Leseprobe Lass die Toten schlafen | Ein packender Thriller

Raimund Weiß

Interviewtranskript über die Ereignisse vom 15. November 1997

Ich werde ihn nie vergessen, diesen Anblick. Glänzend polierte Schuhe in der Luft, vier Körper, fein säuberlich nebeneinander aufgereiht. Reglos und beinahe friedlich hingen sie da. Unter ihnen umgekippte Stühle, drei normale und ein Hochstuhl für die jüngste Tochter.

Die Bergers – Vater, Onkel, zwei Töchter – alle wie für die Sonntagsmesse herausgeputzt. Die Mädchen in ihren schönsten Dirndln mit geflochtenen Zöpfen, die Männer im Trachtenanzug, frisch rasiert und mit geputzten Nägeln.

Es lag in der Luft … Ich kann es gar nicht beschreiben, nur, dass ich spürte, dass etwas falsch war, noch bevor ich das Haus betrat. Als ob eine unsichtbare Präsenz ihre Finger um meinen Hals legte und zudrückte, so fühlte ich mich.

Es ist komisch, was einem im Nachhinein in Erinnerung bleibt. Dieses merkwürdige Gefühl. Der Kontrast in der Stube der Bergers, zwischen Festlichkeit und Horror. Die geputzten Fingernägel von Tino. Die Schleifen in den Zöpfen der kleineren Schwester, ihren Namen habe ich vergessen, aber ich erinnere mich, dass sie gerade einmal vier Jahre alt war. Die glänzenden Schuhe beider Mädchen. Die Ältere hatte einen davon verloren. Er lag am Boden unter ihren Füßen. Ich erinnere mich, dass ich mir unwillkürlich vorgestellt habe, wie sie im Überlebenskampf gestrampelt und gestoßen haben musste, bis der Schuh sich löste.

Beim Eintreten hatte es so ausgesehen, als hätten die vier die Hände vor ihren Körpern zum Gebet gefaltet. Doch als ich vor ihnen stand, sah ich, dass ihre Handgelenke in Wahrheit mit Kabelbindern gefesselt waren. Das Plastik um Tinos Gelenke war so eng, dass es sich ins Fleisch schnitt. Schrunden und blutige Striemen rundherum bewiesen, dass er versucht hatte, sich zu befreien. Ähnlich sah die Haut der älteren Tochter aus. Wundgescheuert und voller Kratzer. Einer ihrer Fingernägel war abgebrochen und unter den anderen erkannte ich dunkle Ränder. Blut. Ihr eigenes, begriff ich, da sie sich im Versuch, die Kabelbinder zu lösen, wundgekratzt hatte.

Ich schaute nur kurz in ihre Gesichter und auf die Schlingen um ihre Hälse. Bloß eine Sekunde, länger ertrug ich den Anblick nicht. Aber es reichte aus, um zu sehen, dass sie bunte Tücher um den Kopf gewickelt hatten. Warum, fragte ich mich. Hatte jemand ihnen die Augen verbunden, um dem vorwurfsvollen Blick aus sterbenden Kinderaugen zu entgehen? Oder hatten sie es selbst getan, um ihr eigenes Ende nicht sehen zu müssen?

Später, als die Leichen längst aus der Stube entfernt und zur Gerichtsmedizin gebracht worden waren, schaute ich mir die Tücher auf dem Präsidium genauer an. Sie waren aus dünnem fließendem Stoff, bunt mit Blumenmustern und Vogelaufdruck. Halstücher, wie meine Frau sie früher gerne trug. Hübsch waren sie.

Ich weiß auch noch, dass alles so ordentlich wirkte. Als ob die Familie für diesen Anlass aufgeräumt hätte. Und dass es warm war. Geradezu heiß, obwohl draußen ein Schneesturm tobte. An das Feuer im Kachelofen erinnere ich mich genauso wie an das Bild der Berger-Mutter, Maria war ihr Name, das darauf stand. Links und rechts davon waren Kerzen und kleine Engelsfiguren mit gefalteten Händen drapiert. Wie ein winziger Altar sah das aus. Der Rahmen war so gedreht, dass Maria vom Foto aus ihre Familie betrachtete: die vier leblosen Körper, aufgeknüpft am Holzbalken, der quer durch den Raum verlief. Es klingt lächerlich, aber während ich in der Stube stand, vor mir die erhängte Familie, da dachte ich: die arme Mutter. Sie ist viel zu früh von uns gegangen, sodass sie nie die Chance hatte, ihre Kinder aufwachsen zu sehen. Und jetzt muss sie diesen Anblick ertragen.

Im Nachhinein könnte ich dir nicht sagen, wie lange ich dort stand, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war eine junge Kollegin, die Renate Obermaier, die mich aus meiner Starre riss, indem sie fragte, was mit dem Sohn und der Großmutter der Bergers sei.

Du willst jetzt vermutlich den Kopf über meine Inkompetenz schütteln. Ich kann es dir nicht verdenken. Zugegeben, ich war mit der Situation überfordert. Obwohl ich seit zwanzig Jahren bei der Polizei war, hatte ich etwas derart Schreckliches nie zuvor gesehen und auch nicht damit gerechnet, es je sehen zu müssen.

Jedenfalls stellte Renate die Frage: „Hatte der Berger-Josef nicht auch einen Sohn?“

Ich antwortete: „Ja, den Emil. Der geht mit meiner Rosa in die erste Klasse.“

Aber ich muss so leise gemurmelt haben, dass sie mich nicht hörte, oder vielleicht dachte ich die Worte auch nur, ohne sie laut auszusprechen.

Renate fragte weiter: „Und lebten die Berger-Brüder nicht mit ihrer Mutter zusammen? Wir sollten sie suchen.“

Wahrscheinlich nickte ich, aber so genau weiß ich es nicht mehr. In diesem Augenblick konnte ich nur immer und immer wieder daran denken, wie so etwas Schreckliches hatte geschehen können. Also übernahm Renate die Führung.

Sie sah sich im Haus um und fand die Berger’sche Großmutter im Flur. Sie war ebenso herausgeputzt wie die restliche Familie, trug ihr schönstes Trachtenkleid. Das dunkelblaue, das sie sonst nur an Feiertagen und zur Messe im Dorf anhatte. Ihre Haare waren zu Zöpfen geflochten und auf traditionelle Art um ihren Kopf gelegt. In der Hand hielt sie eines dieser bunten Tücher. Ihres war schreiend rot mit Klatschmohndruck und goldenen Kringeln.

Sie lag bäuchlings auf dem Boden, die Haare blutverklebt am Hinterkopf, eine tiefe Wunde im Schädel. Sie war zugedeckt und neben ihrem Gesicht waren ein Rosenkranz, ein Teelicht und eine weitere dieser Engelsfiguren aufgestellt.

Den Emil fanden wir erst am nächsten Morgen. Er hatte sich im angrenzenden Heuschuppen versteck, war vollkommen unterkühlt. Am ganzen Körper zitterte er und sprach kein Wort, auch Tage später nicht, als Renate und ich ihn im Krankenhaus besuchten. Er saß nur stumm da und starrte uns aus seinen traurigen Augen an. Renate versuchte, ihn zum Reden zu bewegen. Sie meinte, dass er etwas gesehen haben könnte, das für die Ermittlung wichtig sei.

Ich meinte das nicht. Ich wusste es. Seine Augen bestätigten es mir. Die Angst und die Leere in ihnen, dieser stumpfe Blick, als ob etwas tief in ihm zerbrochen wäre. Und wie sollte es das auch nicht sein? Der Junge hatte auf einen Schlag seine gesamte Familie verloren. Alle waren sie gegangen. Ins Jenseits, in den Himmel oder die Hölle oder ins Nichts, wohin auch immer wir gehen, wenn wir dieses Leben verlassen. Nur ihn hatten sie zurückgelassen.

Ich nahm mir vor, für ihn zu beten, was komisch ist, denn in diesem Moment zweifelte ich zum ersten Mal ernsthaft daran, dass es einen Gott gibt. Und noch ein Gedanke nistete sich in meinem Kopf ein.

Ich weiß, dass es schrecklich klingt und dass man solche Dinge niemals aussprechen sollte, aber ich sage es dir trotzdem. Wie ich ihn damals so sah, verschreckt und mit diesem leeren, irgendwie toten Blick, da konnte ich nicht anders, als zu denken, dass es besser für den Jungen gewesen wäre, wenn seine Familie ihn mit in den Tod genommen hätte.

1. Kapitel

27 Jahre später

Es war genau wie damals.

Rosa war erst sieben Jahre alt gewesen, als Josef Berger sich mitsamt seiner Familie aus dem Leben gerissen hatte. Trotzdem erinnerte sie sich. An gewisperte Worte zwischen Kirchenbänken und ein Meer aus Schwarz, das in die Kirche floss und sich später, nach dem Trauergottesdienst, über den Friedhof ergoss. Sie erinnerte sich an die fünf Särge, drei normale und zwei kleine, umringt von so vielen bunten Blumenkränzen und Kerzen, dass man fast hätte glauben können, es gäbe Grund zum Feiern. Daran, wie die Särge schließlich in der Erde verschwanden, und an einen kleinen Jungen, allein an der Spitze der Prozession, in einem dunklen Anzug, der zu groß für seine schmalen Schultern wirkte, mit blassem Gesicht und blauen Augen voller Trauer.

Emil war mit Rosa in den Kindergarten und später in die erste Klasse der Volksschule gegangen. Bis zu dem Tag, den alle im Dorf nur als Tragödie bezeichneten. Dem Tag, an dem ein Vater fast seine gesamte Familie ausgelöscht und nur einen kleinen Jungen zurückgelassen hatte. Und obwohl Rosa mit ihren sieben Jahren zu jung gewesen war, um zu begreifen, was sich ereignet hatte, so verstand sie genug, um den Schock und die Trauer in den Gesichtern zu deuten in den Gesichtern zu deuten. Das Flüstern der Erwachsenen war voller Geheimnisse. Voller Dinge, die man am besten gar nicht aussprach, und wenn doch, nur mit gesenkter Stimme und unter ständigem Kopfschütteln. Worte wie Sünde und Mörder und geisteskrank. Dinge wie Er war mir schon immer unheimlich und Niemand hätte ahnen können, was er tun würde. Oder Wir hätten es wissen müssen. Die Zeichen waren da. Er trank zu viel und sprach zu wenig. Und dazwischen immer wieder hängen in all seinen Formen. Er hat sich erhängt. Sie hingen da, sie alle. Dass einer seine ganze Familie aufhängt, schrecklich.

Rosa war schon immer neugierig gewesen. Die Hand fest verankert in der ihrer Mutter lauschte sie und malte sich im Geist aus, wie Josef Berger, sein sanftmütiger Bruder Tino und die beiden Mädchen, Johanna und Anna-Lena, nebeneinander an einer Wäscheleine hingen. Auf diesem imaginären Bild wurden Josef und Tino Berger von zwei übergroßen Wäscheklammern an den Schultern festgehalten, während die Zöpfe der beiden Töchter um die Leine geflochten waren. Die Vorstellung von den vier Bergers an der Wäscheleine verfolgte sie noch monatelang in ihren Träumen.

Auch heute, siebenundzwanzig Jahre später, wurde geflüstert. Wieder hingen das Wort erhängt und die Frage nach dem Warum in der Luft. Und genau wie damals lauschte Rosa. Sie war vor über zehn Jahren aus Kirchbach weg und nach Salzburg gezogen, doch sie kam regelmäßig zurück in diesen malerischen Ort, der sich im Westen an die Hänge der Alpen schmiegte. Es war ja auch nicht besonders weit, nur eine vierzigminütige Fahrt. Heute hatte ihr Besuch jedoch einen bedrückenden Grund. Sie war hier, um der Beerdigung ihrer ehemaligen Volksschullehrerin beizuwohnen.

Gerade ging sie neben ihrem Vater über den Friedhof, der in seinem dunklen Anzug ungewöhnlich steif wirkte und den ganzen Tag schweigsam gewesen war. Sie selbst hatte ihre schulterlangen braunen Haare zu einem Dutt gesteckt und trug einen schwarzen Jumpsuit, der an der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Dazu hatte sie sich eine übergroße Brille auf die Nase gesetzt. Die dunklen Gläser erlaubten es ihr, unbemerkt den Blick schweifen zu lassen.

Wenig überrascht sah sie einige bekannte Gesichter – ehemalige Schulkollegen und -kolleginnen, den Dorfbäcker, ein Grüppchen gealterter Lehrpersonen. An der Spitze der Prozession schritt Pfarrer Henke, ein hagerer Mann in seinen späten Sechzigern, dem man seine Keuschheit an den scharf geschnittenen Wangenknochen und den sehnigen Armen ansah. Begleitet wurde er von zwei Ministrantinnen und dem jungen Pastoralassistenten. An dessen Namen konnte Rosa sich nicht erinnern, wusste jedoch, dass bei den Frauen im Dorf die einhellige Meinung vorherrschte, er sähe viel zu gut aus, um sich ans Zölibat zu verschwenden.

Es war ein Wunder, dass der Pfarrer in seiner Heiligkeit überhaupt dazu bereit war, das Begräbnis für eine Frau durchzuführen, die Selbstmord begangen hatte – galt dies doch eindeutig als Sünde. Josef Berger war vor siebenundzwanzig Jahren in den Gebeten von Pfarrer Henke ausgespart geblieben. Bei allen anderen Familienmitgliedern war man von Mord ausgegangen, sodass ihnen ein Platz im Himmelreich sicher gewesen war. Nicht, dass Rosa sich aktiv daran erinnerte, aber ihre Mutter hatte es ihr während einer kurzen Phase erzählt, in der Rosa sich als Teenagerin für die Geschichte Kirchbachs und vor allem für diesen dunklen Schandfleck interessiert hatte.

Henriette Stadler war im Gegensatz zu Josef Berger allerdings auch keine mehrfache Mörderin, sondern eine ehemalige Lehrerin, die im Ort beliebt gewesen war und regelmäßig die Kirche besucht hatte. Für sie galten vermutlich andere Regeln und es hätte für einen Aufschrei im Ort gesorgt, hätte der Pfarrer ihr kein würdiges Begräbnis ermöglicht.

Fräulein Stadler, wie die Kinder sie genannt hatten, war eine warme, weichherzige Person gewesen, der es körperliches Unbehagen zu bereiten schien, wenn sie eines der Kinder hatte schelten müssen. Sie hatte ihr braunes Haar täglich in einen losen Knoten gebunden und am liebsten Röcke mit Blümchenmuster getragen. Von der ersten bis zur vierten Schulstufe war sie Rosas Deutschlehrerin gewesen – und auch die von Emil Berger, in dem einen Jahr, bevor seine Familie starb und er das Dorf verließ, um bei – wenn Rosa sich richtig erinnerte – seiner Tante zu wohnen.

Fräulein Stadler war Rosa immer alt vorgekommen, dabei war sie damals erst Mitte dreißig gewesen, also kaum älter als Rosa jetzt. Sie hatte keine Kinder, sich dafür aber umso hingebungsvoller um ihre Schulklassen gekümmert. Wann immer Rosa sie in den letzten Jahren in Kirchbach getroffen hatte, beim Einkaufen oder bei einem Spaziergang, hatte sie sich ein paar Minuten Zeit genommen, um sich nach Rosas Leben zu erkundigen.

„Wie geht es dir in Salzburg?“, hatte sie dann gefragt. „Ich habe gehört, du arbeitest als Journalistin. Schreibst du gerade einen spannenden Artikel?“

Sie schien sich ehrlich für Rosas Antworten zu interessieren, erinnerte sich an alles, was sie ihr erzählte, und freute sich wie eine stolze Ersatzmutter über jeden von Rosas Artikeln. Ganz besonders begeistert war sie gewesen, nachdem Rosa ihr erstes Buch – einen investigativen Roman über einen Mordfall – veröffentlicht hatte. Auf Rosa hatte Fräulein Stadler glücklich gewirkt. Was offensichtlich eine Fehleinschätzung gewesen war. Denn heute hatte die Gemeinde sich versammelt, weil sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Sie hatte sich erhängt. Genauso wie die Bergers.

Fräulein Stadler ließ nur zwei Dinge zurück. Einen Beagle, der erst seinen Teller leer gefressen und dann mangels Futter-Nachschub so lange und laut gebellt hatte, bis die Nachbarn die Polizei riefen, die Frau Stadler schließlich in ihrem Schlafzimmer fand. Und einen Abschiedsbrief. Er war nur eine Zeile lang:

Ich hätte es nicht für mich behalten dürfen.

Was für sich behalten? Dem Geflüster nach zu urteilen, stellte die halbe Trauergemeinde sich dieselbe Frage wie Rosa. Spätestens der Inhalt des Briefes hatte deren journalistischen Instinkt geweckt. Sie wusste, dass sie eigentlich traurig sein sollte, und ein Teil von ihr war das auch – aber ein anderer, der stürmische Teil, den es nach Antworten und Geschichten verlangte, wollte der Sache auf den Grund gehen.

Am Ende der Prozession löste sich der Pulk der Trauernden nur langsam auf. Normalerweise standen neben dem Grab die engsten Familienmitglieder, denen man sein Beileid bekunden konnte. Rosa überkam eine merkwürdige Traurigkeit, als sie realisierte, dass da niemand war, dem sie die Hand schütteln oder ihr Mitgefühl ausdrücken konnte. Keine Kinder. Keine Geschwister. Keine Eltern oder Tanten oder Onkels oder enge Freunde. Ihr war nie bewusst gewesen, wie einsam Fräulein Stadler gewesen sein musste.

Zwei ehemalige Lehrerinnen händigten die Trauerbilder aus und der pensionierte Volksschuldirektor lud alle zum Leichenschmaus in den angrenzenden Gasthof ein.

„Lasst uns gemeinsam unserer lieben Freundin, Henriette Stadler, gedenken“, sagte er.

Gezwungen lächelnd nahm Rosa eines der Kärtchen entgegen. Das Foto von Fräulein Stadler war mindestens zehn Jahre alt.

„Stell dir vor, du stirbst und dein nächster Angehöriger ist dein ehemaliger Chef. Wenn das nicht deprimierend ist“, murmelte Rosa, wofür sie sich einen tadelnden Blick ihres Vaters einfing.

Zwei Männer – vermutlich Freunde ihres Vaters aus dem Tischtennisclub – winkten ihnen zu. Beide trugen karierte Hemden. Die schwarzen Anzugjacken hatten sie der Hitze wegen abgestreift. Obwohl es bereits Oktober war, waren die Temperaturen hoch. Auch Rosa schwitzte in ihrem dunklen Jumpsuit.

„Kommst du mit zum Ziegerlwirt?“, wollte ihr Vater wissen.

„Ja, aber geh du schon mal vor“, meinte Rosa.

Sie wollte ein paar Minuten allein an Fräulein Stadlers Grab sein, als ob ihr das irgendwelche Antworten rund um das Ende der Lehrerin geben könnte.

Während ihr Vater gemeinsam mit seinen Tischtennis-Kumpels davonging, drehte sie sich noch einmal um. Da sah sie ihn. Einen jungen Mann, etwa in ihrem Alter, mit dunkelbraunen, leicht gelockten Haaren, einem Dreitagebart und einem teuer aussehenden schwarzen Anzug. Er stand etwas abseits der anderen Menschen, die Hände vor dem Bauch gefaltet, tiefe Furchen auf der Stirn. War das …?

„Hey!“, rief sie und hob den Arm.

Einige Trauernde drehten sich zu ihr um und auch der Mann hob den Kopf. Als sein Blick ihren fand, spiegelte sich so etwas wie Wiedererkennen in seiner Mimik. Er öffnete den Mund leicht, schloss ihn jedoch wieder, als wären ihm die Worte von den Lippen gepurzelt, ehe er sie aussprechen konnte. Rosa kannte diese Augen. Kannte die Verlorenheit im Blau seiner Iriden.

Sie wollte mit ihm reden, doch er drehte sich abrupt um und ging davon.

„Warte!“, rief Rosa. Verdammt. Sie schob sich zwischen den Trauernden hindurch, die rund um das Grab standen, und erntete einige unzufriedene Blicke.

„Tut mir leid“, murmelte sie, als sie eine ältere Dame anrempelte.

„Das hier ist ein Friedhof, keine Rennbahn“, grummelte diese, legte dann den Kopf schief. „Sag, bist du nicht die Rosa, die Tochter vom Inspektor Weiß?“

„Ja, genau die.“ Rosa lächelte. Jeder kannte jeden hier im Dorf, vor allem, wenn man die Tochter des ehemaligen Polizeichefs war.

„Na, so was! Wie geht’s denn deinem alten Herrn? Ist er auch hier?“

„Ja, also, er war hier. Ich … tut mir leid, aber ich muss …“

Los, hatte sie sagen wollen. Doch sie hatte den Mann bereits aus den Augen verloren. Rosa drehte sich um die eigene Achse. Nichts. Als ob er ein Geist gewesen wäre.

„Haben Sie ihn auch gesehen?“, fragte sie die ältere Dame, die daraufhin die Lippen schürzte.

„Wen denn?“

„Emil“, murmelte sie. Rosa hatte ihn seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr getroffen und damals war er ein kleiner Junge gewesen. Trotzdem war sie sich sicher. Dieser verlorene Blick. Er musste es sein.

Emil Berger.

***

Der Ziegerlwirt war eine Institution in Kirchbach. Das Gasthaus befand sich im Ortszentrum zwischen Kirche und Gemeindeamt. Die Fassade war hellgelb gestrichen, das oberste von drei Stockwerken bis zum Spitzdach mit waldgrünem Holz verkleidet. Die Tische im Biergarten waren trotz des ersten Herbstwinds voll besetzt und auch im Inneren herrschte reger Betrieb.

Schwarz zog sich durch den Gastraum, genau wie zuvor über den Friedhof. Doch das Flüstern wich hier drin lautem Stimmengewirr und Volksmusik. Rosa fand einen Platz an der Bar, hinter der zwei Kellnerinnen eilig Bier zapften. Ihren Vater erspähte sie ein paar Tische weiter. Er unterhielt sich angeregt mit den Mitgliedern seines Tischtennisclubs, weswegen Rosa es vorzog, allein am Tresen zu sitzen und den Gesprächen rund um sich herum zu lauschen. Die Dorf-Gerüchteküche war seit jeher eine wahre Schatzkiste an vielleicht nicht immer ganz akkuraten, aber doch sehr interessanten Informationen. Vielleicht würde sie ja etwas aufschnappen, was ihr mehr über die Bedeutung von Frau Stadlers Abschiedsbrief verriet.

Die Leute unterhielten sich über das letzte Fußballspiel des FC Kirchbach, die Arbeit und einen Großbrand, der gestern Abend in den Nachrichten gewesen war. Henriette Stadler wurde nicht erwähnt. So viel dazu, unserer lieben Freundin zu gedenken. Rosa seufzte.

„Würstel oder Schnitzel?“, fragte die Kellnerin und riss Rosa damit aus den Gedanken.

„Was?“

„Für den Leichenschmaus. Würstel oder Schnitzel kannst du dir aussuchen.“

„Oh, ich … nur einen Radler bitte.“

Nachdem Rosa Emil gesehen hatte – oder eine Fata Morgana, je nachdem, wie optimistisch sie sein wollte –, war sie zu angespannt, um etwas zu essen.

„Kommt sofort“, meinte die Kellnerin. Kaum eine Minute später hatte Rosa ein Halbliter-Glas vor sich stehen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, das Essen auszulassen.

„Na, wenn das nicht Rosa ist“, sagte da jemand und sie schaute auf.

Paul?“

„Wie er leibt und lebt.“

Ihr Kindheitsfreund breitete die Arme aus und gab Rosa zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Diese schob ihn eine Ellenbogenlänge von sich, um ihn zu mustern. Früher waren sie unzertrennlich gewesen, hatten den Kontakt über die Jahre jedoch verloren. Obwohl Rosa häufiger nach Kirchbach kam, hatte sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

Vor ihr stand ein breitschultriger Mann in einem dunklen Hemd, das wenig tat, um seine Muskeln zu verbergen. Die hellbraunen Haare waren in leichten Wellen zur Seite gekämmt, unter markanten Augenbrauen saßen hellblaue Augen, die in starkem Kontrast zu seiner gebräunten Haut standen. Zwei Grübchen zeigten sich auf seinen Wangen, als er breit lächelte.

„Du hast dich ganz schön verändert.“

„Zum Guten, will ich hoffen“, feixte er.

Das war eine Untertreibung. Als Rosa ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Paul ein schlaksiger, etwas ungeschickter Junge mit fettigen Haaren gewesen. Heute sah er aus, als hätte jemand ihn aus dem Sexy-Jungbauern-Kalender ausgeschnitten.

„Darf ich?“ Paul deutete auf den freien Hocker neben Rosa.

Die nickte. „Setz dich. Gott, wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?“

„Zu lange. Viel zu lange“, antwortete er, wobei er das Viel in die Länge zog. „Ich wollte dich schon längst mal in Salzburg besuchen, aber komme nicht so oft raus. Der Hof hält mich beschäftigt. Seit ich ihn allein führe, noch mehr.“

Paul, der Jungbauer. Als Jugendlicher hatte er davon geträumt, die Welt zu bereisen, über die Dünen der Sahara zu wandern, die Regenbogenberge Perus zu besteigen und auf Bali mit Rochen zu tauchen. Über seinem Bett hatte eine Weltkarte gehangen, auf der er mit kleinen Kreuzen all die Orte markiert hatte, die auf seiner To-See-Liste standen. Damals hatte er Rosa versprochen, ihr aus jedem Staat eine Postkarte zu schicken.

Dann war ein bösartiger Tumor in der Prostata seines Vaters gefunden worden und dessen einzigem Sohn war nichts Anderes übrig geblieben, als sich um den Hof – den größten der Gemeinde – zu kümmern. Der Krebs hatte Pauls Träume noch schneller verschlungen als seinen Vater, der zwei Jahre nach der Diagnose verstorben war. Rosa wusste, wie er sich gefühlt haben musste. Schließlich hatte sie selbst erlebt, wie es war, einen Elternteil an diese Krankheit zu verlieren.

„Na, wie geht’s dir?“, fragte Paul.

Sie plauderten ein wenig. Rosa erzählte von ihrem Job bei den Salzburger Nachrichten, von ihrer Hundedame Tunafish, die momentan im Haus ihres Vaters darauf wartete, für einen Spaziergang abgeholt zu werden, und von ihrer kleinen Wohnung im Herzen der Stadt. Paul hörte zu, als wäre alles, was sie erzählte, tatsächlich spannend.

„Machst du immer noch die Nacht zum Tag?“, fragte er mit gehobenem Mundwinkel.

„Leider ja.“ Rosa seufzte, denn in ihrem Fall bedeutete das nicht, bis zum Morgengrauen zu feiern, sondern vielmehr, dass sie nicht schlafen konnte – seit Jahren schon nicht mehr, seit der Diagnose ihrer Mutter – und die Stunden bis zum Sonnenaufgang mit Hausarbeit, Spaziergängen, Recherchen und, ja, hin und wieder auch in einer Bar überbrückte. „Aber ich arbeite daran“, fügte sie schmunzelnd hinzu.

„Freund hast du aber keinen erwähnt“, meinte Paul nonchalant und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

„Weil es keinen gibt.“

„Ach was? Das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass die Männer in der Stadt nicht scharenweise auf dich fliegen.“

„Da kennst du die Salzburger Männer aber schlecht.“

„Die wissen ja nicht, was ihnen entgeht“, antwortete er zwinkernd. „Vielleicht solltest du’s dann mit einem Mann vom Land versuchen. Wir wissen noch, was gut ist.“

„Und du, hast du denn eine Freundin?“, fragte Rosa, der die Blicke, mit denen einige der jüngeren Damen im Wirtshaus Paul musterten, nicht entgangen waren.

Er zuckte die Schultern. „Keine Zeit. Wie für so vieles nicht.“

„Das klingt nach einer Ausrede.“

„Vielleicht.“ Ein Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen. „Oder vielleicht war die Richtige noch nicht dabei.“

Sein Tonfall ließ Rosa Hitze in die Wangen steigen. Schnell nahm sie einen Schluck. So schön es war, sich mit ihrem alten Kindheitsfreund auszutauschen, sie war nicht hergekommen, um zu flirten. Also wechselte sie das Thema:

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass Fräulein Stadler sich wirklich erhängt haben soll.“

„Haben soll?“, wiederholte Paul ihre Worte. „Das klingt, als hättest du Zweifel.“

„Keine richtigen.“ Erneut nahm sie einen Schluck. „Aber ist es nicht ein bisschen merkwürdig, dass sie nur einen einzeiligen Abschiedsbrief hinterlässt? Und dann dieser Inhalt: Ich hätte es nicht für mich behalten sollen. Was meint sie damit?“

„Jeder hat doch so seine Geheimnisse“, entgegnete Paul.

„Du auch?“ Rosa hatte es als Scherz gemeint, doch Pauls Gesichtsausdruck wurde merkwürdig ernst.

„Ich meine nur, wir haben sie nicht wirklich gekannt. Woher wollen wir wissen, was in ihrem Kopf oder in ihrem Leben vorging? Jetzt ist es ohnehin zu spät.“

***

Tunafish wedelte fröhlich mit dem Schwanz, als Rosa ihr die Leine anlegte. Es war spätabends und die grau-weiß gemusterte Mischlingsdame hatte ungeduldig im Haus von Rosas Vater darauf gewartet, endlich Gassi zu gehen. Draußen legte Rosa den Kopf in den Nacken, um den Himmel zu betrachten. Der Mond war eine dünne Sichel, um die herum wenige Sterne funkelten.

„Schön, diese Ruhe, nicht wahr, Tunafish?“, sagte sie, was die Hundedame ignorierte.

Der Spaziergang würde Rosa helfen, ihre Gedanken zu ordnen. Seit heute Morgen verspürte sie dieses aufgeregte Flattern im Bauch, mit dem sich eine neue Geschichte ankündigte. Sie wollte das Grab ihrer Mutter besuchen, was sie schon viel zu lange nicht mehr getan hatte, das war ihr während der Beerdigung allzu bewusst geworden. Doch anstatt zu diesem Grab steuerten ihre Füße automatisch auf ein anderes zu: das der Familie Berger.

Sie hatte es fast erreicht, als ihr die Gestalt auffiel, die als dunkler Schatten davorsaß. Abrupt blieb sie stehen. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen, woraufhin die Person den Kopf hob.

„E-“ Emil hatte sie sagen wollen, schluckte den Namen jedoch hinunter. Es war klar, dass er allein sein wollte. Er saß mit angezogenen Knien da, den Rücken an einen angrenzenden Grabstein gelehnt, die Hände um die Unterschenkel gefaltet. Sein Jackett hatte er neben sich gelegt und die obersten Knöpfe seines Hemds geöffnet. Rosa fiel auf, dass er weder eine Uhr noch einen Ehering trug, bevor ihr Blick zu seinem Gesicht sprang. Trotz der Dunkelheit meinte sie auszumachen, dass er geweint hatte – seine Wangen sahen geschwollen aus, ebenso seine Augen.

Ein paar endlose Sekunden lang schaute er sie bloß an, ehe er sprach: „Rosa.“

Mehr nicht, nur ihren Namen.

Sie hatte nicht geglaubt, dass er sich überhaupt noch an sie erinnern könnte.

„Ich war überrascht, dich heute bei der Beerdigung zu sehen“, stellte Rosa fest.

„Frau Stadler war nett“, meinte er schulterzuckend, sah dabei jedoch nicht Rosa, sondern das Grab seiner Familie an. In den dunkelgrau melierten Grabstein waren die Namen seiner beiden Großeltern väterlicherseits, seiner Eltern, seines Onkels und seiner Schwestern eingelassen. Die Laterne daneben war leer, davor war ein Kranz aus grünem Nadelgewächs und pinken Blüten drapiert, in dessen Zentrum eine Engelsfigur saß.

Emil seufzte schwer, ehe er sagte: „Ich bin ehrlich gesagt selbst überrascht, dass ich hier bin.“

„Du kommst also nicht oft hierher?“, fragte sie das Offensichtliche.

„Nie. Heute das erste Mal, seit … keine Ahnung, seit immer. Es ist leichter, mich von Kirchbach fernzuhalten. Ich habe seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu den Leuten aus dem Dorf und damit auch keinen Grund, hier aufzutauchen.“ Er stockte. „Vielleicht wäre es besser gewesen, weiterhin wegzubleiben. Das hier erinnert mich alles zu sehr an … damals.“

Er schluckte schwer. Rosas gemurmeltes „Kann ich mir vorstellen“ ging im Kiesknarzen unter, als Emil sich auf die Beine stemmte.

„Ich sollte los“, sagte er und hob eine Hand zum Abschied.

„Hättest du Lust, noch was mit mir zu trinken?“, fragte sie eilig. Sie hatte wenig Hoffnung, dass er Ja sagen würde, wollte jedoch nicht, dass er schon ging.

Sein Anblick bei der Beerdigung, der Zug aus Trauernden, das Wort erhängen, das plötzlich wieder in der Luft lag, Fräulein Stadlers merkwürdige Abschiedsworte, die eine Verbindung ihres Tods mit der Vergangenheit nahelegten … Es war, als ob sich das Damals plötzlich mit dem Heute verknüpfte. All das hatte in Rosa ein aufgeregtes Flattern ausgelöst, wie es der Anklang einer neuen Geschichte immer tat. Noch wusste Rosa nicht, wohin diese führen würde, ob sie überhaupt irgendwohin führte, aber mit Emil zu sprechen, fühlte sich wie ein erster, wichtiger Schritt an.

Emils Ton nahm etwas Entschuldigendes an, als er antwortete: „Ich glaube nicht, dass ich mich in eines der Wirtshäuser setzen und von den Leuten anstarren lassen will.“

„Da fällt mir etwas Besseres ein“, entgegnete Rosa – und grinste.

***

Wenig später saßen sie und Emil an einer verlassenen Bushaltestelle am Rand des Dorfs, ein Sixpack Bier, das sie in der Tankstelle gekauft hatten, zwischen sich. Tunafish knabberte an einem Spielzeugknochen. Es war einer der Lieblingsorte der Dorf-Teenager, um sich heimlich zu betrinken. Zumindest war es so gewesen, als Rosa noch hier gelebt hatte.

Sie saßen eine Weile ruhig nebeneinander, redeten kaum, nahmen nur hin und wieder einen Schluck und sahen den wenigen Autos nach, die an ihnen vorbeifuhren. Als wüsste keiner der beiden so recht, wie sie das Gespräch beginnen sollten.

„Irgendwie hast du dich so gar nicht verändert“, stellte Emil irgendwann fest.

Dabei ließ er seine Augen einen Moment lang auf Rosas Hals ruhen, um den eine Perlenkette mit einem übergroßen Anhänger in Pudelform lag, der ein wenig Fröhlichkeit in ihr Traueroutfit hatte bringen sollen. Schon als Kind hatte sie einen, wie ihre Mutter es nannte, ausgefallenen Sinn für Mode besessen.

„Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll“, meinte sie schmunzelnd. „Im Grunde sagst du mir, ich ziehe mich immer noch an wie eine Siebenjährige.“

Das brachte ihn zum Lachen. „Ist das etwas Schlechtes?“

„Vielleicht. Du hast dich aber auch kaum verändert“, gab sie zurück und war sich selbst nicht sicher, ob das die Wahrheit oder eine Lüge war.

„Ich hoffe doch, dass ich mich zumindest ein bisschen weiterentwickelt habe“, sagte er, wobei er ihren Blick mit seinem einfing.

„Ich war überrascht, dass du dich überhaupt an mich erinnerst“, sagte Rosa. „Es ist ganz schön viel Zeit vergangen, seit du Kirchbach verlassen hast.“

„An mich erinnern sich dafür noch alle, würde ich vermuten.“ Er seufzte. „Es passiert ja nicht alle Tage, dass …“ Er schluckte. Die gespielte Fröhlichkeit verrutschte. „Ich wette, alle erinnern sich noch an meine Familie. An meinen Vater und daran, was ihm vorgeworfen wird.“

Rosa war einen Moment lang sprachlos. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er das Thema ansprechen würde. Und was für eine merkwürdige Wortwahl. Vorgeworfen. Als bestünde irgendein Zweifel an Josef Bergers Schuld. Trotzdem nickte sie. Wie hätte man es auch vergessen sollen, dieses Ereignis, das die gesamte Gemeinde in Schwarz getaucht hatte?

„Ich erinnere mich. Und es tut mir leid, dass …“

„Schon gut“, winkte Emil ab. „Ich habe in meinem Leben mehr als genügend Beileidsbekundungen erhalten.“

Rosa schluckte. Obwohl sie von Natur aus keine Plaudertasche war, hatte sie in ihrem Job gelernt, aus sich herauszugehen, die richtigen Fragen zu stellen – die bohrenden, von denen ihr Gegenüber hoffte, dass sie eben nicht gestellt werden würden – und sich auch durch unangenehme Gespräche zu manövrieren. Doch mit Trauer hatte sie nie gut umzugehen gewusst und mit Trauernden noch weniger.

„Vermisst du Kirchbach?“, fragte Rosa deshalb.

„Vermissen wäre das falsche Wort. Dafür lebe ich schon zu lange nicht mehr hier. Mein Alltag, meine Routine, mein Job, mein Zuhause, das ist alles schon seit Ewigkeiten in Salzburg.“

„Du wohnst also in der Stadt?“ Rosa legte den Kopf schief. „Dann sind wir ja fast so was wie Nachbarn. Schade, dass wir uns nicht früher mal über den Weg gelaufen sind.“

Darauf antwortete Emil überhaupt nichts.

„Ich habe auch keine Freunde mehr hier“, fuhr Rosa darum fort. „Mein Vater lebt noch in Kirchbach und ich habe einige Bekannte, wobei unsere Bekanntschaft sich darauf beläuft, dass wir uns auf der Straße grüßen.“

„Hmm“, machte Emil bloß.

„Wie gefällt es dir in Salzburg?“, wechselte sie in dem Versuch, ihn zum Reden zu animieren, das Thema.

„Ganz gut.“

Sie stellte noch ein paar unverfängliche Fragen, bekam aber weiterhin nur einsilbige Antworten. Offensichtlich stand Emil nicht der Sinn danach, über Salzburg oder ganz allgemein über sich und sein Leben zu sprechen. Also wechselte sie erneut das Thema.

„Hast du von Frau Stadlers Abschiedsbrief gehört?“

Emil legte den Kopf schief. „Nein. Was hat sie denn geschrieben?“ Endlich wirkte er interessiert.

„Nur eine einzige Zeile. Dass sie es nicht hätte für sich behalten sollen, hat sie geschrieben.“

„Was denn für sich behalten?“

„Das ist die Frage aller Fragen.“

„Aber du hast eine Vermutung“, stellte er fest.

„Vermutung wäre zu viel gesagt.“ Rosa hatte eine Ahnung, dass mehr hinter den geheimnisvollen letzten Worten der Lehrerin stecken musste, mehr aber auch nicht.

„Du denkst, es hat mit dem zu tun, was mit meiner Familie vor siebenundzwanzig Jahren passiert ist“, mutmaßte Emil. „Weil sie sich auch erhängt hat und weil sie meine und Johannas Lehrerin war. Richtig? Wolltest du deshalb mit mir sprechen?“

Rosa horchte in sich hinein. Hatte sie das vermutet? Ja, irgendwie schon, auch wenn der rationale Teil ihrer selbst es als Spinnerei abgetan hatte. Doch jetzt, in der Dunkelheit der Nacht und mit Emil an ihrer Seite, dessen bloße Anwesenheit die Vergangenheit näher zu bringen schien, kam ihr diese Idee gar nicht mehr so weit hergeholt vor.

„Wenn dem so wäre, wenn es da wirklich einen Zusammenhang gäbe“, fuhr er fort, „was würdest du tun? Ein Buch schreiben?“

„Du hast also mitbekommen, dass ich einen Roman veröffentlicht habe?“, fragte Rosa das Erste, was ihr einfiel.

„Dass ich keinen Kontakt mehr zu den Leuten in Kirchbach habe, heißt nicht, dass ich mich nicht für sie interessiere“, antwortete Emil. „Ich habe das Buch nicht gelesen, aber gehört, dass du darin einen echten Mordfall aufgearbeitet hast. Und ich vermute, du bist bereits auf der Suche nach neuen Ideen.“

Hatte Emil recht? Ja, irgendwie schon. Das Gefühl, das sie verfolgte, seit sie das erste Mal von der kryptischen Abschiedsnachricht der Lehrerin gelesen hatte, war dem ähnlich, das sie rund um die Recherche zur unsichtbaren Krankenschwester begleitet hatte. Ihr erster und bisher letzter investigativer Roman, der das Verschwinden, die tragische Suche nach und schließlich den bewiesenen Mord an einer jungen Krankenschwester aufarbeitete, war zwar kein kommerzieller Erfolg gewesen, hatte ihr aber ein nettes Taschengeld und Kontakte in der Literaturwelt verschafft. Nun galt es, einen neuen Fall zu Papier zu bringen. Nur dass an die nicht so leicht zu kommen war. Frau Stadlers Tod, so tragisch er auch sein mochte, würde kaum genug Stoff für einen ganzen Roman hergeben. Doch verknüpft mit dem Schicksal von Emils Familie hätte die Geschichte alles, was ein Bestseller brauchte: Geheimnisse, die über Jahrzehnte im Verborgenen lagen, ein trauriges Schicksal, Kindertränen …

Emil deutete ihr Schweigen richtig. „Du willst also ernsthaft ein Buch über meine Familie schreiben?“ Er klang ungläubig. „Wieso? Was versprichst du dir davon?“

Rosa nahm einen tiefen Schluck, um die Nerven zu beruhigen, und dann gleich noch einen. Sie hatte keine Ahnung, was sie sich davon versprach. Alte Geheimnisse, neue Tragödien, vielleicht auch gar nichts. Sie wusste nicht, was sie erwartete, sollte sie sich tatsächlich in die Ermittlungen stürzen. Es war durchaus möglich, sogar wahrscheinlich, dass Henriette Stadlers Suizid und der Berger-Mord überhaupt nichts miteinander zu tun hatten.

„Die Wahrheit.“ Sie zuckte die Schultern, seufzte dann und ließ den Kopf hängen. „Oder einfach nur zu verstehen, warum dein Vater getan hat, was er getan hat. Willst du das nicht auch?“

„Er war ein irres Monster, das den Bezug zur Realität verloren hat. So stand es zumindest in Dutzenden Zeitungen. Hast du die Berichte nicht gelesen?“ Emil klang bitter.

„Und du glaubst das auch?“

„Nach dem Tod meiner Mutter wurde er wirklich etwas … in sich gekehrt.“ Die Erwähnung seiner Mutter hatte die Bitterkeit aus seiner Stimme vertrieben. „Sie ist gestorben, als ich fünf war, zwei Jahre bevor … vor allem. Ich erinnere mich noch an sie, weißt du? Daran, wie sie mir vor dem Schlafengehen Lieder vorgesungen hat. Oder wie sie die Stimme verstellt hat, wenn sie mir Geschichten erzählt hat. An den Geschmack ihres Spezial-Apfelstrudels. Und an ihren Geruch. Meine Tante meinte, das sei alles Einbildung und ich zu klein gewesen, um mich wirklich an irgendetwas zu erinnern. Dass ich mir nur wünschen würde, ich könnte sie immer noch vor meinem geistigen Auge sehen.“

„Was glaubst du?“

Er zuckte die Schultern. Doch nach ein paar Herzschlägen des Schweigens meinte er: „Ich glaube, die Erinnerungen waren echt.“

„Wie ist sie gestorben?“, fragte Rosa.

„Autounfall.“ Emil senkte den Blick und umklammerte die Flasche fester.

„Erzähl mir von ihr“, bat Rosa.

Er würde Nein sagen. Natürlich würde er das.

Doch er überraschte Rosa. Vielleicht war es das Bier, das seine Zunge lockerte, vielleicht hatte er insgeheim auch jahrelang darauf gewartet, über seine Eltern zu sprechen, denn er sagte, „Sie war wie Sommerregen“, und begann zu erzählen.