Leseprobe Meine perfekte Schwester | Der fesselnde Psychothriller

Kapitel 1

Ich habe eine Schwester. Eine Schwester.

Das Wort kullert in meinem Kopf herum wie ein einzelner Turnschuh in einem Wäschetrockner. Schrill. Fehl am Platz. Aus dem Takt.

Ohne das myancestry.com-Abo, das mir mein bester Freund Marco zum Geburtstag geschenkt hat, hätte ich das nie erfahren. Marco wusste, dass ich ein vages Interesse an meinen Wurzeln habe, aber zu geizig war, oder vielleicht auch zu feige, um dem wirklich nachzugehen. Das Einzige, was ich über meine leibliche Familie weiß, ist, dass meine Mutter sechzehn war, als sie mich bekam, und ein paar Jahre später starb. Auf meiner Geburtsurkunde ist der Platz ‚Vater‘ als ‚unbekannt‘ vermerkt. Klingt ungewöhnlich, aber offenbar wollte meine Mutter es so.

Ich will mich gerade bei Facebook einloggen, um meiner Neugier nachzugeben und etwas über die Schwester herauszufinden, von der ich nie wusste, da fällt mein Blick auf die Uhr. Ich darf nicht zu spät zur Gruppe kommen. Das ist der eine Termin, den ich nie schwänze. Ich bin nicht stolz auf die Richtung, die mein Leben vor zehn Jahren eingeschlagen hat, aber inzwischen gehe ich wieder in die richtige. Und ich will das nicht erneut vermasseln. Die Erinnerung an den Fehler, der meinen Absturz ausgelöst hat, verfolgt mich immer noch. ‚Fehler‘ ist zwar das falsche Wort, aber es kommt so leicht über die Lippen und verleiht mir eine Gnade, die ich nicht verdient habe.

Ich hasse auch das Wort ‚Flashback‘. Es verharmlost, was damals passiert ist, reduziert es auf einen kurzen Moment. In Wahrheit ist es ein seelenzerfetzender Film, der in Dauerschleife in meinem Kopf läuft. Was ich an jenem Tag getan habe, ist für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt.

Ich schnappe mir meine Handtasche, haste hinaus zu meinem 99er Camry und ramme den Schlüssel ins Zündschloss. Es folgt ein schnelles Klicken, das mir das Herz in die Hose sinken lässt. Ich versuche es noch ein paar Mal vergeblich. Die Batterie spinnt seit ein paar Tagen, aber ich kann mir keine neue leisten. Mein Vermieter hat gerade die Miete erhöht, und ich muss dringend eine neue Bleibe finden, sonst schlafe ich bald im Auto. Ich habe schon eine Extraschicht im Wicked Scone angenommen, nur um über die Runden zu kommen. Wütend schlage ich auf das Lenkrad, dann krame ich mein Handy aus der Tasche und rufe Marco an.

„Hey, Piper. Was gibt's?“

„Ich schaff's heute Abend nicht. Ich sitze im Auto, bin fertig zum Losfahren, aber die Batterie ist tot.“

„Soll ich dich abholen? Ich nehme an, deshalb rufst du an.“

Ich schließe die Augen und versuche, mich nicht von seiner direkten Art angegriffen zu fühlen. Ich weiß, dass er es nicht so meint. Er ist keiner für Floskeln und große Gefühle, sein Gehirn funktioniert praktisch, lösungsorientiert, und dafür bin ich ihm dankbar. Er hat mir schon oft aus der Klemme geholfen.

„Nein, passt schon“, antworte ich und ziehe den Schlüssel wieder raus. „Bis du hier bist und wir zur Gruppe fahren, ist die Hälfte rum. Bringt nichts, wenn wir das beide verpassen. Ich bin nur enttäuscht, weil ich was Spannendes zu erzählen habe.“

„Echt? Was denn?“

„Das ist zu wichtig, um es am Telefon zu sagen. Komm danach bei mir vorbei, dann erzähl ich es dir.“

Marco stöhnt. „Im Ernst? Du willst mich bis dahin auf die Folter spannen? Ich bin versucht, hinzuschmeißen und sofort zu dir zu kommen.“

„Wir wissen beide, dass das keine gute Idee ist.“

„Stimmt. Dann bis gegen neun.“

Ich lege auf und trotte zurück in meine Wohnung. Das ist Mist. Keine Ahnung, wie ich morgen zur Arbeit kommen soll. Ich könnte mit dem Rad fahren, aber das ist noch älter als mein Camry, und in der Rushhour würde ich fast eine Stunde brauchen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Reifen die Strecke durchhalten.

Ich gieße mir ein Glas Wasser ein, greife nach dem Laptop und lasse mich auf die Couch plumpsen. Vielleicht soll es so sein. Was könnte schließlich wichtiger sein, als meine jüngere Schwester – zumindest vermute ich, dass sie jünger ist – zu finden und Kontakt aufzunehmen?

Ich tippe den Namen ‚Callie Madden‘ in die Facebook-Suchleiste, in der Hoffnung, dass sie denselben Nachnamen trägt, der auch auf meiner Geburtsurkunde steht. Meine Handflächen sind jetzt schon schweißnass, während ich die Liste durchscrolle und auf alle Profile klicke, die vielversprechend wirken. Ich versuche, mir keine großen Hoffnungen zu machen. Auf einem kleinen Profilbild erkennt man kaum, ob mir jemand ähnlich sieht.

Als ich die Liste mit den genauen Treffern durch habe, beginne ich mit verschiedenen Schreibweisen. Und dann stoße ich auf ein Profil, das mich innehalten lässt: ‚Callie Madden-Bramston‘. Ich klicke darauf und starre auf das atemberaubende Titelbild einer Braut auf dem Balkon eines luxuriösen Resorts auf den Bahamas, laut Bildunterschrift. Mein Herz macht einen Satz. Irgendetwas an ihr berührt mich. Sie kommt mir bekannt vor.

Ich scrolle hektisch durch die restlichen Fotos in ihrem Feed, bis ich bei einer Nahaufnahme von ihr und einem extrem gut aussehenden Mann lande – vermutlich ihr Ehemann. Zwei makellose Menschen, wie aus dem Katalog, die lächelnd ihre Köpfe aneinander lehnen. Ich studiere Callies Gesichtszüge. Die Ähnlichkeit ist unbestreitbar, auch wenn sie ein paar Jahre jünger aussieht als ich. Sie hat meine Augen und meinen Mund, mit schmaler Oberlippe und voller Unterlippe. Ihr Haar hat denselben satten Kastanienton wie meins, aber bei ihr ist es perfekt gesträhnt und gestylt.

Ich lasse mich gegen die abgewetzten Kissen der Couch sinken und atme flach, um mein pochendes Herz zu beruhigen. Das ist sie. Ich bin mir sicher. Das ist meine Schwester.

Aber jetzt, da ich sie gefunden habe, empfinde ich nicht die Euphorie, die ich erwartet hatte. Sie sieht glücklich aus. Als hätte sie ihr Leben im Griff und wäre mit dem Mann ihrer Träume verheiratet. Wenn ihr Lächeln echt ist, hat sie bereits alles, was sie je wollte.

Ich klappe den Laptop abrupt zu. Ich kann ihr keine Nachricht schreiben.

Sie würde nichts mit mir zu tun haben wollen –

vor allem nicht, wenn sie wüsste, was ich getan habe.

Kapitel 2

Es ist neun Uhr fünfundvierzig, als Marco endlich auftaucht.

„Du bist zu spät“, necke ich ihn, während ich ihn in mein Apartment lasse. Ganze 37 Quadratmeter mit rissigem Linoleumboden und abblätternder Tapete.

Er lässt sich in meinen klapprigen Stuhl aus dem Secondhandladen fallen, schnuppert skeptisch den muffigen Geruch, der in der Luft liegt, und fährt sich mit der Hand über den Hinterkopf, wo sein Haar immer dünner wird. Er ist erst zweiunddreißig, aber die Glatze zeichnet sich deutlich ab. Es ist ihm unangenehm, also sage ich ihm ständig, dass er den Nerd-Look großartig tragen wird. Seine perfekte Sommerbräune und die auffallend blauen Augen machen den schwindenden Haaransatz mehr als wett.

„Heute waren ein paar Neue da, das Ganze hat sich ein bisschen gezogen“, erklärt er. „Eine Frau hat es für nötig gehalten, ihre komplette Lebensgeschichte als Vorstellung rauszuhauen. Terry ist dabei eingeschlafen und hat super laut geschnarcht. Ich musste ihn boxen, damit er wach bleibt und zuhört.“

Ich schnaube amüsiert, öffne den Kühlschrank und runzle die Stirn über den spärlichen Inhalt. „Was willst du trinken?“

„Was hast du denn da?“

„Nichts natürlich“, antworte ich und knalle die Tür zu. Ich habe den Wocheneinkauf schon eine Weile hinausgeschoben. Bei den Preisen bekomme ich jedes Mal Herzrasen. „Wie wär's mit Tee?“

„Klingt gut“, meint Marco. „Während du den aufsetzt, wechsle ich schnell deine Autobatterie. Ich hab auf dem Weg hierher eine neue bei Walmart besorgt.“

Ich ziehe verlegen eine Grimasse. Marco arbeitet in der Cybersicherheit und verdient weit mehr als ich, aber ich hasse das Gefühl, ihm auf der Tasche zu liegen. „Ich kann sie dir erst mit meinem nächsten Gehalt zurückzahlen, und selbst das wird eng.“

Er winkt ab. „Geht auf mich. Quasi als Ausgleich für all die Spaghetti, die du für mich gekocht hast.“

Bevor ich widersprechen kann, ist er auch schon aus der Küche verschwunden. Ein paar Packungen Nudeln sind kein Gegenwert für eine neue Autobatterie. Als ich zum Wasserkocher greife, überkommt mich eine Welle der Erleichterung. Wenigstens kann ich heute Nacht ruhig schlafen, weil ich weiß, dass ich morgen zur Arbeit komme. Ein Problem weniger. Aber ich stehe immer noch nur einen Wimpernschlag vom finanziellen Abgrund entfernt.

Meine Gedanken wandern zurück zu Callies Facebook-Profil. Callie Madden-Bramston sieht nicht aus, als würde sie wissen, wie es ist, sich mit letzter Kraft über Wasser zu halten, sich Sorgen zu machen, wie man Miete und Strom zusammenbekommt. Ob sie Verständnis für meine Situation aufbringen wird oder mir ihre perfekt geformte Nase entgegenstreckt, bleibt abzuwarten.

Marco kommt ein paar Minuten später aus der Garage zurück, und ich reiche ihm eine Tasse Tee. „Danke noch mal. Du hast mir eine schlaflose Nacht erspart. Ich hatte keine Ahnung, wie ich morgen zur Arbeit kommen soll.“

„Einfach anrufen wäre eine Option.“ Er setzt ein schiefes Grinsen auf, während er sich an den Küchentisch setzt. „Aber das würdest du ja nie tun, oder?“

Ich zucke mit den Schultern und ziehe den Stuhl neben ihm heraus. „Ich fühl mich schlecht. Du rettest mir ständig den Arsch.“

Er pustet in seinen Tee, nimmt einen Schluck und schaut über den Tassenrand hinweg nachdenklich zu mir. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich wär längst rückfällig geworden, wenn du mir nicht regelmäßig den Kopf waschen würdest.“ Er hebt eine Augenbraue. „Also, was ist das für ein brennendes Geheimnis, das du mir unbedingt persönlich erzählen wolltest?“

Ich hole meinen Laptop und stelle ihn zwischen uns auf den Tisch. Dann öffne ich Callies Facebook-Seite und rufe das Foto auf, das ich vorhin gefunden habe.

„Erkennst du diese Frau?“, frage ich und tippe mit dem Fingernagel auf den Bildschirm.

Marco verzieht das Gesicht, während er es sich anschaut. „Sollte ich?“

„Kommt sie dir gar nicht bekannt vor?“, frage ich, blinzele ihn an und schürze übertrieben die Lippen.

Sein Blick wandert zwischen dem Foto und meinem Gesicht hin und her. „Ist sie … eine Verwandte von dir?“

„Sie ist meine leibliche Schwester. Ich hatte keine Ahnung, dass ich überhaupt eine habe, bis ich meinen DNA-Test eingeschickt habe. Sie lebt wohl auch hier in L.A.“

„Im Ernst?“ Marco zieht den Laptop näher heran und beugt sich vor, um das Foto genauer zu betrachten. „Und dein Vater? Hast du den auch gefunden?“

Ich schüttle den Kopf. „Entweder hat er den Test nicht gemacht oder er lebt nicht mehr. Meine Schwester war das einzige Match.“

 

„Das sind doch großartige Neuigkeiten.“ Marco wirft mir einen vorsichtigen Seitenblick zu. „Oder nicht? Ich meine, das war doch dein Ziel? Jemanden aus deiner Familie zu finden?“

Ich stoße einen langen Seufzer aus. „Ja, schon. Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich Kontakt aufnehmen will.“

Marco runzelt die Stirn. „Warum nicht?“

Ich nehme einen Schluck Tee, bevor ich antworte. „Was, wenn ich ihr peinlich bin?“ Ich deute auf den Bildschirm. „Schau sie dir an! Sie ist wunderschön, und mit ihrem Mann ein absolutes Traumpaar. Sie leben den Luxus: Urlaube, Autos, Designerhochzeit. Warum sollte sie mich in ihrem Leben haben wollen?“

Marco presst die Lippen zu einem dünnen, missbilligenden Strich zusammen. „Hör auf, dich selbst fertigzumachen. Du hast ihr noch gar nicht die Chance gegeben, dich kennenzulernen. Warum gehst du gleich davon aus, dass deine Schwester oberflächlich und Geld ihr wichtiger ist als die Tatsache, dass sie ein Geschwisterteil hat?“

Ich reibe mir übers Gesicht. „Es geht nicht nur ums Geld. Wie soll ich ihr erklären, was ich alles verbockt habe? Nicht jeder freut sich über so eine Vergangenheit in der Familie.“

Marco schlürft seinen Tee. „Gib ihr die Chance. Vielleicht ist sie gar nicht so abweisend, wie du dir das ausmalst. Und du musst ihr ja nicht gleich beim ersten Treffen dein Trauma auftischen.“

„Ach toll, also soll ich mich verstellen. Super Grundlage für eine ehrliche Beziehung.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und sehe Marco direkt an. „Ich habe in der Gruppe nie erzählt, warum ich überhaupt angefangen habe zu trinken. Es gibt eine Menge, das auch du nicht über mich weißt.“

Marco rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. „Was auch immer du in der Vergangenheit getan hast, es ändert nichts an unserer Freundschaft.“

Ich nicke langsam, mein Puls hämmert in den Ohren.

Zeit, das auf die Probe zu stellen.

Wenn er die Wahrheit nicht aushält, wie soll es dann meine Schwester können?

Also erzähle ich ihm alles.

Na ja, fast alles.

Kapitel 3

Marco sagt nicht viel nach meinem schockierenden Geständnis. Stattdessen nimmt er mich in den Arm und drückt mich fest an sich. Er ist der einzige wahre Freund, den ich seit Emmas Tod noch habe. Auch er hat mehr als genug Kummer erlebt und weiß, was so etwas mit einem Menschen macht. Bei meinem ersten AA-Treffen zu hören, dass seine junge Frau und seine kleine Tochter bei einem Einbruch ermordet wurden, hat mir fast das Herz zerrissen.

Er hat seinen Schmerz im Alkohol ertränkt, doch inzwischen hat er einen besseren Weg gefunden, damit umzugehen.

„Ich finde, du solltest dich trotzdem bei deiner Schwester melden“, sagt er, als er mich loslässt. „Sie hat das Recht zu wissen, dass du existierst. Und wenn ihr euch besser kennt, kannst du immer noch entscheiden, wie viel du ihr anvertrauen willst. Ihr müsst ja nicht von null auf hundert gehen.“

Ich weiß, dass er recht hat, trotzdem vergeht über eine Woche, bis ich endlich den Mut aufbringe, Callie über Facebook zu schreiben.

Die nächsten 48 Stunden bin ich ein einziges Nervenbündel, bis schließlich eine Antwort kommt:

Wer bist du? Ich habe keine Schwester.

Meine Finger zittern, als ich meine Antwort tippe:

Ich wurde direkt nach der Geburt adoptiert. Ich habe dich über myancestry.com gefunden. Ich kann dir die Informationen zeigen, die ich bekommen habe. Können wir uns treffen? Ich wohne auch im Raum L.A. Ich bin sicher, wenn du mich siehst, wirst du erkennen, dass ich deine Schwester bin. Wir sehen uns ähnlich.

Callie lässt mich einen unendlichen Tag lang zappeln, bevor sie sich wieder meldet:

Triff mich morgen um zwölf bei Starbucks in der Waterfront Mall.

Ich lese die Nachricht laut vor, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verguckt habe. Mein Magen verdreht sich vor Aufregung und Angst zugleich. Ich muss früher Mittagspause machen, aber mit all den Überstunden der letzten Zeit dürfte das machbar sein.

Ich rufe sofort Marco an, um ihm die frohe Kunde zu übermitteln. „Sie hat einem Treffen zugestimmt.“

„Ich hab's gewusst! Ich freue mich total für euch beide!“

„Ich zittere jedes Mal, wenn ich daran denke. Sie wirkt so … glamourös.“

„Sei einfach du selbst. Du schaffst das!“

„Danke für den Zuspruch, Marco. Ich sag dir, wie's gelaufen ist.“

Ich lege auf und lese Callies Nachricht zum gefühlt hundertsten Mal, um sicherzugehen, dass ich auch alle Details richtig im Kopf habe.

Der Gedanke, ihr tatsächlich gegenüberzustehen, macht mir Angst. Auf jedem Foto ist sie perfekt gestylt, von den Haarspitzen bis zu den makellosen Nägeln.

Mir wird übel, wenn ich an meinen kümmerlichen Kleiderschrank denke. Was soll ich bloß anziehen? Ich werde mir etwas mitnehmen und mich in der Bäckerei umziehen müssen. In dem ausgewaschenen T-Shirt und den Jeans, die ich bei der Arbeit trage, kann ich unmöglich auftauchen.

Die nächste Stunde verbringe ich damit, mein klägliches Kleiderarsenal durchzuprobieren und wieder zu verwerfen. Ich weiß, ich kann Callies Designer-Outfits ohnehin nicht das Wasser reichen, aber ich will nicht wie eine komplette Versagerin wirken, wenn sie mich zum ersten Mal sieht.

Ich entscheide mich schließlich für ein schlichtes Blumenkleid mit Boots und eine Cargojacke. Es ist zwar nicht teuer, sieht aber auf eine bohohafte Weise stilvoll aus.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, packe ich das Outfit in eine Tasche und lege diese ins Auto, damit ich es nicht vergesse.

 

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, schrecke ich hoch. Callie! Heute ist der Tag, an dem ich meine Schwester treffen werde.

Ich springe aus dem Bett, plötzlich hellwach. Dreißig Minuten später bin ich geduscht und auf dem Weg zum Wicked Scone. Mit meiner Chefin Jenna habe ich schon abgesprochen, dass ich früher Mittag mache. Warum, das habe ich ihr nicht verraten. Ich warte lieber ab, wie das Treffen mit Callie verläuft.

Vielleicht ist es der nächste Fehler, den ich mein Leben lang bereuen werde.

Kapitel 4

„Morgen, Piper!“, begrüßt mich Jenna mit einem fröhlichen Grinsen, als ich durch die Hintertür der Bäckerei komme. Sie zieht ein Blech Cupcakes aus dem Ofen und stellt es zum Abkühlen beiseite, während sie sich mit den Händen Luft zufächelt. „Ich hab ein paar extra Chargen gemacht. Letzten Freitag waren wir fast ausverkauft.“

Ich greife nach meiner Schürze und binde sie mir um die Taille. „Ich übernehme hier, dann kannst du schon mal den nächsten Teig anrühren.“

Sie nickt dankbar und geht hinüber zur großen Rührmaschine, während ich mich um die Fuhre für den Ofen kümmere. Kaum öffnen wir die Tür zur Bäckerei, beginnt auch schon der Wochenendansturm. Immer wieder werfe ich einen Blick auf die Uhr, um bloß nicht zu spät zu meinem Mittagstermin zu kommen. Um 11:45 Uhr löse ich meine Schürze und gehe zu Jenna.

„Alles in Ordnung?“, fragt sie, mit einem Hauch Sorge in der Stimme.

Ich hätte wissen müssen, dass sie mein Unbehagen bemerkt. Sie kümmert sich um mich wie eine Glucke um ihr Küken. „Ja, alles gut. Ich hab nur schlecht geschlafen. Mein Nacken ist total steif.“ Ich rolle demonstrativ den Kopf und verziehe das Gesicht, in der Hoffnung, dass mein Schauspiel halbwegs überzeugend wirkt. Ich hasse es, Jenna anzulügen. Sie war immer verständnisvoll, was meine Schwierigkeiten betrifft, und hat mich bei jedem kleinen Fortschritt unterstützt.

Bevor sie weiter nachhaken kann, husche ich in das winzige Badezimmer, um mich umzuziehen und frisch zu machen. Wenn ich Pech habe, kommt Callie direkt vom Schönheitssalon – frisch massiert, tiefengepflegt und nach einer Gesichts-Sauerstoffbehandlung.

Ich eile hinaus zu meinem Auto, innerlich dankbar für die neue Batterie. Ich muss mir dringend etwas überlegen, um mich bei Marco zu revanchieren. Ich könnte ihm ein Essen kochen, aber mittlerweile ist sogar Pasta ein Luxus. Ich schnalle mich an und stelle den Handywecker auf 13:00 Uhr. Ich will Jenna nicht zu lange allein lassen.

Normalerweise dauert die Fahrt zum Einkaufszentrum nur fünf Minuten, aber ein langsam fahrender Lieferwagen vor mir bremst mich gewaltig aus. Ich schieße in eine Parklücke nahe dem Haupteingang und haste hinein.

Sechs Minuten zu spät, und natürlich absolut schweißgebadet. Die Nerven, die Anstrengung – alles droht, mich zu überwältigen.

Was, wenn Callie schon wieder weg ist?

Blödsinn! Reiß dich zusammen. Niemand geht nach ein paar Minuten, wenn es um so ein Treffen geht.

Als ich in der oberen Etage des Starbucks beim Food Court ankomme, schnappe ich nach Luft. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen – kein Zeichen von Callie.

Ich setze mich an einen freien Tisch und sehe mich noch einmal gründlich um, um sicherzugehen, dass ich sie nicht übersehen habe.

Wellen irrationaler Gedanken schwappen durch mein Hirn.

Sie ist nicht gekommen. Sie wollte nie kommen.

Sie will nichts mit mir zu tun haben.

Mein Blick wandert von Ladenfront zu Ladenfront. Vielleicht steht sie bei einem der Fenster, mustert mich heimlich, will sicherstellen, dass ich kein Freak bin, bevor sie sich zeigt. Ich könnte es ihr nicht verdenken. Ich hätte wohl genauso reagiert, wenn mir jemand auf Facebook geschrieben hätte, ich hätte eine Schwester, von der ich nichts wusste.

Ich kaue an meinem Daumennagel, werfe nervöse Blicke über die Schulter, prüfe jede vorbeigehende Gestalt. Was, wenn sie mich nicht erkennt? Ich hätte ihr ein Foto schicken sollen.

Ein kratzendes Stühlerücken reißt mich aus meinen Gedanken. Noch bevor die hochgewachsene, makellos gekleidete Frau gegenüber den Mund aufmacht, schlägt mir eine Wolke teuren Parfums entgegen, schwer, blumig, unverkennbar luxuriös.

„Du bist also Piper?“, will sie wissen.

Mein Kiefer klappt nach unten. Das muss sie sein. Callie Madden-Bramston.

Plötzlich komme ich mir lächerlich vor in meinem „chic bohemian“ Outfit. Callie trägt weiße Designer-Workout-Leggings und einen weichen, cremefarbenen Velour-Hoodie. Ihr Gesicht ist perfekt geschminkt, das glänzende Haar liegt in sorgfältigen Wellen, gehalten von einem farblich abgestimmten Haarband.

„Äh … ja“, stammele ich. „Ich bin überrascht, dass du mich erkannt hast.“

Sie verdreht die Augen. „Diese furchtbaren Lippen sind schwer zu übersehen. Ich lasse meine Oberlippe zwar aufspritzen, aber offenbar macht meine Kosmetikerin nicht den besten Job, wenn du trotzdem eine Ähnlichkeit erkennst.“

„Du … äh, siehst echt gut aus. Stylisch“, stammele ich, und bereue es sofort. Es klingt banal, fast kriecherisch, und ich huste, um mein Unbehagen zu übertönen. „Wie wär's mit einem Kaffee?“

„Klar“, erwidert Callie und zieht ihr Handy hervor, ohne mich anzusehen. „Ich nehme einen Grande Oat Milk Cappuccino, extra trocken.“

„Okay. Möchtest du etwas dazu essen?“

Sie wirft mir einen kurzen, spöttischen Blick zu. „Von hier? Ist das dein Ernst?“

Ich springe auf und gehe zur Theke, während ich innerlich ihr kompliziertes Kaffee-Bestellmantra wiederhole. Es klingt teuer, und ich bezweifle, dass sie vorhat, mir das Geld zu geben, aber egal. Schließlich habe ich das Treffen initiiert. Also geht es auch auf meine Rechnung.

Immer wieder werfe ich einen Blick zurück zu Callie, die mit dem Rücken zu mir sitzt und über ihr Handy gebeugt ist. Für sie scheint dieses Treffen keine große Sache zu sein, während ich innerlich immer noch völlig durch den Wind bin, weil ich gleich meiner leiblichen Schwester gegenübersitze.

Als ich mit den Getränken zurückkomme, blickt sie kurz auf, greift wortlos zu ihrem Becher und steckt ihr Handy in ihre elegante Crossbody-Ledertasche. Sie nimmt einen Schluck und leckt sich zufrieden über die glänzenden Lippen.

„Du meintest, du hättest Beweise, dass du meine Schwester bist“, sagt sie und hebt eine perfekt gezupfte Braue.

„Ja.“ Ich greife in meine Tasche und hole die Ausdrucke der Website hervor. „Du hast dich offenbar selbst bei myancestry.com registriert. Sie haben uns gematcht.“

Callie nimmt die Blätter, überfliegt sie mit gerunzelter Stirn und gibt sie nach ein paar Minuten kommentarlos zurück.

„Ich habe mich gefreut, als ich erfahren hab, dass ich eine Schwester habe“, gestehe ich mit einem schüchternen Lächeln.

Meine Schwester verzieht den Mund. „Ich weiß nicht, was du dir hiervon versprichst, aber ich bin nicht in der Position, mich um dich zu kümmern. Mein Leben ist im Moment kompliziert genug.“

Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag in den Magen. Ich starre sie an, unfähig zu sprechen.

Lehnt sie mich so einfach ab?

Will sie mir nicht einmal eine Chance zu geben?

Mit zitternden Fingern greife ich nach meinem Kaffee. „Ich bin nicht hier, um dein—“

„Warum dann?“, unterbricht sie mich, ihre Augen verengt. „Schon merkwürdig, dass du gerade jetzt auftauchst, in dem Moment, da meine Stieftochter verschwunden ist.“

Kapitel 5

Ich verschlucke mich an meinem Kaffee und sprühe ungewollt einen ganzen Mund voll über den Tisch.

Callie reißt entsetzt ihren Stuhl zurück und starrt auf ihr Outfit, als hätte ich ihr gerade eine Tasse Säure übergeschüttet.

„Oh Gott, es tut mir so leid!“, stammele ich. „Warte … Ich glaube, ich hab dich nicht erwischt.“

„Das will ich hoffen!“, zischt sie und begutachtet kritisch ihre Ärmel. „Das ist nagelneu.“

Mit einem genervten Seufzen rückt sie noch weiter vom Tisch weg, als würde sie befürchten, direkt eine zweite Ladung abzukriegen.

„Es tut mir leid wegen deiner Stieftochter“, sage ich und tupfe die Kaffeespritzer auf dem Tisch mit einer Serviette weg. „Wie heißt sie?“

„Athena. Sie ist sechzehn.“

„Haben die Ermittler irgendwelche Anhaltspunkte?“

Callie greift nach ihrem Becher und dreht ihn prüfend in den Händen, bevor sie einen Schluck nimmt – offenbar, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht mit Speichel kontaminiert habe. Dann tippt sie mit einem perfekt manikürten Fingernagel auf den Plastikdeckel. „Nein. Sie behandeln es als Ausreißerfall.“

„Und was denkst du?“

Callie zuckt mit den Schultern. „Sie wäre nicht die Erste, die in dem Alter abhaut.“

Dann sieht sie mich misstrauisch an. „Hast du auch mit ihr geschrieben? Online, meine ich?“

„Was? Nein, natürlich nicht! Ich wusste ja nicht mal, dass du existierst, geschweige denn, dass du eine Stieftochter hast.“ Ich zögere kurz. „Und ihre Mutter?“

„Gestorben. Brustkrebs.“

Ich verziehe das Gesicht und nestele an der gewellten Pappmanschette meines Bechers herum. Fieberhaft versuche ich mich zu erinnern, ob ich auf Callies Facebook-Profil ein Foto von Athena gesehen habe.

„War Athena unglücklich zu Hause?“

Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, bereue ich sie schon. Callie wirkt nicht gerade wie jemand, mit dem das Zusammenleben leicht ist. Wenn Athena so verzweifelt war, dass sie abgehauen ist – wer weiß, vielleicht hatte das mehr mit Callie zu tun, als sie sich eingestehen will.

Zum ersten Mal huscht ein Anflug von Unsicherheit über Callies Gesicht. Sie senkt den Blick und nippt an ihrem Cappuccino.

„Ich habe dich gerade erst kennengelernt“, sagt sie leise. „Es wäre viel zu früh, das jetzt zu besprechen.“

Ich zupfe nervös an meinem Kleidersaum. Irgendetwas stimmt da nicht bei den Bramstons. Es gibt viele Gründe, warum ein Teenager unzufrieden sein könnte, aber nicht alle laufen gleich davon.

„Wir müssen nicht drüber reden, wenn du nicht willst“, sage ich vorsichtig. „Ich hoffe nur, dass wir mit der Zeit vielleicht … einander näherkommen. Und du dich mir irgendwann anvertrauen kannst.“

Callie lacht trocken. „Mag sein, dass wir verwandt sind, aber du bist trotzdem eine Fremde. Nichts für ungut.“

Ihre Worte treffen mich, doch ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen.

„Ich will mich nicht in dein Leben drängen. Wenn du keinen Kontakt willst, zieh ich mich zurück. Aber ich gebe zu, dass ich dich online gestalkt habe, und zwar ausführlich. Ich weiß, dass du auch adoptiert wurdest und dass deine Eltern nach Florida gezogen sind, als sie in Rente gingen. Bist du gar nicht neugierig auf mich?“

Callie verzieht die Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Na gut. Warum erzählst du mir nicht alles, was ich über dich wissen sollte, Sis?“

Trotz ihres sarkastischen Tons gebe ich ihr den Vertrauensvorschuss.

„Ich bin neununddreißig. Unsere Mutter war sechzehn, als sie mich bekam. Ich wurde von Glen und Anna Ross adoptiert. Die beiden waren schon fast fünfzig, als ich zu ihnen kam. Tolle Eltern, aber mittlerweile sind beide tot. Ich arbeite in einer kleinen Bäckerei namens—“

„Eine Bäckerei?“ Callie blinzelt irritiert. „Gehört sie dir?“

Meine Wangen glühen. „Nein, ich steh meistens hinter der Theke.“

Callie rümpft die Nase. „Und du warst nie auf dem College?“

Mir wird heiß. Allein das Wort „College“ bringt mich zum Schwitzen.

„Doch, aber …“ Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich drehe mich leicht zur Seite, um mich zu sammeln.

Ich will sie nicht belügen, aber das ist nichts, was man beim ersten Treffen einfach so auf den Tisch legt.

„Aber was?“

In ihren Augen flackert plötzlich Neugier. „Hast du abgebrochen?“

„Nein. Ich habe 2007 meinen Abschluss in Kommunikationswissenschaft an der Cal State LA gemacht.“

„Im Ernst? Da hat mein Mann Lincoln auch studiert.“ Callie rückt näher an den Tisch, neigt sich zu mir und zieht die Brauen hoch. „Und warum zum Teufel verkaufst du Donuts, wenn du einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft hast?“

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich ihr gleich beim ersten Gespräch von dem Fehler erzählen muss, der mein Leben entgleisen ließ. Ich kenne Callie nicht. Ich weiß nicht, wie sie reagieren wird. Vielleicht wird sie mich endgültig ablehnen.

Aber wenn ich will, dass wir mehr werden als nur ein DNA-Match in einer Datenbank, dann muss ich dieses Risiko wohl eingehen.

Kapitel 6

Mein Handy piept, und als ich einen Blick darauf werfe, erschrecke ich darüber, dass es bereits 13:00 Uhr ist.

Mein Geständnis muss warten. Ich bin schon zu spät dran für die Bäckerei.

„Tut mir leid“, sage ich, springe auf und greife nach meinem Becher. „Ich muss zurück zur Arbeit.“

Schnell kritzle ich meine Telefonnummer auf den Pappbecher.

„Falls du unser Gespräch irgendwann fortsetzen willst, ruf mich an. Und wenn nicht, bin ich trotzdem froh, dass wir uns begegnet sind. Ich hoffe und bete dafür, dass deine Stieftochter bald wohlbehalten auftaucht.“

Callie winkt mir mit lackierten Fingern hinterher, ihr Gesicht völlig ausdruckslos.

Ich kann nicht erkennen, ob sie neugierig genug ist, um sich noch mal bei mir zu melden, oder einfach nur erleichtert, dass ich verschwinde.

Die Zeit wird es zeigen.

Als ich in der Bäckerei ankomme, wirkt Jenna völlig erschöpft.

„Gott sei Dank!“, japst sie. „Hier war's total verrückt. Die Chocolate-Chip-Cookies und die Makronen sind schon ausverkauft.“

Ich stürze mich sofort in die Bedienung der wartenden Kundschaft.

Der Rest des Nachmittags vergeht wie im Flug, und ehe ich mich versehe, sind wir beim Thekenputzen und Kehren angelangt.

Ich gehe gerade hinaus, da meldet sich mein Handy. Ich bin verschwitzt und zu kaputt, um es sofort aus der Tasche zu fischen, deshalb warte ich, bis ich im Auto sitze.

Als ich die Nachricht lese, reiße ich überraschte die Augen auf.

Abendessen heute um 18:30 Uhr. Dann können wir unser Gespräch fortsetzen. Lincoln ist geschäftlich unterwegs. 605 Hawthorne Ave.

Ich umklammere das Lenkrad und überlege. Körperlich bin ich fix und fertig vom Tag, und emotional ausgelaugt von dem Kaffeetrinken mit meiner Schwester. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, ob ich eine zweite Runde mit Callie schaffe.

Andererseits bin ich total neugierig auf ihr Haus.

Wenn es so aussieht wie ihre Kleidung, lohnt sich der Besuch vermutlich schon dafür. Noch bevor ich mir die Einladung ausreden kann, sage ich zu.

Kaum bin ich zu Hause, springe ich unter die Dusche und beginne das stets zermürbende Prozedere: Was zur Hölle ziehe ich an? Mein Kleiderschrank gibt leider nicht viel her.

Kurz überlege ich, mein voriges Outfit wieder anzuziehen,

entscheide mich dann aber für Jeans und ein langärmeliges Baumwollshirt. Bequemlichkeit über Stil.

Ich habe noch etwas Zeit, also rufe ich Marco an und bringe ihn auf den neuesten Stand.

„Bist du sicher, dass du zu ihr nach Hause gehen willst?“, fragt er. „Du weißt so gut wie nichts über sie. Und diese ganze Sache mit ihrer verschwundenen Stieftochter klingt … seltsam, wenn du mich fragst. Ich finde es ziemlich dreist, dass sie dich gefragt hat, ob du was damit zu tun hast. Sei vorsichtig. Sie mag deine Schwester sein, aber sie ist trotzdem eine Fremde.“

„Komisch, genau das hat sie auch über mich gesagt. Ich glaube, wir müssen uns einfach erst mal kennenlernen, bevor da überhaupt Vertrauen möglich ist.“

Es folgt eine lange Pause, bevor Marco weiterspricht.

„Willst du es ihr sagen?“

„Keine Ahnung. Ich warte mal ab, wie der Abend verläuft.“

Marco grunzt. „Wenn du beim Abendessen ein komisches Gefühl bekommst, ruf mich an. Ich hole dich sofort ab. Ich will nicht, dass du die Nächste bist, die verschwindet.“

„Du machst dir wie immer zu viele Sorgen. Bis später.“

Ich beende den Anruf und werfe einen Blick auf die Uhr.

Ich muss los, sonst komm ich zu spät.

Mein Magen dreht sich.

Ist es zu spät, um abzusagen?

Während ich losfahre, hallt Marcos letzter Satz in meinem Kopf nach.

Sie mag deine Schwester sein, aber sie ist trotzdem eine Fremde.

Ich kann ein seltsames, nagendes Unbehagen nicht abschütteln.

Was, wenn Callie wirklich glaubt, ich hätte etwas mit dem Verschwinden ihrer Stieftochter zu tun?

Kapitel 7

Meine Augenbrauen wandern nach oben, als ich in die von Bäumen gesäumte Auffahrt von Callies eindrucksvollem Kolonialhaus einbiege – dem Typ Haus, der nach altem Geld, neuen Renovierungen und wahrscheinlich einem Privatkoch aussieht. Ich parke im Wendehammer aus Kies und werfe im Rückspiegel einen letzten Blick auf mein Gesicht. Ein gut gekleidetes Paar mit einem Mops tritt aus dem ebenso beeindruckenden Nachbarhaus. Sie nicken mir abschätzig zu und gehen weiter.

Wie nett … Ich lächle trotzdem.

Schon jetzt bereue ich mein unauffälliges Outfit. Mit einem Wischmopp in der Hand würde ich als Reinigungskraft durchgehen.

Vor der aufwendigen Haustür drücke ich die Klingel und bewundere das filigrane schwarze Eisenornament, während ich warte. Keine Ahnung, was so eine Tür kostet, wahrscheinlich mehr als meine Monatsmiete. Ich will gerade ein zweites Mal klingeln, als ich Schritte auf der anderen Seite höre. Ich strecke den Rücken durch und setze ein neutrales Lächeln auf, als die Tür aufschwingt. Callies Blick gleitet kurz über mich, einmal von oben nach unten, prüfend. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos. Ihre Erscheinung ist genau, was ich erwartet habe: schwarze Designerjeans, ein schulterfreies Seidentop. Ihr glänzendes Haar ist in diesem mühelos teuren Look, für den man Zeit und Geld braucht, zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden.

„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst“, begrüßt sie mich, irgendwo zwischen überrascht und sarkastisch.

Ich selbst war mir bis vor einer halben Stunde auch nicht sicher, aber das behalte ich für mich.

„Dein Haus ist wunderschön“, antworte ich, als ich in die große Eingangshalle mit Travertinboden trete.

Callie legt eine Hand an die Hüfte und wirft einen prüfenden Blick den Flur entlang. „Wir haben gerade eine große Renovierung hinter uns. Es war ein Albtraum, mit dem Bauunternehmer zu arbeiten. Ich habe ihm genaue Anweisungen gegeben, und er hat trotzdem das Gegenteil gemacht. Wir mussten so viele Dinge wieder rausreißen und neu anfangen.“

Während sie sich weiter über die Umbauarbeiten auslässt, führt sie mich in die Küche. Ich kann nicht anders, als zu staunen. Edelstahlgeräte, hohe Balkendecke, breite Holzdielen. Durch die französischen Türen fällt warmes Licht von der Terrasse herein. Es sieht so schön aus, dass ich nicht wüsste, warum man diesen Ort je verlassen sollte. Ich frage mich, was Lincoln wohl beruflich macht. Bisher deutet nichts darauf hin, dass Callie viel arbeitet, deshalb gehe ich davon aus, dass er das Geld einbringt.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragt sie. „Ich könnte eine Flasche Château Montesquieu Pinot aufmachen. Oder lieber einen Cocktail?“

„Nur Wasser, bitte. Ich trinke keinen Alkohol.“

Callie dreht sich überrascht zu mir um. „Gesundheitssache oder steckt eine Geschichte dahinter?“

„Darüber reden wir bestimmt noch beim Essen“, antworte ich. Ich möchte nicht sofort alles von mir preisgeben. Wenn sie offen ist, kann ich es auch sein. So wie es klingt, hat sie selbst genug mit sich herumzutragen, nicht nur wegen ihrer verschwundenen Stieftochter.

Während Callie die Getränke vorbereitet, sehe ich mich erneut in der Küche um. Enttäuschenderweise rieche ich nichts Gekochtes. Vielleicht bedeutet „Abendessen“ bei Callie einfach Käse und Cracker zum Wein.

„Hier“, sagt sie, stellt mir ein Glas Wasser hin und hebt ihr Weinglas. „Auf uns Schwestern.“

Ich stoße an. „Auf uns Schwestern.“

Das flüchtige Lächeln, das über ihr Gesicht huscht, ist sofort wieder verschwunden. Ich kann nicht sagen, ob sie wirklich Interesse an dem Kontakt zu mir hat, aber irgendetwas wird sie sich davon schon erhoffen.

Sie setzt sich auf einen Barhocker und deutet auf den neben sich. „Wo waren wir? Ach ja, du wolltest erklären, wie du dazu gekommen bist, Cupcakes zu verzieren, obwohl du einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft hast.“

Ich nehme einen Schluck Wasser. „Ich erzähl's dir. Aber dann bist du dran und verrätst mir etwas über dich.“

Callie lacht leise, während sie ihr Weinglas schwenkt. „Ich kann nicht behaupten, dass mir in all den Jahren eine herrische große Schwester gefehlt hat. Na gut, fang an. Ich bin gespannt.“

„Ich bin trockene Alkoholikerin.“

Callie verzieht das Gesicht. „Keine Überraschung. Hab ich mir schon gedacht.“

Ich zucke mit den Schultern. „Du bist dran.“

Sie tippt mit einem Fingernagel auf die Arbeitsplatte und wirkt nachdenklich. „Hm … was soll ich nehmen? Okay, hier ist was: Mein Mann hat sich heimlich sterilisieren lassen und mir erzählt, er hätte Fruchtbarkeitsprobleme.“

Mir klappt die Kinnlade runter. Die Nachricht an sich ist schockierend, aber genauso überrascht bin ich darüber, dass Callie mir gleich zu Beginn etwas so Persönliches und Schmerzhaftes anvertraut.

„Es tut mir … wirklich leid“, sage ich und greife nach meinem Wasserglas, um einen schnellen Schluck zu nehmen. „Ich nehme an, du wolltest eigene Kinder?“

Sie runzelt die Stirn und blickt durch die französischen Türen in den Sonnenuntergang. „Wollte ich, aber jetzt ist es anders.“

„Inwiefern?“

Sie dreht den Kopf ruckartig zu mir. „Erst bist du dran. Wie bist du süchtig geworden?“

Ich senke den Blick und drehe mein Glas langsam auf der Theke. Alles verrate ich ihr bestimmt nicht. Sie ist noch immer eine Fremde.

„Meine beste Freundin Emma wurde auf einer College-Party einer Verbindung vergewaltigt. Wir hatten abgemacht, zusammenzubleiben, aber ich habe mich ablenken lassen. Hab mit ein paar anderen Leuten rumgealbert und hatte keine Ahnung, was oben mit Emma passiert. Als ich es erfahren habe, bin ich zusammengebrochen. Der Alkohol hat den Schmerz betäubt, als sonst nichts mehr geholfen hat.“

Callie mustert mich lange, als könnte sie spüren, dass ich einen wichtigen Teil auslasse.

Bevor sie nachhaken kann, stelle ich die Frage, die sie vorhin vermieden hat. „Warum ist Athena von zu Hause weggelaufen?“

Callie nimmt einen großen Schluck Wein, ihre Augen bleiben die ganze Zeit auf mich gerichtet. Dann beugt sie sich vor und flüstert mir ins Ohr:

„Das solltest du ihren Vater fragen.“

Kapitel 8

Ich atme scharf ein. Will Callie andeuten, dass Lincoln seine Tochter missbraucht hat? Oder haben sich die beiden einfach nicht verstanden?

„Was meinst du—“

„Nope“, unterbricht Callie. „Ich bin wieder dran.“

Bevor sie etwas sagen kann, ertönt die Türklingel. Ich zucke zusammen und stoße mein Wasserglas um.

„Oh nein, tut mir leid!“, rufe ich und springe auf, um ein Küchentuch zu holen. „Das ist doch nicht dein Mann, oder?“

Callie verdreht die Augen. „Wohl kaum. Lincoln hat den Zugangscode.“

Während sie in den Flur eintaucht, schnappe ich mir ein Tuch und wische die Sauerei auf.

Ich habe mich gerade wieder hingesetzt, als sie mit einer braunen Papiertüte zurückkommt. Der reichhaltige, würzige Duft, der daraus aufsteigt, lässt mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen.

„Ohne Lieferservice wäre ich verloren“, sagt sie lachend und zieht mehrere Pappbehälter aus der Tüte. „Ich koche nicht, falls du dich das gefragt hast. Hoffentlich magst du italienisch.“

„Ja, total.“

Auch, wenn ich in meinem Leben schon mehr Pasta gegessen habe, als gut für mich ist, lässt mich der Geruch sofort hungrig werden. Callie füllt uns beiden eine großzügige Portion eines Gerichts ab, das besser aussieht als alles, was ich seit Langem gegessen habe.

„Was ist das?“, will ich wissen und beuge mich vor, um an der Soße zu schnuppern.

„Short-Rib-Ravioli, von Trattoria Nonna's. Eine ihrer Spezialitäten. Warst du schon mal dort?“

„Hab noch nie davon gehört.“

Ich koste den ersten Bissen und stöhne ungewollt auf. Das Fleisch ist zart, die Soße würzig und vollmundig, die Ravioli leicht und fluffig. Ich bin im Himmel.

Callie schluckt einen Bissen herunter und tupft sich sorgfältig mit der Serviette den Mund ab.

„Wo waren wir? Ach ja, du wolltest mir von deinem Weg in die Sucht erzählen.“ Sie greift zur Weinflasche und schenkt sich nach. „Ich wette, da steckt mehr dahinter.“

Sie spießt ein Stück Ravioli auf, dreht es und blinzelt mich mit ihren falschen Wimpern erwartungsvoll an.

Mein Herz schlägt schwer gegen meine Rippen.

Soll ich ihr die Wahrheit sagen, oder unsere vorsichtige Annäherung in einer Lüge zementieren?

Ich lege das Besteck zur Seite und schiebe meinen Teller weg. Der Appetit ist mir schlagartig vergangen. Ich stoße einen langen, zitternden Atemzug aus.

Callie steckt sich ein Raviolo in den Mund und kaut langsam, ohne den Blick von mir zu nehmen.

„Na los.“

Ich räuspere mich, während mir der kalte Schweiß am Haaransatz ausbricht. All die alten, vertrauten Gefühle von Schuld und Selbsthass kommen wieder hoch, als sich die Erinnerung an diesen einen Tag mit voller Wucht in mein Bewusstsein drängt. Monatelang bin ich morgens aufgewacht und habe gehofft, es sei nur ein Albtraum gewesen. Und abends habe ich mich ins Koma getrunken, um diesen zu vergessen. Ohne Rücksicht darauf, ob es mich umbringen würde.

Callie stößt ein genervtes Geräusch aus und ich lege los.

„Emma wollte keine Anzeige erstatten. Sie hatte getrunken und war freiwillig auf der Party. Sie wusste nicht mal genau, wer der Typ war, der sie überfallen hat. Er kam von hinten, hielt ihr den Mund zu und zerrte sie in ein dunkles Zimmer. Sie war der Meinung, dass die Polizei ihr sowieso nicht glauben würde. Ich hab versucht, sie zu überzeugen. Ich dachte, ich hätte sie soweit. Aber dann …“ Meine Stimme bricht. Tränen steigen mir in die Augen.

„Atme kurz durch“, sagt Callie, während sie unbeeindruckt ein Stück Brot vom Laib abbricht, das zum Essen mitgeliefert wurde.

Ich werfe ihr einen genervten Blick zu. Sie tut so, als wäre das hier eine Soap, auf deren nächste Folge sie gespannt wartet. Aber das ist keine Geschichte. Das war ein echter Mensch. Jemand, der mir etwas bedeutet hat.

Ich trinke einen Schluck Wasser, bevor ich weiterspreche.

„Jemand von der Party hat ein halbnacktes Foto von Emma ans Schwarze Brett im Wohnheim gehängt. Jeder wusste, dass sie es war. Sie … sie hat es nicht verkraftet und sich das Leben genommen.“

Callie erstarrt, die Hand mit dem Brot in der Luft hängend. Sie blinzelt und flüstert: „Wie?“

„Sie hat sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten. Ich hab sie am nächsten Morgen gefunden.“

Callie lehnt sich zurück und stößt ein leises Pfeifen aus.

„Krass. Kein Wunder, dass du am Ende warst. Was für ein Arsch der Typ war. Zu denken, dass der völlig unbehelligt davongekommen ist …“

Ich nicke. Auch, wenn ich ihr noch nicht erzählt habe, was ich danach getan habe.

Aber das kann warten.