Köpfe einschlagen wollten und dabei nicht selten selbst eins auf die Nase bekamen. Menschen wie Stefan, Tim und ich.

Bali war nicht die Lösung, sondern eine dringend benötigte Auszeit, um mich zu fragen, wie zur Hölle ich für den Rest meines Lebens den Dienst am Menschen ausführen konnte, wenn ich gleichzeitig immer weniger verstand, was um mich herum geschah. Wenn die, denen wir den Arsch retteten, uns anspuckten und schlugen, weil sie gar nicht gerettet werden wollten. Weil sie Ärger machen wollten.

Bali, ein Tropfen auf dem heißen Stein.

„Ich bin das alles hier so satt.“ Ich machte eine raumgreifende Geste. „Die Überstunden, der Schichtdienst, die ganze Plackerei. Ständig werden Dienste umgeworfen. Erst gestern hast du mich aus dem Feierabend zurückgerufen, weil Christine krank geworden ist.“ Mit erhobener Hand bedeutete ich ihm, zu schweigen. „Ich weiß, dass sie nichts dafür kann und sich garantiert nicht ausgesucht hat, die Nacht über der Kloschlüssel zu verbringen, schon klar. Aber wir sind chronisch unterbesetzt, während gleichzeitig, wie du selbst vorhin gesagt hast, die Anforderungen permanent steigen. Ich bin es leid, im Dienst beleidigt oder angegriffen zu werden. Ich habe keine Lust mehr, mich von betrunkenen Halbstarken Puppe oder Süße nennen zu lassen, während sich andere in ihrem Feierabend in einem Töpferkurs neu erfinden, in einem Pilateskurs ihr Innerstes ausbalancieren oder die Zeit haben, sich über die astronomischen Preise eines Aperol Spritz in der Hafencity zu beschweren.“

Stefan musterte mich. Ein Zucken in seinem Mundwinkel verriet mir, dass ihm gefiel, was er sah. Doch wir hatten längst den Punkt überschritten, an dem er mir Komplimente machte. „Du bist nicht der Typ fürs Töpfern.“

„Darum geht es doch gar nicht!“ Wobei ich eine neue Vase brauchte. Für Blumen, die ungeachtet vor sich hinwelkten.

„Dann wechsle in die Kripo, da hast du erstens weniger mit dem Proletariat zu tun“, er nutzte seine Finger zum Zählen, „zweitens geregelte Arbeitszeiten, drittens bekommst du mehr Kohle und viertens -“

„Mehr Verantwortung, ich hab’s verstanden.“

„Aus deinem Mund klingt das wie ein Schimpfwort.“

Damit war er verdammt nah an der Wahrheit, denn wie sollte ich ein Team leiten, wenn ich selbst nicht mehr wusste, was zur Hölle ich hier eigentlich tat? Irgendwo war mir die Freude am Job abhandengekommen. Schlimmer noch: Ich hatte mich selbst verloren.

Als ich nichts erwiderte, machte Stefan ein Gesicht wie nach einem Biss in eine besonders bittere Zitrone. „Wie dem auch sei. Als dein Vorgesetzter muss ich dich bitten, dein Verhalten zu überdenken.“

Er wollte sich an Hierarchien klammern, statt sich um die Sorgen und Nöte seiner Mitarbeiter zu kümmern? Statt für die Missstände, die jeden Einzelnen in einem Team betrafen, Lösungen zu erwirken?

Dieser Stefan hatte nichts mehr mit dem Stefan zu tun, den ich mal heiß gefunden hatte.

Ich straffte die Schultern. „Als Ihre Mitarbeiterin verspreche ich Ihnen, mein Verhalten zu überdenken und mich künftig angemessen zu verhalten.“

Die Muskeln an seinem Kiefer malmten, als er mit ganzer Kraft die Zähne aufeinanderbiss. Das hätte er sich vorher überlegen sollen. Mit der Hand auf der Türklinke hielt ich inne. „Ach, und Herr Nowak?“

„Ja?“

„Nennen Sie mich nie wieder Nini. Ab sofort bin ich für Sie Frau Kettler.“

Kapitel 2 – Karma hat frei, ich muss ran

In den letzten Wochen hatte ich nicht nur mein Verhalten, sondern auch mein Leben überdacht. Wer war die Person, die mir morgens mit Augenringen im kalt-weißen Badezimmerlicht entgegenblickte? Es war leicht, mich über den Beruf zu definieren, schließlich hatte jeder ein bestimmtes Bild von einem Polizisten im Kopf. Aber wer war Neele Kettler, 34 Jahre alt, aus Hamburg unter der Uniform?

Offensichtlich jemand, der bereit war, sein Leben umzukrempeln, denn genau das hatte ich getan, und zwar von Grund auf. Und jemand, der auf den zuckrig-nussigen Duft von Marzipan stand, der sich mit der salzigen Luft des Meeres vermischte. Zum ersten Mal seit langer Zeit zogen sich meine Mundwinkel von selbst nach oben.

Mit offenem Fenster tuckerte ich auf der rechten Spur über die Autobahn, direkt an Lübeck vorbei, unaufhaltsam der Küste entgegen.

Nach dem missglückten Gespräch mit Stefan hatten Klara und ich uns mit Wein bewaffnet, um eine längst überfällige Bestandsaufnahme meines Lebens zu machen. Dabei waren meine Seelenverwandte und ich zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: Single, überteuerte Bruchbude, am Rande des Burn-outs, zu pleite, um den desillusionierenden Job hinzuschmeißen, zu ungelenkig für eine Karriere auf der Reeperbahn, zu alt für einen Sugardaddy. Alternative Jobs sprachen mich wenig an. Die meisten Ex-Cops verdienten sich ihre Brötchen als Securitymitarbeiter.

„Ich bin Polizistin“, hatte ich sie erinnert.

„Sag ich ja, Gutmensch.“ Daraufhin war eine Diskussion über die verschiedenen Charaktere bei der Polizei entfacht, über mein gutes Herz, das mir Klara wiederholt zusprach und über meinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Kurz nach unserer Unterhaltung hatte sich eine Chance aufgetan. Als Tim bestgelaunt, einen Wisch wedelnd ins Büro kam, war mir das wie ein Zeichen erschienen.

„Schon wieder so’n verzweifeltes Landei“, hatte er getönt, das Tauschgesuch eines Kollegen zerknüllt und zielsicher im Papierkorb versenkt. Später hatte ich den Zettel aus dem Müll geklaubt und keine Sekunde gezögert. Das Gespräch mit Lasse, 35, voll verknallt in ein waschechtes Hamburger Mädel, hatte keine drei Minuten gedauert.

Wir hatten einen Deal.

Stefan hatte mich für verrückt erklärt, und ich endlich gesagt, was ich dachte: „Deine Meinung interessiert mich einen Scheiß, Stefan!“

„Du machst einen gewaltigen Fehler. Wenn du einmal in dem Kaff bist – wie heißt das doch gleich? Greifsirgendwas – gibt’s kein Zurück mehr!“

„Greisdorf – ohne f. Kreis Ratekau.“

„Greisdorf?! Das klingt schon nach Seniorenteller, Rentnertreff und Kegelbahn. Als dein Freund rate ich dir: Bleib hier! Tu nichts Überstürztes, das du später bereuen wirst. Du bist ein Stadtmensch. Du brauchst Restaurants, Imbisse und Lieferdienste. Kannst du überhaupt kochen? Vermutlich gibt’s da nichts von alledem! Und als dein Vorgesetzter -“

„Brauchen Sie nur hier zu unterschreiben. Der Entschluss steht fest.“

Schlussendlich war ihm nichts übrig geblieben, als Lasses Versetzungsanfrage und damit mein Ticket in die Freiheit zu unterzeichnen.

Zurück zu Marzipan mit Meeresbrise. Ein schöner Titel für einen leichtherzigen Roman, dachte ich. Eine Frau baut ihr Leben neu auf, nachdem sie festgestellt hat, dass sich alles in die falsche Richtung entwickelt.

Mitten in die Tagträume hinein klingelte mein Handy. Das Display zeigte das Konterfei meines Bruders statt die Navigations-App. Ich nahm ab.

„Ja?“

„Schon auf dem Weg?“

„Noch knapp zehn Kilometer.“ Eine Benachrichtigung des Navis schob sich auf Hannes’ Stirn, verschwand aber, ehe ich die Anweisung lesen konnte. „Können wir später telefonieren? Ich hab keine Ahnung, wo ich langfahren muss.“

„Ich fass mich kurz, muss gleich zum Dienst und will die Sache vom Tisch haben. Gestern kreuzte unsere völlig aufgelöste Mutter bei mir auf. Sie hat mich angefleht, dir ins Gewissen zu reden. Und wenn ich angefleht sage, dann meine ich es genau so. Sie macht sie große Sorgen um dich und glaubt, dass du auf direktem Weg in eine Midlife-Crisis bist. Oder dass du vor irgendetwas davonläufst oder vor irgendwem. Du weißt, sie hat eine blühende Fantasie, die besonders farbenfroh ist, wenn wir ihr die Details unseres Privatlebens vorenthalten.“ Er seufzte. Mich beschlich das Gefühl, dass er einen unfreiwilligen Gedankenausflug zu den zahlreichen unangenehmen Gesprächen mit unserer Mutter hatte. „Wie dem auch sei. Sie ist der felsenfesten Überzeugung, dass du im Dienst etwas Traumatisches erlebt hast, vor dem du davonläufst. Ich habe mir verkniffen, ihr zu sagen, dass irgendwer die passendere Bezeichnung wäre.“

„Es geht nicht um Stefan“, erwiderte ich mit Nachdruck. „Warum glauben bloß alle, er hätte mir das Herz gebrochen?“

„Hat er nicht?“

„Nein! Wir hatten eine Affäre. Er hat sie beendet. Alles ist gut.“ Eine weitere Benachrichtigung erschien, und dieses Mal konnte ich zumindest lesen, dass ich abbiegen musste. Dann verschwand die Info. Anscheinend bemaß mein Smartphone Hannes’ Zahnpastagrinsen als wichtiger denn die Routenführung.

Von wegen künstlicher Intelligenz und so.

„Ich meld mich später!“ Ich legte auf – und Google berechnete die neue Route. „So ein verdammter Mist!“

Die Fahrt verlängerte sich wegen der verpassten Abfahrt um fünf Kilometer und elf Minuten. Die neue Strecke machte einen nördlichen Schlenker über eine Landstraße. Ich atmete tief durch, erinnerte mich an den Beschluss, den ich mit dem Zuklappen der letzten Umzugskiste getroffen hatte: Ich würde mich nicht mehr über Dinge ärgern, auf die ich keinen Einfluss hatte. Hannes’ Anruf hatte mich vom Weg abgebracht, in mehrerlei Hinsicht. Ließ sich daran etwas ändern? Nein. Konnte ich elf Minuten länger meinen Lieblingssongs lauschen? Aber sowas von.

Mit gelockertem rechten Fuß tuckerte ich weiter. Schilder wiesen auf diverse Freizeitaktivitäten am See hin.

Hamburg bestand aus Wasser, vor allem in Form von Regen und Fluten. Wenn Touristen mit mulmigem Gefühl die Wettervorhersagen checkten, Regenjacken kauften oder den Trip gar verschoben, empfingen wir Hamburger das Wasser mit stoischer Gelassenheit. Es gehörte dazu wie die alten Backsteingebäude in der HafenCity, ein kühles Astra oder die Elphie – jetzt wo sie einmal da war.

Die Vorstellung, künftig in der Nähe des Meeres und einem riesigen See zu leben, beruhigte mich, weil mir erst jetzt bewusst wurde, dass ich bei dem Tausch gar nicht auf die Lage geachtet hatte. Das Wasser würde bei mir bleiben, und das war gut so.

Dazu bekäme ich jede Menge Felder und unbebaute Flächen, soweit das Auge reichte. Bäume statt Hochhäuser, Ackerflächen statt sechsspuriger Blechlawine. Aber das Beste? Ich würde abends und an den Wochenenden Zeit haben, all das Grün und Blau um mich herum zu genießen. Im Sommer würde ich auf der Dachterrasse Gemüse in Hochbeeten anbauen, ernten und im Herbst einwecken. Ich hätte endlich Zeit, Omis Apfelkuchen mit selbst geernteten Äpfeln zu backen, denn auf dem Land gab es Bauernhöfe mit Selbstbedienung.

Allein der Gedanke an die einfachen Dinge des Lebens zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Und warum auch nicht? Das Landleben musste weder eintönig noch spießig sein. Wie alles im Leben war es das, was man daraus machte! Und genauso wie ich mir vorgenommen hatte, mich weniger zu ärgern, so hatte ich mir vorgenommen, mich auf das Positive zu fokussieren. Zeit für die Natur, Zeit für mich.

Mehr Life, weniger Work in der Balance.

Am Straßenrand erschien in großen Lettern schwarz auf Gelb: Greisdorf.

Darunter deutlich kleiner: Kreis Ratekau.

Mein Herz klopfte, als ich die von knospengrünen Bäumen flankierte Allee entlangfuhr. Ich stellte mir das Licht-und-Schatten-Spiel im Sommer vor, den sanften Wind, der durch die Baumkronen strich. Beinahe glaubte ich, das Grün zu riechen. Die Vision katapultierte meine ohnehin schon blendende Laune in ungeahnte Sphären.

Nach zwei Abbiegungen erreichte ich das umgestaltete Bauernhaus, in dessen oberer Etage ich wohnen würde.

 

Die Wohnung war mit ihren achtzig Quadratmetern und drei Zimmern plus Küche und Bad deutlich größer als meine Butze in Hamburg. Aber sie war die einzig verfügbare Wohnung auf dem Markt gewesen, abgesehen von zwei weiteren Kaufangeboten. Der Mietpreis war verglichen mit den mickrigen 45 Hamburger Quadratmetern, die ich bis heute Früh mein Zuhause geschimpft hatte, ein Witz. Unter 1000 € warm. Hier war die Welt noch in Ordnung.

Ich parkte direkt vor dem Haus. Seit ich die Ortsgrenze überquert hatte, war ich keiner Menschenseele begegnet. Dafür war mir die Werbung für ein Yoga-Studio aufgefallen, das seine ersten Gäste mit Eröffnungsrabatten lockte.

Ich klingelte bei Wilcox & Esche. Nach einigen Sekunden vernahm ich Bewegungen im Haus, dann wurde die Tür schwungvoll aufgerissen.

„Ach, Sie sind es!“, begrüßte mich eine Frau mit unordentlichem Dutt und Lappen in der Hand, nachdem sie sich nach links und rechts umgesehen hatte. Ich folgte ihrem Blick, konnte aber niemanden außer einem Huhn, das auf der Wiese pickte, ausmachen. „Die Mieterin, nehme ich an?“

Ich nickte. „Frau Esche?“

„Nadine bitte!“

„Neele.“

„Komm rein!“

Nadine führte mich in eine helle moderne Wohnküche im Landhausstil, von der aus man einen Blick auf eine umzäunte Wiese hatte, auf der zahlreiche Hochbeete mit Abdeckplanen standen. Auf der Fensterbank befanden sich Eierkartons mit Sprösslingen. Durch das geöffnete Fenster drang das Gackern von Hühnern. Grasende Schafe und zufrieden kauende Ziegen rundenden die Idylle ab.

„Tee oder Kaffee?“ Sie deutete auf eine Eckbank.

„Kaffee, danke.“ Der Lappen landete mit einem Klatschen in der Spüle. Nadine hantierte an einem Vollautomaten.

„Haben Sie, ich meine, hast du mit jemand anderem gerechnet?“, erkundigte ich mich in Plauderton. Nadine verschüttete etwas Kaffeemehl, das sie in die offene Handfläche wischte und in die Spüle krümelte.

„Nein, nein.“ Ein mageres Lächeln, das wie einstudiert wirkte, huschte über ihr Gesicht. Wie bei jemandem, der es gewohnt war so zu tun, als ob alles in bester Ordnung war, obwohl er sich am liebsten weinend im Wandschrank verkrochen hätte. Mit einem breiten herzlichen Lächeln, das ihre Gesichtszüge erhellte und die Augen erreichte, sähe sie um Jahre jünger aus. So fiel es mir schwer, ihr Alter einzuschätzen. Ich tippte darauf, dass sie ungefähr in meinem Alter war, also Mitte dreißig.

Nadine stellte ein Kännchen Milch und eine Schale mit Plätzchen auf den Tisch. „Bedien dich ruhig, die sind selbst gebacken. Du ahnst nicht, wie ich mich freue, dass du da bist. Die Wohnung stand monatelang leer und offen gesagt hatten wir damit gerechnet, dass man uns die Wohnung aus der Hand reißen würde. Schließlich sind Lübeck und Travemünde kaum einen Steinwurf entfernt. Da sollte man meinen, der Speckgürtel profitiert von dem schlechten Wohnungsmarkt in der Stadt, aber dem einen war die Anbindung dann zu weit oder die Bahn fehlte. Oder die Anzahl der Räume passte nicht, weil Arbeitszimmer oder Kinderzimmer fehlten. Wir haben sogar mit dem Gedanken gespielt, die Wohnung umzugestalten, um die Chancen zu erhöhen, da kamst du. Eine Polizistin, die hier im Ort den Lasse ersetzt. Fast zu schön, um wahr zu sein.“

„Ich bin echt“, versicherte ich, glücklich darüber, dass sich alle vor mir gegen die Wohnung entschieden hatten.

„Das sehe ich. Ach übrigens: Du sorgst für ordentlich Gerede.“

„Was reden die Leute so?“ Ich kostete einen Keks. „Fantastisch. Ich liebe Nusskekse!“

„Freut mich. Ich pack dir welche ein für später.“ Sie stand erneut auf, kramte eine Dose hervor und füllte sie bis zum Rand mit den Plätzchen. „Das Übliche. Die Leute fragen sich, wer du bist. Ob du einen Freund hast oder verheiratet bist, oder in Scheidung lebst. Die meisten tippen auf die Scheidung – da kann man sich besser das Maul drüber zerreißen. Schau mich nicht so entgeistert an. In Greisdorf sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht, da ist eine neue Polizistin das Highlight.“ Ich glaubte ihr aufs Wort. „Du bist eine Sensation. Und weißt du warum?“ Sie sprach ohne Pause weiter. „Weil es, unter uns gesagt, ein bisschen ungewöhnlich ist, in unserem Alter aufs Land zu ziehen. Die meisten Jüngeren flüchten sobald wie möglich in eine Stadt, und nur wenige kommen nach dem Studium oder dem ersten Job zurück. Meist, um eine Familie in dem Umfeld zu gründen, das sie vorher so nervtötend langweilig fanden. Menschen sind merkwürdig.“ Den letzten Satz sagte sie mehr zu sich selbst.

Vielleicht war ich der Stadt entwachsen. Den Geräuschen und Gerüchen, denen man nirgendwo entfliehen konnte, nicht einmal in einer leeren Kinovorstellung am sonnigen Samstagnachmittag. Ich fühlte mich längst nicht mehr dazugehörig und erwischte mich immer häufiger bei der Frage, ob das schon immer so gewesen war. „Vielleicht will ich ja, dass weniger los ist. Den Berufsverkehr werde ich jedenfalls nicht vermissen. Google sagt, mit dem Rad bin ich in fünf Minuten in der Dienststelle, zu Fuß in fünfzehn.“

Sie lachte. „Radfahren? So weit sind wir noch lange nicht. In Greisdorf wird Auto gefahren – mit Sprit.“ Die abfällige Betonung ließ keinen Zweifel daran, dass sie Autofahrer für Umweltsünder hielt. Nadine seufzte. „Sorry. Sei einfach vorsichtig mit dem Rad, ja? Nur in Richtung Jungdorf gibt es einen ausgebauten Fahrradweg, der am Übergang aber auch gerne mal geschnitten wird. Im letzten Jahr gab es einige Verkehrsunfälle, bei denen zum Glück niemand ernsthaft verletzt wurde oder gar ums Leben kam. Deine Kollegen werden dir da sicherlich mehr zu sagen können. Bis dahin halte es wie ich: Als Radfahrer oder Fußgänger bist du am untersten Ende der Nahrungskette und solltest im Zweifel gut springen können.“

„Danke für die Warnung, das ist in Hamburg ähnlich.“ Trotz vorhandener Fahrradwege. Der Verkehr war einfach zu viel.

Die Stadt war zu viel.

Eine Weile erzählte mir Nadine von malerischen Sonnenaufgängen, von Rehen, die in der Dämmerung scheu auf die Lichtung am Waldrand traten und von Travemünde, was ich nach Möglichkeit am Wochenende mied, weil dann wahre Menschenströme aus Lübeck an ihren Strand pilgerten. Ich mochte die feine Ironie, mit der sie ihren Mitmenschen gegenübertrat. Kritisch, genervt und doch sanft. Gerade so die richtige Dosis. Und ich konnte kaum erwarten, dass es Sommer wurde, weil sie so vom Zirpenkonzert schwärmte. Dem Inbegriff des Landlebens.

Einige Zeit später befanden wir uns bestgelaunt auf dem Weg in meine Wohnung. Bevor wir die Außentreppe erreichten, die in die obere Etage führte, bemerkte ich einen Mann, der direkt auf uns zusteuerte. Er trug ein hellblaues Hemd und akkurat frisierte Haare, die ebenso deplatziert vor den wildwuchernden Sträuchern wirkten wie das Huhn auf seinem Arm.

„Tilda ist wieder ausgebüxt. Zum dritten Mal die Woche.“ Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Huhn.

Nadine gab einen unbestimmten Ton von sich. „Soll ich sie nach hinten bringen?“

„Mach ich gleich.“ Stahlgraue Augen musterten mich neugierig durch eine randlose Brille hindurch. „Du musst die Mieterin sein. Neele Kettler, richtig? Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Benjamin.“

„Mich auch. Deine Frau wollte mir gerade die Wohnung zeigen.“

„Dann will ich euch nicht aufhalten.“ Auf halbem Weg zum Garten drehte er sich um. „Ich fahre in der Mittagspause zur Gärtnerei, direkt nebenan sind ein Super- und ein Getränkemarkt. Soll ich dich mitnehmen?“ Das Huhn gurrte.

„Gerne!“, erwiderte ich, etwas überrumpelt von der nachbarschaftlichen Hilfsbereitschaft. In der Großstadt ging es deutlich anonymer zu. Weniger Plätzchen, mehr Bitte-keine-Musik-nach-zweiundzwanzig-Uhr-Zettel unter der Tür. „Meine Sachen werden am Nachmittag vom Umzugsunternehmen angeliefert, bis dahin würde ich mir gerne einen Überblick verschaffen.“

Er schnaubte amüsiert. „Dafür reicht eine halbe Stunde! Bis später.“ Benjamin verschwand hinterm Haus, wo er Tilda auf der Wiese absetzte.

Ich folgte Nadine in die obere Etage, wo sie mir den Schlüssel aushändigte und mir die Keksdose in die Hand drückte.

Dann war ich allein.

Ich schlenderte durch die Wohnung, fuhr mit den Fingerspitzen über die wenigen vorhandenen Möbelstücke und die Küchenzeile, die sich, wie mir jetzt auffiel, als kleine Version von Nadines Landhaustraum entpuppte. Das Bett knarzte unter meinem Gewicht, als wollte es mich begrüßen, und ich riss ein Fenster auf, saugte die frische Luft ein, als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben atmen. Glückshormone gluckerten durch meine Adern und alles in mir jubelte. Als sich meine Mundwinkel in die Höhe zogen, wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Kapitel 3 – Gerüchte zum halben Preis

„Wartest du auf einen Anruf?“, erkundigte ich mich bei Benjamin, als er zum wiederholten Mal an der Ampel auf sein Smartphone starrte, das stumm in der Halterung am Armaturenbrett hing.

Mein Vermieter verzog das Gesicht. „Allerdings.“

Ich wartete zwei Herzschläge, dass er mir mehr erzählte, aber da kam nichts. „Was machst du beruflich?“

„Ich habe ein Start-up in der Fitnessbranche. Machst du Sport?“ Er warf mir einen flüchtigen Blick von der Seite zu, ehe er bei Grün anfuhr.

„Fitness und Ernährung, wow. Mir war gar nicht klar, in was für ein sportliches Haus ich mich da eingemietet habe.“ Das wäre der Moment gewesen, in dem wir unbefangen hätten quatschen können, doch Benjamin sprang nicht an, und so begann ich zu plappern. Ich erzählte von der wenigen Freizeit, dem Schichtdienst, den Überstunden, und als ich merkte, dass ich drohte ins Jammern abzurutschen, erzählte ich von meinen guten Vorsätzen. „Aber hey, ich gehe fest davon aus, dass ich ab sofort mehr Freizeit habe. Kannst du mir etwas zum Hemmelsdorfer See sagen?“

Es folgte eine mechanische Auflistung diverser Freizeitaktivitäten wie Bötchen fahren, wandern oder rudern. Im Sommer fanden Feste statt und im Winter heftete sich manchmal dünnhäutiges Eis an das Ufer, das keiner menschlichen Belastung standhielt.

Auf dem Parkplatz kontrollierte Benjamin erneut die Uhrzeit. „Sorry, ich bin etwas unter Druck. Schaffst du den Einkauf in einer halben Stunde?“

Er verschwand Richtung Gartencenter, während ich mir einen Weg durch die Blechlawine bahnte. Spottend kommentierte Ex-Chef Stefan in meinem Kopf: „Greisdorf, das klingt wie Rentnertreff.“

Tatsächlich waren vorwiegend ältere Menschen unterwegs, was an der Uhrzeit lag, weniger an den demografischen Verhältnissen, mit denen ich mich, abgesehen von dem Gespräch mit Nadine, bisher kaum befasst hatte. Ich hatte einfach weg aus Hamburg gewollt. Und das, bevor jemand auf die grandiose Idee kam, mich für eine Karriere bei der Kripo vorzuschlagen und das Ganze als die perfekte Lösung zu vermarkten, um dem verhassten Schichtdienst im noch verhassteren Streifendienst zu entrinnen. Dabei brauchte es für die Aufklärung eines Kapitalverbrechens Präzision, logisches Denken, ein Auge fürs Detail und ein sehr feines Gespür. Aber das Wichtigste, was keinesfalls fehlen durfte, war die bedingungslose Liebe für das, was man tat. Daran haperte es. Wenn man nicht wusste, wofür man sich die Nächte um die Ohren schlug, hatte man sich selbst verloren.

Mein innerer Kompass rotierte im Kreis.

Aber mein Radar lief auf Hochtouren, weshalb ich die Frau, die ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite rammte, wahrnahm. „Das ist die Neue aus Hamburg. Du weißt schon, die für den Lasse gekommen ist.“

Für einen Wimpernschlag hatte ich das Bedürfnis, das Paar zu begrüßen, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch das Gefühl war genauso schnell verflogen, wie es gekommen war, und außerdem war meine Lieblingspasta im Angebot.

Beim Pesto wurde ich abgefangen. Kurz vor dem Ziel sozusagen, denn ich hörte bereits das vertraute Piepen der Scanner an der Kasse. Die unverkennbare Melodie der Inflation und Rabatte.

Die ältere Dame stützte sich mit der Selbstverständlichkeit einer Person auf den Einkaufswagen, die sonst mit einem Rollator Marathons lief. Bevor sie ein Wort sagte, wusste ich, mit wem ich es zu tun hatte: der Klatschbase des Dorfes. Argwöhnisch spähte sie zu mir auf. Sie reichte mir gerade so bis zur Brust. Ein Schmunzeln unterdrückend, wappnete ich mich insgeheim für einen Fragenkatalog der Marke indiskret.

„Sind Sie nicht die Neue? Neele Kettler?“

„Die bin ich.“

„Schön, schön. Endlich mal eine junge, freundliche Frau, die für Recht und Ordnung sorgt!“ Mit unverhohlener Neugierde musterte sie mich vom Haaransatz bis zu den Schuhspitzen.

Ich lächelte höflich. „Ist das denn nötig?“

„Wissen Sie, früher hat es das nicht gegeben, aber in jüngster Zeit verschwinden Dinge.“

„Dinge?“

„Sachen.“

„Sie meinen Diebstähle?“

„Natürlich meine ich das.“ Sie beäugte mich. „Sie sind doch nicht etwa schwer von Begriff, oder?“ Bevor ich verneinen konnte, winkte sie ab. „Das wird wunderbar mit Ihnen, das spüre ich im Knie. Seit ich mir damals bei der Kirschernte das Bein verdreht habe, ist es ein totsicheres Radar. Wissen Sie, unser Uwe ist ein Goldschatz. Er hat immer ein offenes Ohr für jeden im Dorf. Ich war stets der Ansicht, dass er dank seines Menschengespürs hervorragende Arbeit bei der Kriminalpolizei geleistet hätte. Aber er wollte nie fort. Ist einer von denen, die sterben, wo sie geboren wurden. Nicht wie diese ganzen jungen Leute, die abhauen und ihre Familien im Stich lassen. So wie dieser Lasse. Der war immer merkwürdig. War so ein ganz Stiller, dem man alles aus der Nase ziehen musste. Kam für alle sehr überraschend, dass er weg wollte. Tja, umso besser für uns. Den Lasse braucht der Uwe ja nicht, wenn er Sie hat.“ Ihre Miene verdüsterte sich. Während mein Gehirn noch damit beschäftigt war, die neuen Informationen zu sortieren und zu bewerten, fuhr die Dame unbeirrt fort.

„Nur einmal, da war’s mir nicht mehr geheuer. Wegen dieser Diebesbande. In unserem Greisdorf! Ist das zu fassen? Die haben für mächtig Unruhe gesorgt, aber bevor die feinen Pinkel von der Kripo aus Lübeck andüsten, hat unser Uwe einen der Langfinger erwischt. Der hat die anderen dann verpfiffen. Wenn Sie mich fragen, liebe Frau Kettler, dann war das ein ganz illoyaler Mensch. Jedenfalls schätzt Uwe frischen Minztee, besonders den aus meinem Garten. Den habe ich bei der Rieke gekauft, so ein ganz mickriges Pflänzchen, kaum fünf Blätter dran damals. Aber mit etwas Liebe hat er sich zu einem riesigen Busch gemausert. Der Uwe staunt jedes Mal, denn wissen Sie, wann immer es seine Zeit erlaubt, kommt er auf ein Tässchen vorbei. Ich baue seit Jahrzehnten verschiedene Sorten im Garten an und trockne die Blätter im Sommer, sodass ich ihn auch im Winter genießen kann. Begleiten Sie ihn doch gerne beim nächsten Mal, liebe Frau Kettler.“

„Vielen Dank, Frau …“

„Niermann. Angelika Niermann.“

„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“

Angelika Niermanns hellblaue Augen leuchteten voller Vorfreude.

„Neele!“ Benjamin bahnte sich einen Weg durch den Ausgang an den Kassen vorbei. „Wo bleibst du denn? Ich muss zurück!“

„Soso. Guten Tag, Herr Wilcox“, grüßte Angelika Niermann meinen Vermieter in nasalem Tonfall und düsterem Blick. Bei der krummen Aussprache von Benjamins Nachnamen stellten sich mir die Härchen an den Armen auf. Das Wil klang nach dem berühmten letzten Willen und Cox dehnte sie wie bei dem Wort Koks in die Länge.

„Frau Niermann.“ Benjamin nickte ihr knapp zu, bevor er sich mir erneut zuwandte. „Ich habe in zehn Minuten eine Besprechung. Wir müssen los!“

„Oh, entschuldige!“ Der Einkaufsbummel hatte mich sämtliche Zeit vergessen lassen. „Ich fürchte, wir müssen den Plausch ein anderes Mal fortsetzen.“

Ich schenkte der Dame ein Lächeln, das mir aus dem Gesicht fiel, als diese erwiderte: „Die Einladung zum Tee nehme ich zurück.“

Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand erstaunlich flink für ihr Alter zwischen den Drogerieartikeln und der Babynahrung.

Benjamin schüttelte den Kopf. „Vergiss die Alte. Die hat nicht mehr alle Latten am Zaun.“

Auf mich hatte Klatschtante Angelika einen gesprächigen, leicht schrulligen Eindruck gemacht. Vor allem aber fand ich ihre Sicht auf Greisdorf interessant – und teils befremdlich. Ich hatte Lasse als offenen freundlichen Mann wahrgenommen, der für die Liebe seine Zelte abgebrochen hatte. Was genau das Problem für Angelika war: Leute, die Greisdorf entsagten. Ein anderes Leben bevorzugten, als das, welches sie gewählt hatte. Falls sie es gewählt hatte. Vermutlich war sie hier aufgewachsen, hatte früh geheiratet, Kinder bekommen, nie eine Wahl gehabt. Sie kannte jeden Bewohner, jedes Haus und jeden Stein beim Namen. Weil das ihr Leben war.

Ich setzte den Einkaufswagen in Bewegung, während Benjamin in langen Schritten zum Ausgang eilte. Auf halbem Weg hielt er inne, um einen Mann zu grüßen. Er stellte die Tüten mit den Einkäufen ab und begrüßte Benjamin mit einem kameradschaftlichen Handschlag. Ich löste meinen Blick von den beiden und passierte den Gang, in den sich Angelika geflüchtet hatte. Sie tuschelte angeregt mit mir zugewandtem Rücken mit einer anderen Frau ihres Alters, die bei der Bewegung am Korridorende aufschaute, mich entdeckte und sofort verstummte.

Rasch steuerte ich auf die Kasse zu und schmiss die Lebensmittel auf das Warenband. Was auch immer zwischen ihr und Benjamin vorgefallen war, ihr Verhalten war kindisch. Sowohl ihm, als auch mir gegenüber.

Was schade war, denn die Idee einer Teestunde auf Kosten der Arbeitszeit war äußerst verlockend. Wenn das nicht der Inbegriff von Entschleunigung war, müsste ich das Wort neu definieren. Nach der enttäuschenden Ausladung keimte nun Hoffnung in mir auf. Vielleicht könnte mein neuer Kollege und Vorgesetzter, Uwe Nielsen, ein gutes Wort für mich einlegen. Denn in einem war ich mir ganz sicher: Angelikas plötzlicher Stimmungswandel hatte mit Benjamin zu tun. Wenn ich recht überlegte, hielt ich es für sehr wahrscheinlich, dass die gerissene alte Dame Benjamins Nachnamen absichtlich abgewandelt hatte – und das war mir grundsympathisch. Ich mochte Menschen mit einem wachen Verstand, die um kein Wortspiel verlegen waren und den Schalk im Nacken hatten.

„Was gibt’s denn da zu Schmunzeln?“, erkundigte sich Benjamin, als ich mit meinen Einkäufen auf ihn zueilte. Rasch verstaute er sein Smartphone in der Hosentasche, auf dem er zuvor herumgehämmert hatte.

„Ach, nichts“, antwortete ich. „Ich dachte nur gerade, dass man sich auch im hohen Alter albern verhalten kann.“

„Die Niermann?“

Ich nickte, während wir bereits zum Auto gingen. „Was hast du ihr getan?“

„Gute Frage. Ich glaub meine Nase passt ihr nicht. Oder ich lästere zu wenig.“ Er lachte, sah aber auf seine Armbahnuhr und seufzte. „Du entschuldigst mich kurz? Ich schaffe es nicht rechtzeitig zum Meeting nach Hause und muss das eben verlegen. Du kannst dich schon ins Auto setzen, wenn du möchtest.“

Stattdessen entschied ich mich, die Leute zu beobachten.

 

Auf dem Nachhauseweg hing ich meinen Gedanken nach und verarbeitete die Eindrücke des ersten Tages. Ich beschloss, die Begegnung im Supermarkt zunächst ad acta zu legen, und baute darauf, dass Angelika Niermanns und Uwe Nielsens Freundschaft über der Antipathie, die sie Benjamin gegenüber hegte, erhaben war. Dann würde ich halt später statt früher in den Genuss des fruchtigen Minztees kommen, der garantiert mit brühwarmem Dorfklatsch serviert wurde.