Kapitel 1
Als der Zug langsam in den Bahnhof einrollte, verspürte ich einen Stich des Bedauerns, dass die Reise so schnell schon wieder zu Ende war. Wochenlang hatte ich mich auf meine erste Fahrt in einem Dampfzug gefreut und sie hatte all meine Erwartungen erfüllt.
Hier in dem eleganten Abteil mit seinen weinroten Plüschsitzen, den Gepäckablagen und der Schiebetür war mir das Herz aufgegangen und meine Fantasie mit mir durchgegangen, während ich aus dem Fenster auf die Dampfwolken der Lokomotive geblickt und mich in einer anderen Zeit gesehen hatte – einer Ära der eleganten Kleider, wohlerzogenen Menschen und Schulkinder, die still und geduldig dasaßen, wie es die Lehrer von ihnen verlangten, anstatt sich zu streiten, laut knirschend Bonbons zu kauen oder sarkastische Bemerkungen über langweilige Schulausflüge zu machen.
Die Busreise von der Lowerthorpe Primary School in Leicestershire zu dem Städtchen Much Melton in den Cotswolds, wo wir in den Zug gestiegen waren, war mir weitaus länger als anderthalb Stunden vorgekommen. Ich beneidete die Lehrer nicht, die mit manchen der Kinder täglich umgehen mussten. Ich hatte mich nur freiwillig gemeldet, die Klasse auf diesem Schulausflug zu begleiten, weil es für mich eine Gelegenheit war, Zeit mit meiner Tochter Immi zu verbringen. Ich hatte sie in letzter Zeit kaum gesehen, weil ich bei der Arbeit und sie in der Schule war und daher hoffte ich, dass dieser Ausflug uns einander näherbringen würde.
Ich warf einen Blick auf meine kleine Tochter, die gar nicht mehr so klein war. Immi hatte die Aussicht draußen vor dem Fenster nicht beachtet und auch keine große Begeisterung über die Fahrt in einem Dampfzug gezeigt. Sie und ihre Freundin Violet waren viel zu sehr in das Videospiel auf ihren Handys vertieft.
Eigentlich hatte ich Immi gar kein Handy schenken wollen, aber sie hatte gebettelt und gefleht und mir erzählt, dass alle in ihrer Klasse eins hätten und sie praktisch eine Außenseiterin sei, weil sie nicht auf Snapchat war. Letztes Jahr hatte ich schließlich nachgegeben und ihr zu ihrem zehnten Geburtstag ein generalüberholtes Handy gekauft. Nichts ist so überzeugend wie die emotionale Erpressung eines Kindes – vor allem, wenn man schon das schreckliche Gefühl hat, nicht die beste Mutter zu sein.
Die Tür glitt auf und Immis Lehrer Mr Gaskill blickte sich rasch im Abteil um. Er war ein kleinwüchsiger Mann Mitte fünfzig mit Halbglatze, den ich immer für einen sympathischen Typ gehalten hatte, und auch Immi schien ihn zu mögen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er. Ob er mich oder die sechs Kinder meinte, die um mich herum saßen, war nicht klar. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er rasch fort: „Wir fahren jetzt auf dem Bahnhof Harling ein, könnt ihr also bitte eure Mäntel und Taschen zusammenpacken? Wir steigen gleich aus. Wenn es so weit ist, möchte ich, dass ihr euch in einer ordentlichen Reihe auf dem Bahnsteig anstellt, damit ich euch zählen kann. Miss Chase, würden Sie bitte dafür sorgen, dass die Kinder das tun?“
Er lächelte mich kurz an, als ich nickte. „Der Bus nach Rowan Vale fährt vom Bahnhofsparkplatz ab. Ihr habt alle zehn Minuten Zeit, um auf die Toilette zu gehen, aber wirklich nur zehn Minuten. Also kein Trödeln, okay?“
Er sah alle hintereinander streng an, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. Dann schob er die Tür wieder zu, bevor er sich auf den Weg zum nächsten Abteil machte, vermutlich um vor den Passagieren die gleiche Rede zu halten.
Vierundzwanzig Kinder nahmen an der Reise teil, zusammen mit den Lehrern, Mr Gaskill und Mrs Ledbury, einer anderen Mutter namens Diana Goodyear, die sich als ehrenamtliche Begleiterin gemeldet hatte, und mir. Jeder Erwachsene hatte die Verantwortung für sechs Kinder im Zug übernommen. Ich konnte nur hoffen, dass wir sie gemeinsam in Schach halten könnten, wenn sie auf das ahnungslose Städtchen Rowan Vale losgelassen wurden.
„Gut, ihr habt ja gehört, was Mr Gaskill gesagt hat“, sagte ich heiter. „Eure Jacken und Taschen, bitte.“
Es entstanden ein paar chaotische Minuten, in denen die Kinder ihre Sachen zusammenpackten und sich zur Tür begaben. Ich hob mehrere Bonbonpapiere und eine leere Chipstüte vom Boden auf, steckte sie in meine Jackentasche und folgte meinen Schützlingen hinaus auf den Gang. Dort gesellten sich ihre Klassenkameraden aus den anderen Abteilen zu ihnen, sowie Diana und Mrs Ledbury, die sich angeregt über eine neue Lippenstiftmarke unterhielten, die sie neu entdeckt hatten und die angeblich extrem lange hielt, auch nicht einmal einen Fleck auf einer Tasse hinterließ.
Mr Gaskill forderte alle auf, ihm zu folgen. Die Kinder drängelten und schubsten sich leicht, da jeder als Erster aus dem Zug steigen wollte, doch insgesamt benahmen sie nicht allzu schlecht. Ich bildete das Schlusslicht und zählte beim Weitergehen automatisch alle Köpfe, obwohl ich wusste, dass Mr Gaskill es noch einmal tun würde, wenn wir ausstiegen.
Schließlich betrat ich den Bahnsteig von Harling’s Halt und schaute mich entzückt um. Obwohl ich es hätte wissen müssen, war mir nicht klar gewesen, dass der Bahnhof zum Rowan-Vale-Erlebnis dazugehörte. Schließlich war er Teil des Guts Harling Estate, zu dem auch das Dorf gehörte und dessen Eigentümer ein Sir Lawrence Davenport war.
Der Website zufolge hatte Sir Edward Davenport – Lawrences Vater – die Strecke zwischen Harling’s Halt und dem Marktstädtchen Much Melton in den 1960-er Jahren erworben, als sie stillgelegt wurde. Seitdem betrieben die Davenports die privaten Gleise zwischen den beiden Bahnhöfen.
Für viele Besucher von Rowan Vale war Harling’s Halt der Startpunkt für ihre Fahrt ins Dorf. Hier stiegen sie in einen der Oldtimerbusse ein, die sie in zehn Minuten an ihr Ziel brachten – ein Dorf in Privathand, das auf einem großen Gut im Landschaftsgebiet der Cotswolds lag, wo moderne Fahrzeuge verbannt worden waren, das Personal historische Kostüme aus verschiedenen Epochen trug und viele der alten Gebäude für ihren ursprünglichen Zweck genutzt wurden.
Während Mr Gaskill die Kinder ein zweites Mal zählte, sah ich mich auf dem kleinen Bahnhof um, der fröhlich mit Wimpeln, Blumenampeln und Pflanztöpfen geschmückt war. Schilder wiesen den Fahrgästen den Weg zu den Victory Tearooms, einem Wartesaal, dem Fahrkartenschalter und den Toiletten. Aber es waren die Leute in historischen Kostümen auf dem Bahnsteig, die meinen Blick auf sich zogen.
„Ohh“, sagte Diana, „das ist ja wie in dem Film Die Eisenbahnkinder!“
Die Harling’s-Halt-Version vom Bahnhofswärter Mr Perks, der in seiner Uniform auf und ab ging, ließ ihn tatsächlich genauso aussehen, als wäre er direkt aus dem Film gestiegen.
Trotzdem bestand kein Zweifel daran, dass der Bahnhof der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gewidmet war. Von den Gebäuden wehten Wimpel mit der Unionsflagge, an den Wänden und von den Fenstern des Warteraums hingen Rekrutierungsposter, und die leise Melodie von „It’s a Long Way to Tipperary“ erklang wie aus weiter Ferne.
Elegante Damen in knöchellangen Kleidern oder Röcken und breitkrempigen Hüten und viele Männer in Uniformen aus dem Ersten Weltkrieg schlenderten über den Bahnsteig, während andere in Grüppchen herumstanden und sich angeregt unterhielten. Offensichtlich waren es Schauspieler, die der Besitzer des Guts angeheuert hatte, aber man konnte fast glauben, dass sie wirklich über die neuesten Nachrichten von der Front redeten oder sich auf einen gefühlvollen Abschied von ihren Liebsten vorbereiteten.
Der Ort begann bereits, mich langsam in seinen Bann zu ziehen. Vielleicht würde er auch die Kinder verzaubern. Ich warf einen hoffnungsvollen Blick auf Immi, doch die plauderte mit Violet und schien sich nicht sonderlich für ihre Umgebung zu interessieren. Ich seufzte im Stillen. Nun ja, ich fand es faszinierend, wenn sich auch nicht alle anderen dafür begeisterten. Die Uniformen sahen absolut authentisch aus.
Als Mr Gaskill laut meinen Namen sagte, zuckte ich zusammen und bemerkte zu meiner Verlegenheit, dass mich alle anstarrten.
„Entschuldigung. Ja. Nein. Ich meine, was ist?“
Diana grinste. „Alle guten Mädels lieben Soldaten“, flüsterte sie und stupste mich neckend an.
„Ich habe gefragt, ob es Ihnen oder Mrs Goodyear etwas ausmachen würde, mit den Mädchen auf die Toilette zu gehen, während ich die Jungs begleite“, erklärte Mr Gaskill geduldig. „Mrs Ledbury geht zur Abholstelle, um die Fahrt ins Dorf zu klären.“
„Natürlich nicht. Kein Problem.“
„Ich komme mit“, sagte Diana. „Bei mir wird‘s so dringend, dass es eine Pfütze auf dem Boden geben wird, wenn wir uns nicht beeilen.“
„Ach, Mum!“ Ihre Tochter Katie wurde knallrot, während ein paar der Jungen laut über ihre Beschämung johlten.
Mrs Ledbury – die anscheinend die Blase eines Kamels hatte – ging durch den Torbogen zum Busbahnhof und Parkplatz, um zu sehen, ob der Bus schon da war.
Diana, Mr Gaskill und ich teilten die Kinder nach Geschlecht auf und trieben sie zur Herren- oder Damentoilette. Nachdem ich selbst aufs Klo gegangen war, wartete ich draußen auf die restlichen Mädchen. Immi und Violet kamen schon bald zum Bahnsteig zurück, gefolgt von Mr Gaskill und den meisten anderen Kindern. Mrs Ledbury eilte durch den Torbogen zu uns zurück.
„Die Bushaltestelle befindet sich an der Einfahrt zum Busparkplatz“, informierte sie uns, „und der Bus wartet bereits auf uns.“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. „Vielleicht sollten wir schon mal hingehen. Kann eine von euch Müttern auf die Nachzügler warten, während wir die übrigen Kinder in den Bus verfrachten?“
„Ich mach es“, sagte ich, froh über die Gelegenheit, noch ein paar Minuten die Atmosphäre von Harling’s Halt genießen zu können.
Immi sah mich unsicher an. „Soll ich mit dir hier warten?“
„Nein, ist schon gut“, versicherte ich ihr. „Geh du mit den anderen vor.“
Während Diana und die beiden Lehrer die Kinder durch den Torbogen führten, lehnte ich mich an die Wand und wurde von tiefer Zufriedenheit erfüllt. Es war wie eine echte Zeitreise, dabei war das hier nur der Bahnhof. Wie würde sich das Dorf wohl anfühlen?
Es war ein herrlicher, sonniger Tag zu Beginn des Aprils. Das erste Schulhalbjahr endete in wenigen Tagen. Außer diesem Tag hatte ich mir noch nächste Woche freigenommen, um den ersten Teil der Osterferien mit meiner Tochter zu verbringen. Und ich konnte es kaum erwarten.
Violets Mutter Mel kümmerte sich meistens um Immi, wenn meine Arbeitszeiten mit den Schulferien kollidierten. Sie hatte vier eigene Kinder und sagte, noch eins wäre kein Problem. Ich hatte Glück gehabt, dass die Agentur, die mich als Pflegekraft eingestellt hatte, so entgegenkommend war, was meine Arbeitszeiten anging. Aber ich hatte bei weitem nicht so viele Urlaubstage wie Immi Schulferien und da ich als Alleinerziehende kaum Geld für die Kinderbetreuung übrig hatte, war Mel ein Geschenk des Himmels.
Ab September würde Immi auf die weiterführende Schule gehen, was sich wie eine große Veränderung in unserem Leben anfühlte. Das brachte mich dazu, über die Zukunft nachzudenken und darüber, welche Richtung ich einschlagen wollte. Zwar waren meine Optionen begrenzt, doch mein damals eingeschlafener Ehrgeiz wuchs wie Japanischer Staudenknöterich. Ich wollte einen Job, der mir mehr Zeit zu Hause ließ, aber in dem ich auch genug verdiente, um ein sorgenfreieres Leben zu haben. Und wenn ich richtig gierig wäre, würde ich eine größere Wohnung für Immi und mich auf die Wunschliste setzen. Vielleicht sogar ein Haus mit Garten.
Ja klar, Callie. Viel Glück.
Ich schüttelte im Stillen den Kopf. Ich lebte in einer Traumwelt. Solche Jobs gab es nicht. Jedenfalls nicht für Leute wie mich. Ich konnte mir vorstellen, was Mum gesagt hätte: Zieh den Kopf aus den Wolken und konzentriere dich auf die reale Welt.
Schade war nur, dass die reale Welt nicht viel Spaß machte.
Das Geräusch eines Gerangels zu meiner Rechten riss mich aus meinen Tagträumen. Ich stieß mich von der Wand ab und starrte mit offenem Mund auf zwei Männer, einen Dunkelhaarigen und einen Blonden, die als Soldaten verkleidet waren und sich am anderen Ende des Bahnsteigs wütend stießen und schubsten.
War das Teil ihrer Vorstellung? Wenn ja, dann war es ein seltsamer Akt, denn sie mussten mitbekommen haben, dass Kinder in der Nähe waren.
Ich sah mich nach den anderen Schauspielern um, doch die schenkten den beiden keine Beachtung. Also gehörte es doch zur Show? Würden sie sonst nicht wenigstens ein bisschen beunruhigt aussehen? Und vom Wärter Perks war weit und breit keine Spur, daher konnte ich ihn nicht fragen.
Die Nachzügler würden jeden Moment aus den Toiletten kommen, und ich wollte auf keinen Fall, dass sie zwei erwachsene Männer in Kostümen zu sehen bekamen, die sich prügelten. Da sich sonst keiner auch nur im Entferntesten dafür zu interessieren schien, musste ich mich darum kümmern. Na toll.
Ich rannte hinüber zu den Soldaten und mein Herz klopfte heftig, als ich die sehr reale Wut in den Augen des blonden Mannes sah.
„Entschuldigen Sie –“
„Du lügst, Ronnie Smith! Sie hätte dich keines zweiten Blickes gewürdigt. Außerdem war sie mir treu, das war meine Lily.“
„Ja, na klar. Lily war uns allen treu. Einem nach dem anderen, sozusagen.“
„Nimm das zurück, sonst bring ich dich um!“ Der blonde Soldat zielte mit der Faust auf den Dunkelhaarigen. Sie landete auf Ronnie Smiths Wange und bestätigte dadurch, dass die beiden nicht schauspielerten.
Unglaublich, sich so in der Öffentlichkeit zu benehmen! Was wäre gewesen, wenn Immi mit mir zusammen gewartet hätte und das alles mitbekommen hätte?
„Hey! Hier sind Kinder in der Nähe. Was zum Teufel denken Sie sich dabei?“
Der blonde Soldat warf mir einen flüchtigen Blick zu. Gleich darauf ließ er die Faust sinken, wich zurück und starrte mich an. Ronnie Smith rieb sich die Wange und beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen.
„Sprechen Sie mit uns?“
„Nein. Ich rede mit dem Einhorn da drüben. Im Ernst?“, fügte ich hinzu, als sie sich beide überrascht umdrehten. „Sehen Sie, da hinten sind Kinder –“
Ich sah, dass die übrigen Schülerinnen und Schüler nun auf dem Bahnsteig standen. Mrs Ledbury war zurück und zählte offensichtlich die Kinder noch einmal durch. Ihr Blick fiel auf mich und sie deutete auf den Torbogen, der zum Parkplatz führte.
„Der Bus fährt gleich ab!“, rief sie.
Ich nickte. „Bin gleich da.“
Während Mrs Ledbury sich wieder den Kindern zuwandte, funkelte ich die Soldaten, die verwirrt wirkten, erzürnt an.
„Sehen Sie? Kinder. Also“, sagte ich und nickte dem blonden Mann zu, „ich weiß, dass sein Name Ronnie Smith ist, aber wie heißen Sie?“
Einen Moment lang starrte er mich an, dann antwortete er stockend: „Bill. Bill Fairfax.“
„Und wer ist Ihr Chef?“
„Unser … unser Chef? Sie meinen unseren Vorgesetzten, den Offizier?“
Ich verdrehte die Augen. „Sehr witzig. Ich meine, wer ist für Sie zuständig? Wer hat Sie eingestellt? Sie müssen doch irgendeinen Chef haben? Oder soll ich direkt zu Sir Lawrence gehen?“
Die beiden Männer starrten erst sich und dann mich an. Waren sie wirklich so unterbelichtet oder wollten sie mich veräppeln?
Genervt sagte ich: „Ach, was soll’s. Gut, dann spreche ich halt mit Sir Lawrence. Sicher kann mir jemand sagen, wo ich ihn finde.“
Bill Fairfax fragte gedehnt: „Reden Sie wirklich mit uns?“
„Mit wem sonst …“
Doch meine Stimme verstummte, als mich ein seltsames Gefühl überkam. Ein Schauer lief mir über den Rücken und entlang meiner Schulterblätter und ließ mich frösteln. Mir kam eine vage Erinnerung, aber ich konnte nicht genau sagen, was es war.
Ich schluckte und mir wurde plötzlich leicht schlecht.
„Miss Chase, was machen Sie da? Der Bus fährt gleich ohne uns ab!“, rief Mrs Ledbury von weiter oben auf dem Bahnsteig. Sie klang ungeduldig.
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, was zum Teufel mit mir los war.
„Ich komme ja schon!“
Ohne einen weiteren Blick auf die beiden Schauspieler eilte ich zum Rest der Schulklasse.
Kapitel 2
Der kleine scharlachrote und elfenbeinfarbene Oldtimerbus ruckelte über die Landstraßen und ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück, schaute entzückt aus dem Fenster. Ich ließ die Schultern sinken und allmählich entspannten sich meine Nackenmuskeln. Was auch immer dieses komische Gefühl am Bahnhof gewesen war – jetzt ging es mir gut. Wie sollte es mir bei dieser Aussicht auch anders gehen?
Die prächtigen Cotswolds. Ein kornblumenblauer Himmel über sanften, grünen Hügeln, Weiden, auf denen Schafe, Kühe und Pferde grasten, und leuchtend gelbe Osterglocken am Straßenrand, die der Landschaft einen Hauch von Sonnenschein verliehen.
„Alles in Ordnung, Callie?“
Überrascht wandte ich mich Diana zu. „Natürlich. Hast du einen anderen Eindruck?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich war nur nicht sicher. Du hast etwas angespannt gewirkt, als wir den Bahnhof verlassen haben.“
„Angespannt“ war nicht der richtige Ausdruck. Ich fragte mich, welches Wort dem Gefühl gerecht werden würde, das mich überkam, als ich mit den beiden Männern auf dem Bahnsteig gestanden hatte. Für einen Augenblick hatte ich echte Angst und eine seltsame Vertrautheit verspürt, als sich etwas in mir regte. Etwas, das mir bekannt war. Aber was war es?
Andererseits hatte ich schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt. Eine meiner deutlichsten Erinnerungen an Mum war, wie sie mich deswegen ermahnte.
„Hör auf zu träumen, Liebling“, hatte sie mir immer wieder gesagt. „Komm in der realen Welt an. Benimm dich normal.“
Mr Gaskill beugte sich von seinem Platz auf der anderen Seite des Ganges zu uns herüber. „Wie finden Sie den Bus? Fantastisch, nicht wahr? Ein Leyland Tiger, Baujahr 1946. Ich habe ihn mir näher angesehen, als ich hergekommen bin, um mir den Ort anzusehen.“
Diana verdrehte die Augen und stieß mich heimlich an.
„Ganz bezaubernd“, stimmte ich ihm zu und ignorierte Diana. Mr Gaskill hatte recht. Dieser Oldtimerbus war wie aus einem historischen Theaterstück. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er in Der Doktor und das liebe Vieh durch die Dales ruckelte. Es gab sogar einen Schaffner, der mit seinem Fahrkartenautomaten den Gang auf und ab ging und freundlich mit den Kindern plauderte.
„Und war der Bahnhof nicht großartig? Diese Gestalten in ihren Outfits aus dem Ersten Weltkrieg und der altmodische Teeladen! Im Dorf gibt es noch einen zweiten, wissen Sie, im Stil der Ära des Zweiten Weltkrieges. Der liegt direkt neben –“ Er hielt inne, als ich unerklärlicherweise wieder schauderte. „Ist alles in Ordnung?“
„Ehrlich gesagt“, erwiderte ich, „habe ich mich nur gefragt, ob ich die beiden Schauspieler, die sich auf dem Bahnsteig geprügelt haben, ihrem Vorgesetzten melden soll.“
Mr Gaskill machte große Augen. „Welche zwei Schauspieler? Sind Sie sicher, dass sie sich geprügelt haben? Vielleicht gehörte es zu einer Vorstellung.“
„Das tat es nicht“, versicherte ich ihm. „Ich möchte sie nicht in Schwierigkeiten bringen, aber sowas ist nicht in Ordnung. Sie müssen gesehen haben, wie die Kinder auf dem Bahnsteig angekommen sind, und hätten sich zurückhalten sollen, finden Sie nicht auch?“
„Natürlich. Ach, war es das, was Sie da gemacht haben? Wir haben uns gefragt, was Sie dort aufgehalten hat.“
„Ja. Was denken Sie? Soll ich sie melden?“
„Ich denke schon. Es hätte außer Kontrolle geraten können. Sie wissen ja, wie eine Prügelei eskalieren kann, und es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn die Kinder sie mit angesehen hätten oder von einem der beiden verletzt worden wären. Stellen Sie sich vor, sie hätten es zu Hause ihren Eltern erzählt!“ Er schauderte bei dem schrecklichen Gedanken. „Du meine Güte, das wäre das Letzte, was wir brauchen können. Nein, ohne Frage, Callie: Sie sollten sie unbedingt melden.“
„Aber an wen?“
„Ich nehme an, Sir Lawrence Davenport hat die Leitung. Schließlich ist es sein Gut.“ Er runzelte die Stirn. „Die Buchung lief über sein Büro in Harling Hall, also muss es eine Sekretärin oder einen Manager oder so jemanden geben. Wenn wir zurück sind, schicke ich ihnen eine E-Mail.“
Ich war nicht so sicher, ob das eine gute Idee war. Was, wenn Sir Lawrence die Schauspieler rausschmiss? Das könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich wusste nur zu gut, wie es war, pleite zu sein. Natürlich mussten sie begreifen, dass ihr Benehmen inakzeptabel war, aber ich wollte nicht, dass sie meinetwegen ihren Job verloren.
„Ach, das ist schon okay“, sagte ich und beschloss, dass es besser sei, persönlich mit jemandem in Sir Lawrences Büro zu sprechen, damit ich klarstellen konnte, dass ich ihn nicht dazu bringen wollte, sie zu feuern. „Ich übernehme das. Ich gehe heute nach Harling Hall. Schließlich war ich es, die gesehen hat, wie sie sich gestritten haben.“
„Ach, sind wir schon da, Sir?“
Ein Chor aus erregten Rufen ertönte, als der Bus rechts von der Hauptstraße abbog und wir ein großes Schild am Straßenrand zu Gesicht bekamen, auf dem stand:
Historisches Waldgebiet, Kulturerbe, Rowan Vale Living
Historisches Dorf
Ich vermutete, die Aufregung rührte eher davon, dass die Kinder es nicht mehr erwarten konnten, sich die Beine zu vertreten und ein bisschen herumzulaufen. Weniger aus der Begeisterung, diesen Ort zu besuchen, der im Grunde ein riesengroßes Museum war.
„Setzt euch bitte wieder“, sagte Mr Gaskill laut. „Wir sind gleich da, ihr könnt also sicher noch ein bisschen länger ruhig sitzen bleiben.“
Der Bus ratterte über eine lange, gerade Straße, die an beiden Seiten von Wald gesäumt war und, wie Mr Gaskill uns ziemlich langatmig erklärte, Quicken Tree Avenue hieß und sich fast über zwei Meilen erstreckte. „Quicken Tree“, fügte er hinzu, „ist ein alter Begriff für die Eberesche. Wir biegen aber ungefähr auf halber Strecke nach dem Dorf Rowan Vale ab.“
„Wie kommt es, dass hier Autos fahren?“, fragte Diana plötzlich. „Ich dachte, sie wären von den Straßen verbannt?“
Mr Gaskill seufzte so geduldig wie jemand, der uns das alles schon erklärt hatte. „Im eigentlichen Dorf Rowan Vale sind Autos verboten und auf dem gesamten Gut sind keine Reisebusse gestattet – deswegen ist der Busparkplatz am Bahnhof. Gleich hinter der Abbiegung zum Dorf befindet sich ein großer Parkplatz für Besucher, die nicht mit dem Zug angereist sind.“
„Oh“, sagte Diana. „Ich verstehe.“
Mr Gaskill schüttelte fast unmerklich den Kopf und beugte sich wieder zu mir. „Wenn Sie zuerst das Büro des Guts aufsuchen möchten, habe ich nichts dagegen, aber ich werde trotzdem eine Beschwerde per E-Mail einreichen“, bemerkte er leise, bevor er sich wieder auf seinem Sitz niederließ.
Der Bus nahm die Ausfahrt auf der linken Spur und ich entdeckte ein Schild mit der Aufschrift:
Rowan Vale Village
Zufahrt nur autorisierten Fahrzeugen gestattet.
Ein paar Minuten später wich der Wald weiten Feldern und Ackerland, dann tauchten ein paar Gebäude auf und in der Ferne sah ich einen Kirchturm.
Das Murmeln der Kinder wurde lauter, und ich bemerkte, dass Mrs Ledbury schon in ihre Jacke schlüpfte.
„Schauen Sie mal, wir kommen gerade an Harling Hall vorbei.“ Mr Gaskill nickte in Richtung Fenster. „Sie können später hier vorbeischauen, während wir anderen zu Mittag essen. Passt das?“
„Das werde ich tun“, erwiderte ich. Wer brauchte schon was zu essen?
Ich schaute aus dem Fenster und versuchte, Harling Hall zu erspähen. Zwar hatte ich die Beschreibung auf der Website des Guts nur überflogen, doch ich wusste, dass es Ende des sechzehnten Jahrhunderts von der Familie Harling, den damaligen Besitzern des Dorfs, erbaut worden war.
Das Haus war von einer Steinmauer umgeben und der Bus fuhr viel zu schnell am Tor vorbei, als dass ich mehr als einen flüchtigen Blick auf die zahlreichen Schornsteine erhaschen konnte, bevor es wieder aus meinem Blickfeld verschwand. Aber ich ging davon aus, dass ich es schon bald aus der Nähe zu sehen bekommen würde.
Wenn ich zwei junge Männer in Schwierigkeiten bringen würde.
Und dafür sorgte, dass sie rausgeschmissen wurden.
Möglicherweise.
Ach, Mist, ich war eine schreckliche Person. Vielleicht hätte ich doch lieber den Mund halten sollen.
***
Wir waren erst seit gut zwei Stunden in Rowan Vale und ich hatte mich schon in das Dorf verliebt, das mit seinen honigfarbenen Steinhäusern, der Kirche aus dem dreizehnten Jahrhundert und der herrlichen Umgebung atemberaubend schön war.
Eine goldene Wand aus Osterglocken schmückte die Ufer des Flusses Faran – eines seichten Gewässers, das eher ein breiter Bach als ein Fluss war – und durch den Dorfkern von Rowan Vale floss. In regelmäßigen Abständen wurde er von schmalen Steinstegen überquert. Am liebsten hätte ich das ganze Dorf in Ruhe erkundet, aber wir hatten einen Zeitplan, von dem wir nicht abweichen konnten.
Der Schulausflug konzentrierte sich auf zwei Orte: Rowan Farm, einen richtigen Bauernhof am Rande des Dorfes, der noch wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bewirtschaftet wurde, und die ehemalige Mühle Ashcroft Mill, die heute ein Museum war, in dem das Leben in Rowan Vale im Laufe der Jahrhunderte gezeigt wurde. Eine ganze Ausstellung war den 1940-er Jahren gewidmet und es gab einen altmodischen Teeladen aus der Kriegszeit sowie eine Bäckerei im angrenzenden Gebäude. Man ging davon aus, dass der Besuch beider Orte ein Verständnis für den häuslichen Alltag im Zweiten Weltkrieg ermöglichen und die Klasse bei ihrem Projekt dazu unterstützen würde.
Falls nach dem Museumsrundgang noch genügend Zeit blieb, könnten die Kinder ein paar Geschäfte im Dorf aufsuchen, die die Läden der Dorfbewohner in alten Zeiten nachbildeten.
Die Rowan Farm bestand aus einem schönen alten Bauernhaus, das auf mehreren Hektar fruchtbarem Ackerland in den Cotswolds stand. Wie eines der „Landmädchen“, die dort beschäftigt waren, den Kindern erklärte, war es ein gemischter Bauernhof, auf dem sowohl Ackerbau als auch Viehzucht betrieben wurden.
Es war unterhaltsam, zwei junge Frauen in Latzhosen, festen Schuhen und dunkelgrünen Strickjacken anzutreffen, die offensichtlich voller Begeisterung die Rolle der Landmädchen spielten. Diejenige, die mit den Kindern sprach, stellte sich als Erin vor und schien ihnen das Leben auf einem Bauernhof in den 1940-er Jahren nur zu gern zu erklären. Es freute mich zu sehen, wie Immi gespannt ihren Geschichten lauschte.
Uns wurde nicht nur das Farmgelände gezeigt, sondern wir wurden auch in das Bauernhaus geführt, das authentisch eingerichtet war, wie es während des Zweiten Weltkriegs ausgesehen haben musste. Es gab sogar ein Radio, aus dem alte Musik ertönte, die gelegentlich von Nachrichten unterbrochen wurde.
Die Bäuerin, die sich als Betty vorstellte, backte gerade Brot und erzählte uns allen, wie dankbar sie dafür war, dass es auf der Rowan Farm, im Gegensatz zu den armen Unglücklichen in den Städten, nie an Essen mangelte. Sie brachte die Kinder zum Lachen, als sie ihnen von dem Tag erzählte, an dem die beiden Landmädchen aus der Großstadt auf der Farm ankamen, „aufgedonnert mit fein lackierten Nägeln und schick frisierten Haaren und ohne jede Ahnung vom Landleben“.
Ich bemerkte Immis selbstvergessenen Gesichtsausdruck, als Erin und Betty den Kindern von den beiden deutschen Kriegsgefangenen erzählten, die ebenfalls dort arbeiteten. Das faszinierte sie, und nicht nur sie. Auch die Jungen wurden bei der Vorstellung von deutschen Gefangenen sichtlich hellwach. Ich musste zugeben, dass Erin und Betty sehr überzeugend klangen. Beinahe hätte ich die Geschichten selbst geglaubt.
Wir schlenderten um das Bauernhaus herum, betrachteten das altmodische Dekor und die antiken Möbel, begutachteten die Lebensmittelkartenhefte und staunten darüber, wie wenig die Menschen damals zu essen hatten. Dann wurden wir zur angrenzenden Molkerei geführt, wo das andere „Landmädchen“ Rissa gerade Butter rührte. Anschließend ging die Klasse wieder nach draußen.
Wir brachten die Kinder zu einer der alten Scheunen, die in eine Art Speisesaal verwandelt worden war. Von den Balken hingen Flaggen der British Union und an einem Ende des Gebäudes befand sich so etwas wie eine Bühne. Picknicktische waren aufgestellt, an denen Besucher ihre Lunchpakete essen konnten, und wir ließen die Kinder rasch Platz nehmen. Mr Gaskill und Mrs Ledbury schienen sich darüber zu freuen, dass die Klasse jetzt viel mehr bei der Sache war als bei unserer Ankunft.
Gerade als ich die Lunchbox aus meinem Rucksack holen wollte, schlug Mr Gaskill mir vor, mich unauffällig zu entfernen und Harling Hall aufzusuchen, um von den beiden Mitarbeitern, die sich am Bahnhof schlecht benommen hatten, im Büro des Guts zu berichten.
Trotz meines knurrenden Magens stimmte ich zu. Besser, wenn ich dem Geschäftsführer erklärte, was passiert war, als wenn Mr Gaskill ihm eine offizielle E-Mail schickte. Wenigstens konnte ich auf diese Weise versuchen, dafür zu sorgen, dass die beiden jungen Männer nur gerügt wurden, aber nicht ihre Jobs verloren.
„Könnten Sie Immi bitte sagen, wo ich bin, falls sie danach fragt? Aber erwähnen Sie die sich prügelnden Soldaten nicht. Sagen Sie einfach, ich würde mich kurz auf dem Gelände des Herrenhauses umsehen. Ich glaube nicht, dass sie allzu viele Fragen stellen wird.“
„Natürlich, kein Problem. Sagen Sie mir dann, wie es ausgegangen ist, auch wenn ich sicher bin, dass eine deutlich formulierte E-Mail der Schule dafür sorgen wird, dass sie die Sache ernst nehmen, falls keine angemessenen Maßnahmen ergriffen werden. Ich bin mir sicher, Sir Lawrence möchte nicht, dass der Ruf seines Unternehmens geschädigt wird.“
Voller Unbehagen trat ich durch das Hoftor und ging den Weg zurück ins Dorf, wobei ich mich am markanten roten Backsteinkamin der Mühle aus dem achtzehnten Jahrhundert und dem Kirchturm orientierte.
Je mehr ich darüber nachdachte, umso schlechter fühlte ich mich. Ich hasste die Vorstellung, irgendjemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Schon gar nicht zwei junge Männer, die nicht älter als zwanzig Jahre sein konnten. Ich musste sehr diplomatisch mit dem für Personalfragen Zuständigen umgehen, und obwohl mir klar war, dass Ronnie und Bill – wenn das ihre richtigen Namen waren – eine Abmahnung verdient hatten, hoffte ich inständig, dass ihre Strafe nicht zu hart ausfallen würde. Ich vermutete, dass es hier nicht so leicht war, Arbeit zu finden.
Geistesabwesend bemerkte ich zunächst kaum, dass ich verfolgt wurde. Irgendwann nahm ich Stimmengewirr und Gekicher wahr, und als das Geräusch meine Gedanken durchdrang, drehte ich mich um, um zu sehen, wer mir folgte.
Zwei kleine Jungen und ein Mädchen – ungefähr zwischen sechs und zehn Jahren – schlichen hinter mir her und waren auf Unfug aus, wie ich an ihren Gesichtern erkennen konnte. Als ich sie stirnrunzelnd ansah, streckte mir das Mädchen die Zunge heraus.
Ich beschloss, sie zu ignorieren, und ging weiter, doch innerhalb von wenigen Sekunden rannten die Kinder an mir vorbei und gingen nun rückwärts vor mir her, während sie Grimassen schnitten und mich auslachten.
Ich blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Okay, jetzt reicht es, findet ihr nicht auch?“
Die Kinder strafften mit schockierter Miene die Schultern. Die Jungen sahen sich suchend um, dann wandten sie sich mit offenem Mund wieder mir zu. Einer von ihnen, der Ältere, stieß das Mädchen an.
„Sie meint uns, Florrie.“
„Red kein dummes Zeug.“ Das Mädchen klang skeptisch. „Meinen Sie uns?“
„Ich sehe keine anderen Kinder, die frech zu mir sind.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zehn nach zwölf. „Warum seid ihr nicht in der Schule?“, fragte ich und bemerkte im selben Moment, dass sie alle verkleidet waren. Die Jungen trugen schmuddelige weiße Hemden, die ihnen viel zu groß waren. Auch ihre lederfarbenen Hosen waren schäbig, aber meine größte Sorge war, dass nur der ältere Junge Schuhe anhatte – klobige, braune Dinger mit niedrigem Absatz, die ihm etwas zu groß zu sein schienen. Der jüngere Junge war barfuß. Beide hatten verfilztes, hellbraunes Haar, das ihnen fast bis auf die Schultern reichte.
Das kleine Mädchen wirkte ganz anders. Ihr langes, schwarzes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und sie trug ein bedrucktes Baumwollkleid, eine offensichtlich handgestrickte Wolljacke und – ausgerechnet – schwarze Gummistiefel. Sie sollte eindeutig den Eindruck machen, aus den 1940er- oder 1950er-Jahren zu stammen.
Gut, vielleicht arbeiteten ihre Eltern für Sir Lawrence und hatten ihre Kinder zum Spaß verkleidet, aber das hier ging doch etwas zu weit, oder? Der kleine Junge hätte nicht barfuß herumlaufen sollen. Und warum waren sie nicht in der Schule? Es sei denn, ihre Osterferien begannen früher als bei uns.
„Wir geh’n nich’ in die Schule“, sagte das Mädchen und streckte trotzig das Kinn vor.
Die Jungen starrten mich mit weit aufgerissenen Augen verdattert an. Sie sahen aus, als bräuchten sie dringend ein Vollbad.
„Was soll das heißen, ihr geht nicht zur Schule?“, fragte ich misstrauisch. „Werdet ihr zu Hause unterrichtet?“
„Wir geh’n halt nich’. Müssen nich’ hin. Sie können uns nich’ zwingen.“ Sie grinste breit und enthüllte eine Lücke zwischen den beiden Vorderzähnen, während ihre Augen mich herausfordernd anfunkelten. „Außerdem hätte es sowieso keinen Sinn. Die beiden können ja nich’ mal lesen, also würden sie auch nich’ viel lernen, stimmt´s?“
„Sie können nicht …“ Ich runzelte die Stirn. „Wollt ihr mich veräppeln? Wo wohnt ihr denn?“
„Geht Sie gar nix an“, sagte das Mädchen. „Das hat überhaupt nix mit Ihnen zu tun.“
„Wenn ihr nicht in die Schule geht und diese Jungen weder lesen noch schreiben können – ganz zu schweigen davon, dass einer von ihnen nicht mal Schuhe anhat – dann geht mich das sehr wohl was an. Ob es euch klar ist oder nicht, jemand muss sich um euch kümmern.“
Der kleinere Junge verzog geschockt das Gesicht, und ich beugte mich zu ihm hinunter. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn offensichtlich erschreckt hatte. „Schau nicht so ängstlich. Ihr steckt nicht in Schwierigkeiten. Aber ich würde gern mit euren Eltern sprechen.“
Als ich in seine großen, braunen Augen sah, fing mein Herz an, heftig zu klopfen, und aus irgendeinem Grund schauderte ich. Das Frösteln, das ich vorhin am Bahnhof verspürt hatte, war zurückgekehrt, und noch etwas anderes dazu. Etwas, das ich nicht greifen konnte und bei dem ich mir nicht sicher war, ob ich es begreifen wollte.
Das Mädchen zerrte den kleinen Jungen weg und sagte wütend: „Hauen Sie bloß ab und lassen Sie uns in Ruhe. Ich werde es Lawrie sagen. Der wird es Ihnen schon zeigen.“
Mit diesen Worten rannten die Kinder davon und ließen mich verwirrt und äußerst besorgt zurück.
Lawrie? Konnte Sir Lawrence damit gemeint sein? Nun, das hatte mich endgültig überzeugt. In Rowan Vale stimmte etwas ganz gewaltig nicht, und ich würde mit dem Geschäftsführer wegen seiner Mitarbeiter, ganz zu schweigen vom Wohl ihrer Kinder, ein ernstes Wort reden müssen.
Während ich weiter auf das Herrenhaus zuging, fragte ich mich mit einem plötzlichen Schaudern, aus welchem Grund mir ein Name nicht mehr aus dem Kopf ging. Zwar hatten die Jungen das Mädchen Florrie genannt, aber niemand hatte erwähnt, wie sie hießen. Warum also hallte der Name David in meinem Kopf nach?
Kapitel 3
Florrie
„Er wird es tun. Er wird sie küssen.“ John rümpfte die Nase. „Und wenn sie es tun, bin ich weg.“
Florrie kniff die Augen zusammen, während sie den Mann und die Frau beobachtete, die nur wenige Meter von ihnen entfernt waren, ohne zu ahnen, dass sie von drei belustigten Kindern beobachtet wurden, die im Schneidersitz im Gras saßen und jedes Wort des Pärchens mithörten.
Weder Bram noch Rissa war mit der Gabe gesegnet, was eine sehr gute Sache war, wie Florrie fand. Und zum Glück hatten sie, John und Robert auch keine lebenden Nachkommen oder nahen Verwandten, die sie womöglich hätten sehen können. Sie konnten so ziemlich tun und lassen, was sie wollten, und das Ausspionieren ahnungsloser Liebespaare war einer der wenigen Vorzüge eines Lebens im Jenseits, das nach Florries Meinung ziemlich öde sein konnte.
Klar, wenn das ganze Geküsse losging, zog sich das Trio immer hastig zurück. Wer wollte schon diesem ekligen Gesabber zusehen? Ihrer Meinung nach riskierten sie das bei Bram und Rissa jedoch sicher nicht. Was auch immer John dachte – sie war überzeugt, dass der Holländer Bram – der einen deutschen Kriegsgefangenen spielte – kein Interesse an dem „Landmädchen“ von der Farm hatte. Dafür war er viel zu vernünftig. Schließlich musste er wissen, dass sie immer noch in Brodie verliebt war. Das wussten doch alle.
„Wird er das wirklich?“, gab sie verächtlich zurück. „Er mag sie doch gar nich’, und wer kann es ihm verdenken? Kommt rausgeputzt wie ein Pfau, um auf einer Farm zu arbeiten …“
Sie verstummte, als sie sich plötzlich an die Stimme ihrer Mutter erinnerte. Es war schon so lange her, seit sie sie gehört hatte, doch in diesem Moment hallten ihre Worte schmerzhaft deutlich in Florries Ohren. „Diese Elsie Jones aus Nummer Vier, rausgeputzt wie ein Pfau. Hält die uns etwa für blöd? Wir wissen doch alle, mit wem sie sich trifft.“
„Und warum is’ sie eigentlich nicht bei der Arbeit?“, schloss sie trübe. „Weil sie blaumacht, zweifellos. Jemand sollte die Leute auf der Farm vor ihr warnen.“
„Ich finde sie hübsch“, sagte Robert leise. „Die dicken gelben Haare. Sie sehen aus wie eine Wolke aus Butter.“
„Gebleicht“, sagte Florrie verächtlich. „Und wo gibt’s schon ’ne Wolke aus Butter? Bist du etwa weich in der Birne? Und überhaupt: Was weißt du schon davon?“ Sie nickte in Richtung Bram und Rissa. „Seht sie euch an, wie sie ihn anhimmelt, strohdumm und schmalzig. Und wie sie einen Schmollmund macht. Sie sieht aus wie ein Goldfisch.“
Sie ahmte einen Goldfisch nach, der sein Maul auf- und zuklappte, was Robert zum Lachen brachte.
„Also, ich glaube, sie werden heiraten“, beharrte John. „Das freut mich. Es gefällt mir, wenn Leute glücklich sind.“
„Manchmal“, sagte Florrie düster, „frage ich mich, warum ich mich überhaupt mit euch abgebe.“
„Wetten, er küsst sie in den nächsten paar Minuten“, sagte John, als wollte er sie unbedingt ärgern.
„Zehn Schilling, dass er es nich’ tut“, gab Florrie zurück. Sie war zwar nicht sicher, wie viel zehn Schilling wert waren, aber so wie ihre Mutter immer darüber gesprochen hatte, was alles so kostete, vermutete sie, dass es viel war.
„Du hast doch gar keine zehn Schilling“, bemerkte John, was sie so wütend machte, dass sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte.
Im nächsten Augenblick vergaß sie ihren Zorn und stieß einen triumphierenden Jubelschrei aus, als Bram aufstand, sich beiläufig von Rissa verabschiedete – die einen tiefen Seufzer ausstieß, bevor sie sich an ihr Lunchpaket machte – und über das Feld schnurstracks zurück zum Bauernhaus ging.
„Ha! Hab ich’s nich’ gesagt! Also, das sind zwanzig Minuten, die wir nie wieder zurückkriegen“, sagte Florrie, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie lange sie das Paar beobachtet hatten. Sie sprang auf und beschloss, sich etwas Interessanteres zu suchen, mit dem sie ihre Zeit verbringen konnte.
„Wo gehst du hin?“ Wie erwartet tauchte Robert schon bald neben ihr auf.
„Ich such mir was Besseres zu tun“, erklärte Florrie und ging direkt durch das geschlossene Tor des Feldes auf den Weg. Sie deutete mit dem Daumen nach hinten. „Dein Bruder kann ja dableiben und seiner Freundin nachtrauern, so viel er will.“ „Sie ist nicht meine Freundin!“ John hatte sie rasch eingeholt, wie sie nur zu gut wusste, und sie dachte voller Genugtuung, dass sein Gesicht jetzt knallrot wäre, wenn er hätte erröten können. Man konnte ihn sehr leicht in Verlegenheit bringen. „Bloß weil ich mal gesagt habe, dass sie hübsch aussieht, heißt das noch lange nicht –“
Doch Florries Interesse war verschwunden. Sie hatte eine Frau entdeckt, die direkt vor ihnen den Weg entlangging, und ihre Augen funkelten vor Neugier.
„Touristin“, sagte sie.
Die drei grinsten sich an und Florrie begann, hinter der jungen Frau her zu trippeln, wobei sie übertrieben die Arme schwenkte und mit den Hüften wackelte.
Robert lachte und Florrie warf als Antwort ihre Zöpfe zurück. Sie konnte sich immer auf Roberts Bewunderung verlassen. John war manchmal schwieriger zu bändigen, aber sie wusste, wie sie ihn händeln musste, wenn er zu unabhängig wurde.
Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als die junge Frau stehen blieb und sich umdrehte. Eine Sekunde lang hätte Florrie schwören können, dass die Fremde sie direkt ansah, aber das war natürlich unmöglich. Nur um sich zu vergewissern, streckte sie der Touristin die Zunge heraus, doch die reagierte nicht, sondern drehte sich um und ging weiter.
Im Wissen, dass Florrie sicher war, zwinkerte sie Robert und John zu. Die drei rannten an der Frau vorbei und drehten sich dann zu ihr um. Sie gingen rückwärts, schnitten Grimassen und warfen ihr Beleidigungen an den Kopf. Sie machten sich über ihre dunkelbraunen Haare lustig, ihre Kleidung – sie trug eine schwarze Jacke und Jeans, die bei Agnes, wie Florrie wusste, ein Schaudern hervorrufen würden – und sogar darüber, wie sie ging.
Plötzlich blieb die Frau stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Okay, jetzt reicht es, findet ihr nicht auch?“
Florrie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Sie war kurz wie vor den Kopf geschlagen und ärgerte sich, als John sie anstieß und ihr sagte, dass die Frau mit ihnen redete.
„Red kein dummes Zeug.“ Dieses eine Mal war Florrie nicht so selbstsicher wie sonst. Sie musterte die Frau nervös. „Meinen Sie uns?“
„Ich sehe keine anderen Kinder, die frech zu mir sind. Warum seid ihr nicht in der Schule?“
Florrie spürte, dass Robert neben ihr zitterte. John murmelte: „Oh-oh.“
Was dachte sich diese Frau nur dabei, ihnen solche Angst einzujagen? Und wie konnte sie die Kinder überhaupt sehen? Das ergab keinen Sinn. Florrie entschied, dass Angriff die beste Verteidigung war.
„Wir geh’n nich’ in die Schule“, sagte sie trotzig.
„Was soll das heißen, ihr geht nicht zur Schule? Werdet ihr zu Hause unterrichtet?“
Florrie war sich nicht ganz sicher, was das bedeutete. „Wir geh’n halt nicht. Müssen nich’ hin. Sie können uns nich’ zwingen. Außerdem hätte es sowieso keinen Sinn. Die beiden können ja nich’ mal lesen, also würden sie auch nich’ viel lernen, stimmt’s?“
„Sie können nicht … Wollt ihr mich veräppeln? Wo wohnt ihr denn?“
„Geht Sie gar nix an“, sagte Florrie schnippisch. „Das hat überhaupt nix mit Ihnen zu tun.“
„Wenn ihr nicht in die Schule geht und diese Jungen weder lesen noch schreiben können – ganz zu schweigen davon, dass einer von ihnen nicht mal Schuhe anhat – dann geht mich das sehr wohl was an. Ob es euch klar ist oder nicht, jemand muss sich um euch kümmern.“
Florrie beobachtete sie und wurde immer verärgerter, als die Frau sich bückte und mit Robert sprach. „Schau nicht so ängstlich. Ihr steckt nicht in Schwierigkeiten. Aber ich würde gern mit euren Eltern sprechen.“
John schluckte schwer und Florrie bemerkte, dass Robert Tränen in die Augen stiegen. Wie konnte diese Frau es wagen, die Eltern der Jungen zu erwähnen? Warum wollte sie sie ärgern? Was bildete sie sich überhaupt ein?
Sie packte Robert am Arm und schrie: „Hauen Sie bloß ab und lassen Sie uns in Ruhe. Ich werde es Lawrie sagen. Der wird es Ihnen schon zeigen.“
Fast zerrte sie die Jungen weg und sie rannten gemeinsam den Weg entlang und durch das Dorf, wo sie sich schließlich hinter dem alten Wunschbrunnen auf der Wiese hinkauerten. Selbst wenn die Frau hierher käme, könnte sie sie vom Weg aus nicht sehen.
Florrie war es nicht gewohnt, beunruhigt zu sein, und das Gefühl behagte ihr nicht.
„Wie konnte sie uns sehen, Florrie?“, flüsterte John, der offensichtlich genauso viel Angst hatte wie sie. „Ich dachte, Lawrie ist der Einzige unter den Lebenden, der uns sehen kann?“
Florrie hatte dasselbe angenommen und es verunsicherte sie zutiefst, dass die Fremde ihr das Gegenteil bewiesen hatte. „Ich weiß nich’“, gab sie zu. Sie hasste es, keine Antwort darauf zu haben. Entschlossen, keine Schwäche zu zeigen, richtete sie sich plötzlich auf. „Aber ich geh jetzt zu Lawrie und erzähle ihm von ihr. Er muss es wissen. Kommt, lasst uns zum großen Haus geh’n.“
Robert und John wichen zurück. „Da gehen wir nicht hin. Das weißt du doch.“
„Ich verstehe nich´, warum“, brummelte sie. „Ihr seid Feiglinge.“
„Sind wir nicht“, fauchte John. „Du bist bloß gemein. Du weißt genau, warum wir nicht in die Nähe des großen Hauses gehen. Er könnte da sein.“
„Ich hab euch doch oft genug gesagt, dass er nie zum Haus kommt. Ich kann nix dafür, wenn ihr mir nich’ glaubt.“ Florrie wurde immer nervöser. Der Tag lief gar nicht nach Plan. Erst eine komische Frau, die sie sehen konnte, und jetzt auch noch John und Robert, die sich weigerten, auf sie zu hören. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Robert schniefte und rieb sich die Nase, und John legte schützend den Arm um seinen kleinen Bruder.
Florrie verzog den Mund. „Oh nein!“, rief sie.
John und Robert zuckten erschrocken zusammen.
„Was ist los? Ist es die Frau?“ John sah sich voller Panik um.
„Er is’ da!“, keuchte Florrie und hielt sich theatralisch die Hand aufs Herz. „Pranger-Pete!“
„Nicht doch!“, heulte Robert auf. „Florrie, mach, dass er verschwindet!“
„Ihr solltet besser wegrennen und euch verstecken“, sagte sie. „Ich werde versuchen, ihn abzulenken.“
Das ließen sich die Jungen nicht zweimal sagen. Sie machten sich aus dem Staub und ließen eine grinsende Florrie zurück. Das, dachte sie, würde ihnen eine Lehre sein. Sie waren zu weich und daher tat sie ihnen in Wahrheit einen Gefallen. Eines Tages müssten sie härter werden. Schließlich waren sie ja nicht ganz allein auf der Welt. Nicht so wie Florrie. Die beiden Brüder hatten einander, genau wie Henry und Francis. Während sie niemanden hatte.
Florrie sah den Jungen nach, die in der Ferne verschwanden, und seufzte. Dann drehte sie sich zum Herrenhaus um. Zeit, Lawrie von dem Eindringling zu erzählen. Sie würde die Geschichte noch ein wenig ausmalen, nur damit sich alle aufregten. Wenn sie damit fertig war, würde Agnes wütend sein, dachte sie mit einem gewissen Maß an Genugtuung.
Nun fühlte sie sich schon ein bisschen besser und lief eilig den Weg entlang – eine dünne, rennende Gestalt mit wippenden Zöpfen und schwarzen Gummistiefeln, die lächerlich fehl am Platz waren.
Kapitel 4
Fast hatte ich erwartet, die Tore von Harling Hall verschlossen vorzufinden, doch sie standen offen. Tatsächlich hinderte mich nichts daran, die Auffahrt zum Haus hinaufzugehen, auch wenn ich zugeben musste, dass ich es insgeheim gehofft hatte.
Ich hatte einen langen, ausgedehnten Spaziergang dorthin unternommen und konnte das Gefühl der düsteren Vorahnung nicht abschütteln, während ich durchs Dorf ging. Nun, da ich mich dem imposanten elisabethanischen Herrenhaus näherte, war ich fast versucht, das Ganze zu vergessen, obwohl ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte. Es ging nicht mehr so sehr um die beiden Schauspieler. Jetzt machte ich mir ernsthafte Sorgen um das Wohlergehen der Kinder, auch wenn sie mir unheimlich gewesen waren.
Harling Hall war ein prächtiges dreistöckiges, E-förmiges Gebäude aus goldfarbenem Cotswold-Stein mit vielen steinernen Sprossenfenstern, Schornsteinen, Giebeln und einer großen, massiven Holztür, die viel zu schnell vor mir auftauchte.
Ich konnte keine Schilder sehen, die mich zu einem Büro verwiesen, und daher nur annehmen, dass es sich im Haus befand. Ich atmete tief durch, hob den schweren Messingtürklopfer hoch und schlug mit ihm dreimal laut gegen das Holz.
Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und ich erlebte eine weitere Überraschung. Der Mann, der mir aufmachte, war wahrscheinlich in meinem Alter, um die dreißig, groß und breitschultrig, mit sehr dunklem, lockigem, kurz geschnittenem Haar und strahlend blauen Augen. Wow!
„Äh, ich bin hier, um –“
„Kommen Sie lieber rein“, sagte er kurz angebunden und machte die Tür weit auf.
Nicht, was ich erwartet hatte, und ehrlich gesagt ziemlich rüde. Trotzdem betrat ich das Haus und stand in einem beeindruckenden Flur mit Steinboden und einer geschwungenen, L-förmigen Treppe zu meiner Rechten.
Der Mann schloss die Tür hinter mir. Wollte er denn gar nicht wissen, wer ich war oder was ich hier wollte? Und überhaupt: Wer war er? In seinen verwaschenen Jeans und dem weißem T-Shirt konnte er eindeutig nicht der Butler sein. Ich nahm an, dass er im Büro arbeitete.
„Kommen Sie mit“, sagte er und führte mich zu einer der Türen auf der linken Seite des Flurs.
Ich fragte mich, ob er glaubte, ich sei gekommen, um zu putzen oder so was, während ich ihm in einen Raum folgte, der wie ein Arbeitszimmer aussah. Die Wände waren mit Bücherregalen voller Kladden und Aktenordner gesäumt, und an einem Ende des Raumes stand ein großer Schreibtisch aus Eiche. Ein alter Mann mit überraschend dichtem, weißem Haar saß auf einem Chesterfield-Sofa gegenüber vom Schreibtisch und verzog die Mundwinkel zu einem freundlichen Lächeln.
„Bitte setzen Sie sich“, sagte er und klopfte auf den Platz neben sich auf dem Sofa. Ohne ein Wort zu sagen, ging der jüngere Mann um den Schreibtisch herum und ließ sich auf den Stuhl fallen. Von dort aus saß er uns beiden gegenüber, ohne zu lächeln, und sah mich an, als wollte er jeden Moment nach mir schnappen. Noch mal Wow, aber diesmal mit einer ganz anderen Bedeutung. Auch wenn er ein heißer Typ sein mochte, war er ein blöder Kerl.
Völlig verwirrt nahm ich Platz. „Ich bin nicht hier, um sauberzumachen“, sagte ich, falls sie das glaubten.
Der alte Mann lachte. „Das ist mir durchaus bewusst. Ich nehme an, Sie sind hier, um sich zu beschweren. Habe ich recht?“
Ich fand diese Annahme absolut treffend. „Bekommen Sie viele Beschwerden?“
„Wenig, wenn überhaupt“, sagte er achselzuckend. „Aber Sie haben heute ziemlich viel erlebt, bei der einen oder anderen Begegnung.“
„Ist das hier das Büro des Guts?“, fragte ich zögernd.
„Das könnte man sagen. Ich bin Sir Lawrence Davenport“, stellte er sich vor. „Aber nennen Sie mich bitte Lawrie. Das tun alle. Und Sie sind?“
Ich schluckte schwer. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dem Oberboss zu begegnen, und das brachte mich aus dem Gleichgewicht. „Callie“, sagte ich. „Callie Chase.“
„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Callie. Und dieser junge Mann hier ist mein Enkel Brodie.“
Ich sah Prinz Charming an, der finster zurückblickte.
„Warum habe ich den Eindruck, als hätten Sie mich erwartet?“, fragte ich misstrauisch.
„Weil wir das taten.“ Sir Lawrences Augen, die fast so stahlblau waren wie die seines Enkels, funkelten amüsiert. „Bill und Ronnie kamen vorhin ziemlich aufgeregt zu mir. Wie ich gehört habe, hätten Sie ihnen fast die Köpfe abgerissen. Sie haben ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt.“
„Na ja, also …“ Es fuchste mich ein wenig, dass die beiden jungen Männer mir bei Sir Lawrence zuvorgekommen waren, obwohl ich es ihnen nicht wirklich verübeln konnte. Natürlich hatten sie dem Chef ihre Version der Ereignisse erzählen wollen, bevor er meine Sicht der Dinge erfuhr. „Hören Sie, ich will nicht, dass irgendjemand gefeuert wird oder so was, aber sie haben sich in der Öffentlichkeit auf dem Bahnsteig geprügelt. Ich war mit einer Gruppe Schulkinder zusammen, die jeden Moment aus den Toiletten wiederkommen würden und dann alles miterlebt hätten. Stellen Sie sich das vor!“
Sir Lawrence nickte ernst. „Ja, man stelle sich das vor.“ Er warf seinem Enkel einen Blick zu. „Wäre das nicht was gewesen?“ Als Brodie dazu schwieg, seufzte er. „Bill und Ronnie prügeln sich ständig. Das können sie am besten.“
Ich war davon ausgegangen, dass es ein Einzelfall gewesen war, und mir gefiel nicht, mit welcher Nonchalance Sir Lawrence ihr Benehmen hinnahm. „Und das finden Sie in Ordnung?“
Er gab mir keine Antwort. „Möchten Sie Tee, Callie?“
„Nein“, sagte ich und wurde mit jeder Minute aufgebrachter. Er nahm mich offensichtlich nicht ernst. Im Gegenteil, er schien die ganze Situation amüsant zu finden. Und ich hatte mir noch Sorgen gemacht, dass er zu streng mit seinen Angestellten umgehen würde! Dann fielen mir meine guten Manieren wieder ein und ich fügte rasch hinzu: „Aber trotzdem danke. Ich muss bald zu den anderen zurück; können wir also weiter darüber sprechen, was am Bahnhof geschehen ist?“
„Natürlich.“ Seine Miene wurde plötzlich ernster und er lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Woher kommen Sie, Callie?“
Was um alles in der Welt hatte das damit zu tun?
„Ursprünglich aus East Yorkshire“, sagte ich widerstrebend. „Aber ich verstehe nicht –“
„Interessant. Haben Sie irgendeine Verbindung zu den Cotswolds? Insbesondere zu dieser Gegend?“
Ich warf einen Blick auf Brodie, der sich vorlehnte und aufmerksam zuhörte. „Nein. Hören Sie, Sir Lawrence –“
„Lawrie, bitte.“
„Lawrie“, sagte ich unsicher, „ich muss jetzt wirklich zurück zu den Kindern, aber da wir gerade von Kindern sprechen: Haben Sie gewusst, dass hier im Dorf mindestens drei Kinder im Schulalter in historischen Kostümen herumspringen? Eines von ihnen hatte noch nicht mal Schuhe an, und ehrlich gesagt waren beide Jungs völlig verdreckt. Das Mädchen, das bei ihnen war, hat mir gesagt, dass sie nicht zur Schule gehen und dass die Jungs noch nicht mal lesen oder schreiben können. Das kann doch nicht wahr sein?“
„Agnes hat mir schon von Ihrer Begegnung mit den Kindern erzählt“, gab er zu. „Sie ist nicht gerade erfreut, aber sie hat ja auch nur Florences Version der Geschichte gehört, und das liebe Kind ist mitunter etwas, ähm, sparsam mit der Wahrheit. Sie sieht aus wie ein Engel, aber John und Robert haben gegen sie keine Chance, nicht wahr? Trotzdem würde ich mir keine allzu großen Sorgen um sie machen.“
Daraus folgerte ich, dass Florence Florrie war, aber wer zum Teufel war Agnes? Und warum sagte mir Sir Lawrence, ich solle mir keine Sorgen machen? Wie hätte ich das gekonnt? Diese Kinder wurden zumindest vernachlässigt, und das schien ihn überhaupt nicht zu berühren. Und genauso wenig Brodie, der schweigend und mit versteinerter Miene dasaß und so nützlich war wie ein Kamingitter aus Schokolade.
Sir Lawrence stand auf, öffnete die Tür des Arbeitszimmers und rief in den Flur: „Agnes, Aubrey, könnten Sie bitte kurz hereinkommen?“
Er ließ die Tür offen und setzte sich wieder.
„Verzeihen Sie mir, Callie, aber ich muss es unbedingt mit eigenen Augen sehen“, sagte er freundlich.
„Was denn?“ Ich hatte keine Ahnung mehr, was hier vor sich ging. Diese Unterhaltung verlief kein bisschen so, wie ich es erwartet hatte. Vielleicht hätte ich die Angelegenheit doch besser Mr Gaskill überlassen sollen, wie er vorgeschlagen hatte. Sir Lawrence hatte offensichtlich nicht die Absicht, Bill und Ronnie zu feuern, also waren meine Sorgen umsonst gewesen, und jetzt steckte ich hier fest, während ich mit Immi hätte zu Mittag essen können. Ich verfluchte meine Gewissenhaftigkeit.
Staunend riss ich die Augen auf, als zwei Personen mittleren Alters das Arbeitszimmer betraten – vermutlich Agnes und Aubrey.
Der Mann hatte dunkles Haar, das von grauen Strähnen durchzogen und an den Schläfen fast weiß war, einen imposanten Vollbart und Koteletten. Er war wie ein viktorianischer Gentleman gekleidet: in einen schwarzen Gehrock samt grauer Hose, einen steif gestärkten weißen Kragen und eine breite blaue Halsschleife.
Als wäre seine Erscheinung nicht schon surreal genug, wirkte die Frau so, als wäre sie geradewegs ihrem Bett entstiegen. Sie war so gekleidet, wie ich mir nur Mrs Bennet in Stolz und Vorurteil vorstellen konnte: in ein weißes Baumwollnachthemd, Wollstrümpfe und ein Bettjäckchen aus Flanell. Unter ihrer weißen Schlafmütze aus Leinen lugten braune Locken hervor.
Fast hätte ich laut gelacht, weil das Ganze so lächerlich wirkte, doch meine Belustigung verging rasch, als die Frau, die ich für Agnes hielt, mich voller Verachtung anfunkelte, so dass ich erschrocken vor ihr zurückwich.
„Ist sie das?“, fragte sie.
„Lassen Sie das, Agnes.“ Der Mann – vermutlich Aubrey – tätschelte ihren Arm. „Wir wollen nicht vorschnell urteilen. Wir sollten uns anhören, was sie vorzubringen hat.“
„Sollten wir das wirklich?“, erwiderte die Frau empört. „Und ich nehme an, Sie finden es in Ordnung, wenn eine wildfremde Person unsere Tochter auf der Straße anspricht?“
Das konnte ich jetzt gar nicht brauchen. „Lassen Sie mich raten. Sie sind die Mutter des kleinen Mädchens – Florence, sagten Sie?“, fragte ich und wandte mich an Sir Lawrence. Für mich war er nicht Lawrie, wie sehr er auch darauf beharren mochte. Er wirkte viel zu selbstzufrieden, was mich nur noch wütender machte. „Aber ich glaube, ihre Freunde haben sie Florrie genannt.“
Agnes schüttelte missbilligend den Kopf. „Freunde? Dass ich nicht lache! Außerdem heißt sie Florence.“
Sir Lawrence zog die Augenbrauen hoch. „Warum stellen Sie sich unserem Gast nicht formell vor?“, forderte er sie auf. „Das ist Callie Chase. Sie ist tatsächlich die Dame, die vorhin mit Florence gesprochen hat.“
„Mit ihr gesprochen? So nennt sie das also? Ich nenne es rüde. Auf eine so beleidigende Art mit einem Kind zu sprechen! – Haben Sie denn gar keine Manieren, junge Frau?“ Agnes hatte offensichtlich keinen großen Respekt vor Sir Lawrence. Ich fragte mich, ob sie eine Verwandte von ihm war und nicht, wie ich anfangs angenommen hatte, seine Angestellte.
„Ich glaube nicht, dass Sie sich wegen meiner Manieren Gedanken machen sollten“, sagte ich empört. „Wenn Sie gesehen und gehört hätten, wie –“
Ich schluckte nervös, als der Mann neben mich trat und mich mit unverblümter Neugier anstarrte.
„Sieh an“, sagte er und warf Sir Lawrence einen Blick zu. „Das ist sie also, wie?“
„Es scheint so“, erwiderte Sir Lawrence. „Sie ist nicht nur den Kindern begegnet, sondern auch Bill und Ronnie, die sich auf dem Bahnhof gestritten haben.“
Der Mann schüttelte missbilligend den Kopf. „Typisch für die beiden. Schockierendes Benehmen. Eine Schande für die Uniform.“ Er musterte mich einen Augenblick lang, als würde er im Stillen Makel suchen; dann verbeugte er sich leicht. „Aubrey Wyndham. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Chase. Wir waren in letzter Zeit ziemlich beunruhigt. Die Uhr tickt und all das. Eine überaus erfreuliche Neuigkeit, dass Sie endlich gefunden worden sind.“
„Was meinen Sie mit ‚gefunden‘?“ Ehrlich gesagt fragte ich mich langsam, ob alle in diesem Dorf verrückt waren.
„Das darf nicht wahr sein. Das ist zu viel.“ Agnes stöhnte auf. „Es ist unmöglich. Nicht diese Person.“ Sie starrte mich angewidert an. „Nachdem sie so mit Florence gesprochen hat?“
„Meine Liebe, der Punkt ist“, sagte Aubrey sanft, „dass sie überhaupt mit Florence gesprochen hat. Und auch mit Bill und Ronnie. Und wir alle wissen, was das heißt.“
„Und mit dir“, fügte Sir Lawrence hinzu. „Ich weiß wirklich nicht, was für einen Beweis wir noch brauchen.“ Er wandte sich mit verständnisvollem Blick mir zu. „Das alles muss Sie völlig verwirren, aber ich bin so froh, dass Sie heute hergekommen sind. Sie sind wirklich die Antwort auf unsere Gebete.“
Ich hörte Brodie hinten am Schreibtisch grunzen. Dann stand er auf und verließ wortlos das Arbeitszimmer. Er mochte zwar ein heißer Typ sein, aber er war der größte Griesgram, dem ich je begegnet war – und das wollte was heißen, wenn man meine Kindheit bedachte.
„Schlechte Manieren“, sagte Aubrey kopfschüttelnd.
Agnes schnaubte verächtlich. „Können Sie es ihm verdenken? Die Antwort auf unsere Gebete, pah! Es gibt doch sicher jemanden, der besser geeignet ist als sie, Lawrie, mein Lieber? Mr Wyndham, reden Sie mit ihm.“
Aubrey schüttelte bedauernd den Kopf. „Lawrie hat recht. Bei allem Respekt – uns läuft die Zeit davon.“ Er warf Sir Lawrence einen entschuldigenden Blick zu.
„Wie wahr. Ich bin vierundachtzig und kann das womöglich nicht mehr lange ausführen. Callie erfüllt alle Kriterien. Ich muss es tun, Agnes, es tut mir leid.“
Inzwischen war meine Verwirrung nackter Angst gewichen. Entweder spielten mir diese Leute ein Riesentheater vor – oder sie brauchten alle dringend einen Psychiater. Ich beschloss zu gehen, egal, was auch immer in diesem Dorf vor sich ging. Vielleicht hatte ich Brodie vorschnell verurteilt. Vielleicht ging es ihm genauso und er war deshalb so abrupt verschwunden.
Ich stand auf. „Ich kann nicht länger hierbleiben. Die Schule wird Ihnen eine E-Mail schicken, aber ich muss jetzt zurück zu den Kindern.“
„Gut“, sagte Agnes.
„Aber das können Sie nicht tun“, protestierte Aubrey.
„Callie, könnten Sie bitte noch ein paar Minuten bleiben?“, flehte Sir Lawrence mich an. „Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es nicht so wichtig wäre.“
Als ich den Kopf schüttelte und in Richtung Tür ging, um so schnell wie schnell wegzukommen, stellte sich mir Agnes mit verschränkten Armen in den Weg. „Wie unhöflich! Sir Lawrence spricht mit Ihnen, Fräulein!“
Mittlerweile hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass alle in Rowan Vale verrückt waren.
„Tut mir leid“, sagte ich zu Agnes, „aber ich bin eine vielbeschäftigte Frau.“
Ich legte meine Hand auf ihren Arm, um sie sanft, aber entschlossen beiseite zu schieben, doch meine Hand griff ins Leere.
Ich halluzinierte eindeutig.
Ich versuchte es noch einmal – mit demselben Ergebnis, und plötzlich kehrte das unangenehme Gefühl zurück. Dieses Frösteln. Eiskalte Finger fuhren über meinen Rücken und die Schultern und ich schauderte.
David!
Kapitel 5
Ich hatte kaum Zeit, den Namen zu registrieren oder darüber nachzudenken, was er bedeutete, als Agnes mir auch schon einen selbstgefälligen Blick zuwarf und sagte: „Sie können mich nicht wegschieben. Versuchen Sie es nur.“
Überwältigt von einem Gefühl, das ich nicht benennen konnte, ließ ich mich zurück aufs Sofa fallen.
Aubrey schüttelte missbilligend den Kopf. „Wirklich, Agnes, Sie sollten sanfter mit ihr umgehen.“
„Nachdem sie so mit Florence gesprochen hat? Ich denke nicht, Mr Wyndham, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Tochter ein einziges Mal an erste Stelle setzen würden!“
Aubrey räusperte sich, schwieg jedoch. Zögernd berührte ich seinen Ärmel. Als meine Finger in die Luft griffen, fuhr ich geschockt zusammen und vergrub mein Gesicht in den Händen.
„Oh Gott! Ich habe den Verstand verloren!“
„Ganz und gar nicht“, sagte Sir Lawrence freundlich. „Sie brauchen sich vor nichts zu fürchten, das verspreche ich Ihnen.“
Langsam spreizte ich meine Finger und spähte hindurch. „Sind Sie ein Geist?“, fragte ich ihn ängstlich.
Als Antwort tätschelte er mir den Arm. Seine Hand war fest. Real.
Was die beiden anderen betraf …
Zögernd senkte ich die Hände. „Aber diese beiden sind es“, flüsterte ich. „Nicht wahr?“
„Ich möchte Ihnen Aubrey Wyndham und seine Frau Agnes Ashcroft vorstellen.“
„Seine Frau?“ Das kam mir etwas merkwürdig vor. Sie war im Stil der Regency-Ära gekleidet, während er mit ziemlicher Sicherheit aus der viktorianischen Zeit stammte. Wie passte das zusammen? Und wie konnte Florrie ihre Tochter sein, wenn sie doch offensichtlich aus den 1940er- oder 1950er-Jahren kam?
Anscheinend hatten sie den Zweifel aus meiner Stimme herausgehört, denn nun machte Agnes ein grimmiges Gesicht und Aubrey verlagerte verlegen das Gewicht, während Sir Lawrence hastig sagte: „Ja, genau. Hören Sie, Callie, wie wäre es jetzt mit einer Tasse Tee?“
Ich konnte keine Antwort geben. Meine Angst und Verwirrung hatten mir offensichtlich die Sprache geraubt.
Sir Lawrence schien das als ein Ja zu deuten. Er ging zu seinem Schreibtisch und drückte einen Knopf. Wenige Minuten später betrat eine junge Frau mit langem, dunklem Haar den Raum. Sie warf einen offensichtlich neugierigen Blick auf mich, sagte jedoch nichts weiter als: „Ja, Lawrie?“
„Bitte bringen Sie uns zwei Tassen Tee, Mia. Und ein paar der Kekse von gestern, wenn noch welche übrig sind.“
„Dann hätten Sie Glück, aber ich sehe, was sich machen lässt.“
Während Mia das Zimmer verließ, lächelte er mich an. „Brodie hat eine Schwäche für diese Kekse. Hoffentlich hat er uns ein paar übriggelassen.“
„Ist Mia – ich meine, ist sie …“ Nein, ich konnte den Satz nicht beenden. Es hätte verrückt geklungen. Vielleicht war ich verrückt? Schließlich konnte das alles nicht sein. „Es gibt keine Gespenster“, sagte ich mit fester Stimme und errötete, als mir klar wurde, dass ich es laut ausgesprochen hatte. Ich konnte Agnes und Aubrey nicht einmal anschauen. Wenn ich sie nicht sah, dann waren sie auch nicht da.
„Tatsächlich?“, fragte Sir Lawrence plötzlich ernst. „Sind Sie sicher, dass Sie das glauben? Ist Ihnen so etwas wirklich noch nie passiert? Denken Sie mal nach, Callie.“
Da war es wieder – dieses seltsame Gefühl, dass ich irgendetwas übersah. Eine Erinnerung, die ich nicht greifen konnte …
„David“, sagte ich langsam.
„David?“, fragte er interessiert. „Wer ist David?“
„Ach, nichts. Niemand. Nur ein Traum.“ Ich schüttelte heftig den Kopf, als plötzlich eine Erinnerung in mir hochkam, die sich von irgendwo gelöst hatte, wo ich sie vor langer, langer Zeit weggesperrt hatte.
„Ein Traum? Erzählen Sie mir von Ihrem Traum.“
Ich biss mir auf die Lippe. Darüber zu sprechen würde ihn real machen, aber er war nicht real. Er war höchstens ein imaginärer Freund. Jemand, den ich mir ausgedacht hatte, als ich ein kleines Mädchen von drei oder vier Jahren war. Ein Junge, der jeden Abend am unteren Treppenabsatz auf mich gewartet hatte. Ein Junge mit zerzausten Haaren, ungefähr so alt wie ich, in einem blauen Morgenmantel und gestreiftem Schlafanzug.
„Alle Kinder haben imaginäre Freunde“, hatte meine Mutter verzweifelt gesagt.
„Ich hatte nie welche“, hatte Dad entgegnet und mir einen angewiderten Blick zugeworfen. „Es ist nicht normal, ja, das ist es.“
Wie hatte ich David vergessen können?
„Das Mädchen gehört hier nicht her.“ Agnes’ Ton war abweisend. „Es passt nicht.“
In diesem Augenblick stieg noch eine Erinnerung in mir hoch. Dad stand in der Schlange vor dem Café eines Kaufhauses, während Mum in der Schuluniformabteilung stöberte. Ich, fünf Jahre alt, saß an einem Tisch und unterhielt mich angeregt mit einer freundlichen älteren Dame, die sich zu mir gesetzt hatte. Dad hätte beinahe das Tablett fallengelassen, als er mich beim Zurückkehren in ein Gespräch mit einer Person vertieft vorfand, die er nicht sehen konnte, obwohl er dicht neben ihr stand.
„Sie ist nicht ganz richtig im Kopf“, hatte er auf der Heimfahrt aufgebracht zu meiner Mutter gesagt.
„Sie hat nur eine zu lebhafte Fantasie“, hatte Mum erwidert. „Dafür kann sie nichts.“
„Das ist nicht ihre Fantasie“, sagte Dad schroff. „Sie ist komisch. Sie ist verdammt noch mal nicht normal! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, stimmt’s?“
„Bitte, Liebling“, hatte Mum mich an jenem Abend angefleht, als sie mich ins Bett brachte. „Bitte versuch einfach, dich anzupassen. Sei einfach normal. Mir zuliebe.“
Und ich hatte es versucht, wirklich. Ich hatte alle, die in mir jenes seltsame frostige Gefühl auslösten, ignoriert. Ich hatte damit aufgehört, jeden Abend die Treppe hinaufzusteigen, und David nie wiedergesehen. Und nachdem Mum gestorben war, als ich sechs Jahre alt war, störten mich die Geister nicht mehr. Ich hatte diese seltsame Fähigkeit so erfolgreich verdrängt, dass ich sie verloren hatte. Ich hatte buchstäblich den Geist aufgegeben und irgendwann vergessen, dass ich früher Geister gesehen hatte.
„Sie hat keine Manieren. Sagen Sie ihr das, Mr Wyndham“, fuhr Agnes fort. Ich zwang mich, sie anzusehen. Ihre Existenz anzuerkennen.
„Nun, ähm …“ Aubrey räusperte sich erneut. „Hören Sie, Agnes, ich weiß, sie ist nicht das, was wir erwartet haben –“
„Sie ist nur ein schmächtiges Mädchen!“ Agnes schüttelte entschieden den Kopf. „Das hier ist eine Aufgabe für einen Mann! Ach, hätte Brodie nur diese Gabe! So ein netter junger Mann. So sympathisch. Ich hätte mich gern mit ihm unterhalten, da bin ich mir ganz sicher.“
Aubrey tätschelte ihren Arm. „Regen Sie sich nicht auf. Wir müssen das Beste daraus machen. Brodie kann uns nicht helfen, daran ist nicht zu rütteln. Traurig, aber so ist es nun mal.“
„Wobei kann Brodie Ihnen nicht helfen?“, fragte ich, da ich gegen meinen Willen in das Gespräch hineingezogen wurde.
„Bei all dem hier natürlich!“, rief Agnes aus. „Dem Haus – unserem wunderschönen Haus. Und dem gesamten Gut. Es ist einfach zu viel, Mr Wyndham. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer und lege mich hin. Meine Kopfschmerzen melden sich wieder.“
„Ganz recht, meine Liebe. Das Beste, was Sie unter den Umständen tun können“, stimmte Aubrey ihr zu.
„Bekommen Geister Kopfschmerzen?“, fragte ich ehrlich verwirrt.
Agnes warf mir einen letzten angewiderten Blick zu und rauschte aus dem Raum.
Aubrey schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, sie ist eine Frau mit feinem Gespür, und das hier war ein ziemlicher Schock für sie.“
„Sie ist geschockt?“, murmelte ich. „Haben Sie eine Ahnung, wie ich mich gerade fühle?“
Verdammt, ich tat es wirklich, nicht wahr? Ich unterhielt mich tatsächlich mit einem Geist.
„Ja, doch“, sagte Aubrey. „Ich kann es mir vorstellen. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich –“
„Aubrey, vielleicht wären Sie so freundlich und würden Callie und mich kurz allein lassen, damit wir uns unterhalten können“, schlug Sir Lawrence taktvoll vor.
Aubrey straffte die Schultern. „Selbstverständlich, Lawrie. Ich überlasse es Ihnen, die Sache zu erklären.“ Er nickte mir zu. „Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben. Ich bin sicher, wir werden uns noch oft genug sehen. Guten Tag.“
Mit diesen Worten ging er zielstrebig aus dem Zimmer, sodass ich Sir Lawrence fragen konnte, was er mit dieser Bemerkung gemeint hatte.
„Warum wird er mich noch oft sehen?“
Er wurde vor einer Antwort bewahrt, weil Mia zurückkam, die ein Tablett mit zwei Tassen Tee, einem Krug Milch, einer Schale Zucker und einem Teller mit drei üppigen Keksen mit Schokoladenguss und ein paar mit Vanillecreme trug. Offensichtlich war sie also genauso real wie Sir Lawrence.
„Ich musste improvisieren, weil ich fürchte, das ist alles, was wir übrig haben“, sagte sie und warf ihm einen wissenden Blick zu. „Gestern war die Packung noch voll. An Ihrer Stelle würde ich sie nicht mehr kaufen. Die werden nur weggegessen.“
„Dafür sind sie ja da.“ Sir Lawrence klang amüsiert. „Danke, Mia.“
Sie nickte, doch dann hielt sie inne und sah mich mit ihren schwarz umrandeten, grauen Augen an.
„Sie sind also diejenige?“, fragte sie mit einer Stimme, die so nobel klang, dass man annehmen konnte, sie wäre mit Sir Lawrence verwandt.
„Diejenige?“
„Das hoffe ich sehr“, bestätigte Sir Lawrence. „Wir führen gleich eine kurze Unterhaltung, in der ich alles erklären kann.“
Mia verstand den Wink. Sie lächelte mich mitfühlend an und sagte: „Viel Glück.“ Dann verließ sie den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
„Mia ist meine Haushälterin“, erklärte Sir Lawrence und griff nach einem Vanillecremekeks. „Außerdem ist sie eine hervorragende Köchin und erledigt auch noch einige Sekretariatsarbeiten für das Gut. Ohne sie wären wir verloren.“
Ich sank auf dem Sofa zurück und stöhnte. „Warum hat sie mir viel Glück gewünscht? Und was meint sie mit ‚diejenige‘? Träume ich?“
„Ich fürchte, es ist alles völlig real“, sagte Sir Lawrence heiter. „Nehmen Sie sich Milch und Zucker, auch wenn ich finde, dass er schwarz am besten schmeckt.“
Mir kam der Gedanke, dass meine Halluzinationen womöglich durch einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel verursacht wurden. Ich hatte noch nichts zu Mittag gegessen und das Frühstück komplett ausfallen lassen. Vielleicht sollte ich einen Keks essen, um auf der sicheren Seite zu sein.
„Ich denke, am besten ist es, wenn ich ganz am Anfang beginne.“ Sir Lawrence warf mir einen anerkennenden Blick zu, während ich Zucker in meinen Tee gab und umrührte.
„Das wäre hilfreich“, stimmte ich zu und fügte noch einen Schuss Milch hinzu.
„Wie kann ich es erklären?“ Er nippte nachdenklich an seinem Tee – schwarz und ohne Zucker. „Mir musste es nie jemand erklären, wissen Sie. Ich bin hier aufgewachsen und wusste Bescheid, so wie auch mein Sohn und mein Enkel. Wäre alles so gelaufen, wie wir gehofft hatten, dann wäre ich jetzt nicht in dieser prekären Lage, aber leider hatte das Schicksal andere Pläne. Heute ist mir klar, dass ich kein bisschen auf diesen Tag vorbereitet bin. Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll.“
Ich versuchte, mich auf den Schokoladenkeks zu konzentrieren, auf dem ich wie wild herumkaute. Zucker sollte gut gegen Schock sein, und ich hatte weiß Gott heute schon einige gehabt. Ich wünschte, er würde sich beeilen und die Sache hinter sich bringen, damit ich von hier verschwinden konnte.
Als er schwieg, sagte ich: „Ich kann nicht den ganzen Tag hierbleiben, also was wollten Sie mir erklären? Wieso ich heute auf wundersame Weise zwei Gespenstern begegnet bin? Das wäre vielleicht ein guter Anfang.“
„Zwei?“ Sir Lawrence stellte seine Tasse ab. „Aber Ihnen ist doch sicher klar, meine Liebe, dass Sie meines Wissens heute mindestens sieben Geister kennengelernt haben.“
Ich schrie auf, als ich mir auf die Zunge biss, statt in den Keks.
„‘schulligung, wie bitte?“
Er hob die Hand und zählte die Namen an den Fingern ab. „Agnes, Aubrey, John, Robert, Florence und natürlich Ronnie und Bill. Die haben mir von Ihnen erzählt. Sie konnten es nicht fassen, dass Sie mit ihnen gesprochen haben. Es kommt nicht oft vor, dass sie einer Meinung sind, aber sie waren sich definitiv einig, dass Sie beide sehen und hören konnten, und sie sind den ganzen Weg hergerannt, um mir die Neuigkeit zu überbringen.“
Ich starrte ihn an, während mein Magen nervös blubberte. „Wie viele Gespenster gibt es hier eigentlich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Nicht alle kommen ins Dorf; manche bleiben lieber unter sich und wohnen am Rande des Guts. Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten.“ Er beugte sich zu mir vor. „Wir glauben, dass es vielleicht was mit den Ley-Linien zu tun hat, wissen Sie.“
„Den Ley-Linien? Aber das ist doch nur ein Märchen. Die gibt es nicht“, sagte ich und winkte verächtlich ab.
„Tatsächlich? Sie meinen, wie Gespenster?“
Eins zu null für ihn.
„Rowan Vale und Harling’s Halt liegen auf einer Ley-Linie. Und etwas weiter südlich vom Dorf mitten im Gut, wo sich vier Ley-Linien kreuzen, liegt das Rowan Vale Barrow, und in der Nähe befinden sich die Wyrd Stones.“
„Also das erklärt alles.“
Er lachte. „Haben Sie schon mal von dem Grabhügel und den Steinen gehört, Callie?“
„Nein. Ach, Moment. Sie werden auf Ihrer Website erwähnt, aber ehrlich gesagt habe ich die Links nicht angeklickt; ich habe nur das überflogen, was auf der Startseite steht.“
Mir fiel wieder ein, dass im Grabhügel eine Reihe Skelette gefunden worden waren, die Jahrtausende alt waren, und der Hügel war mit vier Steinen markiert, die als „Die Wächter“ bekannt waren. Die Wyrd Stones bestanden aus einem großen Kreis aus neolithischen Steinen sowie einem separaten riesengroßen Monolith, der auf einer anderen Wiese stand. Ich hätte mir die Webseite aufmerksamer durchlesen sollen.
„Ich habe mir nur kurz die Attraktionen angesehen, von denen ich wusste, dass wir sie besuchen würden, wie zum Beispiel die Farm und das Mühlenmuseum.“
„Ach ja, mit den Kindern. Sind Sie Lehrerin?“
„Nein.“ Ich errötete. „Eigentlich bin ich Pflegerin. Ich gehe zu den Leuten nach Hause und kümmere mich darum, dass es ihnen gut geht. Sie wissen schon – dass sie sauber und satt sind und alle Medikamente haben, die sie brauchen. Solche Dinge. Ich bin ehrenamtlich mitgekommen, weil die Klasse meiner Tochter hier einen Schulausflug macht.“
Seine Augen leuchteten auf. „Sie haben Kinder? Ist Ihr Mann auch hier?“
„Nein, nur Immi. Sie ist zehn“, sagte ich. „Es gibt keinen Mann.“
„Ich verstehe. Und hat Immi Ihre außergewöhnliche Gabe geerbt?“
Empört, dass er so was von Immi annahm, spürte ich, wie mein Blut aufwallte.
„Nein“, sagte ich verdrossen. „Sie ist völlig normal, herzlichen Dank.“
„Und Sie sind es nicht?“
„Was ist daran normal, wenn man Gespenster sehen kann? Mein Pech.“
„Nun, ich denke, das kommt darauf an, wie man es sieht. Ich persönlich habe mich immer für ein Glückskind gehalten, weil ich mit dieser Gabe gesegnet bin, und war sehr traurig für meinen Sohn und meinen Enkel, denen dieses Glück nicht beschieden ist.“
„Ich fühle mich nicht gerade wie ein Glückskind“, sagte ich. „Und ehrlich gesagt bin ich immer noch halbwegs davon überzeugt, dass ich das Ganze nur träume. Oder vielleicht ist hier was im Wasser.“ Ich beäugte misstrauisch die Tassen. „Sind Sie sicher, dass das nur Tee ist?“
„Darjeeling“, sagte er amüsiert.
Ich rümpfte angewidert die Nase. Noch nicht mal Yorkshire-Tee? Konnte es noch schlimmer kommen?
„Ich verstehe, dass es viel zu verdauen ist“, gab er zu.
„Viel zu verdauen? Sie haben mir noch nichts erzählt! Was haben Aubrey, Agnes und die anderen mit den Ley-Linien zu tun?“
„Wir sind uns nicht ganz sicher“, gab er zu. „Aber wir glauben, dass es eine Verbindung gibt. Unsere Vorfahren waren viel vertrauter mit dem Tod, als wir es heutzutage sind. Warum haben sie den Grabhügel an dieser Stelle errichtet? Warum haben sie dort einen Steinkreis und einen riesigen Monolithen aufgestellt? Wir wissen es nicht, aber es muss doch einen Grund dafür gegeben haben.“
Ich brachte ein schwaches Lachen zustande. „Warum fragen Sie sie nicht einfach? Sie hängen doch noch hier herum?“
„Leider gibt es hier keine prähistorischen Geister“, sagte er bedauernd. „Und falls doch, haben sie sich uns nicht zu erkennen gegeben.“
„Wie schade“, sagte ich sarkastisch.
„In der Tat. Soweit wir wissen, ist Quintus Severus unser ältester Geist. Ein charmanter Bursche, wenn auch in gewisser Weise ein Einsiedler. Er ist ein römischer Zenturio, der im zweiten Jahrhundert verstarb. Natürlich waren der Grabhügel und die Steine schon lange vorher da, daher weiß er genauso wenig wie wir.“
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Ein römischer Zenturio?“
„Wie auch immer – wir gehen davon aus, dass der Grabhügel und die Steine dort platziert wurden, weil unsere Vorfahren von der Kraft der Ley-Linien wussten und dass sie irgendwie mit dem Tod und dem Jenseits verbunden sind. Wie sonst ließe sich dieses Gut erklären? Natürlich ziehen die meisten Bewohner nach dem Ableben weiter, aber es gibt auch sehr viele, die bleiben. Und da kommen wir ins Spiel. Die Eigentümer dieses Dorfes. Zuerst waren es die Harlings, dann die Ashcrofts, die Wyndhams und die Davenports. Natürlich mag es vor den Harlings noch andere Besitzer gegeben haben, aber sie sind die erste Familie, die eingetragen ist – im Domesday Book, um genau zu sein. Sie haben dieses Haus 1588 erbaut. Ab da lief natürlich alles schief.“
„Was denn?“ Obwohl ich mich fragte, ob ich es wirklich wissen wollte, wollte ich es doch. Ich konnte meine Faszination nicht leugnen.
„Die Gabe ging verloren. Wissen Sie, Callie, der Schleier zwischen den Welten scheint hier dünner zu sein. Viele unserer lebenden Bewohner können die Geister ihrer eigenen Blutsverwandten sehen, aber darauf beschränkt sich ihre Gabe. Leider hat nicht jeder Geist Familienangehörige, die noch am Leben sind. Diese armen Seelen könnten mit keinem lebenden Menschen kommunizieren, was die Dinge für sie sehr schwierig und frustrierend machen würde, wenn nicht jeder Besitzer dieses Guts die Fähigkeit gehabt hätte, alle Geister, die hier wohnen, zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Keiner weiß, wann das angefangen hat, aber die Gabe scheint von Generation zu Generation weitergegeben worden zu sein.“ Er seufzte. „Bis es aufhörte.“
Ich vermutete, dass er dabei an seinen Sohn und den Enkel dachte.
„Und was ist dann passiert?“
„Jahrhundertelang besaßen die Erben der Harlings die Gabe und das Leben im Dorf verlief reibungslos. Doch dann wurde Joshua Harling geboren. Als er älter wurde, stellte sich heraus, dass er aus unerklärlichen Gründen nicht die Fähigkeiten seiner Vorfahren geerbt hatte. Was noch schlimmer war: Auch keines seiner eigenen Kinder konnte die Geister sehen.“
Plötzlich merkte ich, dass ich auf der Sofakante saß und den Henkel meiner Tasse fest umklammerte, während ich gespannt seiner Geschichte lauschte. Wie war es dazu gekommen?
„Was haben sie getan?“
„Was sie tun mussten. Sie hatten keine andere Wahl. Im Dorf lebte ein Landarbeiter. Ein Bursche namens Benjamin Ashcroft. Als die Harlings hörten, dass er die Gabe besaß, tat Joshua Harling das einzig Ehrenhafte: Er verkaufte Mr Ashcroft für zehn Pfund das Dorf.“
„Was? Warum das?“
„Man sagt, der Besitzer von Rowan Vale müsse die Gabe besitzen. Wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden Generationen fehlt, muss das Dorf an jemanden verkauft werden, der sie besitzt, für den Fall, dass nie wieder jemand aus der Familie der Eigentümer sie hat.“
„Aber wie konnte ein Landarbeiter in der damaligen Zeit zehn Pfund aufbringen?“, fragte ich ungläubig. „Für ihn war das doch ein Vermögen!“
„Das ganze Dorf hat dazu beigesteuert. Alle, ob reich oder arm, gaben ihm Geld – so viel, wie sie entbehren konnten.“
„Warum taten sie das?“
„Weil alle wussten, wie wichtig es war. Der Besitzer von Rowan Vale muss mit den Geistern sprechen können. Wissen Sie, wir müssen uns genauso um sie kümmern wie um unsere normalen Pächter. Wenn wir sie nicht sehen oder hören können, wie können wir dann dafür sorgen, dass es ihnen gut geht? Und ein unglücklicher Geist – nun ja, können Sie sich das vorstellen? Wie würde es Ihnen gefallen, für alle Ewigkeit unglücklich zu sein? Auch sie haben schließlich Rechte. Die Welt ist nicht nur für die Lebenden da.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. „Ein guter Punkt. Aber trotzdem vermute ich, dass die Nachfolger dieses Mr Ashcroft die Gabe auch irgendwann verloren haben. Ach! Ashcroft? War er mit der alten – ich meine, mit Agnes verwandt?“
Sir Lawrence lächelte mich wissend an. „Er war ein Vorfahre von Agnes’ Mann.“
„Von Aubrey? Aber ich dachte –“
„Ihrem ersten Mann.“ Er hüstelte leise. „Darüber sprechen wir ein anderes Mal.“
„Nach den Ashcrofts ging das Dorf also an die Wyndhams – Aubreys Familie?“
„Genau. Und nach ihnen hat mein Urgroßvater das Gut erworben.“
„Wie viel hat er dafür bezahlt?“, fragte ich und nahm einen Schluck Tee. „Ich meine, falls es Ihnen nichts ausmacht, es mir zu verraten.“
„Ganz und gar nicht. Zehn Pfund.“
„Bloß zehn Pfund ?“, fragte ich stotternd. „Haben Sie hier noch nie was von Inflation gehört?“
„Harling Estate kostet zehn Pfund. Das ist sein Preis und wird es immer bleiben“, sagte er mit fester Stimme. Dann wurde sein Gesichtsausdruck weicher. „Ich nehme an, Callie, dass Sie die Summe von zehn Pfund aufbringen können?“
Ich lachte. „Ich denke, das schaffe ich gerade noch. Wieso fragen Sie? Wollen Sie mir das ganze Gut verkaufen?“
Darauf antwortete er nicht, doch die Art, wie er eine Augenbraue hochzog und mir ernst in die Augen sah, war Antwort genug. Ich stellte meinen Tee auf den Boden, wobei meine Hände so stark zitterten, dass die Tasse laut auf der Untertasse klapperte.
„Sie erlauben sich einen Spaß mit mir“, murmelte ich.
„Callie, es fällt mir nicht leicht, aber da weder mein Sohn noch mein Enkel die Gabe geerbt haben, muss ich akzeptieren, dass die Zeit der Davenports abgelaufen ist. Das Gut muss an jemanden verkauft werden, der die Gabe besitzt. Ich bin vierundachtzig und –“
„Oh nein. Nicht doch!“ Panik stieg in mir hoch. „Ich bin nicht die Person, die Sie suchen. Sie irren sich gewaltig.“
„Ich muss zugeben, dass ich etwas perplex bin. Der Nachfolger kam bisher immer aus dem Dorf. Aber es hat sich kein geeigneter Mensch gefunden, und ich war schon am Verzweifeln. Und als Bill und Ronnie heute zu mir kamen und mir von Ihnen erzählt haben, wusste ich, dass meine Gebete erhört worden sind.“
„Nein“, wiederholte ich mit klopfendem Herzen. „Das bin ich nicht. Ich meine, das kann ich nicht tun. Ich kann es einfach nicht. Ich bin … ich bin normal!“
„Callie“, sagte er sanft, „wenn Sie es nicht tun, weiß ich ehrlich gesagt nicht, was aus Rowan Vale oder meinen Pächtern wird. Die Geister müssen mit den Lebenden kommunizieren können. Sie brauchen eine Stimme. Sie brauchen jemanden, der sie hört. Sie alle. Dieses Dorf ist ihre Heimat und sie haben das Recht, mitzubestimmen, wie es geführt wird, und sie brauchen die Sicherheit, dass es hier immer einen Platz für sie geben wird. Bitte denken Sie darüber nach. Für nur zehn Pfund kann all das hier Ihnen gehören und Sie können damit so vielen Seelen Frieden bringen.“
„Sie meinen das ernst, nicht wahr?“ Ich starrte ihn bestürzt an. „O Gott, Sie meinen es tatsächlich ernst.“
„Callie Chase, ich mache Ihnen hiermit ein förmliches Angebot. Sie können mein gesamtes Gut für zehn Pfund erwerben, hier in Harling Hall ein neues Leben beginnen und zugleich die Sicherheit von Rowan Vale und seinen Einwohnern auf absehbare Zeit gewährleisten – oder Sie können jetzt gehen und uns unserem Schicksal überlassen. Wie lautet Ihre Antwort?“