1
Die meisten Entscheidungen, die wir treffen, haben nur wenige Konsequenzen. Oft können wir eine Kehrtwende machen und alles mit kaum mehr als einem Schulterzucken und einem Lächeln wieder in die richtige Bahn lenken. Manchmal ist eine Entscheidung aber unumkehrbar und wir müssen mit den Konsequenzen leben.
Wir können dann zurückblicken und analysieren, was zu unserer Entscheidung geführt hat: Den Weg, den wir eingeschlagen haben; der Moment, in dem wir abgebogen sind, einen Fuß auf das rutschige Pedal gestellt und die Kontrolle verloren haben. Jahrelang hatte sich Leigh gefragt, wann genau es kein Zurück mehr gegeben hatte. Wann hatte sie die Kontrolle verloren und war auf ein Ziel zugerauscht, das sie sich zuvor noch nie, wirklich niemals, auch nur im Geringsten ausgemalt hatte?
Endlich, nachdem sie jedes Wort jeder Unterhaltung immer und immer wieder durchgegangen war, konnte sie sich erinnern – oder dachte zumindest, sie könnte es … Es war nicht der Moment, in dem sie die Selbstbeherrschung verloren hatte und auf ihren Manager losgegangen war … sondern es war ein seltener spontaner Akt der Nächstenliebe gegenüber einer jungen Frau, die in der Klemme steckte. So eine einfache Sache, die zu solch einem katastrophalen Ergebnis geführt hatte. Bis zum heutigen Tag, fünf Jahre später, konnte Leigh nicht ohne ein Gefühl der Verzweiflung darüber nachdenken.
Wenn sie vielleicht darüber sprechen könnte, was sie getan hatte … und warum … würde es eventuell nicht so sehr an ihr nagen und jeden ihrer Tage verdunkeln. Aber sie konnte nicht darüber sprechen. Niemals.
Nur eine einzige andere Person kannte die Wahrheit.
Und Leigh wusste nicht, wer sie war.
2
Fünf Jahre zuvor
Leigh Simon öffnete die Tür des Cafés, das zwischen King’s Cross Station und ihrem Büro in der Harrison Street lag. Ein Cappuccino war fester Bestandteil ihrer Morgenroutine. Normalerweise bestellte sie ihn zum Mitnehmen und trank ihn dann, während sie zügig den Rest des Weges zur Arbeit zu Fuß ging. Aber an diesem Morgen, da sie in aller Herrgottsfrühe um vier Uhr wach geworden war, hatte sie Zeit zum Vertrödeln.
Hinter der Theke stand die gleiche Barista wie sonst auch. Leigh, dünn und um die 1,67 cm groß, fühlte sich immer wie eine Riesin neben der kleinen Frau, deren bleiche Foundation als Leinwand für ihre unerklärlich dicken Augenbrauen und hellroten Lippen diente. Ihr auffälliges kastanienbraunes Haar hatte auch noch pinke Strähnen und war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die ihr fast bis zur Taille reichten. Es war schwer zu sagen, ob sie schön oder sogar attraktiv unter dem ganzen Make-up war, aber sie fiel zweifelsohne ins Auge. Im Vergleich zu ihr war die klassisch schöne Leigh und wahrscheinlich jede andere Kundin des Cafés eher unauffällig.
Leigh war zu müde, um den üblichen Hauch von Neid zu verspüren. „Morgen, Gina. Ich nehme das Übliche, aber ich trinke ihn dieses Mal hier. Kannst du einen Schuss extra hineinmachen, bitte? Ich werde heute mehr Koffein als sonst brauchen.“
„Klaro.“
Das war eine ungewöhnlich zurückhaltende Antwort für eine Frau, deren Verhalten normalerweise ihr Aussehen widerspiegelte. Leigh sagte aber nicht, was ihr durch den Kopf ging. Sie wollte nur ihren Kaffee, sich hinsetzen und aus dem Fenster starren, bis das Koffein endlich die Gehirnzellen erreichte, die heute Morgen noch nicht ganz wach geworden waren. Aber obwohl der leckere Kaffee einer der Gründe war, warum sie regelmäßig ins Café kam, war der andere Ginas Lächeln und ihre freundliche, quirlige Art.
„Ist alles okay bei dir?“, fragte Leigh schließlich.
„Mir ging es schon mal besser.“ Gina stellte die Tasse warmen Kaffees mit einem so angestrengten Lächeln auf die Theke, dass es sofort wieder nachließ und schließlich ganz verging. „Du musst dir meine Sorgen nicht anhören.“
Das wollte Leigh auch nicht. Sie hatte selbst genug Probleme. Und sie war müde. Aber sie konnte auch nicht einfach wegsehen, wenn eine andere Person traurig war. Sie winkte in Richtung eines Tisches nahe am Fenster. „Warum überlässt du nicht Isobel das mit den Bestellungen für ein Weilchen und setzt dich für eine Pause zu mir? Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder?“ Leigh brachte ihren Kaffee an den Tisch und setzte sich seufzend. Es schien ein langer, nervenaufreibender Tag vor ihr zu liegen. Sie schaute mit einem hoffentlich einigermaßen freundlichen Blick nach oben, als Gina sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen ließ.
„Das ist nett von dir.“
„Sieh es als kleine Rückzahlung für das freundliche Lächeln zur Begrüßung, das du mir jedes Mal schenkst, wenn ich hier bin. Ehrlich, das verbessert jedes Mal aufs Neue meine Laune.“ Leigh fragte sich, ob sie sich erbärmlich anhörte … Eine traurige und einsame Karrierefrau. Sie hatte früher mal geglaubt, dass sie alles hatte, aber in letzter Zeit war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Sie legte ihre Finger fester um die Kaffeetasse. Gina hatte angefangen zu erzählen; Leigh musste sich konzentrieren.
„Die Freundin, bei der ich wohne, heiratet bald. Sie hat es zwar noch nicht gesagt, aber ich weiß, sie hofft, dass ich etwas anderes finde und bald ausziehe.“ Sie schnaufte ein Lachen. „Mit dem Gehalt einer Barista werde ich in dieser Gegend nie etwas finden. Ich habe überlegt, nach einer Wohnung weiter draußen zu suchen, aber die Pendelei wäre ein teurer Albtraum. Und du kennst ja die Uhrzeiten, an denen ich arbeite.“
Das tat Leigh. Sie beschwerten sich oft gemeinsam über ihre langen Arbeitstage, wenn Leigh auf ihrem Weg nach Hause am Abend auf einen Kaffee vorbeischaute. Es wäre eine Schande, wenn Gina kündigen würde. Manchmal erinnerte ihre fröhliche Art Leigh an die Frau, die sie selbst einmal gewesen war. Bevor der Stress im Beruf und der Lauf der Zeit an ihrem immer gut aufgelegten Wesen genagt hatten. Eine Zeit, als sie freundlicher und netter gewesen war. Sie fuhr mit der Hand über das Revers ihres unauffälligen marineblauen Jacketts von M&S. Unauffällig, angepasst und schrecklich langweilig. Sie war mal farbenfroher, spontaner und bereit für alles gewesen. Aber diese Frau war mit dem Alter und stetig wachsender Verantwortung verschwunden. Sie vermisste sie. Es war dieser Gedanke, der sie etwas Unüberlegtes sagen ließ. „Ich habe ein freies Zimmer. Du könntest bei mir einziehen.“
Überraschung und Unglauben tauchten gleichermaßen auf Ginas Gesicht auf. Leigh fügte schnell hinzu: „Für dieselbe Miete, die du bei deiner Freundin bezahlst.“
Sie zögerte keinen Moment. Mit einem Schrei so laut, dass sich jeder nach ihr umdrehte, sprang Gina auf, rannte schnell um den Tisch und legte beide Arme um Leigh. „Danke, danke, danke!“
„Ich bekomme keine Luft mehr!“
„Entschuldige!“ Gina ließ wieder los. „Du hast ja keine Ahnung! Ich bin ja so froh und erleichtert!“ Mit wackelnden Brüsten und lockerer Hüfte tänzelte sie in ihrer engen Café-Uniform um die Tische und Stühle des Cafés, sprang über ausgestreckte Beine und abgestellte Taschen. Sie strahlte vor Freude.
Ihre Albernheiten brachten die meisten der Kunden zum Lächeln. Leigh konnte sich dem nur mit Mühe anschließen. Etwas zu spät dachte sie an Matt und was er wohl dazu sagen würde.
Matt, ihr fester Freund von Freitagabend bis Sonntagnachmittag. Sie waren bereits seit einem Jahr zusammen, und die längste Zeit, die sie am Stück miteinander verbracht hatten, war ein zweiwöchiger Sommerurlaub in Portugal gewesen. Er arbeitete als Lehrer an einer Schule in Salisbury, wo der amtierende Schulleiter wahrscheinlich bald in Rente ging. Matt liebäugelte mit der Stelle. Also hatte er kein Interesse daran, nach London zu ziehen, obwohl es hier ähnlich gute Schulen mit denselben Aufstiegschancen gab.
Leigh war Rohstoffhändlerin, ihr Arbeitsort würde immer in der Hauptstadt sein und aufgrund ihrer langen Arbeitstage stand Pendeln außer Frage. In letzter Zeit fühlte sie sich gestresster und müder, aber ob das an der neuen Arbeitsstelle lag. Bei der hatte sie erst vor knapp drei Monaten angefangen und die hatte sich als herausfordernder herausstellt, als sie es erwartet hatte. Oder lag es doch eher an den Sorgen, wie lange die Beziehung noch halten würde, wenn keiner von ihnen beiden bereit war, Kompromisse einzugehen? Da war sie sich nicht sicher.
Gina kam angetanzt und ließ sich laut auf den Stuhl gegenüber fallen, wodurch Leigh aus ihren Gedanken gerissen wurde. „Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Die Barista schlug die Hände zusammen. „Wann kann ich einziehen?“
Es war unmöglich, sich von ihrer guten Stimmung nicht anstecken zu lassen. „Sobald du möchtest. Das Zimmer steht jederzeit für Besuch zur Verfügung.“
„Super! Ich mache früher Feierabend und werde dann gleich vorbeikommen, wenn das in Ordnung geht?“
Heute Abend! Leigh griff nach ihrer Tasse, um die Bedenken, die sie auf einmal hatte, zu verbergen. Was hatte sie getan?
3
Als Leigh an diesem Abend zu Hause von Müdigkeit gezeichnet und mit hängenden Schultern ankam, saß Gina bereits umgeben von ihren Habseligkeiten auf ihrer Türschwelle. Leigh wollte weinen. Der Tag war die Hölle gewesen. Ihr Manager, Bernard Ledbetter, hatte sich noch unerträglicher als sonst verhalten. Eines Tages musste sie etwas gegen diesen lüsternen Frauenhasser unternehmen. Aber der blasse Mann mit den erdbeerblonden Haaren und dem dünnen Schnurrbart, der wie ein Tausendfüßler über seine Oberlippe kroch, war raffiniert und vorsichtig. Sie glaubte nicht, dass jemand sein Verhalten ihr gegenüber bisher bemerkt hatte: das leichte Vorbeistreifen, die anzüglichen Blicke, die unterschwelligen, aber unangebrachten Kommentare.
Sie wollte weinen und Gina sagen, dass sie es nicht so gemeint hatte. Weil sie aber wusste, dass sie das nicht tun konnte, verzog Leigh die Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln. „Hi!“
„Das ist so aufregend.“ Gina sprang auf. „Dein Haus ist atemberaubend!“
Als sie Gina im Haus herumführte, ließ Leighs Müdigkeit etwas nach und ihre Stimmung verbesserte sich.
„Atemberaubend!“ Alles Mögliche brachte Gina zum Staunen, sogar das große Badezimmer mit der nicht mehr besonders angesagten avocadogrünen Badewanne und den hässlichen grünen und braunen Boden- und Wandfliesen.
„Ich habe ein En-suite-Badezimmer, also gehört das hier ganz dir. Meistens zumindest. Matt nimmt gerne ab und zu ein langes Bad, wenn er am Wochenende hier ist.“ Leigh bemerkte die fragend hochgezogenen Augenbrauen. „Matt, mein Partner. Er lebt in Salisbury, aber verbringt die meisten Wochenenden hier.“ Sie öffnete die Duschtüren. „Obwohl das hier nach etwas aussieht, das seit den Achtzigern in Vergessenheit geraten ist, funktioniert alles tipptopp. Eines Tages, wenn Geld und Zeit es zulassen, lasse ich das modernisieren.“
„Das ist fantastisch“, entgegnete Gina. „Und ich liebe die Farben.“
Leigh hatte sich schon lange nicht mehr in diesem Badezimmer umgesehen, ohne dabei über den Preis der Renovierung nachzudenken. Jetzt aber tat sie es. Es war durchaus groß und dann war da noch der Art-déco-Spiegel über dem Waschbecken, den sie im Antiquitätenladen gesehen hatte und von dem sie sofort wusste, dass sie ihn unbedingt haben musste. Er war teuer gewesen, aber sie bezahlte den Preis, ohne weiter darüber nachzudenken, trug ihn nach Hause und hängte ihn sofort auf. Wann hatte sie ihn sich das letzte Mal so begeistert wie damals angesehen? Es tat gut, die Welt durch Ginas Augen zu betrachten und die Freude an den einfachen Dingen wiederzuentdecken.
„Lass uns deine Sachen ins Haus bringen.“ Leigh half Gina dabei, die Ansammlung von Plastiktüten, Reisetaschen und Kisten mit ihren Habseligkeiten ins Schlafzimmer zu bringen.
„Meine Freundin hat mich hergebracht“, erklärte Gina, während sie eine Kiste auf den Boden stellte. „Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich meine Meinung ändere.“
Wahrscheinlich hatte sie eher Angst, dass Leigh es tun würde. Sie verdrängte den zynischen Gedanken und winkte in Richtung Schrank und Kommode. „Ich muss da nur ein paar Sachen herausholen und dann gehört das alles ganz dir.“
Gina öffnete und schloss die Schubladen, schaute sich alles zufrieden an.
Ihre Begeisterung war ansteckend. Leigh, die es gewohnt war, an fünf Tagen in der Woche alleine zu essen, sagte: „Ich wollte zum Abendessen eine Lasagne aus der Tiefkühltruhe aufwärmen. Ich kann dir auch eine machen, wenn du Lust hast?“
„Ich liebe Lasagne! Das wäre toll, danke.“
„Genau.“ Leigh nickte und ließ sie auspacken. Zwanzig Minuten später, als Gina die Küchentür öffnete und nervös um die Ecke schaute, winkte Leigh mit einer Flasche Merlot in ihre Richtung. „Magst du roten?“
„Hört sich gut an, danke.“
„Wir haben einen Grund zu feiern. Ich trinke normalerweise nicht unter der Woche.“ Leigh drehte den Flaschendeckel auf und schenkte Wein in die Gläser, die sie auf die Anrichte gestellt hatte.
„Das ist nett.“ Gina schaute sich in der offenen Wohnküche um, nahm Bilder hoch, um sie näher zu betrachten, und hob Dekostücke an, die sie zu Leighs Belustigung umdrehte, um ihre Herkunft zu überprüfen. Etwas, das sie selbst schon oft in den Wohnungen ihrer Freundinnen machen wollte – und auch manchmal getan hatte, wenn sie damit unbemerkt davonkam. Im Vergleich dazu war Ginas unverfrorene Art viel ehrlicher und auch bewundernswert.
„Bitte schön.“ Leigh stellte die Teller mit Lasagne auf den Tisch und setzte sich hin. „Die Lasagne ist aus dem Delikatessengeschäft auf der Kentish Town Road. Ein toller Ort zum Einkaufen, falls du deine Essensvorräte aufstocken willst.“ Der Kommentar war nicht gerade unterschwellig, aber es gab auch keinen Grund, ihrer neuen Untermieterin falsche Hoffnungen zu machen. Dieses gemeinsame Abendessen war die Ausnahme, nicht die Regel. Sie zeigte auf einen der Küchenschränke. „Ich räume den da für dich frei und du kannst dann deine Sachen hineintun. Im Kühlschrank und in der Tiefkühltruhe mache ich dir jeweils ein Fach frei, das du dann nutzen kannst, wie du möchtest.“
„Toll.“ Gina hob ihr Weinglas. „Auf eine schöne Zeit!“
„Auf eine schöne Zeit!“ Leigh stieß mit Gina an. Das war eine gute Entscheidung gewesen. Ginas ständige Euphorie würde sie vielleicht eines Tages auslaugen, aber Leigh hatte schon zu viele Abende damit verbracht, auf der Couch herumzulungern und sich einsam zu fühlen. Sie mochte den Gedanken, dass ab jetzt noch eine andere Person da war.
Gina stürzte sich auf die Lasagne, stellte die eine oder andere Frage zwischen den Bissen. Schließlich schob sie den leeren Teller beiseite. „Das war wirklich gut, ich muss mal in diesem Delikatessengeschäft vorbeischauen.“ Sie ließ sich noch einen Wein einschenken und schlürfte daran, während ihr Blick durch den Raum wanderte. „Du hast wirklich Glück gehabt, ein so tolles Haus zu erben, oder?“
Leigh, die gerade dabei war, den nächsten Bissen in den Mund zu nehmen, hielt mit der Gabel inne und schaute verwundert. Sie legte die beladene Gabel auf den Teller und schob ihn weg. „Woher weißt du das?“
„Du hast es im Café erwähnt. Erinnerst du dich nicht?“ Gina trank einen großen Schluck Wein. „Ich glaube, das war kurz nachdem ich dort als Barista angefangen habe. Ich habe angemerkt, wie teuer es ist, sich Immobilien in der Gegend zu kaufen, und du hast gesagt, wie glücklich du dich schätzen kannst, dass du geerbt hast.“
„Oh ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich.“ Leigh stand auf und brachte beide Teller zur Spüle. Sie senkte ihren Kopf, während sie die Reste ihres Essens in den Mülleimer kratzte, um ihr Gesicht und den besorgten Ausdruck darauf zu verbergen. Als die jüngere Schwester ihrer Mutter nach kurzer Krankheit unerwartet verstorben war, war Leigh durchaus überrascht gewesen, dass sie das Haus geerbt hatte. Aber sie sprach nur selten mit jemandem über ihre privaten Lebensumstände.
Definitiv nicht mit einer Fremden.
Woher wusste also die Frau, die sie eingeladen hatte, ihr Haus mit ihr zu teilen, so etwas Persönliches über sie?
4
Als Leigh zurück an den Tisch kam, nippte ihre neue Untermieterin am Weinglas und war sich nicht bewusst, dass sie etwas Verdächtiges gesagt hatte. Sie sah tatsächlich so unschuldig aus, dass Leigh sich fragte, ob sie ihr vielleicht doch irgendwann von dem großzügigen Erbe ihrer Tante erzählt hatte.
Sie räumte noch schnell den Rest auf. „Okay, ich erledige dann mal ein paar Anrufe und gehe anschließend ins Bett. Ich hoffe, du hast eine gute Nacht.“
„Die werde ich garantiert haben.“ Gina toastete Leigh zu. „Und danke dir noch mal, du bist eine Lebensretterin.“
Oben machte Leigh die Tür zum Schlafzimmer hinter sich zu und drehte dann den Schlüssel im Schloss um – etwas, das sie zuvor noch nie getan hatte. Sie verdrehte die Augen angesichts dieses lächerlichen und ungewöhnlichen Verhaltens. Dann zog sie ihre Klamotten aus und machte sich fertig fürs Bett. Anschließend griff sie nach ihrem Telefon und rief Matt an.
Er beantwortete den Anruf nach dem ersten Klingeln. Aber sie rief ja schließlich auch immer Punkt einundzwanzig Uhr an, es sei denn, sie war unterwegs. Sie war zu solch einem langweiligen Gewohnheitstier geworden. Das machte ihre Einladung an Gina noch ungewöhnlicher.
Matt war entsetzt, als sie ihm davon erzählte. „Du hast was getan?“
„Ich hab –“
„Ja“, zischte er. „Ich habe dich schon verstanden! Was ist nur in dich gefahren, so etwas Verrücktes zu tun? Du kennst sie gar nicht. Sie könnte eine Axtmörderin sein.“
„Das ist eher unwahrscheinlich, Matt.“ Sie erwähnte nicht, dass sie sich seit der Bemerkung wegen des Erbes in Ginas Anwesenheit unwohl fühlte. Leigh war sich inzwischen ziemlich sicher … Sie hatte das Thema ihr gegenüber niemals erwähnt. Niemand wusste etwas über das geerbte Haus, außer Matt, ihre Eltern und eine alte Freundin, die in Glasgow lebte. „Na ja, jetzt ist es so, wie es eben ist. Wenn es klappt, dann habe ich etwas Gesellschaft.“ Sie ließ das sacken. „Und wenn es nicht klappt, kann ich sie immer noch bitten, sich etwas anderes zu suchen.“ Sie wechselte das Thema und schlug vor, dass sie ein neues italienisches Restaurant am Wochenende ausprobieren sollten. „Ich reserviere einen Tisch für Samstag, ja?“
„Sicher.“ Sein Seufzen war durch die Leitung zu hören. „Wir werden nicht zusammen mit ihr essen müssen, wenn ich am Freitag komme, oder? Ich will keinen Small Talk mit einer Fremden führen müssen. Ich will mit dir zusammen sein, Leigh.“
Sie wusste, dass der Vorschlag, dass sie auch am Freitagabend ausgehen könnten, nichts bringen würde. Er würde dann sowieso nur erwidern, dass er von seiner vollen Woche und der langen Zugreise nach London zu ausgelaugt wäre. „Mach dir keine Sorgen, sie arbeitet bis spät. Also wird sie nicht hier sein.“ Die Lüge schien ihn milde zu stimmen. Und sie beunruhigte Leigh. Sie musste unbedingt herausfinden, um welche Uhrzeit Gina am Wochenende arbeitete. Und dann vielleicht unterschwellige Andeutungen machen, dass sie das Haus am Freitagabend für sich alleine haben wollte.
„Du hättest damit zumindest bis nach den Ferien warten können“, sagte Matt. Leigh war kurz davor, die Geduld zu verlieren und zu fragen, was das für einen Unterschied gemacht hätte. Dann schluckte sie alles resigniert herunter. Er hatte wegen der Halbjahresferien für ein paar Tage frei und plante, den Großteil der kommenden Woche in London zu verbringen. „Das ist doch egal. Wir werden sowieso jeden Tag unterwegs sein, oder nicht?“ Sie planten, die Galerien und Museen zu besuchen, die Matt für die Woche ausgesucht hatte. Es war nicht unbedingt der entspannende Urlaub in einem Spa-Hotel, den sie ausgesucht hätte. Er hatte sich mal wieder mit seinen Wünschen durchgesetzt. Das tat er meistens.
Ihre gemeinsamen Pläne zur Sprache zu bringen, war perfekt, um Matt milde zu stimmen: Er redete über die Museen, die sie besuchen würden, die Ausstellungen, über die er gelesen hatte und von denen er überzeugt war, dass Leigh sie so aufregend wie er finden würde.
In Galerien und Ausstellungen geschleppt zu werden, war nicht gerade Leighs Ding, aber seine Begeisterung für das Ganze brachte sie zum Lächeln. „Ich freue mich schon darauf.“ Was für eine überzeugende Lügnerin sie doch geworden war. „Ich sehe dich am Freitag.“ Ein letztes Liebe dich und sie legte auf. Dann lehnte sie sich seufzend zurück.
Aus dem Erdgeschoss waren Geräusche zu hören. Was auch immer Gina sich anschaute, wurde von Lachkonserven und Applaus begleitet. Da Leigh Dokumentarfilme bevorzugte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie jemals gemeinsam vor dem Fernseher sitzen würden. Vielleicht sollte sie ihrer neuen Untermieterin einen für ihr Zimmer besorgen und ihr vorschlagen, das Comedy-Zeug dort zu schauen.
Als sich Leighs Augen mit heißen, stechenden Tränen füllten, war sie sich nicht sicher, warum. Wegen ihrer lächerlichen Entscheidung, Gina einzuladen. Wegen Matt. Wegen eines Lebens, das sich auf einmal irgendwie unsicher anfühlte. Sie wischte mit einer Hand über ihre Augen, war genervt davon, dass sie so schwach war. Ihr Selbstmitleid war unangebracht, da sie doch eigentlich so viel in ihrem Leben hatte. Sie griff zur Nachttischlampe, schaltete das Licht aus und huschte unter die Bettdecke.
Normalerweise wäre es im Haus nun ruhig. Jetzt aber waren da das Stimmengemurmel, das Quietschen und Schlagen von Türen, die geöffnet und geschlossen wurden, die Schritte im Flur und auf der Treppe. Alles durchdrang die Stille. Wenn sie vorher genauer darüber nachgedacht hätte, wäre sie wahrscheinlich davon ausgegangen, dass die Geräusche von jemand anderem im Haus eigentlich einen beruhigenden Effekt haben sollten. Ein angenehmes, stimmiges Hintergrundgeräusch, das die leere Stille ersetzte, an die sie unter der Woche gewöhnt war. Wenn sie vorher genauer darüber nachgedacht hätte … Dann hätte sie an diesem Morgen Mitgefühl gezeigt und nichts weiter.
„Dumme, dumme Frau.“ Sie zog die Bettdecke über ihren Kopf, um die Geräusche abzuschwächen, versuchte, ihr Gehirn dazu zu zwingen, herunterzufahren und sie so ein bisschen zur Ruhe kommen zu lassen. Aber derselbe Gedanke von zuvor ging ihr immer wieder durch den Kopf: Woher wusste Gina, dass sie das Haus geerbt hatte? Und spielte das überhaupt eine Rolle?
***
Die Frage hielt sie noch lange wach, auch nachdem es im Haus bereits still geworden war. Dann schien das Flurlicht unter der Schlafzimmertür hindurch. Sie stand auf, lauschte für ein paar Sekunden an der Tür, bevor sie sie öffnete und schnell nackt durch den Flur huschte, um es auszuschalten.
Die Nacht bestand aus vielen wachen Momenten, in denen sie sich über Gina, Matt und die Arbeit, von der sie sich nicht sicher war, ob sie ihr noch Freude bereitete, den Kopf zerbrach. Und dann, wenn sie wieder eingeschlafen war, hatte sie ungewöhnlich plastische Träume, in denen der rote Faden ein gewaltsamer Tod zu sein schien.
Als ein Bohrer sich mit einem lauten Brummen durch ihren Kopf zwängte, waren der Schmerz und der Schrecken so echt, dass sie aufschrie und aus dem Albtraum aufwachte. Sie fasste sich mit der Hand an den Kopf und war erleichtert, dass darin keine Bohrspitze steckte und nirgends Blut zu sehen war. Da war kein Dämon, der sie angriff. Aber das Brummen war echt: Es kam vom Durchlauferhitzer der Dusche im großen Badezimmer. Sie hatte ganz vergessen, wie laut er war. Ein kurzer Blick auf ihren Wecker ließ sie laut aufstöhnen. Sechs Uhr dreißig. Eine Stunde früher, als sie eigentlich wach sein musste.
Das war nicht Ginas Schuld. Es war Leighs … Weil sie sie eingeladen hatte, einzuziehen, und weil sie sie nicht gebeten hatte, abends statt am Morgen zu duschen.
Sie versuchte – und versagte dabei – wieder einzuschlafen. Sie wartete deshalb, bis sie hörte, wie die Haustür aufging und sich wieder schloss, bevor sie die Bettdecke zurückwarf und sich auf die Beine kämpfte. Eine ausgiebige Dusche half ihr dabei, etwas wacher zu werden. Sie trug mehr Make-up als gewöhnlich auf, um die blasse Haut zu überschminken, die das Ergebnis einer weiteren unruhigen Nacht war. Aber als sie an ihrem Kaffee zum Mitnehmen nippte – aus einem anderen Café, da sie an diesem Morgen Ginas heiteres Gemüt nicht ertragen konnte – wusste sie, dass ein harter Tag vor ihr lag.
Ein harter Tag, der noch schlimmer durch Leighs Manager wurde. Er hielt sich ununterbrochen in ihrer Nähe auf, lief ständig besonders aufdringlich um ihren Schreibtisch herum, als ob er die verletzliche Beute erschnüffeln konnte.
„Du hast da eine Verbindung übersehen.“ Bernard Ledbetter lehnte sich über ihre Schulter, um auf etwas auf den drei Computerbildschirmen auf Leighs Schreibtisch zu zeigen. Auf einmal spürte sie einen deutlichen Hauch seines Atems, der durch ihren Ausschnitt wehte und den Stoff ihrer Bluse zur Seite fallen ließ. Sie war müde. Vielleicht hatte sie sich das eingebildet. Aber als sie aufsah, um ihm zu antworten, und den lüsternen Ausdruck in seinem Gesicht sehen konnte, wusste sie, dass sie sich rein gar nichts eingebildet hatte. Das war die Krönung eines Tages, der schon ziemlich übel angefangen hatte. Sie sprang schnell auf und schlug, ohne nachzudenken, mit der Faust in Richtung seines arroganten Gesichts.
5
Ledbetter duckte sich, als Leighs Faust durch die Luft flog. Er lachte. Ein hämisches, herablassendes Lachen, gefolgt von den Worten Jetzt bist du dran. Dann schlurfte er über das Linoleum durch den Korridor zur Personalabteilung.
Sie war auf der Suche nach Zeugen, die beobachtet hatten, was passiert war. Aber wenn es welche gegeben hatte, dann waren sie nicht auszumachen. All ihre Kollegen hatten entweder ihre Köpfe nach unten geneigt, ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf einen Computerbildschirm gerichtet, oder sie starrten ins Leere, während sie in ihre Headsets sprachen. Tatsache war aber auch, dass das Handelsparkett regelmäßig unter Strom stand und das Temperament oft mit den Leuten durchging. Selbst wenn es jemand gesehen hatte, ein Vorfall mehr oder weniger würde kaum für Trubel sorgen.
Durch den offenen Türdurchgang sah sie, wie Ledbetter fast die Tür der Personalabteilung erreicht hatte. Sie könnte ihm nachrennen, sich übermäßig bei ihm entschuldigen, ihn vielleicht auf einen Drink einladen … oder zum Essen … um ihren Gefühlsausbruch wieder gutzumachen. Das wäre eine vernünftige Entscheidung. Aber sie konnte es einfach nicht tun. Denn sie konnte sich genau vorstellen, wie er sie anschauen würde, wenn sie das täte: mit selbstgefälliger Genugtuung. Und zwar so deutlich, dass er ihr genauso gut ins Gesicht schreien könnte, dass er sie genau dort hatte, wo er sie haben wollte … und er ihr überlegen war.
Stattdessen saß sie an ihrem Schreibtisch, machte sich wieder an die Arbeit und versuchte, Ledbetter und alles andere aus ihrem Kopf zu verdrängen. Das war aber nahezu unmöglich, wenn sie die ganze Zeit damit rechnete, schnelle Schritte zu hören, die auf ihren Schreibtisch zukamen: Ledbetters rundes, selbstgefälliges Gesicht, die Personalmanagerin wie ein Rachengel auf seiner Schulter – beide fest entschlossen, sie für ihren Moment der Schwäche bezahlen zu lassen.
Zu ihrer Überraschung tauchte keiner von beiden auf. Nach ein paar Stunden spürte sie, wie sich ihre angespannten Schultern lockerten. Sie hatte den blöden Typen ja nicht geschlagen. Vielleicht hatte er sich deswegen entschieden, doch keine Beschwerde einzureichen.
Aber als um achtzehn Uhr eine E-Mail-Benachrichtigung in der Ecke ihres Bildschirms auftauchte, wurde ihr klar, dass sie zu optimistisch gewesen war. Ohne sie zu öffnen, wusste sie, dass es schlechte Nachrichten waren. Sie wäre am liebsten einfach heimgegangen und hätte gerne so getan, als hätte sie sie nicht gesehen. Die Vorstellung war verlockend, aber dämlich.
Die E-Mail war kurz und bündig.
Ms. Simon,
Im Zuge Ihrer heutigen Auseinandersetzung mit Mr. Ledbetter kommen Sie bitte zu einem Meeting morgen um vierzehn Uhr, bei dem ich mit Ihnen beiden sprechen kann. Ich möchte mir ein besseres Bild von den Geschehnissen machen, bevor ich entscheide, wie es im besten Interesse des Unternehmens weitergehen wird.
Janet Collins, Personalmanagerin
Leigh las sich die E-Mail mehrmals durch. Im besten Interesse des Unternehmens. Das hörte sich ominös an. Aber sie hatte nichts Falsches getan … Sie hatte das schmierige, unausstehliche Arschloch nicht geschlagen, oder?
Sie konnten sie nicht feuern.
Oder?
***
Dieses neuste Problem hatte zunächst alles andere aus ihren Gedanken verdrängt. Als sie also wieder zu Hause war, die Haustür öffnete und ihr laute Musik entgegenkam, ließ der Schreck sie einen Moment innehalten. Die Realität brach wieder über sie herein und sie stöhnte, als die Küchentür aufging. Gina tänzelte den Flur entlang zur Musik irgendeiner Rockband, die Leigh nicht kannte. Gina umarmte sie. Damit hatte Leigh nicht gerechnet und sie wollte auch nicht umarmt werden.
„Hallo“, sagte sie und befreite sich vorsichtig aus der Umarmung.
„Hallo.“ Gina lachte, während sie weiter herumwirbelte.
Leigh ließ ihre Tasche am Ende der Treppe fallen. „Du hast dich hier gut eingelebt?“
Gina tänzelte weiter und wedelte dabei mit den Armen in der Luft. Ihr langes, buntes Kleid schwang sich um ihren Körper. „Mehr als nur gut“, sang sie überraschend melodisch.
„Gut.“ Leigh zwang sich zu einem Lächeln. Sie verhielt sich Gina gegenüber nicht fair. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass Leigh so eine miese Laune hatte.
„Um dir zu danken, habe ich Abendessen gemacht.“
Erst in diesem Moment stieg Leigh der Geruch von etwas Scharfem in die Nase. Es brachte ihre Nase zum Kitzeln und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. „Das hättest du nicht tun müssen.“ Das hätte sie wirklich nicht. Leigh wollte nicht, dass das Kochen füreinander zur Routine wurde. Sie wollte sich auch auf keinen Fall während des Abendessens gemeinsam an den Tisch setzen und Small Talk führen. Besonders nicht an diesem Abend, an dem ihr Gehirn Purzelbäume schlug.
„Deine Portion liegt auf einem Teller. Du musst das Essen nur für ein paar Minuten in die Mikrowelle stellen, wenn du hungrig bist, okay?“ Gina machte einen kleinen Schritt ins Wohnzimmer, stellte die Musik ab und nahm den Mantel vom Sofa. „Ich treffe mich mit ein paar Freunden. Ich hoffe, es schmeckt dir.“
Und dann war sie weg, während Leigh alleine im Flur ein wenig verwirrt zurückblieb. Zunächst wollte sie keine Gesellschaft, jetzt fühlte sie sich auf einmal einsam. Sie schüttelte ihren Kopf angesichts dieses dummen Verhaltens, nahm ihre Tasche und kämpfte sich die Treppe hoch.
Ein Klamottenwechsel war die perfekte Möglichkeit, Arbeit und Freizeit zu trennen. Das hätte es einfacher machen sollen, Ledbetter und diesen schrecklichen Tag aus ihrem Kopf zu kriegen, aber es half kein bisschen dabei, die Sorgen abzuschütteln. Sie band ihren Baumwollbademantel fest zu und ging wieder nach unten in die Küche, um nachzusehen, was Gina gekocht hatte.
Ein abgedeckter Teller stand auf der Anrichte. Leigh hob den Deckel an. Couscous und Lamm mit Tomatensoße. Es roch himmlisch.
Während sie auf das Pingen der Mikrowelle wartete, öffnete sie den Kühlschrank und holte eine Flasche Weißwein heraus. Zwei Abende hintereinander. Schlechte Angewohnheiten schlichen sich langsam bei ihr ein. Sie verwarf diesen selbstkritischen Gedanken aber schnell wieder, denn an diesem Abend brauchte sie die Art von Unterstützung, die ihr nur der Alkohol bieten konnte. Sie schenkte sich ein Glas ein und als das Essen aufgewärmt war, brachte sie alles ins Wohnzimmer.
Anstatt des Fernsehers machte sie den CD-Player an und ließ eines ihrer liebsten Musikstücke laufen. Cavalleria Rusticana war die perfekte Wahl, um das Gedankenwirrwarr in ihrem Kopf zu beruhigen.
Sie nahm die Gabel und stach in ein Stück Lamm. Es roch lecker. Schmeckte auch gut. Das war wirklich sehr nett von Gina. Wirklich sehr nett. Aber woher wusste Gina, dass sie das Haus geerbt hatte. Und war das überhaupt wichtig? Auf einmal war sie nicht mehr hungrig. Schmeckte das Lamm nicht irgendwie merkwürdig? Sie spuckte das Stück in ihrem Mund auf den Teller, brachte diesen dann in die Küche und stieg auf das Pedal des Mülleimers, um alles wegzuwerfen. In letzter Sekunde zog sie jedoch ihre Hand weg und ließ den offenen Deckel mit einem Knall zufallen. Wenn sie das Essen da hineinwarf, würde Gina es sehen und sich fragen, warum es im Mülleimer lag.
Stattdessen kratzte Leigh das Essen in einen Gefrierbeutel und schob alles in die Tiefkühltruhe. Sie könnte es auch noch an einem anderen Tag in den Müll werfen.
Zurück im Wohnzimmer nahm sie ihr Weinglas in die Hand und machte sich weiterhin Gedanken darüber, wie ihre neue Untermieterin solche privaten Dinge über sie wissen konnte. Gina noch mal zu fragen, würde nichts bringen, da sie nur wieder das Gleiche antworten würde: dass Leigh es ihr gesagt hätte.
Aber sie war sich sicher, dass sie das nicht getan hatte …