Eins
Vom Rücksitz des Taxis lehnte sich Samantha Hawke näher zum Fahrer.
»Mister, können Sie etwas schneller fahren?«
»Ich fahre so schnell ich kann, Lady.«
Frustration sammelte sich in ihrer Brust und zu allem Ärger spürte sie, wie sich Schweiß in den Achseln ihres Zweiteilers, einem Leinenkostüm, bildete. Sie nahm den Strohhut ab und fächerte sich damit Luft zu, wütend, dass sie nicht nur in diesem sich langsam bewegenden Ofen auf vier Rädern vor sich hin schmorte, sondern dass Johnny Milwaukee vor ihr am Tatort eintreffen würde. Dabei hatte sie den Tipp zuerst erhalten.
Was für eine Frechheit dieses Mannes, der sich geweigert hatte, sie in seinem schicken Cabriolet mitzunehmen. Er würde wieder die Schlagzeile bekommen. Wie sollte sie ihrem Chef beweisen, dass sie eine genauso gute Reporterin war wie die Männer, wenn sie sich auf jegliche Art der öffentlichen Beförderung verlassen musste, während die Männer ihre eigenen Wagen fuhren?
»Endlich!«, murmelte sie leise, als das Taxi die Westseite des Custom House in der India Street erreichte. Sie schob sich eine feuchte Strähne ihres honigblonden Haares aus dem Gesicht und setzte den Hut wieder auf. Dann bezahlte sie den Taxifahrer, stieg mit der Aktentasche und ihrer Kodak Boxkamera, die ihr über der Schulter hing, aus.
Ihr Status als Journalistin bei der Zeitung schützte sie nicht vor der Welle finsterer Blicke, die ihr folgten, selbst als die Passanten aus dem Weg gingen. Sie konnte den oberen Teil von Johnnys Kopf ausmachen, der den Filzhut flott leicht seitlich trug – etwas rebellisch für den Mann, auf dessen Kopf er sich befand. Max Owen, schlaksig gebaut und von Natur aus ruhig, war bei ihm, schoss mit einer modernen Ensigna Cameo Kamera Bilder. Samantha beneidete ihn für die schmale, rechteckige, mit Leder ummantelte Holzbox, die, wenn man sie öffnete, eine Balgenkamera mit einer Linsenanordnung zum Vorschein brachte. Die Linsen waren weit besserer Qualität als die ihrer Boxkamera und hatten klassischere Fokussierungseigenschaften.
Er und Johnny waren ein professionelles Team und sie zu beobachten, brachte Samantha dazu, sich ungenügend zu fühlen.
Was nicht stimmte. Immerhin hatte sie den letzten heißen Fall gelöst, über den sie berichtet hatte, oder etwa nicht? Sie durfte sich nicht weiter von den Männern um sie herum einschüchtern lassen, besonders nicht von den irgendwie attraktiven und besonders arroganten wie Johnny Milwaukee.
Er grinste, als er sie sah.
»Hey, Püppchen. Du hast es her geschafft.«
»Nicht dank dir!«
Die Menge war sehr groß, weitaus größer als die übliche Anzahl an Gaffern, und Samantha wurde an Johnnys Rücken gedrängt.
Sie schrie den unglücklichen Schuldigen hinter sich an. »Hey!« An Johnny gewandt fügte sie hinzu: »Was ist hier los? Warum sind so viele Leute auf der Straße?«
Johnny neigte den Kopf und starrte auf eine überhebliche Art auf Samantha hinunter, die sie wahnsinnig machte. Sie biss sich auf die Zunge, um die spitze Bemerkung zurückzuhalten, die in ihr aufstieg. Ihre Geduld zahlte sich aus.
»Der Feueralarm im Custom House wurde ausgelöst«, meinte Johnny. »Vor einer Minute wurde die Sirene abgestellt, gerade bevor du endlich aufgetaucht bist.« Den letzten Satz sagte er mit einem frechen Grinsen. Er war der Grund, weshalb sie zu spät war. Als er wegsah, rammte sie ihn mit dem Ellbogen.
»Au!«
Meisterhaft lieferte Samantha ihre falsche Entschuldigung. »Oh, tut mir leid. Die Menge …« Sie konnte die Leiche nicht sehen, ein Springer, der laut ihrem Kontakt aus dem siebten Stock auf der Westseite des Costum House Towers gestürzt war. Die Polizei hatte das Gebiet abgesperrt, hielt die Angestellten des Custom House zurück, ebenso wie die Neugierigen und Reporter. Die Boston Daily Record war nicht die einzige Zeitung vor Ort.
Samantha entdeckte den stämmigen Detective Cluney, der Befehle an seine Untergebenen weitergab – einer davon war Officer Tom Bell. Er war ihr Kontakt auf der Wache, ein relativ neues Arrangement, und sie versuchte, seinen Blick abzufangen. Vielleicht könnte sie etwas an seinem Gesichtsausdruck erkennen oder zumindest ihre Dankbarkeit ausdrücken, indem sie ihm zunickte, aber er drehte sich nicht um.
»Das ist schade, Süße«, meinte Johnny.
Samatha stellte sich auf Zehenspitzen, konnte aber dennoch nicht an den größeren Personen vor ihr vorbeisehen. Johnny hatte den Größenvorteil sowie die Tatsache, dass er männlich, Single und sozial versiert war. Sie würde ihn hassen, wenn er nicht so charmant und zugegebenermaßen auch nützlich wäre.
»Soll ich dich huckepack nehmen?«
»Sehr witzig, Jonny!« Selbst Samantha würde ihre Würde nicht riskieren, indem sie so etwas in der Öffentlichkeit tat, der wadenlange Bleistiftrock ihres Kostüms würde es außerdem nicht erlauben.
»Sag mir zumindest, was du siehst.«
»Einen Fleck.«
»Einen Fleck?«
»Ja, einen Fleck.«
Samantha schnaubte. Johnny hatte die Angewohnheit, sehr vage zu sein, wenn er es darauf anlegte.
»Mann oder Frau.«
»Ich schätze mal eine Frau. Wegen des Rocks.«
Die Menge lüftete sich, ließ die städtische Assistenzärztin des Gerichtsmediziners und Samanthas neue Freundin hindurch. Sie rief ihr zu: »Haley! Ähm, Dr. Higgins!«
Haley drehte sich bei Samanthas Stimme um und stoppte, was Samantha die Möglichkeit verschaffte, sich neben sie zu drängen, bevor sich die Menge wieder hinter ihr schloss.
»Hallo, Samantha«, grüßte Haley. »Es scheint ja schnell die Runde zu machen.«
»Tatsächlich bin ich überrascht, dass ich vor dir hier war. Mein Taxi war so langsame wie ein Ochse.«
»Ich bin in der Regel spät an einem Tatort«, erklärte Haley und blies sich eine lose, dunkle Locke aus den Augen. »Da ich erst gerufen werde, nachdem die Polizei angekommen ist und den Schaden eingeschätzt hat.«
»Schickt Dr. Guthrie immer dich?«, erkundigte sich Samantha.
Haley schnaubte leise. »Dr. Guthrie bevorzugt es, in der Pathologie zu bleiben, Tee zu trinken und Kreuzworträtsel zu lösen.«
Sie erreichten das Absperrband und ein Polizist hob es für Haley an. Der Officer ließ es fallen, bevor Samantha darunter hindurchschlüpfen konnte. »Entschuldigen Sie, Ma’am, ab hier nur Polizei.«
Samantha zuckte die Schultern. Sie hatte nicht erwartet, hineingelassen zu werden, sie wollte nur näher dran sein. Und das war sie nun.
Sie keuchte, als sie die grauenvolle Szene vor sich wahrnahm. Die Leiche war ein Fleck.
Übelkeit bahnte sich den Weg ihre Kehle hinauf, und ihr Mageninhalt schoss nach oben. Trotz der Junihitze war ihr kalt und klamm zumute.
O nein, musste sie sich etwa übergeben? Nein! Das würde sie nicht durchstehen. Johnny würde es sehen. Sie schloss die Augen, stemmte sich auf die Knie und konzentrierte sich darauf, tief einzuatmen.
»Alles in Ordnung, Püppchen?«
Verflucht! Johnny Milwaukee war die Art von Mann, die nie da war, wenn man sie brauchte, aber immer dann, wenn man sie nicht haben wollte!
Sie spie ihm entgegen: »Es geht mir gut.«
»Bist du dir sicher? So siehst du nämlich nicht gerade aus.«
Samantha richtete sich auf, strich ihren Rock glatt und richtete die Träger ihrer Aktentasche und Kamera.
»Mir geht es gut. Wo ist dein Lakai?« Samantha suchte nach Max und sah, wie er stumm starrte. Verlegenheit flackerte in seinen Augen und sie wusste, dass er sie gehört hatte.
»Tut mir leid, Max. Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin einfach nur sauer auf Johnny und, na ja, es tut mir leid.«
Ein kleines Lächeln formte sich in Max’ Gesicht und Samantha wusste, dass der mild gesinnte Mann ihr vergeben hatte.
Das Gedrängel der Menge war ein gewöhnliches Vorkommnis an einem Tatort, daher hatte Samantha auch keine Höflichkeit erwartet, wenn es darum ging, geschubst und gedrängt zu werden, aber sie war freudig überrascht, als sie den Eigentümer einer Stimme mit britischem Akzent sagen hörte: »Bitte verzeihen Sie, Madame.«
Schick gekleidet, trug der Mann einen flotten Sommeranzug, ein weißes Hemd mit einer ordentlich gebundenen schwarzen Krawatte und auf seinen sauber gestylten Haaren (Johnny könnte sich eine Scheibe von diesem Herrn abschneiden) saß ein Strohhut und zwar gerade.
Samantha richtete sich unbewusst die Haare und glättete den Rock. »Oh, das ist schon in Ordnung.« Der Mann war attraktiv und charmant. Weshalb musste sie gerade jetzt so aussehen, als würde ihr gleich das Abendessen hochkommen?
»Das ist so traurig«, meinte er und blickte wieder zum Tatort. »Mir wurde gesagt, dass sie in ihrem Beruf recht gut war.«
»Kannten Sie sie?«
»Nur vom Vorbeigehen, aber ich muss wirklich wieder zurück. Trotz dieser Tragödie habe ich Arbeit zu erledigen.«
»Sie arbeiten im Custom House?«
»Ja.«
»Wie heißen Sie?«
Die blauen Augen des Mannes funkelten. »Wenn Sie mir Ihren Namen verraten, dann verrate ich Ihnen meinen.«
Sie spürte, wie sich ihre Mundwinkel als Antwort hoben. »Ich heiße Samantha Hawke und bin Reporterin bei der Boston Daily Record.« Sie reichte ihm die spitzenbehandschuhte Hand und er nahm sie. »Richard Wentworth. Ich hoffe, wir treffen uns bald wieder, Miss Hawke.«
Bevor Samantha eine berufliche Frage stellen konnte, verschwand Mr. Wentworth in der Menge. Sie schloss den Mund auf den offensichtlichen Flirtversuch des Fremden hin und wies sich zurecht. Sie war bei der Arbeit! Konzentration!
Samantha schob die Gedanken an den attraktiven Mann beiseite und bereitete ihre Boxkamera vor, dann schoss sie ein paar Bilder vom Tatort, bis die Hälfte ihres Films aufgebraucht war. Als dies erledigt war, zog sie Notizblock und Bleistift hervor.
»Kennen Sie den Namen der Verstorbenen?«, fragte Samantha niemand Bestimmtes. Es war selten, dass die Polizei antwortete, wenn die Presse ihnen Fragen zurief, aber es gab ihr etwas zu tun und manchmal hatte man Glück.
»Ist sie gesprungen? Oder wurde sie gestoßen?«
Johnny begann ebenfalls. »Kommen Sie, Detective Cluney, werfen Sie uns ein paar Brotkrumen zu!«
Zwei
Haley hatte bereits viele Springer gesehen, besonders während der großen Panik Ende 1929, selten war die Leiche weiblich. Der zweiunddreißigstöckige Custom House Tower hatte eine Aussichtsplattform im sechsundzwanzigsten Stock, aber diese war durch einen schmiedeeisernen Zaun abgetrennt, was Unfälle und absichtliche Sprünge verhindern sollte.
Officer Bell und ein paar andere Polizeibeamte, die Haley erkannte, waren vor Ort. Auch Officer Jack Thompson, einer der Tatortfotografen der Wache. Sie und Jack hatten sich kurz nach ihrer Rückkehr nach Boston 1924 kennengelernt, als sie eine neue Praktikantin im Krankenhaus und er ein großer, schroffer Rookie bei der Streifenpolizei war. Sie waren ein paar Monate lang ausgegangen, bevor sie es beendet hatten. Sie hatten sich beide zu sehr ihrem Job verschrieben, um genug Zeit zu finden, die Beziehung am Laufen zu halten. Jedoch blieben sie Freunde und Haley würde Jack immer für seine Unterstützung dankbar sein, als sie diese in der Anfangszeit nach dem Mord ihres Bruders Joseph und ihrer vergeblichen Mühe, den Mörder zu finden, brauchte.
Haley war etwas überrascht, Detective Emmet Cluney, den leitenden Mordermittler, am Tatort zu sehen, obwohl alle Toten erst einmal misstrauisch behandelt wurden, bis anders entschieden wurde. Der bullige Mann keifte Befehle. »Officer Bell, sorgen Sie dafür, dass diese Geier hinter der Absperrung bleiben. Finch, holen Sie eine Decke oder etwas, um die Leiche zu verbergen.« Er hielt inne, als er sie sah, und fügte heiser hinzu: »Dr. Higgins.«
Haley nicke Detective Cluney zu. »Guten Morgen, Detective. Ich nehme an, dass sie hier gearbeitet hat?«
»Mrs. Olivia Gray, achtunddreißig Jahre, kartierte exportierte Fracht. Ist seit 1922 im Custom House angestellt. Ihr Manager war so zufrieden mit ihrer Arbeit, dass er sich einverstanden erklärte, sie zu behalten, obwohl sie währenddessen heiratete.«
Haley bückte sich, um den Leichnam zu untersuchen. Es war kein hübscher Anblick, wie die Gliedmaßen in unnatürlichem Winkel aufgeschlagen waren, sich das Blut um den Kopf und all die sichtbaren offenen Verletzungen sammelte. Eine oberflächliche Prüfung zeigte keine alten Verletzungen, aber an den Händen konnte man frische Abdrücke ausmachen.
Detective Cluney zog ein Taschentuch heraus, öffnete es, um eine halb gerauchte Zigarre zu offenbaren und sich diese, bevor er sie anzündete, zwischen die Lippen zu schieben. Nachdem er eine Rauchwolke ausgestoßen hatte, sagte er: »Wir wurden erst wegen eines ausgelösten Feueralarms gerufen. Eine Masse an Leuten strömte heraus und so wurde die Leiche gefunden.«
»Also sprang sie, bevor der Alarm ausgelöst wurde?«
»Vielleicht betätigte sie ihn selbst«, meinte Detective Cluney, »um für Ablenkung zu sorgen? Hat dafür gesorgt, dass sich das Büro leerte, damit sie allein war? Wer weiß? Der Fire Marshal lässt seine Leute gerade das Gebäude prüfen.«
Haley sah das Feuerwehrauto nicht, aber es könnte sein, dass sie auf der anderen Seite des Gebäudes parkten.
Sie starrte gen Himmel und meinte: »Wissen Sie, aus welchem Stock sie fiel?«
Die meisten Fenster weiter oben standen offen, ein normaler Anblick in der Sommerhitze.
»Ein Mr. Edward Tapper meldete sich und hat das Opfer identifiziert. Meinte, dass er sich ein Büro im siebten Stock mit ihr teilte. Er sah nicht, wie sie ging, als der Alarm ausgelöst wurde.«
»Sagte er etwas über ihren Gemütszustand?«, fragte Haley.
Detective Cluney schüttelte den Kopf. »Er war selbst ziemlich mitgenommen. Also, was denke Sie? Eine Springerin? Oder Mord?«
Haley erhob sich und strich ihre weite Baumwollhose glatt. »Schwer zu sagen. Auf den ersten Blick lässt sich nichts erkennen. Ich werde es mir im Labor genauer ansehen.«
Detective Cluney schaukelte auf den Fußballen zurück. »Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie gesprungen ist. Mehr Frauen als man glauben möchte gehen heutzutage an der derzeitigen Wirtschaftslage und großen Wirtschaftskrise zugrunde.«
Leider konnte Haley nichts dagegen sagen.
Der Rettungswagen kam – ein weiß-verwaschener Ford Kasten-Van. Die Tote wurde in einen Leichensack gepackt, von zwei starken Rettungsdienstlern auf eine Trage gehoben und davon gerollt. Haley runzelte die Stirn, als von der Menge der Journalisten ein Blitzlicht aufleuchtete. Sie war kein Fan von Kriminalreportern, besonders nachdem sie selbst das flegelhafte Verhalten schon zu spüren bekommen hatte. Sie hatten sie schrecklich verfolgt, nachdem ihr Bruder Joseph ermordet worden war. Aber das war sieben Jahre her. Vielleicht waren sie seit damals ja feinfühliger geworden.
Samantha Hawke gab ihr Hoffnung. Wie Haley war auch sie eine Frau, die versuchte, es in der Welt der Männer zu schaffen. Wie der Zufall so wollte, hatten sie den letzten Fall zusammen gelöst. Haley vertraute ihr.
Haley beobachtete Samantha, die mit ihrer minderwertigen Boxkamera kämpfte. Sie musste es ihrer neuen Freundin wirklich anrechnen, dass sie es versuchte. Leider glaubte Haley nicht, dass es hier wirklich eine große Story gab.
»Olivia!«
Die Stimme eines Mannes erklang über der schwindenden Menge. »Olivia!«
Er stoppte, als er Haley erreichte, und starrte auf die Blutpfütze auf dem Gehweg. Mit feuchten Augen hob er den Blick. »War das … meine Frau?«
»Sind Sie Mr. Gray?«, fragte Haley.
Er nickte langsam; das Gesicht verzweifelt angespannt. »Es tut mir leid, Sir«, sagte Haley. »Sie ist tot.«
Die Leiche von Mrs. Olivia Gray lag auf dem Zementtisch unter dem hellen Licht mitten in der Pathologie. Haley hatte automatisch die Autopsie vorbereitet. Sie trug einen Laborkittel, hatte frisch gewaschene Hände und hielt ein scharfes Skalpell fest, bereit den Y-Einschnitt vorzunehmen.
»Warten Sie!« Die Tenorstimme eines alternden Engländers hielt sie abrupt auf. Dr. Peter Guthrie, der Chefarzt der Bostoner Pathologie, hob die langen, knochigen Finger. »Das Büro des Bürgermeisters hat gerade angerufen. Sie wollten uns daran erinnern, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden und das Geld knapp ist.« Haley zog eine dunkle Augenbraue hoch. Ihr Chef stand in der Tür zu seinem Büro, leicht eingesunken, wie es alte Männer häufig sind. Seine weißen Haare standen in rebellischer Aufmüpfigkeit ab, resistent gegen jegliches Haaröl, welches er auch immer morgens benutzte. Seinen zerknitterten Sommeranzug hatte er aus England mitgebracht und ihn mit einer schiefen Fliege abgerundet. Manchmal war es offensichtlich, wenn man mit Witwern sprach, welche Aufgaben früher der Frau zugefallen waren – wie dafür zu sorgen, dass gewisse Pflegemaßnahmen eingehalten wurden. Haley war versucht, sich eine Pinzette zu schnappen und sich an den verlaufenen Augenbrauen des Mannes zu schaffen zu machen.
Sie legte den Kopf schief. »Wollen Sie damit sagen, dass ich nicht mit der Autopsie fortfahren soll?«
»Das hat der Bürgermeister so nicht gesagt«, antwortete Dr. Guthrie mit einem knochigen Schulterzucken, »aber ziemlich sicher war das die versteckte Botschaft.«
»Aber wir müssen die Todesursache bestätigen«, meinte Haley.
»Ihr lieber Herr Detective hat es als Selbstmord abgestempelt.«
»Ja, aber wir können nicht sicher sein. Abgesehen davon könnte uns eine Autopsie Aufschluss darüber geben, weshalb sie gesprungen ist.«
»Ich glaube nicht, dass dies den Bürgermeister kümmert«, grummelte Dr. Guthrie. »Was auch immer die Gründe waren, sie zu kennen, wird sie nicht zurückbringen.«
Haley grunzte. Heutzutage hinderten sie die Anweisungen des Bürgermeisters immer öfter daran, ihren Job zu erledigen. Professionell zu sein, bedeutete, gründlich zu sein. Fragen unbeantwortet zu lassen, störte sie.
»Es tut mir leid«, murmelte sie und zog das Tuch über den Kopf der Leiche.
Nachdem sie sich erneut die Hände gewaschen hatte, kehrte Haley an ihren Schreibtisch in der Ecke nahe der Tür zurück, die zum Rest des Krankenhauses führte. Die Pathologie war gut beleuchtet und weiß gestrichen, um ihre Lage im Keller auszugleichen. Da sie Teil der Bostoner Vorzeigeklinik war, musste sie ordentlich mit der neusten forensischen Ausstattung versorgt sein und den Gegenständen, die für Tests und Forschung benötigt wurden. Zumindest war dies bis vor Ende 1929 der Fall gewesen. Seit die Wirtschaftskrise eingesetzt hatte, waren nicht viele Neuerungen vorgenommen worden. Haley war dankbar, dass die Dekade des Überschusses erlaubt hatte, sie mit den neuesten Gegenständen vertraut zu machen, und auch dass Dr. Guthries Vorgänger genug Weitblick gehabt hatte, um das großzügige Budget auszunutzen.
Sie arbeitete an Mrs. Grays Bericht und steckte ihn dann in einen Umschlag, damit er an Detective Cluney geliefert werden konnte. Ohne Autopsie gab es nicht viel zu erzählen und die Akte war ungewöhnlich dünn. Gebrochene Knochen sowie die Eindrücke des Schädels waren offensichtlich, aber sie könnte bei den Organschäden nur raten.
Als dies aus dem Weg geschafft war, beschäftigte Haley sich mit ihrem eigenen Papierkram. Sie ließ die Akten für ihren Praktikanten Mr. Martin auf dem Tisch, um diese zu verräumen.
So sehr sie auch wollte, sie konnte Mrs. Gray und ihr tragisches Ableben nicht aus dem Kopf bekommen. Warum erlaubte der Bürgermeister die Autopsie nicht? War es wirklich, um ein paar Dollar zu sparen? Oder lag es daran, dass die Verstorbene eine Frau war?, fragte sie sich verbittert.
Lag es an etwas anderem?
Bevor sie es noch einmal überdenken konnte, fand Haley sich in Dr. Guthries Büro wieder. Eine Kanne Tee und eine leere Tasse standen auf seinem Schreibtisch. Seine Hände lagen auf dem leicht hervorstehenden Bauch und das Kinn war geneigt. Er stieß ein dampflockähnliches Schnarchen aus.
»Dr. Guthrie?«
Der Mann könnte einen Tornado verschlafen, dachte sich Haley. Sie hob die Stimme. »Dr. Guthrie!«
Zwei Schnarcher und einen lauten Ausruf später schien Dr. Guthrie Haley mit Verachtung anzublicken. »Ja, was gibt es, Dr. Higgins?«
»Ich denke, dass wir eine Autopsie an Mrs. Gray vornehmen sollten.«
»Aber der Bürgermeister –«
Haley schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß. Ich werde es in meiner Freizeit machen.«
Dr. Guthries buschige Augenbrauen bildeten ein tiefes V. »Es ist Ihnen wichtig, nicht wahr?«
»Ich schätze mal.«
»Sie können den Bericht nicht schreiben.«
»Ich weiß.«
Er wedelte mit einer venenbesetzten Hand. »Na schön, dann machen Sie halt, aber wenn der Bürgermeister davon erfährt, halten Sie dafür den Kopf hin.«
»Danke, Doktor.«
Er grunzte und sagte dann: »Bevor Sie anfangen, machen Sie mir noch eine neue Kanne Tee.«
Haley machte auf ihren fünf Zentimeter hohen Riemchenpumps kehrt und verbarg das Stirnrunzeln. Gott sei Dank kam in diesem Augenblick ihr Praktikant. »Mr. Martin«, sagte Haley, nachdem sie einander begrüßt hatten. »Dr. Guthrie hätte gern eine frische Kanne Tee.«
Nun runzelte Mr. Martin die Stirn, aber er erholte sich schnell davon und ging zum Kaffeetresen. Haley hatte Mitleid mit ihm. »Wenn Sie damit fertig sind, können Sie mir bei einer Autopsie assistieren.« Die Leichtigkeit kehrte in Mr. Martins Schritte zurück.
Die Hälfte von Mrs. Grays Gesicht war recht unbeschadet. Ihre Knochenstruktur ließ auf die Schönheit ihrer Jugend schließen, auch wenn die Zeit hart zu ihr gewesen war. Die Falten im Gesicht waren tiefer als die der meisten achtunddreißigjährigen Frauen. Ihre Nägel waren kurz, unlackiert, aber ordentlich gepflegt. Haley studierte sie durch eine Lupe. Sie konnte lose Hautzellen unter drei Nägeln der rechten Hand erkennen. Waren es ihre?
Oder gehörten sie zum Angreifer des Opfers?
Die frischen Kratzspuren auf dem Handrücken könnten davon stammen, dass sie während des Falls gegen das Fenster geschlagen war, aber …
Haley stellte sich die Schritte vor, die notwendig waren, um zu springen: ein Bein auf den Fenstersims stellen, dann das andere, dann sitzt man mit dem Hintern auf der Kante, lässt die Beine baumeln und drückt sich weg. Mr. Martin wusch die Hände, zog einen frischen Laborkittel über und unterbrach ihre Gedanken. »Ich bin so weit, Dr. Higgins.«
Haley lächelte bei der neu gefundenen Zärtlichkeit in seiner Stimme. »Erweisen Sie mir die Ehre?«
»Ja, Ma’am.«
»Doktor«, korrigierte Haley.
»Entschuldigen Sie, Doktor. Ja, Doktor.«
Haley reichte ihm das Skalpell und wartete, bis er den ersten Einschnitt vorgenommen hatte, bevor sie erwähnte, dass diese Autopsie nicht zur Arbeitszeit zählte. Es erfreute sie, dass es den jungen Mann nicht störte, dafür nicht bezahlt zu werden.
Im besten Fall war dies eine gute Übung für den jungen Praktikanten. Im schlimmsten würden sie etwas finden, was ihnen Bedenken bereitete, und Haley müsste entscheiden, ob ein Anruf beim Bürgermeister es wert war, Pandoras Box zu öffnen.
Drei
Beinahe verweigert Samantha Johnnys Angebot, mit ihm zurück zu dem Nachrichtengebäude in der Water Street zu fahren, aber ihr leeres Portemonnaie zwang sie dazu, ihren Stolz zu schlucken. Sie konnte sich keine weiteren Taxigebühren leisten, und zu Fuß zu gehen, würde nur dafür sorgen, dass sie zu spät und verschwitzt wäre. Max öffnete die Tür zum Beifahrersitz von Johnnys Cabriolet, damit Samatha auf den Rücksitz klettern konnte.
»Danke, Max«, sagte Samantha, als sie auf den Ledersitz glitt. »Wenigstens ein Gentleman ist hier anwesend.«
Max lief rot an, und wenn er etwas erwiderte, hörte es Samantha nicht.
»Oh, sei nicht sauer, Püppchen«, meinte Johnny mit einem schiefen Grinsen, das Samanthas Empörung entfachte. »Es ist ohnehin keine große Geschichte. Nur ein weiterer Springer. Das wird es nicht auf die Titelseite schaffen.«
Samantha verschränkte die Arme, reckte das Kinn und starrte geradeaus. Das es keine große Geschichte gewesen war, war nicht der Punkt. Das Problem – er hatte einen Vorteil und den hatte er gegen sie verwendet. Wenn sie sich durch irgendein Wunder eines Tages ein Auto leisten könnte, dann würde sie Johnny Milwaukee sicherlich niemals einsteigen lassen.
Der Wind wehte durch die offenen Fenster. Trotz der Wärme war der Lufthauch eine willkommene Abwechslung zu der schweren Sommerhitze. Ungeachtet ihrer Gesellschaft nahm Samantha ihren Hut ab und zog die Handschuhe aus.
Johnny parkte den Wagen vor dem dreistöckigen Backsteingebäude, welches die Geschäfte der Boston Daily Record beherbergte. Samantha lächelte lieblich und sagte: »Danke für die Mitfahrgelegenheit, Mr. Milwaukee.«
»Es war mir ein Vergnügen, Miss Hawke.«
Drinnen legte Samantha ihren Hut und die Handschuhe auf den Rand ihres Schreibtisches. Das Zimmer wurde auch die »Grube« genannt, da es von mehreren Schreibenden geteilt wurde. Die Tische klebten förmlich aneinander, Remington Schreibmaschinen standen darauf sowie schwarze Gabeltelefone, benutzte Kaffeetassen und übervolle Aschenbecher.
Sie brachten Samanthas Tisch herein, nachdem sie den Chefredakteur Archie August überredet hatte, sie von ihrer ersten Anstellung als Rezeptionistin zu befördern. Wie auch ihr Schreibtisch war Samantha eine Außenseiterin in diesem Männerverein. Ihr Telefon war neu, da es eine Belohnung von Mr. August für die Rolle war, die sie dabei gespielt hatte, die letzte große Story zu lösen, und für ihre Arbeit, sie zu Papier zu bringen. Samantha dachte, dass es eher der Tatsache geschuldet war, dass sie beinahe während des Jobs gestorben war.
Mr. Augusts breites Grinsen füllte die Tür zur Grube. »Nun? Irgendwas?«
»Sorry, Chef«, meinte Johnny. »Scheint nur ein weiterer Springer zu sein. Dieses Mal eine Frau. Die Bullen haben uns nichts gegeben. Ich werde weiter bei meinem Kontakt nachhaken.«
Mr. August ließ die breiten Schultern hängen. »Besorg mir etwas für die Abendausgabe. Irgendwas!«
Samantha hatte kaum ihre Kamera abgeladen, die Aktentasche abgestellt und sich hingesetzt, da spürte sie auch schon eine Gegenwart. Ein Seitenblick bestätigte ihr, dass es Johnny war, der sich arrogant an ihren Tisch lehnte, das übliche abfällige Grinsen ins Gesicht gepflastert, die hutlosen Haare unordentlich und die Arme verschränkt.
»Was willst du?« Sie versuchte nicht einmal, ihre Genervtheit zu zügeln.
»Wie ich sehe, liest du mich gern?«
Samantha folgte seinem Blick zu einer Ausgabe der Boston Daily Record, die aufgeschlagen auf der Seite des anstehenden Jahrestages der Terrorattacke in Manhattan von 1916 lag. Name: Johnny Milwaukee.
Sie schob die Ausgabe unter einen Stapel alter Zeitungen auf ihrem Tisch.
»Ich lese gern die Nachrichten. Es ist mir egal, wer sie geschrieben hat.«
Johnny grinste und nahm Samanthas Lieblingsfüller in die Hand.
Wie unverantwortlich, dass ich ihn auf meinem Tisch habe liegen lassen.
Samantha würde ihm den Stift am liebsten aus den Händen reißen.
»Ein Brause Iserlohn«, sagte er anerkennend. Er betonte es Icer-Lawn. Samantha korrigierte ihn frech. »Es wird Esser-loan ausgesprochen.«
»Ah, Esser-loan. Was für eine Schönheit. Wo hast du den her?«
Als die Zeitung Samantha als Rezeptionistin einstellte, hatte ihr Ehemann Seth ihr den besten Füller seines Vaters gegeben. Seth war eine Made, aber er hatte auch seine guten Momente gehabt. Nicht, dass dies Johnny irgendwas anging.
»Er war ein Geschenk.«
»Darf ich ihn mir ausleihen?«
Samantha schnappte sich den Füllfederhalter aus Johnnys Hand. »Nein. Er braucht frische Tinte. Jetzt hör auf, mich zu nerven. Hast du denn nichts zu tun?«
Johnny gluckste und stolzierte davon. Samantha atmete ein paarmal schnell ein, um sich zu beruhigen. Sie weigerte sich, sich von Johnny Milwaukee nerven zu lassen.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Tote des Custom House und das Ableben der armen Frau. Dann dachte sie über ihren Kontakt auf der Wache nach, Officer Bell. Er hatte ihr den Tipp mit dem Springer gegeben und sie hatte ihn am Tatort gesehen. Wenn sie noch ein paar weitere Details in Erfahrung bringen könnte, dann wäre es ihr zumindest möglich, die Geschichte zu schreiben, bevor Johnny es tat. Besser als gar nichts.
Sie hob den schweren Hörer ab, wählte und drehte dann den anderen den Rücken zu. Freddy Hall, ein miesepetriger Sportreporter, war schnell wegen ihres Geschlechts genervt und sie wollte nicht, dass einer der Männer das Gespräch mithörte.
Als die Telefonistin abnahm, bat sie darum, verbunden zu werden.
»Officer Tom Bell.«
»Hallo, Tom«, sagte Samantha. Sie stellte sich vor, wie er das Telefon des Reviers benutzt. Er war schmal, durchschnittlich groß und trug eine blaue Polizeiuniform mit einem Polizeihut, der fest auf seinen blonden Haaren saß. »Hier ist Samantha von der Boston Daily Record.«
Sie hörte ein leises Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Was kann ich für dich tun, Miss Hawke?«
Samantha und Tom verband eine Art Kameradschaft. Sie hatte sein Leben gerettet, was dazu führte, dass sie sich mit Vornamen ansprechen. Tom hatte deutlich gemacht, dass er an mehr als nur Freundschaft interessiert war, aber Samantha konnte und wollte dies nicht, nicht während sie offiziell immer noch mit Seth verheiratet war. Und sie bevorzugte es, die Dinge bei der Arbeit professionell zu halten.
»Ich wollte dir noch einmal für den Tipp mit der Springerin danken. Hast du diesbezüglich noch weitere Informationen?«
»Ich habe einen Namen.«
Ein Schauer fuhr durch Samantha. »Wirklich? Wie lautet er?«
»Mrs. Olivia Gray. Eine Angestellte des Custom House.«
»Eine verheiratete Angestellte?«
»Scheinbar. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Chef Bescheid wusste. Er kommt bald vorbei, um eine Aussage zu machen.«
Was ich nicht alles dafür geben würde, währenddessen eine Fliege an der Wand zu sein, dachte Samantha.
»Was ist mit dem Ehemann? Ist er noch am Leben?« Das würde erklären, wie eine verheiratete Frau dort beschäftigt sein könnte. Es gab kein Gesetz dagegen eine verheiratete Frau einzustellen – dennoch wurde es von Firmen nicht gern gesehen.
»Jep, aber er ist in schlechter Verfassung.«
»Was meinst du?«
»Er brach zusammen, als er davon erfuhr und ist nun katatonisch.«
»Der arme Mann.«
»Ja. Er ist hier. Der Chef erlaubt ihm nicht zu gehen, bis er eine Aussage gemacht hat, also hoffe ich, dass er sich bald wieder zusammenreißt«, meinte Tom.
»Sonst noch etwas? Weiß irgendwer, weshalb sie es getan hat?« »Im Moment können wir nur raten. Sie hatte ein Kind. Ihr Kollege, ein Mr. Philip Snow, steht unter Schock. Er kann nicht fassen, dass sie ihren Sohn verlassen hat, aber ich habe schon viele Frauen gesehen, die ihre Kinder zurückließen. Glauben, dass sie ihnen einen Gefallen tun.«
»War noch jemand im Gebäude, als Mrs. Gray sprang?«, erkundigte sich Samantha. »Irgendwelche Zeugen?«
»Jedem Stockwerk ist ein Hausmeister zugewiesen, aber die steckten wie so ziemlich jeder andere im Treppenhaus fest, in dem Versuch, nach draußen zu gelangen. Keinem gefiel der Gedanke, in einem so hohen brennenden Gebäude festzustecken.«
Samantha machte ein leises, zustimmendes Geräusch. Stell sich mal einer vor, in einem der höheren Stockwerke festzusitzen, während ein Inferno den Fluchtweg versperrt.
War es das, was Mrs. Gray dachte? Dass das Feuer ihren Ausweg blockierte und sie keine andere Wahl hatte?
Nein, das wäre zu extrem. Es hatte keinen Rauch gegeben, geschweige denn eine echte Gefahr.
»Danke dir, Tom, ähm, Officer Bell. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
Samantha legte auf und begann zu schreiben. Es war vielleicht nicht viel, aber immer noch mehr, als Johnny hatte. Er war zu beschäftigt damit gewesen, Zigaretten zu rauchen und sich mit Freddy Hall über das einfache Doppelspiel des Pittsburgh Pirates Außenspielers Adam Comorosky im Spiel neulich gegen die New York Giants zu unterhalten, um den Hörer in die Hand zu nehmen. Samantha konnte das kleine Lächeln, das an ihren roten Lippen zupfte, nicht aufhalten. Wenn sie besonders viel Glück hatte, dann hatte sie vielleicht sogar eine gute Aufnahme mit ihrer Kastenkamera gemacht, um der Story beizulegen.
***
Für Haley waren Überstunden nichts Ungewöhnliches. Ihr Arbeitsfeld faszinierte sie. Egal ob es darum ging, Fachliteratur und die neusten Ausgaben forensischer Wissenschaftsmagazine zu lesen oder sich die Hände am Operationstisch schmutzig zu machen, sie verlor sich in der Arbeit und die Zeit schien sich zu verselbstständigen.
Aus den Augenwinkeln merkte sie, dass ihr Praktikant eine besorgniserregende grünliche Farbe angenommen hatte. Sie lenkte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn.
»Geht es Ihnen gut, Mr. Martin?«
Er räusperte sich. »Ja. Aber, ähm, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich schnell ein Glas Wasser trinken?« Haley nickte, erlaubte dem jungen Mann zu gehen und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Der Brustkorb von Mrs. Gray war geöffnet und die Organe lagen frei. Der Schaden von dem Sturz aus dieser Höhe war extrem und es war nicht möglich, die üblichen Wiegungen und Messungen vorzunehmen. Es gab keine sichtbaren Anzeichen für irgendwelche Vorerkrankungen, jedoch hatte die Leiche alte Schürfwunden an Handgelenken und Armen. Haley hatte diese bereits zuvor gesehen. Jemand hatte das Opfer letzte Woche gepackt und es grob behandelt.
Haley stellte fest, dass die Hirnmasse beschädigt war, was es schwierig machte, festzustellen, ob die sichtbaren Blutgerinnsel bereits vor dem Fall da gewesen waren. Eine Hirnerkrankung könnte auf einen möglichen versehentlichen Sturz hinweisen.
Die Fenster waren ganz normal offen. Die Sommermonate waren schwül und heiß. Wenn Mrs. Gray schwindlig geworden war, dann könnte es sein, dass sie sich zu weit über die Kante gelehnt hatte.
Als Haley versuchte, sich das Szenario vorzustellen, funktionierte es physisch nicht. Außer die untere Scheibe lag tiefer als Mrs. Grays Gewichtsschwerpunkt, nur dann wäre sie hinausgestürzt. Ansonsten wäre sie auf dem Boden zusammengebrochen.
Mr. Martin kehrte an den Tisch zurück, er hatte wieder Farbe in seine Wangen.
»Bitte nähen Sie sie zu«, wies Haley an, »und bringen Sie die Blutprobe ins Labor.«
»Ja, Dr. Higgins.«
Haley wusch sich die Hände und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück, um den Bericht zu schreiben. Vielleicht hatten Dr. Guthrie und der Bürgermeister recht gehabt und es war ein dummes Unterfangen gewesen. Dennoch störte sie etwas.
Sie hob den Telefonhörer ab und rief auf dem Polizeirevier an.
»Bitte verbinden Sie mich mit Detective Cluney.«
Während Haley wartete, dachte sie über den Fall nach. Sturz aus dem siebten Stock – schweres Schädelhirntrauma. Genickbruch, zwei gebrochene Schlüsselbeine, zersplitterter Humerus und Radius an beiden Armen und jede Rippe gebrochen.
»Hier Cluney!«
»Detective Cluney, hier spricht Dr. Higgins.«
»Warum sind Sie noch bei der Arbeit?«
»Warum sind Sie noch bei der Arbeit?«, erwiderte Haley. Die Familie des Detectives wartete. Wenn jemand Feierabend machen sollte, dann ja wohl er.
»Arbeiten«, meinte Cluney. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich rufe wegen des Falls von Olivia Gray an.«
»Der Springerin? Was ist damit?«
»Ich denke nicht, dass sie gesprungen ist.«
Haley konnte hören, wie der Detective seine Zigarre anzündete und langsam ausatmete. Schließlich antwortet er: »Weshalb nicht?«
»All die großen Verletzungen sind oberhalb der Gürtellinie. Ein starkes Schädelhirntrauma, Genickbruch, beide Schlüsselbeinknochen sind zerbrochen, sowie beide Arme und jede einzelne Rippe. Es ist, als hätte sie kopfüber gehangen, bevor sie fiel.«
»Sie fiel aus dem siebten Stock und machte vermutlich eine Umdrehung in der Luft«
Haley konnte sich das nicht vorstellen, aber es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden.
»Ist noch ein Beamter am Tatort?«
»Nein. Dafür gibt es keinen Grund. Die Nachtwache hat Dienst.«
»Könnten Sie dafür sorgen, dass jemand dort anruft und mir Zugang zum Tatort gibt?«
Haley konnte spüren, wie sich der Detective anspannte. »Weshalb?«
»Ich würde gern ein Experiment machen.«
Detective Cluney erlaubte Haleys Anfrage und sorgte dafür, dass einer der Officer für sie mit der Nachtwache sprach. Als sie in ihrem 1929er DeSoto in den frühen Abendstunden am Custom House vorfuhr, warteten bereits ein Wachmann im mittleren Alter auf sie und Mr. Martin.
Haley konnte nicht wirklich behaupten, dass Emmet Cluney ein Freund war, aber sie hatten einen gegenseitigen Respekt füreinander, selbst wenn der Detective eine raue Schale hatte. Sie hatten das erste Mal zusammengearbeitet, als Haley vor sieben Jahren aus London zurückgekehrt war, nachdem ihr Bruder brutal ermordet worden war. Leider stagnierte der Fall von Joseph Higgins, aber sie und Detective Cluney hatten während der Jahre gemeinsam an vielen anderen Fällen gearbeitet, viele davon endeten in einer Verhaftung.
»Dr. Higgins«, grüßte der dunkel gekleidete Sicherheitsmann. »Ich kann Sie nach oben bringen.«
»Wir müssen etwas mitnehmen. Das ist recht schwer.«
»Benötigen Sie einen Trolley, Doktor?«
»Das wäre super.«
Haley öffnete den Kofferraum und als der Wächter mit dem Trolley kam, grinste sie bei seinem amüsierten Gesichtsausdruck.
»Eine Leiche, Dr. Higgins? Ich habe Kisten erwartet.«