Leseprobe Limoneneis und Sommerliebe | Eine wunderschöne Liebesgeschichte in Italien

Kapitel 1

Keine Ahnung, wie ich in diese Situation geraten bin. Doch ich musste einfach weg. Raus aus meinem alten Leben, dem Alltagstrott und vor allem weit weg von meinem Ex-Freund.

»Vera! Musst du mir so einen Schrecken einjagen? Als mich deine Mail erreicht hat, habe ich mir schon die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Was ist passiert?«

»Mach dir bitte keine Sorgen, es ist nichts Ernstes. Ich … ich brauche einfach etwas Abstand. Eine Auszeit, Urlaub, oder ein Sabbatical, keine Ahnung«, entgegne ich mit einem tiefen Seufzen.

»Trotzdem kannst du nicht einfach in einer Nacht-und-Nebelaktion verschwinden. Immerhin hast du einen Job«, entgegnet meine Freundin in strengem Ton.

»Du wirst doch eine Vertretung organisieren und das genehmigen, oder?«

Ramona atmet hörbar ein. »Du kannst wirklich froh sein, dass ich nicht nur deine Chefin, sondern auch deine beste Freundin bin. Jeder andere würde dich entlassen, wenn du ohne Ankündigung für längere Zeit nicht bei der Arbeit erscheinst.«

»Ich habe es angekündigt. Die Mail. Schon vergessen?«, erinnere ich sie. Darin habe ich zwar nicht explizit erwähnt, was los ist, doch dass ich erst mal nicht zur Arbeit kommen würde, konnte Ramona bestimmt zwischen den Zeilen ablesen. Die vergangenen Monate waren nicht leicht für mich, und das weiß sie auch. Ich habe eine ziemlich beschissene Beziehung hinter mir und auch sonst lief es in meinem Leben nicht gerade rund. Selbst die Arbeit im Medienbüro meiner Freundin Ramona machte mir keinen Spaß mehr, obwohl ich Grafikerin mit Leib und Seele bin.

»Wo willst du überhaupt hin?«, vernehme ich gedämpft ihre Stimme. »Und wo, um Himmels willen, bist du jetzt gerade?«

»Ich … keine Ahnung.« Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Kurz schaue ich nach vorne zu dem Typen, der immer wieder zur lauten Rockmusik seinen Kopf bewegt. Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel und er grinst mich breit an.

»Da ist so ein Typ …«, murmele ich etwas leiser in mein Smartphone und drehe mich zur Seite, damit er meine Worte nicht verstehen kann. Vermutlich hört er mich von der Rückbank aus wegen der lauten Musik sowieso nicht, auf der ich die vergangene Nacht zusammengerollt wie ein kleines Kätzchen geschlafen habe.

»Was?!«, kommt es sogleich entsetzt von Ramona. »Hast du vergessen, wie die Sache mit Lars ausgegangen ist? Willst du dich erneut kopflos in etwas stürzen, was du – deinen eigenen Worten nach – meiden wolltest wie der Teufel das Weihwasser? Und was ist überhaupt mit deinem Freund?«

»Ex-Freund«, erwidere ich tonlos, kann jedoch nicht verhindern, dass meine Stimme für den Bruchteil einer Sekunde bricht. »Und ich will jetzt nicht über Oliver sprechen«, füge ich schnell an, ehe mich Ramona über meine kaputte Beziehung ausfragen kann. Es tut zu sehr weh, als dass ich ihr jetzt mein Herz ausschütten könnte. Nicht hier, auf der Rückbank eines Autos auf der Fahrt ins Ungewisse …

Bevor ich mit Oliver zusammengekommen bin, hatte ich einige wilde Affären, von denen Ramona weiß. Manche der Typen hat sie sogar aus nächster Nähe erlebt, als sie noch meine Nachbarin in Hamburg gewesen ist. Doch seitdem ich mit Oliver zusammen war, hatte ich keinen einzigen One-Night-Stand mehr. Nun ist er jedoch fort … und ich bleibe mit meinen zerplatzten Träumen allein zurück.

Meine Freundin zieht scharf die Luft ein, verkneift sich jedoch einen Kommentar.

»Okay … wer ist dann dieser Kerl? Hattest du etwa einen One-Night-Stand?«

»Nein. Er hat mich gestern Nacht bloß mit dem Auto mitgenommen, um -«

»Das wird ja immer besser! Bist du etwa bei einem wildfremden Typen eingestiegen? Was, wenn er ein Serienkiller ist?«

»Ist er nicht, okay? Du schaust eindeutig zu viele True Crime Serien. Er ist harmlos, ehrlich. Ein Künstler auf der Durchreise.«

»Gott, Vera … Du warst so lange mit Oliver zusammen. Das sieht dir mittlerweile überhaupt nicht ähnlich«, meint sie immer noch in sorgenvollem Ton. Ramona hat recht, so bin ich nicht mehr. Normalerweise liebe ich Strukturen und Routinen in meinem Leben. Solche spontanen Aktionen haben mich stets abgeschreckt. Doch ich bin fast dreißig – und vielleicht bedarf es diesem Nervenkitzel, um mich wieder zurück in die Spur zu bringen. Ich habe keine Lust mehr, in Hamburg zu versauern und darauf zu warten, dass Oliver wieder zur Besinnung kommt und von einer seiner Expeditionen zurückkehrt, um mich endlich zu heiraten.

»Hoffentlich bist du schon wieder zu Hause?«, fragt Ramona skeptisch. »Oder was ist das für eine schreckliche Musik im Hintergrund? Bist du etwa noch in seiner Wohnung?«

»Auto«, korrigiere ich und höre, wie sie nach Luft schnappt.

»Und wo willst du jetzt hin?«

Wenn es mir nicht so schlecht gehen würde, dann hätte ich über Ramona gelacht. Ich blicke aus dem Fenster. Wir befinden uns gerade auf der Autobahn, mehr kann ich nicht ausmachen, denn die Umgebung fliegt rasend schnell an mir vorbei.

»Keine Ahnung. Warte mal.« Ich halte das Handy von meinem Ohr weg und beuge mich vor zum Fahrersitz. »Wo sind wir gerade?«

»Wir haben vor knapp einer Stunde die österreichische Grenze passiert«, erklärt er gut gelaunt. Sein verschmitztes Lächeln wirkt frisch und lebendig. Er zeigt keinerlei Anzeichen von Müdigkeit, obwohl er die gesamte Nacht über durchgefahren ist.

»Österreich«, gebe ich an meine Freundin weiter.

»Vera, bist du von allen guten Geistern verlassen?«, kreischt meine beste Freundin aufgebracht. »Du hast …« Sie holt tief Luft und ich lache in mich hinein, setze mich wieder aufrecht hin und lehne mein Haupt gegen die Kopfstütze. »Du hast mir gestern Nacht eine ziemlich verwirrende Mail geschrieben, dass du dein Leben nicht mehr erträgst. Dann setzt du dich ganz spontan zu einem wildfremden Kerl ins Auto und fährst einfach so nach Österreich? Ich bin geschockt!« Ramona atmet mehrmals tief ein, weil sich ihre Stimme bereits überschlägt.

»Warum hast du nicht einfach gesagt, dass du ein paar Tage Urlaub benötigst? Das ist doch gar kein Problem, und das weißt du auch. Du hättest sogar zu mir nach Sylt kommen können, und -«, erklärt sie nun ruhiger, doch ich schneide ihr das Wort ab.

»Nein«, sage ich bestimmend, »das wäre nicht dasselbe. Ich kann mich nicht immer nur bei dir im Leuchtturm verkriechen, wenn es bei mir mal scheiße läuft. Irgendwann muss ich meinen Kram selbst regeln.«

»Aber doch nicht so

Ich kenne Ramona viel zu gut, weshalb ich mir das Ausmaß ihrer Sorge gerade deutlich vorstellen kann. Genau aus diesem Grund bin ich nicht zu ihr nach Sylt gefahren, auch wenn es das Naheliegendste gewesen wäre. Als sie vor gut einem Jahr alle Zelte in Hamburg abgebrochen hat, um das Erbe ihres Urgroßvaters anzunehmen und sich in Westerland ein neues Leben aufzubauen, habe ich ihre Entscheidung mehr als einmal hinterfragt. Für mich war es damals unvorstellbar, meinem Leben, das ich kannte, den Rücken zu kehren. Doch gestern Abend hat Oliver allem, was er sich bisher in unserer Beziehung geleistet hat, die Krone aufgesetzt.

Auch wenn es bereits vor Wochen immer schlechter lief, habe ich mich stets an einen Strohhalm geklammert in der Hoffnung, er würde die Kurve kriegen. Gestern war unser Jahrestag und ich habe mehrere Stunden damit verbracht, ihm als Überraschung ein Drei-Gänge-Menü zu zaubern. Oliver hatte mir nicht mitgeteilt, wann er von der Arbeit nach Hause kommt – doch dass er überhaupt nicht auftaucht, damit hatte ich nicht gerechnet. Als ich nach etlichen Anrufen, bei denen ich ständig auf seiner Mailbox landete, endlich eine kurze Nachricht bekam, dass er gerade auf seinen Flug nach Brasilien wartete, um eine ganz besonders bedrohte Käferart aus dem Regenwald zu retten, platzte mir endgültig der Kragen. Ich warf den Hackbraten in den Müll, leerte den teuren Rotwein, ohne mit der Wimper zu zucken, und packte schlussendlich meinen Rucksack.

Wenn Oliver der Meinung ist, er könne sorglos in der Weltgeschichte herumreisen, während ich brav zu Hause auf ihn warte, dann hat er sich getäuscht. Ich habe es satt, darauf zu hoffen, dass dieser Kerl zur Besinnung kommt und mit mir sesshaft wird. Mit einer gehörigen Portion Rotwein im Blut verließ ich meine Hamburger Wohnung. Erst wollte ich in der Tat zum Bahnhof und meine Freundin auf Sylt besuchen, doch es war mitten in der Nacht und der Zug fuhr erst in den frühen Morgenstunden nach Westerland. Also entschied ich mich kurzerhand, vom Bahnhof aus per Anhalter zu fahren. Ich wollte einfach nur weg, ganz egal, wer mich mitnahm oder wohin es die Route führte.

Erst, nachdem ich mich die halbe Nacht lang bei diesem Kerl ausgeheult hatte und eingeschlafen war, ging es mir besser. Zwar habe ich immer noch Kopfschmerzen und zweifele gerade daran, ob ich nicht einen Fehler begangen habe, doch jetzt kann ich nicht mehr zurück. Schließlich bin ich bereits in Österreich!

»Vera?«

»Was ist?«, frage ich gedehnt und reibe mir mit der freien Hand über die Schläfe, weil ich abermals einen stechenden Kopfschmerz verspüre.

»Bitte kehr um und komm zu mir. Ich kann dir bestimmt helfen«, bittet Ramona mich inständig. Ein paar Sekunden lang schließe ich die Lider und atme tief ein.

»Dieses Mal kannst du mir nicht helfen. Es ist nicht so wie bei Lars oder Timo …«, gebe ich leise zurück. Meine damaligen Affären haben nicht solch tiefen Gefühle in mir ausgelöst oder mich gar so sehr zermürbt wie meine Beziehung mit Oliver. Zwar war ich jedes Mal am Boden zerstört, doch habe ich schnell den Schlussstrich gezogen. Oliver hingegen hat mich viel zu oft links liegen lassen, wenn es um Klimaschutz oder Tierwohl ging. Ich wurde hintangestellt und erst, wenn er der Meinung war, genug Leben gerettet zu haben, kehrte er zurück und überschüttete mich mit Liebe und Zuneigung. Wir hatten wilden Sex und eine unglaublich intensive Zeit miteinander – bis er wieder sang- und klanglos verschwand und so tat, als sei ich Luft. Diesen Zustand habe ich lange genug geduldet.

»Außerdem kann ich nicht umkehren. Ich bin gerade irgendwo in Österreich. Aus dem Fenster kann ich die Alpen sehen.«

»Die Alpen gehören zur Schweiz«, wirft Ramona ein und räuspert sich geräuschvoll. »Trotzdem kannst du nicht einfach abhauen …«

»Kann ich sehr wohl«, beharre ich. »Wenn es dir um die Arbeit geht … Ich habe meinen Laptop dabei.«

»Ach, pfeif doch auf die Arbeit. Ich mache mir Sorgen, dass du dich in irgendetwas verrennst, nur, weil du Oliver eins auswischen willst«, entgegnet sie sogleich.

»Mach ich nicht. Ich brauche einfach ein bisschen Abstand, um den Kopf freizubekommen«, erkläre ich ruhig. Ramona stößt geräuschvoll die Luft aus und ich kann mir förmlich vorstellen, wie sie die Augen verdreht.

»Okay«, bringt sie schließlich hervor. »Wenn ich dich nicht zur Rückkehr überreden kann, dann versprich mir wenigstens, dass du gut auf dich aufpasst. Nicht, dass der Kerl sich doch noch als Serienkiller entpuppt.«

Ich lache leise. »Keine Sorge, ich bin schon ein großes Mädchen. Niemand wird mich so schnell um die Ecke bringen, versprochen.«

»Melde dich bitte. Und wenn du zurück nach Hause willst – Ben und ich holen dich ab, egal, wo du gerade steckst!«

»Danke«, murmele ich mit einem Kloß im Hals. Ich bezweifele zwar, dass Ramona bis nach Österreich oder wohin auch immer fahren würde, um mich einzusacken, doch allein der Gedanke rührt mich sehr. Ich will noch etwas sagen, als das Gespräch jäh unterbrochen wird. Das Display wird schwarz, denn mein Akku hat gerade den Geist aufgegeben. Erschrocken stelle ich fest, dass ich kein Ladekabel in den Rucksack geschmissen habe.

»Hey, hast du ein Ladekabel?«, frage ich über den Lärm der Rockmusik hinweg. Der Fahrer blickt kurz über die Schulter zu mir.

»iPhone?«

»Nein, Android«, antworte ich und er schüttelt nur den Kopf.

»Musst dir eins besorgen«, meint er dann und konzentriert sich erneut auf die Straße. Unruhig rutsche ich auf der Rückbank hin und her, denn die Kopfschmerzen verstärken sich. Zudem bekomme ich Hunger und meine Blase drückt.

»Können wir eine Rast machen? Ich muss dringend aufs Klo«, frage ich den Typen erneut. Er antwortet nicht sofort, doch dann bemerke ich, wie er den Blinker setzt und auf einen Rasthof einbiegt. Erleichtert schnalle ich mich ab und springe beinahe aus dem Auto, um, auf der Suche nach einer Toilette, ins Innere des Gebäudes zu rennen. Kurz vor dem Kassenautomaten stelle ich fest, dass ich kein Kleingeld eingesteckt habe. Genervt kehre ich um und gehe zum Parkplatz, wo der Typ mich rausgelassen hat. Suchend blicke ich mich nach dem schwarzen Volvo um, kann ihn jedoch nirgends entdecken.

»Fuck!«, fluche ich, nachdem ich um die Tankstelle herumgelaufen bin und sein Auto nicht gefunden habe. Der Typ hat mich hier abgesetzt und ist einfach abgehauen. Panik steigt in mir auf und ich taste in meiner Jackentasche auf der Suche nach meinem Smartphone umher, als ich mich daran erinnere, es in den Rucksack gesteckt zu haben. Diesen habe ich in der Eile auf dem Rücksitz liegen lassen.

Verzweifelt raufe ich mir die Haare und fluche erneut. Gott, wie kann man nur so ein Pech haben?! Ich befinde mich irgendwo im Nirgendwo, ohne Handy oder Portemonnaie. Der Typ war nett, ich hatte ein gutes Gefühl bei ihm, da er mich ohne Murren durch ganz Deutschland gefahren hat … Hat Ramona recht und ich bin zu gutgläubig? Wenigstens kann ich froh sein, dass er nur meine persönlichen Gegenstände geklaut hat, statt mich in einem abgelegenen Waldstück zu verscharren, wo niemand nach mir suchen würde.

Unglücklich ringe ich meine Hände und gehe erneut um die Tankstelle herum, dann überquere ich den großen Parkplatz und verschwinde im Gebüsch vor dem Autobahnschutzwall, um mich zu erleichtern. Hinter einer rostigen Bank erkenne ich einen überquellenden Abfalleimer, aus dem ein dunkelroter offener Rucksack hervorlugt. Froh darüber, meine Tasche gefunden zu haben, fische ich sie aus dem Müll. Dann öffne ich den Reißverschluss zur Gänze und schütte den Inhalt auf die Bank. Mein Handy fällt heraus, danach einige der Klamotten sowie meine Kosmetiktasche. Das Portemonnaie suche ich vergebens. Der Typ hat allen Ernstes mein Geld geklaut! Zum Glück hatte ich kaum Bargeld dabei, ärgerlich ist nur, dass ich jetzt meine Kreditkarte sperren lassen muss. Außerdem werde ich mir nichts kaufen können …

Verärgert über meinen eigenen Leichtsinn, schultere ich den Rucksack und gehe zurück zum Rasthof. Dort setze ich mich auf die hohe Bordsteinkante, um einige Leute beim Tanken zu beobachten. Zwei Kinder und ein kleiner Bernhardiner steigen aus einem Polo und rennen laut lachend zum angrenzenden Spielplatz, während ihr Vater das Auto volltankt. Obwohl es für Mitte September eigentlich nicht kalt ist, beginne ich dennoch zu frieren. Mein Magen knurrt, weshalb ich mich mühsam erhebe und reflexartig den Staub von meiner Hose klopfe. Vielleicht sollte ich erst mal mein Handy laden, um doch noch bei Ramona anzurufen? Ich könnte mir auch online ein Bahnticket zurück nach Hamburg kaufen, vorausgesetzt, ich komme von hier aus in die nächstgelegene Stadt. Auch wenn ich gerade in einer misslichen Lage stecke, fühle ich mich seltsam befreit. Die unerwarteten Wendungen des heutigen Tages waren ereignisreicher als die letzten Jahre in meiner Beziehung mit Oliver. Gestern noch steckte ich in einem Trott fest, aus dem ich nicht einmal selbst ausbrechen wollte, aus Angst vor Veränderungen. Ich hatte geglaubt, mein Alltag wäre festgefahren und es gäbe nichts mehr, das mich voranbringen könnte. Nun hocke ich hier auf einem Autobahnrasthof irgendwo in Österreich, ohne Geld und mit leerem Handyakku. Diese Tatsache ist so absurd, dass ich auf einmal laut lachen muss. Hätte mir jemand gestern gesagt, dass ich mich jemals in so einer unkontrollierten Situation wiederfinden würde, ich hätte denjenigen für verrückt erklärt. Ich bin niemand, der irgendetwas spontan macht. Alles läuft nach Plan und wurde vorher genauestens durchdacht. Da ist es kein Wunder, dass sich Ramona Sorgen um mich macht. Schließlich ist so eine Aktion völlig untypisch für mich. Doch warum nicht endlich aus gewohnten Mustern ausbrechen? Sie hat es mir doch bereits vor einem Jahr vorgemacht, indem sie ihren Job geschmissen und ein neues Leben begonnen hat. Nun steckt meine beste Freundin in einer glücklichen Beziehung und macht beruflich genau das, wovon sie schon immer geträumt hat. Ich sollte mir ein Beispiel an ihr nehmen und mein Leben endlich selbst auf die Reihe kriegen.

Tief atme ich ein und betrete die Tankstelle erneut, gehe jedoch durch eine angrenzende Tür zum Gastraum des Rasthofs. Dort gibt es ein paar Sitzgelegenheiten am Fenster. Zuerst blicke ich zu der jungen Frau am Verkaufstresen, die der Familie von vorhin Hotdogs verkauft. Ich stelle mich an und warte, bis der Vater für die Kinder bezahlt hat und danach für mich Platz macht. Beim Anblick der Speisen in der Auslage läuft mir das Wasser im Mund zusammen, doch weil ich kein Geld und auch keine Kreditkarte habe, kann ich mir nicht einmal einen Kaffee leisten. Seufzend wende ich den Blick von den Backwaren ab und lächele die gelangweilt aussehende Frau freundlich an.

»Hey, haben Sie zufällig ein Ladekabel für mich? Mein Akku ist tot und ich muss ganz dringend telefonieren«, erkläre ich ihr. Sie hebt fragend eine Augenbraue.

»iPhone?«, will sie wissen. Ich schüttele den Kopf.

»Android.«

»Ne, sorry. Musst du dir drüben in der Tankstelle kaufen. Ich habe ein iPhone«, meint sie mit einem schwer zu verstehenden Dialekt. Enttäuscht lasse ich die Schultern hängen.

»Kann ich leider nicht, denn mein Portemonnaie wurde geklaut«, erkläre ich der Frau, doch diese zuckt bloß mit den Schultern und widmet sich wieder ihrem Smartphone, auf welches sie bereits vor wenigen Minuten gestarrt hat. Enttäuscht drehe ich mich um und trete zur Seite, um anderen Gästen in der Schlange hinter mir Platz zu machen.

»Sie können meins nehmen«, vernehme ich eine tiefe Männerstimme hinter mir. Überrascht schaue ich auf und blicke in das lächelnde Gesicht eines Mannes. Seine dunkelbraunen Augen leuchten freundlich, während er mir ein Ladekabel samt Adapter in der ausgestreckten Hand entgegenhält.

»Sie brauchen doch einen USB-C-Anschluss, oder?«, fragt er nach, weil ich ihn bloß stumm anstarre. »Sorry, ich habe zufällig Ihre Unterhaltung mitbekommen.«

»Ähm … danke. Das ist wirklich nett«, sage ich endlich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden habe. Ich nehme ihm das Kabel ab und stecke ein Ende in mein Smartphone.

»Kein Problem. Ich sitze dort drüben«, erklärt er mir und deutet auf einen kleinen Tisch ganz am Ende des Gastraums. »Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Ihr Handy aufgeladen ist. Ich habe es nicht eilig und warte solange.« Er nickt mir zu und geht zurück zu seinem Tisch. Überrumpelt blicke ich ihm nach. Er will tatsächlich warten? Dabei kann das Laden locker mehr als eine Stunde dauern. In einer Minute werde ich von einem Typen ausgeraubt, und in der nächsten hilft mir ein ebenfalls völlig fremder Mann aus der Klemme. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, weil ich mich über diese Geste freue. Schnell sehe ich mich nach einer Steckdose um, finde eine in der Nähe des Eingangs und setze mich dort an den freien Tisch. Es dauert einige Minuten, bis mein Handydisplay wieder zum Leben erwacht. Erleichtert atme ich aus und rufe als Erstes bei meinem Kreditinstitut an, um meine Kreditkarte und die dazugehörige Bankkarte, welche sich ebenfalls in meinem Portemonnaie befunden hatte, sperren zu lassen. Sobald ich wieder zu Hause bin, werde ich vor Ort neue beantragen.

Zu Hause … diese Worte enthalten einen bitteren Nachgeschmack. Gestern Nacht bin ich Hals über Kopf von zu Hause geflohen, weil ich von Oliver so enttäuscht gewesen bin. Wie ein trotziger Teenager, der sich und allen anderen etwas beweisen wollte, habe ich Reißaus genommen. Dabei bin ich eine erwachsene Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht …

Nachdem ich den Anruf getätigt habe, atme ich erleichtert aus und lehne mich auf dem Stuhl zurück. Zwar habe ich immer noch kein Bargeld und null Ahnung, wie ich von hier wegkommen soll, doch zumindest nehme ich diesem hinterhältigen Kerl damit die Möglichkeit, mein Konto leer zu räumen.

Während das Handy langsam lädt, blicke ich verstohlen zu dem Mann hinüber, der mir freundlicherweise sein Kabel geliehen hat. Er ist selbst in sein Smartphone vertieft und scheint gerade interessiert etwas zu lesen. Abermals knurrt mein Magen. Ich sollte mir überlegen, wie ich etwas Essbares organisiert bekomme. Vielleicht hat die junge Verkäuferin Mitleid mit mir …

Endlich ist der Akku voll, also ziehe ich das Handy vom Strom und gehe zu dem netten Mann herüber, um ihm seine Habseligkeiten zurückzugeben.

»Vielen Dank«, sage ich zu ihm. »Sie haben mir wirklich aus der Klemme geholfen. Entschuldigen Sie bitte die lange Wartezeit.«

»Gerne«, erwidert er und sieht zu mir auf. Etwas unschlüssig stehe ich vor seinem Tisch, knete nervös meine Hände. Das halb aufgegessene Brötchen auf dem Teller neben seinem Kaffeebecher sieht so verlockend aus, dass mein Magen abermals laut knurrt. Sogleich laufe ich rot an, rühre mich jedoch nicht von der Stelle. Gott, wie peinlich!

»Wollen Sie sich zu mir setzen?«, fragt er freundlich und deutet mit einer Hand auf den leeren Stuhl ihm gegenüber. »Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.«

»Oh, nein, nein. Das müssen Sie nicht. Ich wollte nur das Kabel zurückbringen«, beschwichtige ich ihn, doch es ist schon wieder ein eindrückliches Knurren zu vernehmen. Beschämt presse ich die Hände gegen meinen Bauch. Bisher habe ich noch nie in so einer unangenehmen Situation festgesteckt.

»Ich habe Ihr Gespräch vorhin zufällig mitbekommen. Es muss Ihnen nicht peinlich sein, dass Ihr Portemonnaie geklaut worden ist. Kommen Sie, ich kaufe Ihnen einen Kaffee.« Bevor ich erneut protestieren kann, erhebt er sich bereits von seinem Platz und geht zum Verkaufstresen, wo er mit der jungen Frau hinter der Theke spricht. Seufzend lasse ich mich auf den Stuhl sinken und stelle den Rucksack mit meinen Habseligkeiten zu meinen Füßen ab. Welcher Teufel hat mich bloß geritten, einfach per Anhalter loszufahren, ohne mir vorher Gedanken über etwaige Konsequenzen zu machen? Ich schiebe meine Leichtsinnigkeit auf den Rotwein sowie Oliver, der mich wieder einmal enttäuscht hat. Außerdem muss ich mir eingestehen, dass ich vermutlich nicht den Mut aufgebracht hätte, mit ihm Schluss zu machen, wäre er nach ein paar Tagen in meine Wohnung zurückgekehrt. Dieser Mann übt eine solche Anziehungskraft auf mich aus, dass ich immer wieder gehofft habe, er würde es irgendwann ernst mit mir meinen …

Der Fremde kommt zurück an den Tisch. In der einen Hand hält er einen großen Pappbecher herrlich duftenden Kaffees und in der anderen eine Brötchentüte.

»Ich wusste nicht, was Sie mögen. Also habe ich einfach das genommen, was ich auch gegessen hätte«, erklärt er mir und stellt das Essen vor mir ab. Beinahe zu schnell reiße ich die Tüte auf und beiße in das Tomate-Mozzarella-Baguette hinein. Genießerisch kauend lächle ich ihn an.

»Danke. Es ist köstlich.«

Er sieht mir zufrieden beim Essen zu, was ein wenig unheimlich anmutet. Momentan habe ich jedoch keine Zeit, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn ich will erst das Loch in meinem Magen stopfen. Nachdem ich den letzten Bissen verspeist und auch den Kaffeebecher geleert habe, seufze ich befriedigt und lehne mich entspannt zurück. Der Mann erhebt sich.

»Also schön. Nun muss ich aber weiter, wenn ich heute Abend zu Hause sein will. Alles Gute Ihnen«, sagt er zu mir und wendet sich zum Gehen ab. Auch ich verabschiede mich und blicke ihm nach, wie er den kleinen Rasthof verlässt.

Kapitel 2

Einen Moment lang verharre ich auf dem Stuhl und blicke aus dem Fenster, dann springe ich plötzlich auf, schnappe meinen Rucksack und stürze aus dem Gebäude. Mit wild pochendem Herzen sehe ich mich auf dem Rasthofparkplatz um, laufe über den Tankstellenvorplatz zu den Tischen und Bänken, drehe mich noch einmal im Kreis, bis ich den dunkelhaarigen Typen hinter einem parkenden Lkw vorbeigehen sehe. Schnell renne ich ihm hinterher. Er war wirklich sehr freundlich zu mir, und vielleicht kann er mir ja noch einmal helfen.

»Warten Sie einen Moment«, rufe ich ihm zu, sodass er sich zu mir umdreht. Überrascht fliegen seine Augenbrauen in die Höhe, als ich außer Puste vor ihm zum Stehen komme. Mit den Händen stütze ich mich auf meinen Knien ab und hole tief Luft, dann richte ich mich wieder auf und streiche mir einige der Locken aus der Stirn, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst haben. Diese waghalsige Idee, die mir soeben gekommen ist, muss ich loswerden. Es ist riskant, doch ich weiß einfach nicht, wie ich sonst aus dieser Situation entkommen soll. Dieser Mann mit den freundlichen braunen Augen hat mir geholfen, vielleicht tut er das ja noch ein zweites Mal.

»Könnten Sie mich … ähm … bis zum nächsten Bahnhof bringen? Ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin, oder wie ich sonst von hier wegkommen könnte«, erkläre ich und erröte erneut, weil mir meine Hilflosigkeit peinlich ist. Es handelt sich hier um einen völlig Fremden – und ich bin es nicht gewohnt, Hilfe von anderen anzunehmen. Nicht einmal von Freunden …

Der Mann sieht mich verwundert an, doch dann nickt er mit einem Lächeln.

»Wir sind in der Nähe von Salzburg. Natürlich kann ich Sie am Bahnhof in der Stadt absetzen, wenn es Ihnen passt. Das ist kein Umweg für mich. Wenn ich dadurch helfen kann, tue ich dies gerne.« Er kramt in seiner Jackentasche und holt einen Schlüssel heraus, mit dem er den Van vor sich entriegelt. »Steigen Sie ein. Ich bin übrigens Marco.«

»Vera«, stelle ich mich vor und öffne die Beifahrertür, um ins Auto zu steigen. Marco setzt sich hinters Steuer. Der Motor springt brummend an und er verlässt den Rasthof in Richtung Autobahn. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Ich hole mein Smartphone heraus, um Ramona eine Nachricht zu schicken.

Vera: Du hattest recht, es war eine ganz blöde Idee. Ich fahre zum nächsten Bahnhof und komme dann zu dir. Mach dir bitte keine Sorgen.

Ramona: Gott sei Dank! Ich dachte wirklich, du kommst gar nicht mehr zur Vernunft. Melde dich bitte, wenn ich dich vom Bahnhof abholen soll.

Kurz überlege ich, ob ich Oliver ebenfalls schreiben soll. Der Kerl hat es eigentlich nicht verdient, dass ich überhaupt noch an ihn denke, so, wie er mich immer behandelt hat. Für ihn ist meine Liebe und Fürsorge stets selbstverständlich gewesen. Etwas, worum er sich nie wirklich bemühen musste. Vielleicht habe ich es ihm von Anfang an viel zu leicht gemacht, denn ich bin es gewesen, die ihm ihre Liebe gestanden und ihn schon wenige Wochen danach bei sich hat einziehen lassen. Meine Finger schweben über dem leeren Textfeld. Auf einmal wird mir schwer ums Herz und ein Kloß bildet sich in meinem Hals, den ich nur mühsam hinunterwürgen kann. Zwar sind die Kopfschmerzen nicht mehr so akut wie heute Morgen, dennoch fühle ich mich furchtbar elend. Erneut hole ich tief Luft, dann schreibe ich Oliver.

Vera: Es ist aus.

Diese drei Worte schmerzen mehr, als ich vermutet habe. Vielleicht liegt es aber auch einfach nur daran, dass ich völlig übermüdet von der Nacht im Auto und durcheinander von dem darauffolgenden Diebstahl bin. Ich kralle meine Hände um das Smartphone und sinke dabei in mich zusammen.

»Alles okay?«, fragt Marco und schaut kurz zu mir rüber. Tränen steigen in meine Augen, die ich hastig wegblinzele.

»Ja, ich …« Meine Stimme bricht und ich muss schlucken, ehe ich weitersprechen kann. »Es ist mein Ex. Ich habe eben Schluss gemacht«, presse ich hervor und ein Schluchzen entrinnt meiner Kehle. Plötzlich kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Tatsache auszusprechen, macht meinen Entschluss, Oliver endlich aus meinem Leben zu streichen, realer, als es sich zuvor angefühlt hat. Meine Flucht aus Hamburg, gepaart mit dieser Nachricht, trifft mich heftiger, als ich vermutet habe.

»Wir waren viele Jahre über zusammen, doch es war eher eine On-Off-Beziehung. Ich habe viel zu lange gehofft, dass ich für ihn mehr sein könnte als lediglich eine Frau für zwischendurch. Doch mit den Jahren hat sich alles festgefahren, Oliver machte, was er wollte und kam in meine Wohnung, wann es ihm passte. Es war so ­… ich weiß auch nicht. Aussichtslos? Gestern habe ich es dann nicht mehr ausgehalten und bin … geflüchtet.« Die Worte sprudeln einfach so aus mir heraus, ohne dass ich verstehe, warum ich einem wildfremden Typen überhaupt davon erzähle. Marco geht meine verpatzte Beziehung überhaupt nichts an.

»Das tut mir leid«, sagt er mitfühlend. Obwohl wir uns lediglich wenige Stunden kennen, rührt mich seine Anteilnahme und ich fühle mich auf Anhieb wohl in seiner Gegenwart, auch wenn ich eigentlich nach dem Diebstahl, begangen durch den anderen Autofahrer, misstrauisch sein sollte. Immerhin war der Kerl auch erst nett zu mir, bis er sich als Arschloch entpuppt hat.

Ich sehe zu Marco rüber, doch er richtet den Blick bereits wieder konzentriert auf die Straße.

»Ich weiß, wie das ist«, murmelt er schließlich so leise, dass seine Stimme beinahe von der Musik des Autoradios verschluckt wird. »Ich bin auch seit einigen Jahren Single … Wenn ich dir durch meine Worte zu nahe getreten bin, dann tut es mir leid.«

»Es ist okay für mich, darüber zu sprechen. Oliver hat mir nicht gutgetan. Das habe ich endlich begriffen. Jetzt muss ich nach vorne blicken«, erkläre ich und wische mir die Tränen aus den Augen.

»Verstehe …« Ein kleines Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, doch es erreicht seine dunklen Augen nicht. Schweigend mustere ich ihn, weil ich bisher nicht die Gelegenheit dazu hatte, ihn genauer zu betrachten. Seine Haare sind dunkelbraun, beinahe schwarz und kräuseln sich in leichten Wellen über seinen Ohren sowie im Nacken. Die Nase besitzt einen leichten Höcker, was jedoch kaum auffällt. Seine Haut ist hell, fast schon blass und ein leichter Bartschatten überzieht die markanten Wangenknochen. Außerdem ist er nur ein paar Zentimeter größer als ich. Dieser Mann entspricht keinem Schönheitsideal und ist alles andere als mein Typ, denn ich stehe normalerweise auf große blonde Männer. Doch Marcos sympathische Ausstrahlung und seine Freundlichkeit nehmen mich für ihn ein.

Ich reiße meinen Blick von seinem Profil los und sehe aus dem Fenster. Die Autobahn fliegt an uns vorbei, in der Ferne kann ich gigantische Berge sowie zahlreiche dichte Wälder ausmachen. Die wechselnde Landschaft nimmt meine volle Aufmerksamkeit ein, sodass ich zu spät merke, wie Marco abfährt.

»Wir erreichen gleich Salzburg«, erklärt er mir. »Dort kann ich dich gerne absetzen. Wohin musst du überhaupt? Ist es in der Nähe? Vielleicht kann ich dich hinfahren.«

Lächelnd schüttele ich den Kopf. »Nein, du hast mir wirklich schon genug geholfen. Ich werde mich erst mal um eine Zugverbindung zurück nach Hamburg kümmern.«

Marcos Augen werden groß. Er biegt von der Hauptstraße ab, als die Ampel vor uns von Rot zu Grün wechselt.

»Du bist aus Hamburg hierhergefahren?« Erstaunt blickt er auf den Rucksack in meinem Schoß. Ich nicke betreten.

»Per Anhalter, ja. Und dann hat der Typ mich am Rasthof ausgesetzt und mein Portemonnaie geklaut.«

»Dio mio!«, entfährt es Marco.

»Wie bitte?« Irritiert ziehe ich die Augenbraue hoch und bringe ihn damit zum Lachen.

»Entschuldige. Ich bin es nicht gewohnt, so viel Deutsch zu sprechen«, erklärt er mir. »Ich komme aus Italien.«

»Mir ist aufgefallen, dass du einen leichten Akzent besitzt«, bemerke ich. Marco sieht nicht wie ein typischer Deutscher aus, allerdings beherrscht er unsere Sprache so gut, dass ich ihn nicht für einen Italiener gehalten habe. »Doch du beherrschst die Sprache fehlerfrei. Lebst du hier in Österreich?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe etliche Jahre in München studiert, doch ich lebe schon sehr lange wieder in Italien. Ich war wegen der Arbeit unterwegs und habe noch einen Freund besucht. Nun bin ich auf dem Heimweg.«

Ich nicke verständnisvoll. Erneut verfallen wir in Schweigen, bis wir die Innenstadt erreichen. Wie gebannt betrachte ich die Gebäude. Ich bin noch nie in Salzburg gewesen und hätte nicht im Traum daran gedacht, so plötzlich hier zu landen. Meine Sommerurlaube habe ich immer in Spanien oder der Türkei verbracht, manchmal sogar in der Toskana, doch nie in Österreich. Mein letzter Ex-Freund, Lars, fuhr gerne Ski in den Bergen, jedoch bevorzugte er stets die zahlreichen Pistengebiete in der Schweiz. Salzburg wird von hohen Bergen umgeben, ganz oben in der Ferne kann ich sogar eine Burg ausmachen.

»Der Bahnhof befindet sich gleich da drüben«, erklärt Marco und lenkt den Wagen auf einen Parkplatz. Er stellt den Motor aus und schnallt sich ab, dann wendet er sich mir zu. »Soll ich dich begleiten?«

Einen Moment lang überlege ich, dann nicke ich und schnalle mich ebenfalls ab. »Wenn es dir nichts ausmacht … Ich würde mich dann etwas weniger verloren fühlen«, gestehe ich. Marco steigt aus, geht um den Van herum und öffnet die Beifahrertür.

»Danke«, gebe ich zurück und verlasse das Fahrzeug. Im Bahnhofsgebäude suche ich nach der Reiseinformation. Die junge Frau hinterm Schalter berät mich, während Marco in einigem Abstand wartet. Nach einer Weile kehre ich mit hängenden Schultern zu ihm zurück.

»Der nächste Zug nach München fährt erst morgen früh. Ich müsste so lange warten. Für ein Ticket brauche ich eine App, damit ich es online bestellen kann. Das wäre kein Problem, wenn meine Kreditkarte nicht gesperrt wäre …« Ich seufze tief, denn ich weiß gerade nicht, was ich tun soll. Wieso habe ich mich nur in diese aussichtslose Lage manövriert? Marco überlegt einen Moment lang, dann hellt sich sein Gesicht auf.

»Ich könnte dich zur nächstgelegenen Bank bringen. Eine Ersatzkarte zu beantragen, wird schwierig, doch manchmal gibt es die Möglichkeit, an Notfallgeld zu gelangen. Visa und Mastercard setzen sich dann mit deiner Bank in Deutschland in Verbindung und bei einer Genehmigung könntest du das Notfallbargeld in der Regel innerhalb weniger Stunden erhalten«, erklärt er mir und verlässt den Bahnhof. »Das hat mal ein Freund von mir genutzt, als sein Portemonnaie während einer Gondelfahrt auf dem Canale Grande ins Wasser gefallen ist.«

Hoffnung keimt in mir auf. »Davon habe ich bisher nicht gehört, doch wenn du helfen könntest, wäre ich dir wirklich dankbar.«

Wir steigen wieder in den Van und Marco sucht in seinem Handy die Adresse des Kreditinstituts heraus. Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals so aufgeschmissen und auf Hilfe anderer angewiesen sein würde. Hätte ich Marco nicht getroffen, wäre ich verzweifelt.

Tatsächlich habe ich Glück und bekomme einige Hundert Euro nach einer kurzen Wartezeit sowie mehreren ausgefüllten Formularen ausgezahlt. Ich beantrage direkt eine Ersatzkarte, die jedoch erst nach einer zehntägigen Bearbeitungszeit verschickt wird. Erleichtert nehme ich den Umschlag mit dem Notfallgeld entgegen und gehe zurück zu Marco, der in seinem Van auf mich gewartet hat.

»Geschafft!«, jubele ich und schwenke den Umschlag in der Hand, als ich mich auf den Beifahrersitz begebe. Den ganzen Morgen über war ich so angespannt, dass ich nun spüre, wie mir all die Last von den Schultern fällt. Jetzt komme ich zumindest ein paar Tage lang über die Runden, bis ich zurück in Deutschland bin. Zurück … Schwermut überkommt mich. Soll ich überhaupt den Rückweg antreten und mich bei Ramona auf Sylt verkriechen, bis ich die Enttäuschung hinsichtlich Oliver überwunden habe? Was werde ich tun, sobald ich in Hamburg erneut auf ihn treffe? Wird der Kerl in meiner Wohnung auftauchen, jetzt, wo ich Schluss gemacht habe? Bisher habe ich keine Antwort auf meine Nachricht erhalten.

»Großartig«, meint Marco lächelnd und startet den Motor des Vans. »Soll ich dich zurück zum Bahnhof fahren? Oder nimmst du dir ein Hotel? Ich kann leider nicht mehr lange in Salzburg bleiben, muss weiterfahren, wenn ich rechtzeitig wieder in Verona sein will.« Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkt aufgesetzt, jedoch kann ich nicht ausmachen, woran das liegt. Will er vielleicht gar nicht sein Ziel in Italien erreichen oder bereut er es, so viel Zeit mit mir vertrödelt zu haben?

»Ähm … ich habe mich noch nicht entschieden«, gestehe ich, denn auf einmal ist die Aussicht, schnell nach Deutschland zurückzukehren, nicht mehr so verlockend. Viel lieber würde ich mich ins Abenteuer stürzen, um meinen Ex-Freund hinter mir zu lassen. Mein Treffen mit Marco kommt mir da sehr gelegen, denn er hat sich als wirklich sympathischer Reisebegleiter entpuppt. Wäre ich ihm doch bloß schon gestern Nacht begegnet, dann hätte ich mich nicht damit rumplagen müssen, an Geld zu gelangen, weil mein Portemonnaie gestohlen wurde.

Marco hebt fragend eine Augenbraue. Der Motor läuft brummend, doch wir rühren uns nicht vom Fleck.

»Ich würde dich gerne zum Mittagessen einladen«, schlage ich vor, um unseren Aufbruch zu verzögern. »Allerdings kenne ich mich absolut nicht in Salzburg aus. Schenkst du mir noch ein Stündchen deiner Zeit? Ich möchte mich gerne für deine Hilfe bedanken.«

Marco überlegt einen Moment lang. Ich kann erkennen, dass er zuerst zögert, doch dann schaltet er den Wagen wieder ab und zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss.

»Dann komm, ich kenne ein nettes Lokal ganz in der Nähe.«

***

Statt nur kurz zu Mittag zu essen, bleiben wir beinahe den gesamten Nachmittag über in dem kleinen Restaurant am Marktplatz sitzen. Das Wiener Schnitzel war köstlich, und die Sachertorte als Nachtisch so himmlisch, dass ich am liebsten noch ein weiteres Stück vernascht hätte. Als wir uns vor dem Restaurant verabschieden wollen, zögert Marco.

»Sicher, dass du allein zurechtkommst?«, fragt er und mustert mich besorgt. »Nicht, dass dir wieder etwas gestohlen wird.«

Sofort umklammere ich den Träger meines Rucksacks ein bisschen fester. »Keine Sorge, ich passe ab sofort besser auf meine Habseligkeiten auf. Das Geld habe ich sicher im Rucksack verstaut. Außerdem … ich habe mir überlegt zu bleiben.«

»In Salzburg?«

Ich zucke mit den Schultern, dann schüttele ich den Kopf. »Keine Ahnung, vielleicht. Oder ich fahre weiter …«

»Per Anhalter? Was, wenn du erneut an so einen Idioten gerätst und er dir Schlimmeres antut, als nur deine Sachen zu stehlen?« Sorgenfalten zeichnen sich auf seiner Stirn ab – und plötzlich vollführt mein Herz einen aufgeregten Satz. Seine Fürsorge rührt mich und lässt meinen Bauch angenehm kribbeln.

»Ich werde aufpassen«, beschwichtige ich ihn, doch er winkt sofort ab.

»Auf keinen Fall. Eine Frau wie du ganz allein … Das ist leichtsinnig.«

»Na hör mal, so hilflos bin ich nun auch nicht«, gebe ich energisch zurück, auch wenn ich ihm innerlich recht geben muss. Einerseits will ich nicht nach Hause fahren, um erneut in den gewohnten Alltagstrott zu verfallen, andererseits fürchte ich mich durchaus davor, allein auf Reisen zu gehen.

»Okay, wo willst du hin?«, fragt Marco in so energischem Tonfall, dass ich hellhörig werde.

»Keine Ahnung, darüber habe ich nicht nachgedacht«, gestehe ich. Mein Plan weist deutliche Lücken auf, das ist mir selbst bewusst.

»Ich kann dich bis Verona mitnehmen, danach müssen sich unsere Wege trennen«, schlägt er vor. Seine dunklen Augen fixieren mich, er sieht mich so unverwandt an, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. »Also … falls du möchtest, natürlich.«

»Ähm … klar«, entgegne ich hinsichtlich seines Angebots ein wenig überrumpelt. »Das wäre super! Ich wollte schon lange mal wieder nach Italien.«

Marco nickt und seine Schultern sinken hinab, als würde die Anspannung der vergangenen Minuten von ihm abfallen. Dann folge ich ihm zurück zum Van. In meinem Bauch rumort es und auf einmal bin ich so aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten. Eigentlich hatte ich vermutet, dass mein Abenteuer hier ein Ende finden würde – doch es fängt gerade erst an! Die Vorstellung, zusammen mit Marco nach Verona zu fahren, lässt mich vor Freude grinsen. Ich bin erleichtert, seine Gesellschaft noch ein wenig länger genießen zu können, denn er ist ein sehr angenehmer Gesprächspartner. Was für ein Glück, dass ich ihn zufällig getroffen habe!

Im Van setze ich mich wieder auf den Beifahrersitz und lehne mich entspannt zurück, während Marco sein Navi einstellt.

»Wir brauchen ungefähr fünf Stunden«, erklärt er mir. »Sobald wir da sind, könnte ich dich an einem Hotel absetzen. Mehr kann ich jedoch nicht für dich tun …«

»Das ist völlig in Ordnung, du hast mir wirklich sehr zur Seite gestanden. Ich bin wahnsinnig dankbar für deine Hilfe.« Lächelnd drücke ich seinen Arm und er erwidert meine Geste, bevor er sich wieder auf die Straße konzentriert. Gähnend nehme ich mein Smartphone zur Hand, um Ramona mitzuteilen, dass ich doch nicht so schnell zu ihr kommen werde und mir eine kleine Auszeit von meinem bisherigen Leben gönnen will. Das italienische Klima wird mir sicher guttun und mich Oliver schnell vergessen lassen.

»Du kannst ruhig ein wenig die Augen schließen und dich ausruhen«, meint Marco.

»Nur ein bisschen«, entgegne ich und schlafe tatsächlich sofort ein.

***

Ich wache auf, als der Van abrupt zum Stehen kommt. Verwirrt reibe ich mir den Schlafsand aus den Augen und sehe zu Marco herüber.

»Merda!«, zischt er ungehalten in seiner Muttersprache.

»Wie bitte?«

»Der Van springt nicht mehr an«, erklärt er mit grimmigem Blick. »Das hat mir gerade noch gefehlt.« Er steigt aus und geht um den Wagen herum. Angestrengt spähe ich durch die Frontscheibe. Es dämmert bereits und ich kann einen dichten Wald vor mir ausmachen. Marco öffnet die Motorhaube und verharrt einen Augenblick. Ich beuge mich vor, um etwas erkennen zu können, dann schließt er die Haube mit einem lauten Knall und kommt zurück ins Wageninnere.

»Und?«, frage ich besorgt. Marco startet den Motor erneut, es ruckelt mehrmals, doch dann brummt der Van auf. Der Italiener stößt hörbar die Luft aus, fährt jedoch nicht an.

»Motorstörung, bitte Werkstatt aufsuchen«, liest er die angezeigten Worte im Kontrolldisplay vor. »Die Motorkontrollleuchte blinkt auf. Verdammt. Ich hätte mir denken können, dass dieses alte Ding so eine lange Fahrt nicht unbeschadet übersteht, doch warum so kurz vor dem Ziel?« Er seufzt und sieht mich dann an. Ich halte seinem Blick stand, versuche zu erkennen, wie schlimm es um die momentane Situation steht.

»Was können wir tun? Soll ich den ADAC anrufen? Ich bin Premiummitglied«, schlage ich vor und zücke mein Smartphone bereits. Dann fällt mir wieder ein, dass ich kein Portemonnaie mehr besitze, in dem die Mitgliedskarte steckt.

»Mist«, fluche ich leise. »Die Kundennummer sowie Hotline müsste ich zuvor im Internet nachschauen, aber -« Hilflos betrachte ich mein Handy. »Ich habe hier überhaupt keinen Empfang.«

»Schon gut. Er ist ja wieder angesprungen, aber ich kann nicht mehr beschleunigen«, erklärt er und drückt das Gaspedal durch. Wir rollen langsam nach vorne.

»Vermutlich ist das Abgasrückführventil verstopft, deshalb hat der Van in den Notmodus geswitcht. Der ADAC wird zu lange bis hierher brauchen – und wir können wieder fahren, jedoch nicht so schnell wie zuvor. In diesem Tempo kommen wir nicht bis Verona, das ist schädlich für den Motor. Ich will keinen kompletten Motorschaden riskieren«, erklärt Marco mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

»Was nun?«

»Wir müssen wohl einen kleinen Umweg einlegen. Zum Glück sind wir noch in der Nähe. Ich kann einen Freund anrufen. Jakob gehört eine Autowerkstatt, er wird sich den Van bestimmt mal kurz anschauen und uns helfen.«

Er tippt auf seinem Handy herum. »Ach, verdammt, ich habe auch kein Netz. Wir müssen erst den Berg passieren und runter ins Tal gelangen. Zum Glück befinden wir uns bereits auf der Kuppe und ich kann den Wagen überwiegend rollen lassen. Hätten wir den Anstieg noch vor uns – dann wäre es kritisch.«

Marco gibt noch einmal Gas und krallt seine Hände ums Lenkrad, um den Van konzentriert den Berg hinunterzumanövrieren. Angespannt blicke ich aus dem Fenster, während der Wald immer lichter wird, und atme erleichtert aus, als ich am Ende die Hauptstraße ausmachen kann. Unten angekommen, fährt Marco rechts ran und hält, um seinen Freund anzurufen.

»Jakob, sorry für die späte Störung. Ich stecke mit dem Van fest … Nein, er fährt im Notlauf. Richtig, denke ich auch, könnte das AGR-Ventil sein. Können wir vorbeikommen?« Einen Moment lang schweigt Marco, vermutlich denkt dieser Jakob am anderen Ende der Leitung nach, was er von unserem spontanen Besuch halten soll. Ich sehe auf mein Handy, denn es ist bereits nach neun. Ohne den Zwischenstopp in Salzburg wäre Marco längst zu Hause …

»Meine Begleitung? Ähm … Ja. Erkläre ich dir später«, meint Marco schließlich und ich bin mir sicher, eine leichte Röte auf seiner gebräunten Haut erkennen zu können. Doch vermutlich bilde ich mir das nur ein. Die gesamte Zeit über allein mit diesem unsagbar sympathischen Mann im Auto zu sein, stellt etwas mit mir an, was ich nicht verstehe. Auf einmal fühle ich mich ganz leicht, überhaupt nicht mehr wegen Oliver am Boden zerstört, sondern fast schon ­… zuversichtlich! Doch vielleicht liegt es auch einfach daran, weil ich vorhin gut gegessen und ein bisschen geschlafen habe.

Mein Begleiter beendet das Gespräch und tippt eine neue Route in das Handynavi ein.

»Jakob kümmert sich um unser Problem. Er kann es jedoch leider nicht vor morgen früh angehen. Er ist gerade auf einer Feier«, erklärt er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. Vermutlich bereut er es, wegen mir so viel Zeit verloren zu haben. Hätte ich ihn auf dem Restplatz nicht angesprochen, wäre er mit Sicherheit längst an der Grenze zu Italien gewesen, wenn der Van Probleme gemacht hätte … Ohne mich müsste er vermutlich keinen weiteren Stopp einlegen.

»Alles okay?«, kommt es von meinem Beifahrer und er durchbricht damit meine Gedankengänge. Der Van rollt langsam über die Hauptstraße, wir werden mehrmals von anderen Autos überholt.

»Ja … schon …«, gebe ich leise zurück und senke den Kopf, blicke auf meine Hände, mit denen ich meinen Rucksack umklammere. Auf einmal fühle ich mich klein und einsam, obwohl ich in Gesellschaft bin. »Ich habe nur soeben daran gedacht, wie leichtsinnig es war, blindlings loszufahren, anstatt rational mit meinem Problem umzugehen. Ich meine, ich bin eine erwachsene Frau …«

»Nur, weil du eine erwachsene Frau bist, heißt das noch lange nicht, dass du nicht emotional sein darfst. Du wurdest von einem geliebten Menschen bitter enttäuscht und zutiefst verletzt. Du hast das Recht, überzureagieren und einfach mal an dich zu denken. Das ist völlig okay«, meint er entschieden, blickt mich dabei jedoch nicht an, sondern konzentriert sich auf die Straße. Dennoch fällt mir der verkniffene Zug um seine Mundwinkel auf. Ob Marco aus Erfahrung spricht?

Wir verfallen erneut in Schweigen, denn jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Lediglich die leise Musik aus dem Autoradio und die gelegentlichen Ansagen des Navis erschallen durch den Van.

»In fünfhundert Metern biegen Sie rechts ab, dann erreichen Sie das Ziel. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite«, sagt die mechanische Frauenstimme. Laut Navi befinden wir uns gerade in Villach. Die Umgebung besitzt meine volle Aufmerksamkeit, worüber ich froh bin, denn ich will jetzt bloß nicht an Oliver denken. Staunend betrachte ich die malerische kleine Stadt, die von wunderschönen Bergen umgeben ist, während wir über eine lange Brücke fahren. Ein Fluss schlängelt sich mitten durch die Stadt und trennt den Ortskern von den angrenzenden Bezirken.

»Kennst du dich hier aus?«, frage ich Marco nach einer langen Zeit des Schweigens. Er nickt knapp.

»Jakob lebt schon ewig hier. Wir haben uns im Skiurlaub kennengelernt. Villach befindet sich unweit der Grenzen zu Italien und Slowenien, weshalb ich ihn mindestens einmal im Jahr besuche. Die Drau fließt durch die Stadt, außerdem ist der Ossiacher See wunderschön.« Wir passieren die Brücke und biegen nach rechts, zahlreiche Häuser mit bunten Fassaden ziehen an uns vorüber, bis Marco den Van auf einen Hof lenkt. Während des Parkens geht ein Bewegungsmelder an und eine Lampe erleuchtet die Einfahrt.

»Da wären wir«, erklärt er mir und steigt aus. Ich schultere den Rucksack, dann klettere ich aus dem Auto. Neugierig blicke ich mich um. Direkt vor uns erkenne ich eine Autowerkstatt, deren Tor jedoch verschlossen ist. Im Inneren brennt kein Licht, genau wie in dem Gebäude darüber.

»Jakob ist auf einer Party«, erklärt Marco noch einmal.

»Also warten wir hier?« Fröstelnd ziehe ich meine dünne Jacke etwas enger um mich herum zusammen. Es ist bereits dunkel und auch der Wind hat aufgefrischt. Marco schüttelt den Kopf, dann blickt er die Straße entlang.

»Er hat mir die Adresse genannt. Wir sollen dazustoßen …«

»Zu einer Party, auf die wir eigentlich nicht eingeladen sind?«, frage ich erstaunt und muss grinsen. Der Italiener erwiderte meine Geste, und mein Herz vollführt erneut einen aufgeregten Satz.

»Jakob nimmt es nie so genau, also wird es schon okay sein. Komm, lass uns gehen.« Er marschiert voraus und ich folge ihm in einigem Abstand. Wir schlendern am Fluss entlang. Zahlreiche Laternen an der Uferpromenade spenden uns bei diesem abendlichen Spaziergang Licht. Es spiegelt sich im dunklen Wasser und die Schatten der Villacher Alpen im Hintergrund sorgen für einen pittoresken Anblick.

»Eine tolle Aussicht«, murmele ich andächtig.

»O ja. Ich bin auch gerne hier«, entgegnet mein Begleiter und verlangsamt seine Schritte. Unsere Schultern berühren sich, sodass ich erst erschrocken etwas zurückweichen will. Da es Marco jedoch scheinbar nicht auffällt, rühre ich mich doch nicht vom Fleck. Schweigend spazieren wir durch die dunklen Straßen und Gassen, bis wir im Ortskern ankommen.

»Dort drüben ist es. Jakob feiert im Brauhof«, erklärt Marco schlicht und deutet mit seiner Hand auf ein stattliches Gebäude an der großen Straße genau gegenüber. »Das daneben ist die Nikolaikirche. Bei Tag ist sie noch beeindruckender.«

Interessiert betrachte ich die hohen Türme der Kirche sowie die Statue vor dem Eingangsportal.

»Lass uns reingehen«, kommt es von Marco und er ergreift locker meinen Arm, weil ich stehen geblieben bin. Ich lasse mich von ihm ins Gasthaus führen. Am Eingang begrüßt uns ein freundlicher Kellner mit einem typisch österreichischen Dialekt. Marco nennt den Namen seines Freundes und wir werden durch den Schankraum zu einem separaten Bereich geleitet, in dem die Party stattfindet.

Zwanzig fröhlich feiernde Menschen sitzen an einer langen Tafel, unterhalten sich angeregt und stoßen immer wieder mit Bierkrügen an. Als einer der Männer uns bemerkt, springt er sogleich auf.

»Marco! Da bist du ja endlich«, ruft er mit erhobenem Bierkrug und nimmt einen tiefen Zug, ehe er das Getränk schwungvoll abstellt und auf uns zukommt. »Und du musst dann -« Er mustert mich mit unverhohlener Neugier, dann grinst er seinen Kumpel breit an. »Dein Frauengeschmack hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, Mann!«

Marco räuspert sich. »Das ist Vera. Und, nein, es ist nicht so, wie du denkst«, korrigiert er Jakob und lässt sogleich meinen Arm los, den er bis eben noch umklammert hielt. Irgendwie stört mich seine abrupt ablehnende Haltung, doch ich ignoriere die aufkeimende Enttäuschung. Immerhin kann ich mir auf Marcos Freundlichkeit nichts einbilden, denn wir kennen uns erst seit ein paar Stunden. Sicherlich wäre er bei jeder anderen Person ebenso hilfsbereit gewesen. Jakob winkt lachend ab und zeigt auf zwei freie Plätze am Ende der Tafel. Man sieht deutlich, dass die Stühle einfach herangeschoben worden sind und es eigentlich nur wenig Platz für weitere Gäste am Tisch gibt. Die Gespräche verstummen und die Anwesenden richten ihre Aufmerksamkeit auf uns. Ich versuche, meine Unsicherheit durch ein Lächeln zu überspielen, denn ein kurzer Blick in die Runde lässt mich sogleich erkennen, wie underdressed ich mit meinen Jeans und dem dunkelblauen Hoodie bin. Die anderen Frauen tragen fast alle Kleider oder haben sich in elegante Zweiteiler gewandet. Zudem fürchte ich, dass mein Make-up nach den anstrengenden Autofahrten furchtbar aussieht, weil ich die vergangene Nacht auf einer Rückbank verbracht habe.

»Leute, das ist mein langjähriger Freund Marco und -«, stellt Jakob seinen Kumpel vor, ehe er mich ansieht. »Vera.«

»Hallo«, grüße ich verlegen in die Runde.

»Kommt, setzt euch zu uns.« Jakob schiebt Marco zu dem freien Platz und ich folge ihm, quetsche mich auf den Stuhl neben ihn. Das Tischbein stört, sodass ich den Stuhl noch etwas zur Seite schieben muss, um meine Beine daneben platzieren zu können. Viel zu eng drückt mein Knie gegen Marcos, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. Er scheint die Berührung jedoch kaum wahrzunehmen, weil er sich direkt zu Jakob vorbeugt, der neben ihm Platz nimmt.

»Hör mal, wegen des Vans -«

»Lass uns morgen früh darüber reden«, unterbricht ihn Jakob gut gelaunt und winkt den Kellner heran, der soeben den Raum betritt. »Zwei Zwickl für unsere Freunde. Und die Karte.«

Der Mann nickt und kommt wenige Minuten später mit zwei großen Bierkrügen und den Speisekarten zurück. Er stellt die Getränke vor uns ab und reicht mir eine der beiden Karten, in die ich sogleich schaue. Unentschlossen blättere ich durch die Seiten.

»Du siehst aus, als könntest du ein ordentliches Stück Fleisch vertragen. Oder, warte – du bist doch nicht etwa Vegetarierin? Da bist du hier falsch, denn Fleisch ist die Spezialität im Brauhof«, kommt es von Jakob. Ein Lachen geht durch die Feiernden. Sogleich schüttele ich den Kopf.

»Nein, mein Ex war es -« Ich hole tief Luft und verdränge den Gedanken an Oliver, für den ich jedes Mal veganes Hack in die Bolognesesoße mischen musste. »Ein ordentliches Schnitzel ist nicht zu verachten.«

Also bestelle ich mir ein Wiener Schnitzel, während sich Marco für pikanten Rindergulasch entscheidet. Jakob erhebt seinen Bierkrug.

»Leute, lasst uns auf Marco und Vera trinken«, verkündet er feierlich. Bei seinen Worten erröte ich, denn obwohl Jakob bereits deutlich angetrunken ist, bleibt mir sein Blick nicht verborgen, den er zwischen Marco und mir hin und her gleiten lässt. »Und natürlich auf meine wunderschöne Mireille, deren Geburtstag wir heute feiern.« Er gibt der hübschen Blondine neben sich einen kurzen Kuss auf die rot geschminkten Lippen und prostet dann den anderen zu.

»Mireille ist meine neue Freundin«, erklärt er auf meinen fragenden Blick hin. »Und sie ist heute dreißig geworden.«

»Freut mich, dich kennenzulernen«, entgegnet Marco lächelnd und reicht der Frau kurz die Hand, während ich ihr nur zunicke. Die Blondine lächelt mich an, dann nimmt auch sie einen großen Schluck von ihrem Bier. Die Party muss schon lange im Gange sein, denn Mireille hat bereits vom Alkohol gerötete Wangen und kichert immerzu, wenn Jakob etwas sagt. Seelig lächelnd lehnt sie ihren Kopf gegen seine Schulter. Die anderen Gäste nehmen ihre Gespräche wieder auf. Als der Kellner endlich unsere Speisen bringt, falle ich beinahe ausgehungert über das Schnitzel her, obwohl ich vor wenigen Stunden erst etwas gegessen habe. Es duftet köstlich und schmeckt einfach traumhaft.

»Sie hat einen ordentlichen Appetit, ganz anders als Bella«, kommentiert Jakob lachend meinen Heißhunger. Ich verschlucke mich und muss husten, ehe ich den Bissen mit einem großen Schluck Bier hinunterspüle. Marcos Gesicht verfinstert sich bei Jakobs Worten und sogleich überkommt mich ein mulmiges Gefühl. Vielleicht bin ich gerade die falsche Frau an Marcos Seite? Zumindest spüre ich die Anspannung seines Körpers, während er sein Gulasch isst. Bisher hat er das Bier nicht angerührt.

»Willst du nichts trinken?«, frage ich ihn über das Stimmengewirr hinweg, welches den kleinen Raum erfüllt. Er zuckt mit den Schultern und bevor er etwas erwidern kann, legt Jakob einen Arm um ihn.

»Komm schon, trink auf Mireilles Gesundheit. Mit dem Van kommst du heute sowieso nicht mehr weit. Ihr könnt heute Nacht auf meiner Couch schlafen.«

Marco sieht zögernd zum Bier, dann blickt er in mein Gesicht. Seine dunklen Augen ruhen auf mir, suchend und fragend, was ich von dieser Idee halte. Dieses Mal bin ich es, die bloß stumm mit den Schultern zuckt. Schließlich habe ich keine Ahnung, wohin ich sonst gehen soll. Ob ich so spontan ein erschwingliches Hotel ergattern kann, für welches ich nicht mein letztes Notfallgeld ausgeben muss?

»Schon gut, wir können gerne bei Jakob bleiben«, bestätige ich das Angebot und proste Marco zu. Immer noch etwas skeptisch, führt er sein Bierglas an die Lippen und nimmt einen Schluck.