Erstes Kapitel
Hitze flimmerte in der Luft. Sein Hemd klebte ihm unter dem immer unbequemer werdenden Gehrock an der Brust. Sein Halstuch würgte ihn fast und seine Hosen scheuerten.
Niall fluchte leise vor sich hin. Er fühlte sich ausgesprochen unwohl und erinnerte sich mit Sehnsucht an die Tage im Soldatenlager, als er und seine Offizierskollegen sich an einem solchen Tag bis auf die Unterwäsche auszogen und sich gegenseitig mit Eimern voll Wasser übergossen hatten. Stattdessen musste er nun, gefangen in einem zivilen Leben, jene Unannehmlichkeiten ertragen und Toms Braut und ihre Freundin begleiten, die sich entschieden hatten, gemeinsam ins Dorf zu gehen.
Die jugendliche Lady Tazewell hatte ihn mit unverhohlener Freude bestürmt, als er aus der Schmiede kam.
„Lord Hetherington! Wie wunderbar! Wir hatten nicht erwartet, Sie vor dem Abendessen zu sehen.“
Niall machte eine Verbeugung und versuchte, erfreut zu klingen. „Meine Damen. Es handelt sich nur um eine Kleinigkeit.“
„Oh, und wir sind auch auf Kleinigkeiten aus, nicht wahr, Jocasta?“
Lady Tazewell warf einen Blick auf ihre Freundin und dann wieder auf Niall. „Delia und ich sind mit Stickarbeiten beschäftigt, müssen Sie wissen, Lord Hetherington.“
„Ja, und wir haben kein Garn mehr.“
Niall stöhnte im Geiste auf, aber irgendeine Reaktion wurde von ihm erwartet. „Ah, eine wichtige Mission, ohne Zweifel.“
Lady Tazewell kicherte und in ihren Augen tanzte der Übermut. „Eine wichtige Ausrede, Lord Hetherington. Man kann kaum von uns erwarten, dass wir an einem solchen Tag zuhause bleiben.“
Zu seinem Leidwesen sahen die beiden Damen in ihren leichten Musselinkleidern und mit Sonnenschirmen bewaffnet absolut frisch aus und ließen sich von der Hitze nicht im Geringsten stören. Verärgerung übermannte ihn. „Ich bin erstaunt, dass Tom einen solchen Ausflug bei diesem heißen Wetter genehmigt hat. Was wäre, wenn eine von Ihnen ohnmächtig würde?“
Daraufhin lachte Lady Tazewell schallend. „Unsinn, wir sind keine derart armen Geschöpfe!“
„Dennoch würde ich Ihnen raten, den Rückweg durch den Wald und nicht auf der Straße anzutreten. Es wird dort ohne Zweifel kühler sein.“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee, findest du nicht auch, Delia?“
„Oh, ja. Deine Wälder sind darüber hinaus auch noch so schön.“
Miss Burloyne beäugte ihn mit einem ausgesprochen intensiven Blick, und Nialls Selbsterhaltungstrieb setzte ein. Er suchte in seinem Kopf nach einer Ausrede, aber zu spät.
„Warum begleiten Sie uns nicht, Lord Hetherington?“
„Delia! Wir können ihn unmöglich belästigen. Ich bin sicher, dass er viel zu viel zu tun hat, nicht wahr, Lord Hetherington?“
Dies wurde mit hochgezogenen Augenbrauen vorgetragen, die eindeutig eine verneinende Antwort verlangten. Das Letzte, was er wollte, war, durch den Wald zu trödeln, vor allem, wenn er den starken Verdacht hegte, dass man hinter ihm her war. Aber Tom war jetzt nicht nur sein Nachbar, sondern auch ein alter Schulfreund, und Niall wusste, dass er in allen Fragen der Höflichkeit pingelig war.
Er fand sich also mit dem Unvermeidlichen ab und verbeugte sich leicht. „Nur mein Pferd, das beschlagen werden muss. Wenn Sie mir erlauben, Sie zu begleiten, meine Damen, kann ich sehr wohl später zurückkommen und es abholen.“
Miss Burloyne errötete, und Lady Tazewells Lächeln hüllte ihn ein. Niall unterdrückte ein weiteres Stöhnen und wandte seine Schritte in die der Taverne entgegengesetzte Richtung, wohin er in der Hoffnung auf einen kühlenden Krug Bier unterwegs gewesen war.
Gemeinsam überquerten sie den Dorfanger und gelangten in den Wald, der an Itchington Bishops grenzte, und betraten das Gelände von Tazewell Manor.
Wie es dazu gekommen war, konnte er nicht ergründen, aber Niall fand sich neben Miss Burloyne wieder, während Lady Tazewell ein Stück voraus den Weg entlang stolperte, nachdem sie ihrer Freundin mit einer lockeren Bemerkung seine unfreiwillige Aufmerksamkeit gesichert hatte.
„Delia ist eine erfahrene Näherin, müssen Sie wissen, Lord Hetherington. Sie müssen sich von ihr von der exquisiten Stickerei erzählen lassen, mit der sie gerade beschäftigt ist.“ Damit hüpfte sie davon, offenbar darauf bedacht, Wildblumen zu begutachten, und überließ ihn ihrem schmachtenden Gast.
„Ach, das ist eigentlich gar nichts, Sir. Ich arbeite lediglich an einer Landschaftsszene. Sie ist für meinen Vater zu Weihnachten gedacht, wenn ich sie rechtzeitig fertigstellen und passend rahmen lassen kann. In jedem Fall aber habe ich das Projekt gerade beiseitegelegt.“
„Warum das denn?“, fragte Niall, ohne das geringste ehrliche Interesse.
Miss Burloyne stieß ein Lachen aus, das in seinen Ohren widerhallte. „Um Jocasta bei ihrer Stickarbeit zu helfen, natürlich.“
Lady Tazewells verschmitztes Gesicht blickte über ihre Schulter zu ihnen zurück. „Ich bin so ungeschickt mit der Nadel. Die arme Marianne – meine Schwägerin, wie Sie wissen – hat sich immer über meine Ungeduld beschwert.“
„Ja, aber jetzt, wo Jocasta Herrin ihres eigenen Haushalts ist“, mischte sich Miss Burloyne ein, „kann sie sich der Pflicht nicht mehr entziehen. Ich bin nur zu gern bereit, alles zu tun, um diese Last zu erleichtern.“
Nialls Gefühl, sich im Fegefeuer zu befinden, verstärkte sich zunehmend. War das die Art Konversation, die er von jetzt an zu führen hatte? Er presste einen passenden Kommentar hervor. „Tatsächlich? Aber erzählen Sie mir von Ihrer Landschaft.“
Ohne lange zu zögern, begann Miss Burloyne mit einer anschaulichen Beschreibung der Arbeit, der Niall wenig Beachtung schenkte. Indem er gelegentlich ein zustimmendes oder fragendes Grunzen von sich gab, konnte er seine Gedanken schweifen lassen.
Nicht, dass Miss Burloyne in irgendeiner Weise von der Hand zu weisen war. Durchaus hübsch, wenn auch unauffällig, mit dem deutlichen Manko von Sommersprossen und sandfarbenem Haar. Ihr fehlte die Lebendigkeit ihrer Freundin Jocasta, einer attraktiven Brünetten mit einem kecken, aber einnehmenden Auftreten. Tom war offensichtlich vernarrt in sie. Was nicht war überraschend war, denn Niall wusste, dass sie noch kein Jahr verheiratet waren. Aber wenn die junge Lady Tazewell im Namen ihrer Freundin verkuppeln wollte, war sie dazu verdammt, enttäuscht zu werden. Niall war nicht auf der Suche nach einer Frau. Noch eine ganze Weile nicht.
Er sollte sich, um Gottes willen, erst einmal mit der Verwaltung seines Anwesens vertraut machen und seine Pächter besser kennenlernen, bevor er einem Pfarrer in die Falle ging. Obwohl eine Heirat unvermeidlich war, nun da er die Grafschaft geerbt hatte.
Das belastende Gefühl der Bedrückung, das ihn immer wieder plagte, drohte zurückzukehren, und Niall stieß es zurück. Warum alle glaubten, er wäre überglücklich, konnte er nicht verstehen. Viel eher war es eine Tragödie. Und eine immense Verantwortung, von der er nie gedacht hätte, dass sie je auf ihn zukäme. Wer hätte gedacht, dass Roland Lowrie – ein kerngesunder Mann, wie Tom Tazewell bezeugen konnte – zusammen mit seiner Frau und seinen beiden hoffnungsvollen jungen Söhnen von einem Fieber dahingerafft werden würde? Die gesamte Familie – ausgelöscht.
Die Nachricht hatte Niall im November des Vorjahres erreicht, am Vorabend der Schlacht gegen die Streitkräfte des Maratha-Reiches in Indien. Im September hatte er unter dem Kommando von Lord Arthur Wellesley zur Unterstützung der britischen Ostindien-Kompanie in Assaye gekämpft – eine Schlacht in einem Feldzug, der an mehreren Fronten in der Region geführt wurde. Nachdem jener Konflikt mit einem harterkämpften Sieg zu Ende gegangen war, war Niall sich seines neugewonnenen Vermögens gerade so bewusst geworden, und erst nach Weihnachten konnte er zurück nach England segeln. Als er im Frühsommer 1804 in Lowrie Court eintraf, war das Anwesen bereits fast ein Jahr lang vernachlässigt worden.
Die Anwälte hatten sich die Zeit genommen, Niall ausfindig zu machen und mehrere Generationen zurückzugehen, um die entfernte Verwandtschaft zu ermitteln. Er war ein Cousin, und niemand war mehr erstaunt als Colonel Niall Lowrie selbst, dass er nun ein Earl war. Erstaunt und entsetzt. Anstatt den Beruf, den er wegen des Umherreisens und der Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen liebte, weiter auszuüben, musste er Abenteuer und Aufregung gegen die Eintönigkeit des Landlebens und die Langeweile des gesellschaftlichen Geplauders eintauschen, mit dem er gerade beschäftigt war.
„Meinen Sie nicht auch, Lord Hetherington?“
Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, blickte Niall zu Miss Burloyne und sprach ohne nachzudenken. „Ich bitte um Verzeihung. Ich habe nicht zugehört.“
Ihre Stimmung trübte sich sichtlich, und er fühlte sich zugleich verärgert und schuldig. Bevor er sich entschuldigen konnte, rief Lady Tazewell mit dringender Stimme: „Himmel, was ist denn das? Was ist da passiert?“
Niall blickte in ihre Richtung und sein Blick fiel auf eine Gestalt, die halb über dem Weg lag. Er schritt vorwärts, ging an Lady Tazewell vorbei und kniete neben der reglosen Gestalt nieder.
Es handelte sich um eine Frau, und ein Blick auf ihre Kleidung verriet Niall, dass sie vornehm, wenn auch nicht gerade modisch gekleidet war. Er betrachtete ihr Gesicht und fand es totenblass, die Augen geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. Ihr Arm war zur Seite gefallen, und Niall griff nach ihrer unbehandschuhten Hand und legte seine Finger um ihr Handgelenk.
„Lebt sie?“
Ein schwacher Pulsschlag belohnte seine Suche, und er nickte, wobei er sich nur halb der beiden Damen bewusst war, die sich über die liegende Gestalt beugten. Niall berührte ihr Gesicht mit dem Handrücken und stellte fest, dass es sich warm anfühlte und ein wenig feucht war. „Ich glaube, die Hitze hat sie überwältigt.“ Er sah zu den beiden besorgten Gesichtern auf. „Treten Sie bitte etwas zurück. Ich muss nachsehen, ob sie gebrochene Knochen hat.“
„Was, Sie wollen sie untersuchen?“, fragte Miss Burloyne in schockiertem Tonfall.
Ungeduld überkam Niall. „Natürlich. Ich bin kein Chirurg, aber ich werde schnell feststellen können, ob sie sich etwas gebrochen hat.“
Mit festem Griff, aber behutsam, tastete er nacheinander jedes Glied ab und ließ seine Hände ohne Scheu über die Beine der Frau gleiten. Sie war erschreckend dünn, wie er feststellte, aber ihre Knochen schienen intakt zu sein.
Niall nahm ihre Hand und begann sie zu reiben, wobei er zu Lady Tazewell aufblickte. „Kennen Sie sie, Ma’am?“
„Ich habe sie noch nie gesehen. Aber ich kenne auch noch nicht alle Menschen in der Umgebung.“
„Aber Sie wüssten doch sicher, wenn sie aus dem Dorf wäre?“
Nialls Augen waren wieder auf das Gesicht der Frau gerichtet. Sie sah aus, als wäre sie kein Mädchen mehr, ihr Kleid aus rostbraunem Musselin war sittsam, ihr Haar nach hinten gebunden, obwohl es sich bei ihrem Sturz offenbar gelöst hatte. Es war dunkel und dieser Kontrast betonte die Blässe ihres Gesichts nur noch mehr. Niall betrachtete die hohlen Wangen, bemerkte dunkle Ringe unter den Augen und Furchen von der Nase zum Mund, die bei einem so jungen Menschen untypisch waren. Niall hatte genug Wunden und Krankheiten gesehen, um die Anzeichen zu erkennen. Hatte die junge Frau in dem Dorf an dem gleichen Fieber gelitten, das seinen Vorgänger dahingerafft hatte?
Noch während er sie weiter beobachtete, erzitterten die dunklen Wimpern, die Lippen bewegten sich, als wollte sie sprechen, und ihre Augen flatterten auf.
Niall beugte sich über sie. „Versuchen Sie noch nicht, sich zu bewegen. Ich glaube, Sie müssen in Ohnmacht gefallen sein.“
Bestürzung trat in ihre Augen, die eine seltsame, helle Farbe zwischen Grau und Blau hatten, und sie schreckte auf.
„Nein, bleiben Sie ruhig!“
Sie ließ sich zurücksinken und starrte zu ihm herauf. „Wer sind Sie?“
„Ich bin Hetherington. Haben Sie keine Sorge. Wir sind diesen Weg entlang gelaufen und haben Sie hier liegen sehen.“
Ihre Augen blinzelten zu ihm auf und wanderten zu den stillen Bäumen über ihnen. Sie hielt sich schwankend die Hand vor den Kopf und bewegte sich leicht, wobei sie offenbar die beiden Damen erblickte, die in einiger Entfernung standen.
„Oh! Wer …? Das ist … Ich muss aufstehen!“
Ihre Stimme klang plötzlich beunruhigt, und Niall fing sie auf, als sie sich mühsam aufrichtete.
„Wenn Sie aufstehen müssen, erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen. Wir wollen doch nicht, dass Sie noch einmal umkippen.“
„D…danke … sehr freundlich …“
Ihre Stimme war dünn wie ein Faden, und Niall, der seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte, spürte, wie sie zusammensank.
„Nein, Sie sind noch nicht stark genug. Aber wir müssen Sie aus diesem Dreck wegbringen.“ Vorsichtig und mit einiger Mühe schob er seinen anderen Arm unter ihre Knie. „Legen Sie Ihren Arm um meinen Hals.“
Sie gehorchte, und Niall machte sich daran, mit ihr in den Armen aufzustehen, was bei seinen Begleiterinnen zu Protesten und Ausrufen führte.
„Meine Güte, Hetherington, schaffen Sie das?“
„Sollen wir helfen?“
Niall schüttelte den Kopf. „Es ist einfacher, wenn ich sie allein trage. Aber wenn Sie sich vielleicht nach einem geeigneten Baumstamm umsehen könnten?“
Die beiden jungen Frauen schnatterten wild, als sie sich in der unmittelbaren Umgebung umschauten, und Niall gelang es, sein Gleichgewicht zu halten und aufzustehen, wobei er seine Last sicher trug. Er verlagerte das Gewicht auf seinen Armen und stellte fest, dass sie leichter war als erwartet.
„Sie sind Haut und Knochen! Waren Sie krank?“
Ihr Kopf war gegen seine Schulter gefallen, aber sie hob ihn leicht an.
„In letzter Zeit, ja. Ich bin … ich bin offenbar nicht so gut erholt, wie ich dachte. Es tut mir leid, dass ich so ein Ärgernis bin.“
„Seien Sie nicht dumm“, sagte Niall in einem bestimmenden Ton und war überrascht, ein kleines Lachen zu hören. Er grinste auf sie hinab. „Nun, Sie hören sich zumindest etwas besser an.“
„Mein Kopf wird wieder klarer.“
„Ausgezeichnet. Wenn wir Sie jetzt noch irgendwo hinsetzen könnten …“
„Hier drüben, Lord Hetherington!“
Als Niall in die Richtung blickte, aus der die Stimme von Miss Burloyne kam, sah er sie gestikulieren und erkannte, dass die beiden Damen tatsächlich einen Baumstumpf entdeckt hatten. Lady Tazewell stand dahinter und deutete mit ihren offenen Armen an, dass er sich als Sitzgelegenheit eignete.
Es war ein kleines Stück in den Wald hinein, und seine Stiefel knirschten über herabgefallene Zweige und Geröll, als er an den Bäumen vorbei dorthin ging. An der Stelle angekommen, setzte er die junge Frau ab, wobei er darauf achtete, sie an den Schultern festzuhalten, bis sie in der Lage war, selbst zu sitzen. Sie umklammerte die Ränder des Stumpfes und schaute ihn an.
„Ich danke Ihnen. Ich komme jetzt zurecht.“
Niall sah in ihr blasses Gesicht und war nicht überzeugt. „Sind Sie sicher?“
„Ja, in der Tat. Wenn ich hier eine Weile sitze, wird es mir gleich besser gehen.“
Niall löste seinen Griff, seine Hände waren jedoch bereit, sie bei Bedarf wieder zu packen. Aber sie blieb aufrecht sitzen, wenn auch ein wenig wackelig.
Die anderen Damen traten näher heran.
„Na also! Armes Ding, war es die Hitze?“
„Sie sehen immer noch furchtbar blass aus“, sagte Lady Tazewell und musterte die junge Frau kritisch. „Ich frage mich, ob wir sie zum Herrenhaus bringen sollten.“
Die junge Frau blinzelte daraufhin unruhig. „Oh nein, machen Sie sich bitte keine Mühe. Ich will Sie nicht aufhalten. Ich werde jeden Augenblick wieder zurück zum Pfarrhaus gehen können.“
Lady Tazewells Gesicht zeigte Überraschung. „Oh, Sie müssen die Nichte von Reverend Westacott sein. Er sagte, Sie würden erwartet.“
Ein kleines Lächeln, dann ein Stirnrunzeln. „Ich bin Edith Westacott. Und Sie müssen Lady Tazewell sein.“
„Die bin ich, und das ist meine Freundin, Miss Burloyne.“
Miss Westacott blickte sie alle nacheinander an. „Sie sind alle sehr freundlich, aber bitte unterbrechen Sie Ihren Spaziergang nicht meinetwegen.“
Niall fuhr schnell dazwischen. „Unsinn. Man kann Sie natürlich nicht allein zum Pfarrhaus zurückgehen lassen. Ich werde Sie begleiten, wenn es Ihnen besser geht.“
„Wir werden Sie alle begleiten“, sagte Lady Tazewell fröhlich.
Miss Burloyne sah weniger zufrieden aus, aber Niall schlug diesen Vorschlag so oder so ohne zu zögern aus. Das Letzte, was die Frau jetzt brauchte, waren zwei schnatternde Elstern an ihrer Seite.
„Ich denke, Lady Tazewell, Sie und Miss Burloyne sollten besser zum Herrenhaus zurückkehren. Ich muss auf jeden Fall zurück ins Dorf, wie Sie sich erinnern werden. Sie können Miss Westacott mir überlassen.“
In der Miene der jungen Lady Tazewell blitzte ein Anflug von Verärgerung auf, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach Miss Westacott.
„Ich möchte mich Ihnen nicht aufdrängen, Lord Hetherington. Bitte machen Sie sich keine …“
„Sparen Sie sich den Atem, Ma’am. Ich komme mit Ihnen.“ Niall machte eine kleine Verbeugung. „Meine Damen, wir werden uns beim Abendessen treffen.“
Niall glaubte, Enttäuschung in Miss Burloynes Gesicht zu erkennen, und bedankte sich im Geiste für Miss Westacotts unerwartetes Auftauchen auf ihrem Weg. Lady Tazewell streckte der Leidenden die Hand entgegen.
„Eine unglückliche Art, sich kennenzulernen, Miss Westacott. Ich hoffe, dass wir uns bald unter angenehmeren Umständen begegnen werden.“
Die junge Frau nahm kurz ihre Hand, und Niall bemerkte die Vorsicht in ihrem Tonfall.
„Vielleicht tun wir das. Ich danke Ihnen.“
Erleichtert, dass Lady Tazewell ihren mehr oder weniger gezwungenen Abschied gut verkraftet hatte, sah Niall den beiden Damen hinterher und war nicht überrascht, sie fast sofort mit zusammengesteckten Köpfen zu sehen. Zweifellos spekulieren sie über die Ankunft von Miss Westacott in der Gegend. Er drehte sich wieder zu ihr um. „Wie fühlen Sie sich jetzt?“
„Oh, mir geht es schon viel besser.“
Niall betrachtete ihr blasses Antlitz. „Sie sehen nicht so aus.“
Sie hob eine Hand zu ihrem Gesicht und betastete ihre Wangen. „Sie sehen mich nicht von meiner besten Seite, fürchte ich, Mylord. Ich habe einiges an Gewicht verloren, müssen Sie wissen.“
„Das kann ich mir vorstellen. War es das Dorffieber?“
Sie sah erschrocken aus. „Dorffieber? Nein, ganz und gar nicht. Ich lebe schon seit Jahren nicht mehr im Dorf.“
„Ah, ich verstehe. Ich habe mich nur gewundert, weil mein Cousin und seine Familie vor einigen Monaten daran verstorben sind.“
„Sie haben hier gewohnt?“
„In Lowrie Court, ja. Ich bin selbst erst vor kurzem hier angekommen.“
„Lowrie Court? Oh, dann seid Ihr der neue Herr! Ich hätte nicht gedacht … Es tut mir so leid, von dieser Tragödie zu hören.“
„Ich danke Ihnen, aber ich will nicht so tun, als ob ich mehr als das gewöhnliche Bedauern über so viele verlorene Leben empfinde. Ich habe meinen Cousin nie getroffen.“
Sie antwortete nicht. Sie musste Roland Lowrie gekannt haben, hielt sich aber offensichtlich damit zurück, weiter über das Thema zu sprechen. Noch weniger bereit, darüber zu sprechen, sagte auch Niall nichts mehr.
Fast sofort begann Miss Westacott unruhig zu werden und rieb ihre Daumen an ihren Fingern. Niall runzelte die Stirn. War ihr etwas peinlich? Aber warum?
„Sie scheinen ein wenig beunruhigt zu sein, Miss Westacott.“
Sie blickte auf, und er war erneut von der seltsamen Farbe ihrer Augen beeindruckt.
„Ich schäme mich, Euch solche Umstände zu machen, Sir. Ich hätte mich nicht hinauswagen sollen. Nur fühlte ich mich so bedrängt, dass ich …“
Ihre Stimme erstarb und wieder sah sie befangen aus. Neugierig geworden, wagte Niall eine Frage.
„Bedrängt? Durch die Hitze?“
„Nein! Oh … ja, sie ist viel zu viel. Eigentlich zu heiß, um spazieren zu gehen, wenn …“
„Wenn man noch nicht ganz gesund ist“, fügte Niall leichthin hinzu. Die junge Frau war eindeutig aufgeregt. Wenn er mit seiner Vermutung nicht danebenlag, hatte das wenig mit dem Wetter zu tun.
„Es war dumm von mir, genau wie Ihr gesagt habt.“
Niall machte eine kleine Verbeugung. „Ich bitte um Entschuldigung. Ich war unhöflich.“
„Oh, nein, ich wollte nicht …“ Sie holte offensichtlich tief Luft. „Verzeiht mir, Mylord, ich muss mich wie ein Schwachkopf anhören. Ich spreche in der Regel nicht derart zusammenhanglos.“
„Das ist kein Wunder. Sie waren in einer tiefen Ohnmacht. Keiner weiß, wie lange Sie bewusstlos waren.“
Sie starrte zu ihm auf, und in ihren Augen stand Bestürzung. „Sicher können es nicht viele Minuten gewesen sein?“
„Nun, Sie sind erst einige Minuten, nachdem wir Sie gefunden haben, wieder zu sich gekommen. Ich hatte Zeit, nach gebrochenen Knochen zu suchen, und ich habe Ihre Hände eine Weile gerieben.“
Die blassen Wangen färbten sich ein wenig rosa. „Ich habe Euch viel Ärger bereitet, Mylord.“
„Fangen Sie nicht schon wieder damit an.“ Niall warf ihr einen beruhigenden Blick zu. „Lassen Sie uns diesen Unsinn bitte ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Das hier ist für mich kein Ärger. Sie müssen wissen, dass ich als Soldat daran gewöhnt bin, mit dem Unerwarteten umzugehen.“
Sie betrachtete ihn auf eine Art und Weise, die Niall nur als abschätzend bezeichnen konnte.
„Ich hätte es mir denken können, wenn ich ein bisschen mehr bei Sinnen gewesen wäre.“ Ein Lächeln erhellte ihr Antlitz. „Die militärische Haltung ist unverkennbar.“
„Leider bin ich kein Mann des Schwertes mehr.“
„Ihr seid ausgeschieden?“
„Ich hatte keine Wahl.“
Er schloss den Mund, verärgert darüber, dass er sich in ein Gespräch über seine persönlichen Angelegenheiten hatte verwickeln lassen. Es fiel ihm auf, dass Miss Westacotts Art der Gesprächsführung wenig mit Firlefanz zu tun hatte. Erfrischend. Er konnte sich sogar darauf freuen, sie zurück ins Pfarrhaus zu begleiten.
„Meinen Sie, Sie sind jetzt bereit, den Heimweg anzutreten?“
Miss Westacott sah sofort wieder gehemmt drein, und Niall bedauerte, dass er gesprochen hatte.
„Ja, durchaus. Wir brauchen hier nicht länger zu trödeln.“
Sie machte Anstalten, von dem Baumstumpf aufzustehen, und Niall kam ihr sofort zu Hilfe, nahm ihren Arm in einen festen Griff und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Sie schwankte ein wenig, dann richtete sie sich auf und streckte entschlossen ihre Glieder.
„Ich danke Euch, Mylord! Ich glaube, ich schaffe es jetzt.“
Niall ignorierte dies. „Führen Sie Ihre Hand durch meinen Arm. Gut. Sie werden mich sofort informieren, wenn Sie bemerken, dass Sie schwächer werden, ist das klar?“
Sie blickte zu ihm auf und stieß das kleine Lachen aus, das er schon von vorhin kannte.
„Ich verstehe Euch vollkommen, Sir.“
Niall führte sie in gemäßigtem Tempo durch die Bäume, sein Tonfall war währenddessen reumütig. „Ich bitte um Verzeihung, Miss Westacott. Ich bin zu sehr daran gewöhnt, das Kommando zu haben.“
„Das merke ich.“
Ihre Stimme klang neckend, und er musste lachen.
„Aufmerksam von Ihnen.“
„Nun, es ist ziemlich offensichtlich, wissen Sie.“
„Daran zweifle ich nicht. Ich habe versucht, ironisch zu sein.“
„Oh, das war mir nicht klar. Ihr müsst die Schuld dafür bei der Unordnung meines Geistes suchen.“
Niall blickte auf sie hinab. „Ihr Geist ist alles andere als in Unordnung, Ma’am. Er ist so scharf wie ein Messer.“
Sie lachte auf. „Ich bin froh, dass mein Zustand diese Tatsache nicht verschleiert hat.“ Und dann legte sich ein Hauch von Reue in ihre Stimme. „Oh, nein, ich darf Euch nicht necken. Ihr wart unermesslich freundlich zu mir.“
„Ruinieren Sie es nicht, Miss Westacott. Ihr Biss ist mir viel lieber als Ihre Gefälligkeit.“
Wieder das kleine Lachen. „Ich sehe, ich kann Euch nicht zufriedenstellen, Sir. Ich werde meine Bemerkungen auf das Alltägliche beschränken.“
„Der Himmel steh mir bei! Ich bitte Sie, tun Sie das nicht. Ich habe mich nicht mehr so gut amüsiert, seit ich in dieses gottverd… in dieses Dorf gekommen bin.“
„Oh je. Ich muss meinen Onkel bitten, seinen Gebeten für das Wiedererscheinen des Allmächtigen mehr Nachdruck zu verleihen.“
Niall brach in Gelächter aus. „Aber Sie sind entzückend, Miss Westacott!“
Die Gestalt an seiner Seite versteifte sich augenblicklich, und Niall hatte das Gefühl, als würde er eine Statue begleiten. Sie antwortete nicht, und er wurde sich bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte.
„Was ist denn? Darf ich Ihnen kein Kompliment machen?“
Ihre Augen blitzten auf, wieder einmal voller Bestürzung. Ihre Stimme klang entschuldigend. „Oh, nein! Verzeiht mir, ich … es war nicht …“ Er hörte einen tiefen Atemzug und in ihrem Tonfall lag Entschlossenheit. „Lassen Sie uns bitte über etwas anderes reden, Sir.“
Aber die Stimmung war dahin, und Niall fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Zweites Kapitel
Innerlich schimpfte Edith über sich selbst und suchte nach einem unverfänglichen Thema, das sie anschneiden konnte. Töricht, so empfindlich zu sein. Er hatte die Bemerkung nicht böse gemeint, und ihr unwillkürliches Zusammenzucken war ungerechtfertigt. Selten hatte sie so wenig Kontrolle über sich selbst. Das musste die Folge ihrer Ohnmacht sein, sodass sie sich wieder vorwerfen musste, sich hinausgewagt zu haben.
„Dumm, dumm.“
„Wie bitte?”
Edith hatte nicht bemerkt, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Wieder war es ihr unangenehm, aber sie bemühte sich um Leichtigkeit. „Ich habe mich selbst für meine Dummheit gescholten, Sir.“
„Welche Dummheit im Besonderen hatten Sie dabei im Sinn?“
Ein Lachen entwich ihr und sie blickte zu ihrem Begleiter auf. Sein Blick war die Unschuld selbst, aber sie ließ sich nicht täuschen.
„In diese Falle werde ich nicht tappen, Mylord. Ich weiß genau, dass Ihr mich auf den Arm nehmt.“
Seine Lippen schürzten sich und ein winziges Flattern störte Ediths Puls auf. Sie unterdrückte die aufkommende Anziehung. Lord Hetherington und sie durften nichts miteinander zu tun haben.
Auch konnte sie ihn, jetzt, wo sie die Muße hatte, ihn mit weniger verwirrtem Verstand zu betrachten, keinesfalls für einen gut aussehenden Mann halten. Sein Teint war dunkler, seine Haut etwas rau und wettergegerbt, und seine linke Wange sowie sein Kiefer waren von einer entstellenden Narbe gezeichnet. Aber seine Gesichtszüge waren unter dem Schopf voll kastanienbrauner Locken, die der Kastorhut kaum verbarg, kräftig.
Nein, diese Merkmale konnten nur wenig attraktiv sein. Doch seine souveräne Ausstrahlung und sein kaum zu bändigender Elan verströmten eine Energie, die Edith anzog, als könnte sie davon trinken, um ihre verbrauchte Lebenskraft zurückzuerlangen.
„Sind Sie langsam erschöpft?“
Sie sammelte ihre verstreuten Gedanken zusammen. „Nein, durchaus nicht, Sir. Ich komme sehr gut zurecht. Es ist nur noch ein Katzensprung bis zum Dorf.“
Durch die Bäume hindurch konnte sie bereits die Kirchturmspitze sehen und atmete erleichtert auf. Trotz ihrer Worte forderte die Anstrengung, sich auf den Beinen zu halten und nicht der lähmenden Schwäche zu erliegen, die sie immer noch plagte, ihren Tribut.
Ihre Kraft verließ sie abrupt, sodass sie stehen bleiben und sich an Lord Hetheringtons Arm festklammern musste. „Einen Moment, Mylord. Lasst mich zu Atem kommen.“
„Sie sind erschöpft! Warum haben Sie mir das nicht gesagt?“
Sie antwortete nicht, dankbar für den Arm, der sich schnell um sie legte, und erlaubte ihrem Begleiter, ihr Gewicht zu tragen, während sie sich in seine Kraft lehnte. Sie atmete langsam ein, wie ihr Arzt es ihr beigebracht hatte, und ließ ihre Glieder entspannen, bis die Atemnot nachließ.
Sie war froh, dass Seine Lordschaft schwieg, und dachte, dass er ein inneres Verständnis für ihr Bedürfnis nach einem kurzen Moment der Ruhe haben müsse. Als sie sich wieder in der Lage fühlte, ihr eigenes Gewicht zu tragen, richtete sie sich auf und spürte, wie sich Lord Hetheringtons Griff lockerte.
„Besser?“
„Sehr viel besser, vielen Dank. Bitte entschuldigt. Ich komme zu leicht außer Atem.“
„Das sehe ich.“ Dem Druck seines Arms gehorchend, begann sie wieder zu gehen. „Wie lange ist es her, dass Sie das Krankenbett verlassen haben?“
Edith konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. „Ein bisschen mehr als eine Woche. Ich war leider gezwungen, nach meiner Ankunft das Bett zu hüten.“
„Sind Sie weit gereist?“
„Aus Bath. Aber es war nicht so sehr die Länge der Reise. Ich war nicht ganz gesund, als ich aufgebrochen bin, wisst Ihr.“
Ein unzufriedenes Grunzen ertönte neben ihr. „Sie meinen, Sie haben Ihr Krankenbett verlassen, um hieher zu reisen. Und das, meine liebe Miss Westacott, war definitiv dumm.“
Getroffen schlug sie zurück, bevor sie ihre Zunge stoppen konnte. „Es war nicht meine Entscheidung, Sir! Hätte mir ein anderer Weg offengestanden, hätte ich die Reise gar nicht erst unternommen.“
Sie spürte, wie er sich neben ihr versteifte. „Ich bitte um Entschuldigung, Ma’am. Das wusste ich nicht.“
„Natürlich wusstet Ihr das nicht. Dennoch habt Ihr Vermutungen angestellt, zu denen Ihr kein Recht hattet.“ Nur mit Mühe konnte Edith den Ausbruch ihres Temperaments kontrollieren. „Verzeiht … Ich neige zu Ungeduld, seit …“
„Keine besonders geduldige Patientin also?“
Ihre Verärgerung verschwand, als sie lachte. „Sie, Sir, sind ein gefühlloser Schuft!“
„Ach! Na, Sie hören sich schon mehr nach sich selbst an.“
„Ich weiß nicht, woher Ihr das wisst, da Ihr mich kaum kennt.“
„Oh, ich glaube, ich kann Sie ganz gut einschätzen, Miss Westacott.“
Erzürnt warf sie ihm einen bösen Blick zu. „Ist das wahr, Lord Hetherington? Nach einer Bekanntschaft von einer knappen halben Stunde, wenn überhaupt?“
„Aber einer ereignisreichen halben Stunde, Ma’am. Es gibt nichts Besseres als eine Krise, um die Fassade abzutragen, hinter der wir alle Schutz suchen.“
Sein Tonfall war ausgenommen zynisch, und Ediths Wut verrauchte wieder.
„Ihr scheint ein zynisches Bild von der Menschheit zu haben, Mylord.“
„Das Soldatentum bringt das Beste und das Schlimmste zum Vorschein, Ma’am, und es bleibt wenig Raum für Affektiertheit. Ich gestehe, dass mir die frivole Haltung, die ich in zivilen Kreisen angetroffen habe, nicht zusagt.“
„Kein sehr ziviler Zivilist also?“
Er brach in Gelächter aus. „Touché, Miss Westacott!“
Ein warmes Gefühl durchströmte Ediths Brust, und sie musste wieder einmal das Gefühl unterdrücken, sich zu dem Mann hingezogen zu fühlen. Vielleicht war es Glück, dass sie in diesem Moment das Dorf betraten und ihre Aufmerksamkeit abgelenkt wurde.
„Wenn wir die Straße links des Angers nehmen, ist das der kürzere Weg zum Pfarrhaus. Dann kann ich durch das Hintertor gehen.“
„Dann lassen Sie uns auf jeden Fall diese Richtung einschlagen.“
Als sie sich der Kurve näherten, die zur Rückseite des Pfarrhauses führte, dachte Edith an ihren Onkel. „Er wird verzweifelt sein.“
„Wer?“
Wieder hatte sie laut gesprochen. Sie beeilte sich, sich zu erklären. „Reverend Westacott. Mein Onkel, wie Ihr wissen müsst. Er ist unermesslich gütig gewesen. Er besteht darauf, dass ich bei ihm bleibe, obwohl ich das Gefühl habe …“
Sie verstummte und ärgerte sich über sich selbst, dass sie einem wildfremden Menschen gegenüber so offen über ihre persönlichen Angelegenheiten gesprochen hatte. Nicht, dass sie es so empfand, wenn sie an seine Worte dachte. Sie kannten sich kaum, aber sie war kurz davor gewesen, sich ihm anzuvertrauen.
Lord Hetherington schien ihr Zögern nicht zu bemerken. „Ich habe ihn noch nicht kennengelernt und bin froh über diese Gelegenheit.“
Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. „Ihr wart seit Eurer Ankunft nicht in der Kirche?“
Er verzog das Gesicht. „Ich bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, aber nein. Ich möchte behaupten, dass es sich dabei um eine Gewohnheit handelt, die ich erst kultivieren muss.“
„Aber Sie müssen doch einen Kaplan in der Armee gehabt haben?“
„Durchaus, aber ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Kirche als solche.“
Für jemanden, der unter der Schirmherrschaft eines Pfarrers aufgewachsen war, erschien eine solche Vernachlässigung fast schon respektlos. Aber Onkel Lionel hatte sowohl Toleranz als auch Nächstenliebe gepredigt, und daher durfte sie niemanden verurteilen. Stattdessen frönte sie ihrer Neugierde. „War es ein hartes Leben als Soldat?“
„Manchmal. Ich habe nie darauf geachtet.“
Ein seltsamer Blick in seinen Augen fiel ihr auf, und sie sprach, ohne nachzudenken. „Ihr wart gern Soldat.“
Er drehte ihr abrupt den Kopf zu. „Ja! Wie kommen Sie darauf?“
Sie konnte nicht widerstehen. „Ich kann Euch ganz gut einschätzen, Mylord.”
Er sah sie an, und sein Gesichtsausdruck lag zwischen Belustigung und Verärgerung. „Ich bin unschlüssig, wie sehr ich es mag, wenn meine eigenen Worte gegen mich verwendet werden.“
„Dann ist es gut, dass wir nur einen Steinwurf von meinem Zuhause entfernt sind, Sir.“ Sie hielt sich am Tor fest, löste sich von seiner Seite und streckte ihm die Hand hin. „Ich muss Euch danken, Mylord, für …“
Er ignorierte die Hand und beugte sich stattdessen vor, um den Riegel zu öffnen. „Ich werde Sie ins Haus begleiten, Miss Westacott.“
„Dazu besteht kein Grund, das versichere ich Euch.“
„Es ist jedoch besser für mein Gewissen, wenn ich mich vergewissere, dass Sie sicher in die Obhut Ihres Onkels zurückgekehrt sind.“
Dazu hatte Edith nichts mehr zu sagen. Sie erlaubte ihm, ihre Hand wieder in seinen Arm zu legen, als sie den Weg hinaufgingen, der in den hinteren Garten führte. Noch bevor sie die Haustür an der Rückseite des Hauses erreichten, öffnete sie sich und das runde, bebrillte Gesicht ihres Onkels erschien, gefolgt von seiner kleinen, korpulenten Gestalt, die ihnen mit einem besorgten Stirnrunzeln entgegeneilte.
„Ede, mein liebes Kind! Bei dieser Hitze draußen zu sein! Was hast du dir nur gedacht? Und wer, um Himmels willen, ist das?“
Edith löste ihre Hand aus dem stützenden Arm ihres Begleiters und ging auf den Vikar zu.
„Das ist Lord Hetherington, Onkel Lionel, der mir freundlicherweise seinen Arm angeboten hat. Ich fürchte, ich bin im Wald ohnmächtig geworden.“
„Ohnmächtig geworden!“ Ihr Onkel packte sie an den Schultern, sein kritischer Blick musterte ihr Gesicht eingehend. „Mein liebes, liebes Kind! Was, um Himmels willen, ist in dich gefahren? Ich wünschte, du hättest mich gefragt …“ Er verstummte und zog sie für einen Moment in eine erdrückende Umarmung. Er hielt den Arm um sie gelegt und reichte ihrem Retter die Hand. „Ich habe nicht das Vergnügen Eurer Bekanntschaft, Sir, aber Ihr habt meine aufrichtige Dankbarkeit. Mein armes Mädchen hier ist noch nicht wieder in der Lage, bei solchem Wetter spazierzugehen.“
In der Erwartung, dass Seine Lordschaft diesem Gedanken zustimmen würde, war Edith überrascht, als er widersprach, während er die Hand ihres Onkels schüttelte.
„Ich nehme an, Miss Westacott brauchte Luft und Einsamkeit, Sir. Ich kann es ihr nicht verübeln, auch wenn es vielleicht ein wenig unvorsichtig war.“
Edith musste lachen. „Ein wenig! Wo Ihr mich doch wegen meiner Dummheit gescholten habt?“
„Hat er das? Dann werde ich mich zurückhalten, meine liebe Ede, aber ich kann dir sagen, als ich dich vom Fenster aus gesehen habe, war ich ziemlich aufgebracht.“
„Ja, das kann ich sehen, Sir“, sagte Edith lachend. „Es tut mir leid, dass Sie sich Sorgen gemacht haben. Aber erlauben Sie mir, Sie einander richtig bekannt zu machen.“
Lord Hetherington hielt eine Hand hoch. „Lassen Sie uns bitte auf die Formalitäten verzichten. Sie sind Reverend Westacott, Sir, und ich bedaure, dass ich Sie nicht früher … äh … aufgesucht habe. Ich bin immer noch mit den Angelegenheiten bezüglich der Ländereien beschäftigt.“
Das Gesicht ihres Onkels nahm den ernsten Ausdruck an, den sie so gut kannte.
„Die Familie Lowrie! Zu, zu tragisch, Sir. Ein achtenswerter Herr und seine Frau so liebenswert.“
Edith hörte ohne Überraschung, was ihr Onkel sagte. Sie wusste, dass seine Sorge aufrichtig war, denn er hatte die Lowries gut gekannt und sie sogar zu ihrer Hochzeit getraut, wie er ihr berichtet hatte. Edith erinnerte sich an Roland Lowrie aus ihrer Jugendzeit, hatte aber seine Frau nie kennen gelernt.
Das Lächeln ihres Onkels kehrte zurück. „Ihr habt also den Titel angenommen, Mylord? Wir haben uns alle gefragt, wer es sein könnte – ich natürlich ganz besonders – obwohl Lord Tazewell so freundlich war, mich ein wenig aufzuklären.“
Lord Hetheringtons Stirnrunzeln veranlasste Edith, dazwischen zu gehen, bevor er antworten konnte.
„Wir dürfen Seine Lordschaft nicht aufhalten. Ich habe ihn schon genug Zeit gekostet.“
Ihr Onkel nahm dies mit seinem üblichen Elan auf. „In der Tat, ja!“ Er ergriff erneut Lord Hetheringtons Hand und drückte sie mit Inbrunst. „Ich stehe tief in Eurer Schuld, Mylord.“
„Unsinn. Es war mir ein Vergnügen, und ich hatte Zeit. Ich warte nur darauf, dass mein Pferd neu beschlagen wird.“
„Bei Jackson’s? Dann müsst Ihr mir erlauben, Euch eine Erfrischung anzubieten, während Ihr wartet. Ihr müsst ausgedörrt sein, Sir. Ich weiß nicht, warum wir hier noch länger herumstehen sollten. Ede, mein liebes Kind, geh rein und setz dich hin, bevor du umfällst.“
Edith, die in den vollgestellten Hausflur geschoben wurde, wusste nicht, ob sie sich freuen oder bedauern sollte, dass Lord Hetherington die Einladung stillschweigend annahm und im Schlepptau ihres Onkels das Haus betrat, der ihn mit lässiger Hand weiter hinein winkte.
„Kommt herein, kommt herein, Mylord. Wir halten in diesem Haus nicht viel von Etikette.“
Innerhalb weniger Minuten wurde Edith auf das bequeme Sofa in dem verwinkelten Familienzimmer im hinteren Teil des Hauses geschoben, während ihr Onkel Lord Hetherington zu einem Sitzplatz ihr gegenüber winkte, in der Nähe eines der bleiverglasten Fenster, die an diesem heißen Tag alle weit offenstanden. Der Vikar eilte zum Klingelzug hinüber, zog daran und kehrte zurück, um seinem Gast Gesellschaft zu leisten.
„Nehmt Ihr ein Bier, Mylord? Für uns beide werde ich Limonade bestellen, Ede. Ich weiß, dass Mrs Tuffin einen frischen Krug gemacht hat, aber Seine Lordschaft bevorzugt vielleicht ein stärkeres Gebräu.“
Lord Hetherington sah amüsiert aus. „Ich nehme ein Glas von Ihrer Limonade, Sir. Ich wage zu behaupten, dass sie erfrischender sein wird.“
„Das finde ich auch, aber ich zeche generell nicht besonders gern, Sir. Man könnte mich jeden Moment rufen, und dann ist ein klarer Kopf essentiell. Und wo ist meine Brille?“
„Du trägst sie, Onkel Lionel.“
Er hob seine Hand, betastete sie und brach in Gelächter aus. „Irgendwann werde ich meinen Kopf vergessen.“
Edith konnte sich eines Blickes auf Lord Hetherington nicht erwehren und stellte erleichtert fest, dass er über die Unbekümmertheit ihres Onkels eher amüsiert als irritiert war.
Er fing ihren Blick auf. „Fühlen Sie sich ein wenig erholt, Miss Westacott?“
„Meine Güte, das habe ich ganz vergessen“, fuhr ihr Onkel sofort dazwischen, ging zu Edith und legte ihr die Hand auf die Stirn. „Solltest du dich nicht ein wenig hinlegen, Ede?“
Sie nahm seine Hand und drückte sie, mehr, um ihn davon abzuhalten, weiter um sie herum zu glucken, als alles andere. „Das werde ich gleich tun. Ich fühle mich schon sehr viel mehr wie ich selbst.“
„Aber ruhen Sie sich wirklich aus, Miss Westacott. Oder besser gesagt, muss ich darauf vertrauen, dass Ihr Onkel dafür sorgt, dass Sie das tun. Für mich besteht kein Zweifel, dass Sie noch zu schwach sind, um durch die Weltgeschichte zu bummeln.“
„Ich habe kaum gebummelt. Und nur weil Ihr Euch entschieden habt, mir zu helfen, habt Ihr nicht das Recht, mir Befehle zu erteilen.“
„Ede, wie kannst du so reden, wenn Seine Lordschaft nur um dein Wohl besorgt ist?“
Edith schloss mühsam die Lippen gegen eine säuerliche Erwiderung und ärgerte sich prompt noch mehr, als Seine Lordschaft ihr einen neckischen Blick zuwarf.
„Ganz genau, Sir. Aber ich fürchte, Miss Westacott ist zu ungestüm für Zurückhaltung.“
Zum Glück für Ediths Temperament kam Mrs Tuffin mit einem großen Tablett hereingewuselt, auf dem der Krug mit der blassen Flüssigkeit stand, garniert mit einigen Zitronenscheiben und gesüßt mit Honig.
„Ich dachte mir, dass Sie danach verlangen würden, Reverend, als ich Miss Ede den Weg entlangkommen sah.“
„Gut mitgedacht, Mrs Tuffin. Aber Sie sind mir ohnehin immer einen Schritt voraus. Was ich ohne Sie tun würde, kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Sie machte einen Knicks und sagte: „Als ob ich nicht wüsste, was Sie mögen, Reverend, nach all dieser Zeit.“
Das Ritual, das sich täglich bis zum Überdruss wiederholte, weckte in Edith das Gefühl, gefangen zu sein, und sie musste sehr an sich halten, nicht zu schreien.
Mrs Tuffin knickste vor ihrem Gast. „Und würde Seine Lordschaft Bier bevorzugen, Sir?“
„Nein, nein, Mrs Tuffin, er wird mit uns Limonade trinken.“ Überraschung schlich sich in die Stimme ihres Onkels. „Aber Sie kennen Lord Hetherington, Mrs Tuffin?“
„Nein, Reverend, aber wenn man im Dorf unterwegs ist, erfährt man zwangsläufig, wer wer ist.“
„Natürlich, natürlich. Das ist meine Haushälterin, Mrs Tuffin, Mylord.“
„Das habe ich mir gedacht.“
Edith war froh über diese kleine Abwechslung und die anschließende Verteilung der Limonade durch die Haushälterin. Sie nahm ihr Glas in eine nicht ganz ruhige Hand und war ihrer kürzlichen Ohnmacht dankbar für die Ausrede. Ihr Onkel würde so nicht daraufkommen, dass es sich eigentlich um die Folge ihrer inneren Unruhe handelte.
Seine Fürsorge und Freundlichkeit, für die sie ihm ewig dankbar sein würde, waren erdrückend geworden, als ihre Kräfte nach ihrer Krankheit langsam zurückkehrten. Das Schreckgespenst der Vergangenheit war kaum schlimmer als das ihrer möglichen Zukunft. Das trödelige Leben im Dorf würde ihr nicht im Geringsten zusagen, aber sie wusste nicht, wie sie dem Drängen ihres Onkels entgegentreten sollte, dass sie dieses Mal vernünftig sein und bei ihm einziehen sollte, wie er es ihr vor Jahren nahegelegt hatte.
Da sie zu schwach war, um darüber nachzudenken, wie sie sich nach dem Debakel in Bath eine andere Stellung verschaffen könnte, war sie gezwungen, seine begeisterte Gastfreundschaft anzunehmen. Aber so nett er auch war und so sehr sie ihn als den Ersatzvater liebte, der er seit ihrer Kindheit gewesen war, konnte Edith nicht ohne Gräuel daran denken, jahrelang unter seinem Dach zu bleiben und sich in eine dieser schnatternden alten Dorfjungfern zu verwandeln, die nichts anderes zu tun hatten, als sich bei den Gemeindemitgliedern ihres Onkels nützlich zu machen. Das Unterrichten, wenn sie auf eine andere Schule hoffen konnte, die sie aufnahm, oder eine private Familie, die eine Gouvernante brauchte, war einem solchen Leben vorzuziehen. Leider betrachtete ihr Onkel eine solche Anstellung als Schufterei und sie konnte ihm nicht begreiflich machen, dass es ihr eine gewisse Freude bereitete, ihre Intelligenz für die Erziehung junger Menschen einzusetzen.
Als sie aus ihrer Träumerei erwachte, fand sie ihren Onkel und Lord Hetherington in eine Diskussion über die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten gegen Holgar in Indien im April verwickelt. Dieser hatte sich nicht mit den anderen Maratha-Herrschern an dem Vertrag vom Dezember beteiligt.
„Wir hatten gehofft, dass Adgaon, wo ich zuletzt stationiert war, den Krieg beenden würde, also hielt ich es für einen besseren Zeitpunkt, auszutreten, als es das nun vielleicht gewesen war.“
„Nun ja, wir müssen hoffen, dass Wellesley und Lake es diesmal ohne Eure Hilfe schaffen, Mylord.“
„In der Tat.“ Lord Hetherington stellte sein leeres Glas ab und erhob sich. „Ich muss gehen, Sir. Ich nehme an, mein Pferd ist inzwischen beschlagen, und mein Gutsverwalter wird sicher schon unruhig auf mich warten.“
„Eddows? Einen ausgezeichneten Mann habt Ihr da, Mylord. Er hat den Laden all die Monate am Laufen gehalten.“
„Das ist mir aufgefallen.“ Er kam zu Edith herüber und schaute sie mit fragendem Blick an. „Ich gehe davon aus, dass Sie keine Nachwirkungen davontragen werden, Miss Westacott. Passen Sie auf sich auf.“
Sie nahm die Hand, die er ihr hinhielt. „Ich muss Euch danken, Sir.“
„Das müssen Sie keineswegs. Eine Kleinigkeit, mehr nicht.“
Edith war sich der Wärme seiner Berührung so bewusst, wie sie es vorher nicht gewesen war, und zog ihre Hand zurück, froh, dass ihr Onkel die Aussage aufgriff.
„Eine Kleinigkeit? Durchaus nicht, Mylord. Wir sind Euch zu Dank verpflichtet. Aber lasst mich Euch zur Tür bringen.“
Er eilte hinaus, und Lord Hetherington folgte ihm, wobei er Edith zum Abschied mit einem Lächeln bedachte. Sie sah ihm nach und bemerkte den geraden Rücken und die kastanienbraunen Wuschelhaare, die in seiner Zeit als Soldat schwer zu bändigen gewesen sein mussten.
Das Verlangen, mit den Fingern durch die Locken zu fahren, überkam sie und sie verbannte es sofort. War sie etwa vor einem abscheulichen Betrug geflohen, nur um erneut einen Irrtum zu begehen? Nein, damit war sie ein für alle Mal fertig. Keinem Mann sollte es mehr erlaubt sein, ihre Fantasie zu erobern, schon gar nicht einem, der in der Gesellschaft so weit über ihr stand, wie es nur möglich war.
Drittes Kapitel
So fade wie der Abend war, ärgerte sich Niall umso mehr über den Vergleich, den er zwischen den Damen im Herrenhaus und der Dame im Pfarrhaus anstellen musste. Dafür musste er Lady Tazewell verantwortlich machen, die – unweigerlich, wie er vermutete – das Missgeschick des Nachmittags zur Sprache brachte.
„Ich hoffe, Miss Westacott ging es nach ihrer Ohnmacht wieder besser. War es die Hitze?“
Niall nickte dem livrierten Diener zu, der darauf wartete, die Suppe auf seinen Teller zu löffeln.
„Es scheint, dass sie kürzlich krank war und sich noch nicht vollständig erholt hat.“
Sofort rief Miss Burloyne: „Armes Ding! Ich dachte schon, dass sie ein wenig ausgezehrt aussieht. Aber sie war in der Lage zu gehen? Sie mussten sie nicht wieder tragen?“
Überrascht über ihr Interesse schaute Niall über den Tisch. „Sie war ein wenig unsicher, aber sie stand auf ihren eigenen Füßen, ja.“
„Ich nehme an, Sie waren gezwungen, ihren Arm zu nehmen?“
„Sei nicht albern, Delia, natürlich musste er das tun“, warf Lady Tazewell ein. „War sie sehr krank? Sie sah beängstigend dünn aus.“
„Oh, in der Tat sehr dünn. Ziemlich abgemagert, um genau zu sein.“
Überrascht von seinem Impuls, dies als Beleidigung zurückzuweisen, zügelte Niall seine Zunge und wechselte stattdessen das Thema. „Eine glückliche Begegnung, wie sich herausstellte, denn ich konnte die Bekanntschaft deines Pfarrers machen, Tom.“
Sein Gastgeber sah von seiner Schüssel auf. „Mein Pfarrer?“
„Reverend Westacott.“
„Ja, mein lieber Freund, aber das Pfarrhaus gehört dir, nicht mir.“
Überrascht starrte Niall ihn an. „Willst du mir sagen, dass das Dorf nicht zu deinem Besitz gehört?“
An dieser Stelle meldete sich Lady Tazewell zu Wort. „Tut es das nicht, Tom? Du meine Güte! Und ich habe Mrs Ashs alte Mutter in ihrem Haus besucht, weil ich dachte, es sei meine Pflicht.“
Ihr Ehemann schenkte ihr ein vernarrtes Lächeln, das in Niall fast Übelkeit aufsteigen ließ.
„Das ist auch gut so, meine Liebe, denn bis Hetherington hier die Gelegenheit hat, zu … äh … zu …“
Er errötete an den Ohren und verstummte, und Niall mischte sich ein, da er keine Lust hatte, die Damen bei dem Thema seiner möglichen Heirat auch noch zu ermutigen.
„Aber wie verhält es sich nun, Tom? Ich dachte, ich hätte die Grenze zwischen unseren Ländereien verstanden, aber ich habe mich wohl geirrt.“
Tom lachte. „Die Wahrheit ist, dass sich die Dorfbewohner als Teil der Grafschaft von Tazewell betrachten und dies schon immer getan haben. Es ist jedoch nicht Teil des Erbteils, und mein Urgroßvater verkaufte das Dorf und seine Umgebung an Rolands Urgroßvater. Zur Bestechung oder vielleicht eine Schuld, denkt mein Vater. Oder es könnte sein, dass die Lowries ihr Land erweitern wollten. Dies ist nicht unser Hauptsitz, wie du vielleicht weißt, also …“
„Ich nehme an, niemand war schockiert darüber, dass das Land verkauft wurde?“
„Ganz recht.“
Niall war noch dabei, sich über die Auswirkungen klar zu werden, als Lady Tazewell mit glänzenden Augen zu ihm herüberlachte.
„Dann scheint es sehr richtig gewesen zu sein, Lord Hetherington, dass Sie Miss Westacott gerettet haben.“
„Ja, in der Tat“, stimmte ihr Schatten zu. „Es ist dann sogar eine Frage der Pflicht.“
Der hoffnungsvolle Ton in Miss Burloynes Stimme war Niall nicht entgangen. Er quittierte ihren Versuch mit einem schwachen Lächeln und wandte sich seinem Essen zu. Aber das Bild von Miss Westacotts blassen Gesichtszügen kam ihm in den Sinn, und er erinnerte sich mit einigem Vergnügen an den Vorfall.
In wenigen Minuten hatte sie bewiesen, dass sie zu intelligenten Gesprächen fähig war, mit einem trockenen Witz und einer gehörigen Portion Mut. Toms Elster von einer Braut hingegen, so lebhaft sie auch war, hatte nichts anderes als das Alltägliche im Kopf. Und was Miss Burloyne anbelangte, an der er allein schon deswegen kein gutes Haar lassen konnte, weil sie es auf eine Ehe mit ihm abgesehen hatte, so hatte er noch nie ein langweiligeres, gedankenloseres Frauenzimmer gesehen.
Er konnte verstehen, warum der etwas gesetztere Tom so fasziniert war, denn die Dame Jocasta Crail, die sie laut ihrem liebevollen Ehemann vor ihrer Heirat gewesen war, war ein keckes kleines Ding mit einem sonnigen Temperament und einer quirligen Persönlichkeit. Offensichtlich hatte sie schon früh gelernt, ihren Ehepartner um den kleinen Finger zu wickeln.
Für ihn selbst war die Aussicht auf ein Leben in Gesellschaft einer Frau, die über nichts anderes als Pelzmäntel, Moden und Klatsch reden konnte – es sei denn, es handelte sich um eine Aufzählung der Eigenschaften ihrer Freundin, die ihn vermutlich dazu bringen sollte, sie für eine geeignete Ehefrau zu halten – ein Gräuel. Wenn er heiratete, was er nun tun musste, da die Erbfolge zu sichern war, wollte er eher eine Gehilfin als eine dekorative Ergänzung seines Vermögens.
In diesem Moment unterbrach Tom seine Rede und warf einen Blick auf seine Frau, die über einen Scherz mit Miss Burloyne kicherte. Lady Tazewell fing den Blick ihres Mannes auf, und das Lächeln, das sie ihm schenkte, war innig und voller Zuneigung.
Niall sah sich gezwungen, seine zynische Meinung zu revidieren. Vielleicht steckte doch mehr in der jungen Frau, als er gedacht hatte. Aber wenn sie glaubte, er würde den Verlockungen, die sie im Namen ihrer Freundin ausstreute, erliegen, hatte sie sich getäuscht.
Der Abend war jedoch nicht völlig umsonst. Es war angenehmer, in Gesellschaft zu speisen als einsam an seiner eigenen Tafel zu sitzen, und das Essen mit seinen vielen Gängen war ausgezeichnet. Niall genoss zwei Sorten Braten, lehnte aber die Taubenpastete zugunsten eines besonders guten Hasen in Sahnesoße ab. Was die Desserts betraf, schaffte er es, den Syllabub zu vermeiden, nahm aber von der ihm aufgedrückten Schale mit Snow Cream, die wunderbar frisch und leicht schmeckte.
Da Tom, der dieses kleine Grundstück als Teil seines Erbes mit seiner Volljährigkeit erhalten hatte, weitaus mehr über die Verwaltung von Ländereien wusste als Niall selbst, konnte er, nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten, einige seiner dringlichsten Fragen stellen.
Lord Tazewell ermunterte seinen Gast jedoch nicht, beim Wein zu verweilen, und nur allzu bald sah sich Niall erneut bedrängt, als seine Gastgeberin darauf bestand, dass Miss Burloyne die kleine Gesellschaft mit einem Lied unterhielt. Da sie sich selbst begleitete und auf einem alten Cembalo spielte, wurde Niall klar, dass er auf diese Weise noch mehr von ihren Fähigkeiten zu sehen bekommen sollte.
Die Stimme von Miss Burloyne war, wie ihr Charakter, durchaus angenehm und ihr Spiel durchschnittlich. Dennoch fehlte der Aufführung der Funke, selbst für jemanden, der es gewohnt war, nicht viel mehr als eine Fiedel und eine raue Männerstimmen am Lagerfeuer zu hören. Kurzum, Miss Burloyne war ein langweiliges Geschöpf, und Niall hatte fast Mitleid mit ihren Versuchen, einen Ehemann zu finden.
Er war kein Adonis. Eher im Gegenteil, denn die Jahre in der Armee hatten ihn, wie er zugeben musste, sowohl im Gesicht als auch im Benehmen rauer gemacht. So lästig es für ihn auch war, hatte die Grafschaft ihn zur Beute von Jungfern wie Miss Burloyne gemacht.
Im Gegensatz zu Miss Westacott, die eindeutig keinerlei Absichten ihm gegenüber hegte. Er erinnerte sich daran, wie ihre Miene sich bei jedem noch so kleinen Kompliment versteinert hatte, und fühlte sich sogleich fasziniert. Ihm kam in den Sinn, dass er nun den perfekten Vorwand hatte, das Pfarrhaus erneut zu besuchen. Reverend Westacott musste um Entschuldigung gebeten werden.
***
Grundstücksangelegenheiten hielten Niall zwei Tage lang davon ab, diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Er verlor jedoch keine Zeit, seinen Gutsverwalter zu fragen, warum er ihn nicht über seinen Rechtsanspruch an dem Dorf Itchington Bishops informiert hatte.
Eddows, ein energischer Kerl, dem man sein fortgeschrittenes Alter kaum anmerkte, abgesehen von seinem schütteren Haarschopf und einer gelegentlichen Taubheit, von der Niall annahm, dass sie weitgehend auftauchte, wann immer es ihm passte, blickte auf die direkte Art zu ihm hoch, die er durch seine geringe Körpergröße an den Tag legte, und schürzte die Lippen.
„Wenn Ihr Euch erinnert, Mylord, batet Ihr mich, Euch die Einzelheiten zu ersparen, bis Ihr die Gelegenheit hattet, Euch mit dem allgemeinen Muster vertraut zu machen.“
Niall erinnerte sich in der Tat daran und dachte zum ersten Mal darüber nach, dass sein Verhalten dem anderen Mann große Schwierigkeiten bereitet haben musste. Sofort plagte ihn sein Gewissen. „Das habe ich tatsächlich getan, nicht wahr? Ich bitte um Verzeihung, Eddows. Ich habe Sie mit meiner schlechten Laune wohl durchaus behindert.“
Der Mund des Mannes entspannte sich. „Ganz und gar nicht, Mylord. Ich muss lediglich das tun, was ich seit Jahren tue, bis Ihr mir eine andere Anweisung gebt.“
Niall konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Das hat mich klar und deutlich in meine Schranken verwiesen.“
Dem Gutsverwalter entfuhr ein bellendes Lachen. „So habe ich es nicht gemeint, Mylord. Ich kann gut nachvollziehen, dass Euch die Belastung ohne Vorbereitung oder Vorwarnung in den Schoß gefallen ist. Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass ich die Zügel in der Hand behalte, bis Ihr Euch in der Lage fühlt, sie selbst zu übernehmen.“
Entsetzt hob Niall eine Hand. „Mein lieber Eddows, darauf können Sie ein Leben lang warten! Nein, nein. Sie sollten lieber einen Mann ausbilden, der Sie ersetzt, als sich auf mich zu verlassen.“
Ein strenger Blick traf Niall. „Ich glaube, ich habe noch ein paar Jahre vor mir, Mylord.“
„Das hoffe ich sehr. Ohne Sie wäre ich verloren, mein Freund.“
Darüber sah Eddows erfreut aus. „Ich hatte jedoch vor, Eure Lordschaft zu fragen, ob Ihr etwas dagegen hättet, wenn mein Sohn mein Lehrling werden würde. Er kommt von der Universität und ich hoffe, dass er sich als nützlich erweisen wird.“
„Ah, ja. Ich habe von Lord Tazewell erfahren, dass Ihre Familie den Lowries seit Generationen dient. Nun, ich habe nicht die Absicht, mit der Tradition zu brechen. Betrauen Sie ihn ruhig mit Aufgaben, wie Sie es für richtig halten.“
Eddows nickte und schien das Thema als abgeschlossen zu betrachten. „Was Euren Rechtsanspruch im Dorf angeht, Mylord, so umfasst die Grenze das gesamte Gelände mit Ausnahme des Waldes, der den Beginn von Lord Tazewells Ländereien markiert.“
„Doch ich nehme an, die Dorfbewohner betrachten sich als Teil von Tazewells Anwesen?“
Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen des Verwalters. „Eine alte Fehde, Mylord, die zwischen Itchington Bishops und dem Nachbardorf Long Itchington besteht. Das muss Euch nicht beunruhigen. Abgesehen von den gelegentlichen Kämpfen auf einem der beiden Dorfplätze an bestimmten Feiertagen, wenn die Dorfbewohner durch übermäßigen Genuss von Alkohol aufgeputscht sind, wird ihr heutzutage kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt.“
Nialls Ungeduld kehrte zurück. „Und Reverend Westacott? Er ist seit vielen Jahren Inhaber des Pfarrhauses?“
„Schon meine gesamte Amtszeit lang, ja. Er kam als junger Mann hierher.“
„Und hat nie geheiratet?“
„Soweit ich weiß, Mylord, hat er den Gedanken daran aufgegeben, als er die Frau und das Kind seines Bruders bei sich aufnahm. Ein Gentleman der Marine, Sir, der das Unglück hatte, ‘93 in Toulon sein Leben zu verlieren.“
„Wie alt war Miss Westacott damals?“
„Sie muss zehn oder elf gewesen sein. Ich bezweifle zudem, dass Mr Westacott sich eine Frau leisten konnte.“
Niall war versucht, sich genauer über Miss Westacotts momentanes Leben zu erkundigen. Aber sein Instinkt sowie auch seine guten Manieren warnten ihn, dass sie ihm eine solche Unverschämtheit übel nehmen würde. Jedoch war seine Neugier geweckt, und er nutzte die erste Gelegenheit, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen und das unbeabsichtigte Versäumnis zu korrigieren.
Die ungewohnte Hitze hatte nach einem Regenschauer am Vortag nachgelassen, und Niall fuhr mit dem Phaeton seines Cousins ins Dorf und überließ Sorrell, seinem Pferdeknecht, der ihn in sein neues Leben begleitet hatte, die Verantwortung für die Pferde.
Als er sich dem Pfarrhaus diesmal von vorn näherte, war er von dem Schieferdach und dem alten Ziegelmauerwerk, beides ein von der Zeit verblasstes Farbpuzzle, den rautenförmigen Fensterflügeln und dem gotischen, mit Efeu bewachsenen Vorbau fasziniert.
Mrs Tuffin öffnete ihm die Tür.
„Oh, Mylord, seid Ihr gekommen, um den Reverend zu sehen? Ich fürchte, er macht gerade seine Runde.“
„Dann habe ich meinen Besuch schlecht geplant.“
„Miss Ede ist im Salon, Mylord, wenn Ihr hereinkommen möchtet.“
Niall verspürte den starken Wunsch, Miss Westacott zu sehen, aber er zögerte. „Ruht sie sich aus?“
„Sie liegt auf dem Tagesbett; der Pfarrer hat darauf bestanden.“
„Dann sollte ich sie nicht stören.“
„Nun, es gibt bereits zwei Besucher, Mylord, also bezweifle ich, dass Ihr das tun werdet. Ich werde Euch ankündigen.“
Damit ließ sie ihm keine Gelegenheit, sich zurückzuziehen, sondern nahm ihm den Hut aus den Händen, legte ihn auf den überladenen Tisch im Flur und eilte zu einer Tür an der Vorderseite, statt zu dem Hinterzimmer, das er beim letzten Mal betreten hatte.
Niall folgte ihr gezwungenermaßen. Er hörte seinen Namen und trat in ein helles, erstaunlich ordentliches Zimmer, in dem drei Damen in ein angeregtes Gespräch vertieft waren.
Seine Laune sank, als er Miss Burloyne und Lady Tazewell erkannte, die auf Stühlen an einer Seite einer mit grünem Samt bezogenen Chaiselongue saßen, auf der Miss Westacott mit dem Rücken gegen das erhöhte Ende gelehnt saß.
Innerlich fluchend verbeugte sich Niall und murmelte einen Gruß an die anderen Damen, wobei sein Blick jedoch zu Edith Westacott wanderte. Auf den ersten Blick sah sie kaum weniger blass aus. Doch als er näher kam, konnte er ein gesünderes Leuchten in ihren Augen und auf ihren Wangen erkennen.
„Sie sehen schon viel besser aus, Miss Westacott. Ich nehme an, Sie haben sich vernünftig ausgeruht?“
Sie schenkte ihm das Lächeln, an das er sich erinnerte. „Man hat mir keine andere Wahl gelassen, Sir.“
„Und das ist auch gut so“, fügte Lady Tazewell hinzu. „Sind Sie auch gekommen, um zu sehen, wie es ihr geht, Lord Hetherington? Ich muss sagen, der Regen gestern hat uns einen ganz schönen Strich durch die Rechnung gemacht, denn Delia und ich waren sehr besorgt um sie nach dieser schrecklichen Ohnmacht.“
„Sie hätten mich gar nicht angetroffen, Lady Tazewell, wenn Sie gestern gekommen wären. Mein Onkel bestand darauf, dass ich mein Bett hüte, obwohl ich mich vollkommen erholt fühlte.“
„Aber Sie durften heute schon aufstehen.“
„Ja, Mylord, aber nur unter einigen Bedingungen, weshalb ich wie eine Invalidin vor mich hin vegetiere. Es ist zu lächerlich und ich fühle mich wie eine Betrügerin.“
„Oh, aber Sie sollten vorsichtig sein, Miss Westacott“, sagte Miss Burloyne mit besorgter Stimme. „Ihre Haushälterin hat uns erzählt, wie krank Sie waren.“
„Ich wünschte, Mrs Tuffin würde nicht ständig darauf herumreiten. Man könnte meinen, ich hätte an der Schwelle zum Tod gestanden.“
Der verärgerte Tonfall weckte Erinnerungen an jenen Tag, und Niall machte keine Anstalten, auf die schnatternden Proteste der Damen einzugehen. Er war selbst verärgert und merkte, wie er insgeheim gehofft hatte, die einfache Unterhaltung mit Miss Westacott wieder aufnehmen zu können. Und, wenn er ganz ehrlich war, seine Neugierde zu befriedigen. Aber das war jetzt in Anwesenheit der beiden Damen des Herrenhauses unmöglich.
Lady Tazewell erlangte seine Aufmerksamkeit.
„Wenn Sie wieder gesund sind, Miss Westacott, müssen Sie zu uns zum Essen kommen.“
Als Niall Miss Westacott ansah, glaubte er, einen Anflug von Verdruss in ihrem blassen Gesicht zu erkennen, und sie antwortete mit einem Anflug von Zurückhaltung.
„Sie sind freundlich, Lady Tazewell, aber ich glaube nicht …“
„Sagen Sie nicht, dass Sie nicht kommen werden, denn ich bestehe darauf. Ihr Onkel auch.“ Ein trillerndes Lachen kratzte in Nialls Ohren. „Uns ist so langweilig, Delia und mir, und wir haben wenig, um uns zu amüsieren, wie Sie wissen müssen, denn wir haben das neueste Ladies Magazine bereits von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, und ich verspreche Ihnen, wenn ich noch einen Stich in Toms neues Nachthemd machen muss, schlafe ich darüber ein. Sagen Sie, dass Sie kommen und uns vor dem Tod durch Langeweile bewahren werden.“
Niall hätte schwören können, dass sich sein inneres Stöhnen in Miss Westacotts hellen Augen wiederfand. Auch Miss Burloyne schien von diesem überschwänglichen Plädoyer nicht gerade begeistert zu sein.
Aber er hatte Miss Westacott unterschätzt, die ein sehr charmantes Lächeln zeigte. „Wenn Sie es so ausdrücken, Ma’am, wie kann ich da widerstehen?“
Niall ließ sich zu einer unklugen Äußerung verleiten. „Sie würden jede Gesellschaft beleben, Miss Westacott, daran habe ich keinen Zweifel.“
Ihre Wangen erröteten leicht, und der Blick, den sie ihm zuwarf, enthielt ein Echo ihrer abschottenden Zurückhaltung.
Zu seiner Erleichterung wartete Lady Tazewell nicht auf eine Antwort von Miss Westacott. „Dann ist das geklärt. Seien Sie gewiss, dass ich sofort erwarte zu hören, wenn Sie sich ausreichend erholt haben, um uns mit Ihrer Anwesenheit zu verwöhnen.“
„Sie werden es als Erste erfahren, Lady Tazewell, sobald mein Onkel mir erlaubt, das Haus zu verlassen.“
Der Hauch von Ironie, den Niall in ihren Worten entdeckte, war der jugendlichen Lady Tazewell offenbar entgangen, die sich von ihrem Stuhl erhob.
„Wir müssen Sie jetzt verlassen, denn mein Mann hat einen Maler engagiert und möchte, dass ich mich porträtieren lasse. Komm, Delia. Wie ich etwa eine Stunde lang still sitzen soll, weiß ich beim besten Willen nicht.“
„Ich werde dir vorlesen, Jocasta“, meldete sich Miss Burloyne zu Wort und erhob sich gehorsam.
Miss Westacotts Augenbrauen hoben sich. „Aber haben Sie Ihren Vorrat an Lesestoff nicht erschöpft?“
Lady Tazewell errötete und kicherte. „Erwischt! Ich stelle fest, dass ich meinen alten Drachen von einer Erzieherin brauche, um mich zu zügeln.“ Sie beugte sich hinunter und nahm Miss Westacotts Hände in die ihren. „Ich habe meine Langeweile ein wenig übertrieben, um Sie von einem Besuch zu überzeugen. Verzeihen Sie mir?“
Sie gestaltete ihre Entschuldigung so hübsch, dass Niall sich nicht mehr wunderte, wie Tom sich in die junge Frau verguckt hatte. Der Charme des Mädchens ging auch nicht an Miss Westacott verloren, deren echtes Lachen erklang.
„Es war nicht richtig von mir, Sie herauszufordern, Lady Tazewell. Die Gewohnheit der Korrektur ist schwer zu durchbrechen. Ich wage zu behaupten, dass Sie mich für einen ebenso großen Drachen halten werden wie Eure alte Gouvernante.“
Lady Tazewells klingelndes Lachen attackierte Nialls Ohren und er zuckte zusammen.
„Ich hatte vergessen, dass Sie zuletzt Lehrerin waren. Aber Sie sind kein Vergleich zu meinem Drachen. Außerdem sind Sie viel zu jung und schön.“
„Schön? Gütiger Himmel, Lady Tazewell, Sie müssen vollkommen blind sein!“
Das Erstaunen von Miss Westacott war nicht zu übersehen. Niall, selbst erschrocken über die Äußerung von Lady Tazewell, betrachtete Miss Westacott mit neuen Augen, während die Lady selbst sich an ihre Freundin wandte.
„Findest du nicht auch, Delia? Oh, ich weiß, Miss Westacott ist nicht in bester Verfassung, aber sieh nur! Sind ihre Gesichtszüge nicht ausgesprochen klassisch?“
„Oh, hören Sie auf, Lady Tazewell! Ich wünschte, Sie würden nicht versuchen, mir auf diese Weise zu schmeicheln.“
„Aber ich will Ihnen nicht schmeicheln. Ich verspreche Ihnen, dass das meine ehrliche Meinung ist.“ Zu seiner großen Verlegenheit wandte sie sich an Niall. „Lord Hetherington, unterstützen Sie mich hierbei. Sie sind ein Mann. Sie müssen doch sehen …“
„Jocasta, hör auf! Du bringst die arme Miss Westacott in Verlegenheit.“
Zu Nialls Überraschung sprach Miss Burloyne in einem scharfen Ton, der im Gegensatz zu ihrer üblichen schmeichelnden Art stand. Das hatte zur Folge, dass Lady Tazewells Verzückung verebbte.
Ein Kichern entwich ihr dennoch, und sie sah sowohl schelmisch als auch zerknirscht aus. „Oh je, jetzt muss ich mich schon wieder entschuldigen.“
„Hör einfach auf zu reden, Jocasta, und alles wird gut. Du bist unverbesserlich, weißt du.“
Lady Tazewell, deren Augen funkelten, presste ihre Lippen fest aufeinander. Niall betrachtete Miss Burloyne mit neuem Interesse und fragte sich, ob an der Frau mehr dran war, als es den Anschein hatte. Miss Westacott hingegen sah aus, als wäre sie durch und durch amüsiert.
„Ich muss Ihnen danken, Lady Tazewell. Sie haben es geschafft, dass ich mich wie zu Hause fühle. Ich könnte genauso gut wieder in Bath sein und einer Schar von Schulmädchen vorstehen.“
Lady Tazewell brach in Gelächter aus und griff erneut nach Miss Westacotts Händen. „Ich wünschte, Sie wären meine Gouvernante gewesen. Ich hätte Ihnen nicht ein Zehntel des Unheils zugemutet, das ich dem Drachen zugefügt habe.“
„Sie hat mein Mitgefühl.“
Das löste einen weiteren Lachanfall aus. Miss Burloyne, die offensichtlich ihre Geduld verloren hatte, mischte sich erneut ein. „Jocasta, du wirst zu spät kommen.“
„Um Himmels willen, ja! Auf Wiedersehen, meine liebe Miss Westacott.“ Sie wandte sich an Niall. „Wir müssen es Euch überlassen, sie zu unterhalten, Lord Hetherington.“
Ein kurzer Knicks von Miss Burloyne, und die beiden Damen gingen in einem Wirbel von Musselin, Handschuhen und Sonnenschirmen davon, während Niall ihnen die Tür aufhielt. Er schloss sie und hörte, wie die beiden im Flur in schnatterndes Geplapper ausbrachen. Ohne es zu wollen, fiel sein Blick sofort auf Miss Westacott und er machte große Augen.
„Wenn das eine Kostprobe dessen war, was Sie in Bath ertragen mussten, Ma’am, dann kann ich nur sagen, dass Sie mir aufrichtig leidtun.“
Miss Westacott stieß ein leises Lachen aus. „Sie ist kein Schulmädchen mehr, aber sie hat ein gutes Herz.“
Er trat vor, nahm auf dem nächstgelegenen Stuhl Platz, der von der jugendlichen Lady Tazewell geräumt worden war, und sprach ohne nachzudenken. „Die Andere hat mich überrascht. Ich glaube, sie trägt eine Maske für die Öffentlichkeit. Ich habe noch nie zuvor erlebt, dass sie sich so aus der Deckung gewagt hat.“
„Miss Burloyne? Sie ist ein oder zwei Jahre älter, glaube ich. Aber es scheint eine gut gefestigte Freundschaft zu sein.“
Er hob die Brauen. „Offensichtlich nicht genug, um Lady Tazewells Durst nach Unterhaltung zu stillen. Ich vermute, dass man Sie sehr bedrängen wird.“
„Das glaube ich kaum. Ich habe schon allerlei Bekanntschaft mit derlei flatterhaften Gedanken gemacht. Ich vermute, ihr Interesse entspringt eher der Neugierde als dem Wunsch, sich mit mir anzufreunden.“
„Neugierde worauf?“
Die alte Zurückhaltung trat wieder in ihr Gesicht. „Das kann ich mir auch nicht erklären.“
Niall runzelte die Stirn. „Doch, das können Sie. Speisen Sie mich nicht einfach so ab!“
Ihre Augen blitzten. „Oh, seid Ihr auch neugierig, Sir?“
„Übermäßig. Aber ich werde nicht so ungehobelt sein und mich in Ihre privaten Angelegenheiten einmischen.“
Der Funke erlosch und er sah, wie sich ihre Hände kurz ballten.
„Meine Geschichte ist viel zu banal, als dass sie irgendjemanden interessieren würde.“
Niall sah sie an und zweifelte an ihrer Aussage. Aus Miss Westacotts zurückhaltendem Verhalten ging hervor, dass es in ihrer unmittelbaren Vergangenheit etwas durchaus Ungewöhnliches geben musste. Warum hatte sie ihre Anstellung verlassen? Nicht, wie ihm aufging, nur wegen ihrer Krankheit, obwohl das zweifellos ihre Ausrede war.
Er stellte fest, dass sie ihn mit scharfem Misstrauen beäugte, und lachte. „Haben Sie keine Angst vor mir, Ma’am. Ich würde um nichts in der Welt neugierig sein, auch wenn Sie mich faszinieren.“
Sie schaute weg. „Ich kann mir nicht vorstellen, warum.“
„Dann sollten Sie Ihre Einstellung ändern, Ma’am.“
Ihr Blick flog zurück zu ihm. „Inwiefern?“
„Wenn Sie so kratzbürstig sind, laden Sie die anderen unweigerlich zu Fragen ein.“
Miss Westacott sah ihn an, ihr Gesichtsausdruck war schwer zu lesen. Ihr Tonfall jedoch war eiskalt, als sie wieder sprach. „Seid Ihr absichtlich hierhergekommen, um meine Genesung zu verzögern?“
„Im Gegenteil, ich bin gekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.“
„Wie Ihr seht, geht es mir schon viel besser.“
Niall wusste nicht, ob er verärgert oder amüsiert sein sollte über die entschlossene Förmlichkeit ihres Tonfalls. Er passte den seinen daran an. „In der Tat, Miss Westacott, bin ich in der Hoffnung gekommen, Ihren Onkel zu sehen.“
Der überraschte Ausdruck in ihren Augen verschaffte ihm einen Moment der Genugtuung, von dem er wusste, dass er ihn nicht verdient hatte.
„Warum?“
Er lächelte und gab nach. „Weil ich nachlässig gewesen bin. Ich hätte ihn schon längst besuchen sollen, aber ich wusste nicht, dass das Pfarrhaus Teil der Grafschaft ist.“
Ihre Gesichtszüge entspannten sich. „Ich verstehe. Ich kann mir vorstellen, dass die Anforderungen Eurer Rolle anstrengend sind, wenn Ihr nicht daran gewöhnt seid.“
„Ich hatte keine Ahnung, wie nah ich der Nachfolge war, wenn ich ganz ehrlich sein soll.“
Neugierige Augen musterten ihn. „Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn Ihr es gewusst hättet?“
Das ließ ihn innehalten. „Darüber habe ich nie nachgedacht, aber natürlich hätte es das nicht. Da mein Cousin so jung war und zwei gesunde Söhne hatte, hätte die Nachfolge eigentlich gesichert sein müssen. Ich hätte nie damit gerechnet, den Titel zu erlangen.“
„Durchaus nicht. Aber ich sehe, dass Ihr einen großen Nachteil habt, weil Ihr nicht mit dieser Erwartung aufgewachsen seid. Ich gehe davon aus, dass die Söhne in der Regel gut in ihren Pflichten ausgebildet sind, wenn sie das Haus übernehmen.“
„Wenn ich nach meinem Freund Tom Tazewell urteilen kann, ja. Aber ich glaube, das ist nicht immer der Fall.“
Erneut wurde er mit einem Blick bedacht, der ihn Maß zu nehmen schien.
„Ihr empfindet es als ermüdende Last.“
Sie formulierte es als Aussage. Niall fühlte sich seltsam beschwingt, dass sie ihn so schnell verstand. Er bewegte ein wenig unbehaglich die Schultern.
„Ich bin undankbar. Viele Männer würden für eine solche Gelegenheit ihre rechte Hand hergeben.“
Ein kleines Lachen entwich ihr. „Ihr strebt also nach einer Dankbarkeit, die Ihr nicht spüren könnt, wenn doch Euer einziger Instinkt darin besteht, wegzulaufen? Glaubt mir, ich kann Eure Gefühle voll und ganz nachempfinden.“
Niall wurde warm ums Herz. Er war versucht, nachzuhaken, aber die Erinnerung an die Art, wie Miss Westacott sich hinter ihre Mauern zurückziehen konnte, hielt ihn davon ab. Er entschied sich für die einfache Variante.
„Es ist erfrischend – nein, tröstlich –, jemanden zu finden, der das verstehen kann.“
Er wurde mit ihrem Lächeln belohnt, und ihm wurde klar, dass Lady Tazewell recht hatte. Sie war wunderschön. Nicht auf so auffällige Art und Weise, dass sie von einer ganzen Gesellschaft bewundert werden würde. Doch die Formen ihres ovalen Gesichts, trotz ihrer hageren Wangen, und vielleicht auch ihre Blässe, die durch das fast mitternachtsschwarze Haar noch betont wurde, erinnerten an die Alabasterstatuen der Antike.
Irgendetwas rührte sich in ihm, und Nialls Geist fand keinen Gedanken mehr, als er sie anstarrte.
Viertes Kapitel
Edith begegnete Lord Hetheringtons Blick und konnte nicht umhin, sich zu fragen, was in ihm vorging. Einen Moment lang hegte sie den Verdacht, dass er sich ein wenig zu ihr hingezogen fühlte. Sein Verhalten war jedoch so weit von dieser Annahme entfernt, der sie zu ihrem Leidwesen ausgesetzt war, dass sie sich außerstande fühlte, diesbezüglich ein Urteil zu fällen. Um jeden möglichen Schritt in diese Richtung abzuwehren, verlegte sie sich auf Förmlichkeiten.
„Ich wage zu behaupten, dass mein Onkel noch einige Zeit unterwegs sein wird. Möchtet Ihr vielleicht bei anderer Gelegenheit wiederkommen?“
„Nein, das möchte ich nicht.“
Der scharfe Ton ließ sie innerlich zusammenschrumpfen und weckte die Erinnerung an den schrecklichen Tag, an dem das Leben, das sie sich geschaffen hatte, abrupt zum Stillstand gekommen war. Edith wandte ihren Blick zum Fenster und starrte auf den Dorfanger und die dahinter liegende Reihe von kleinen Läden. Feuchtigkeit in ihren Augen ließ die Szene verschwimmen, und sie biss sich auf die Lippe und kämpfte gegen das Stechen und Aufsteigen der Tränen an. Seit jener Nacht hatte sie nicht mehr geweint, und dies war kein Moment, um in Schwäche zu verfallen.
„Miss Westacott?“
Der nun wieder sanftere Ton brachte sie fast um den Verstand und sie konnte nicht antworten.
„Miss Westacott – Edith –, sehen Sie mich an!“
Widerwillig drehte sie den Kopf, zog die Brauen zusammen und presste die Lippen aufeinander.
Lord Hetheringtons raue Züge trugen einen Ausdruck der Besorgnis, und sie hegte keinerlei Zweifel daran, dass er die Feuchtigkeit in ihren Augen bemerkt hatte.
„War es etwas, das ich gesagt habe?“
Sie schüttelte den Kopf und schluckte den hartnäckigen Kloß hinunter.
Sein Stirnrunzeln verstärkte sich. „Die Etikette gebietet es mir, Sie zu verlassen, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, wenn Sie sich in einer solchen Notlage befinden.“
Sie holte tief Luft und presste die Worte heraus. „Es gibt nichts, was Ihr tun könnt, Sir. Bitte lasst es gut sein.“
Er sah sie daraufhin schweigend an, und der beständige Blick hatte eine seltsam beruhigende Wirkung. Hätte er versucht, sie zu trösten, wäre sie versucht gewesen, ihn wütend anzugreifen. Bald ließen die unangenehmen Symptome nach und sie versuchte, ihre Stimme möglichst normal klingen zu lassen.
„Ich habe Euch keine Erfrischung angeboten.“
Er machte eine ungeduldige Geste. „Ich brauche nichts.“
„Aber ich. Wärt Ihr so freundlich, Mrs Tuffin zu fragen …“ Sie brach ab, als die Tür aufging und die Haushälterin mit einem Tablett erschien. Die Erleichterung erlaubte es ihr, natürlicher zu sprechen. „Oh, Sie haben mir meine Bitte vorweggenommen, Mrs Tuffin. Das wollte ich gerade fragen lassen. Ist das Kaffee?“
Lord Hetherington sprang auf und ging aus dem Weg, als die Haushälterin zum Tisch hinter dem Tagesbett ging.
„Das ist Kaffee, Miss Ede. Der Reverend will nicht, dass ich den Tee verschwende.“
Edith blickte ihren Besucher an. „Ich für meinen Teil finde, dass Kaffee mich besser belebt. Möchtet Ihr eine Tasse, Sir?“
„Danke, ja, gern. Schwarz bitte, Mrs Tuffin.“
Da er nun auch wieder einen lockeren Ton anschlug, entspannte Edith sich umso mehr, und sie konnte mit ihrer üblichen Leichtigkeit antworten. „Ist das eine Angewohnheit, die man sich in der Armee aneignet, Mylord?“
„Wahrscheinlich. Sahne war selten Teil unserer Rationen.“
„Ich gebe zu, dass ich ihn mit Sahne vorziehe, obwohl ich bis zu meiner Ankunft hier nicht an Zucker gewöhnt war.“
Mrs Tuffin fiel daraufhin wieder in die Gluckenrolle. „Sie brauchen es, Miss Ede, das meint auch der Reverend. Sie müssen wieder zu Kräften kommen, sagt er. Reichlich Milch, Eier und Käse.“
Edith ließ dies kommentarlos stehen, nahm den gut gesüßten Kaffee an und nippte dankbar an dem heißen Gebräu.
„Ich habe Scones gebacken, Miss Ede, für später, aber ich habe ein paar Käsestangen dazugelegt, und die sind noch warm aus dem Ofen.“
Da Edith wusste, dass ihr Onkel sie schelten würde, wenn sie sich weigerte, zu essen, nahm sie den Teller, auf den die Haushälterin ein paar Gebäckstücke gelegt hatte, und platzierte ihn mit einem Wort des Dankes auf ihrem Schoß. Mrs Tuffin verließ den Raum erst, als sie auch Seiner Lordschaft Käsestangen aufgedrückt hatte. Als sie wieder allein waren, legte er sie ungegessen auf das Tablett.
„Ihr solltet sie wenigstens probieren, Mylord, sonst ist Mrs Tuffin Euretwegen beleidigt.“
Er riss die Augen auf und nahm eine Stange vom Teller. „Wenn Sie darauf bestehen.“
„Nun, ich sehe nicht ein, warum ich die Einzige sein sollte, die hier gemästet wird.“
Seine Augen schimmerten belustigt. „Ich erhole mich nicht von einer Krankheit, Miss Westacott.“ Er biss in das Gebäck und seine Augenbrauen hoben sich. „In der Tat sehr lecker. Ihr Onkel ist zu beglückwünschen.“
Edith musste lachen. „Ja, sie ist eine ausgezeichnete Köchin. Ich wünschte, mein Appetit könnte ihren Bemühungen gerecht werden.“
„Das wird er sicher mit der Zeit.“
Sie nippte an ihrem Kaffee und betrachtete ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg, während er seine eigene an die Lippen hob. „Seid Ihr ein Wahrsager, Sir?“
Er verschluckte sich, und ihr Gewissen machte sich sofort bemerkbar. Sie wartete, bis der Hustenanfall nachließ.
„Das war gemein von mir.“
Aber Lord Hetherington lachte nur. „Schreckliches Weib! Wie konnten Sie gerade Ihren geistreichen Witz auf meine Kosten ausleben?“
Das Lachen kochte in ihr hoch und sie konnte es nicht zurückhalten. „Ich werde kein Wort mehr sagen, bis Ihr ausgetrunken habt.“
„Zu freundlich. Und zu Ihrer Information, Ma’am, ich habe einige Erfahrung mit den Auswirkungen von schwerer Krankheit auf den Körper.“ Sie sah ihn fragend an und er schüttelte den Kopf. „Nein, ich selbst nicht, aber ich habe Männer gesehen, die durch Fieber, Ruhr und Wunden geschwächt waren. Und sie gepflegt, um genau zu sein.“
Interessiert beobachtete Edith, wie er einen weiteren Schluck seines Kaffees nahm. „Die Armee scheint einen Mann auf alle möglichen Notfälle vorzubereiten. Haben Sie an vielen Schlachten teilgenommen?“
„Mit Unterbrechungen im Laufe der Jahre. Ich habe es genossen, wenn es dann an der Zeit war.“
Sie sah ihn mit großen Augen an. „Ein Kämpfer, Sir? Ich fürchte, Ihr werdet in Itchington kaum Gelegenheit haben, Eurer Vorliebe zu frönen.“
Lord Hetherington musterte sie mit leuchtendem Blick. „Im Gegenteil, wenn Sie im Dorf bleiben.“
Ein Kichern entkam ihren Lippen. „Ihr müsst meinem Beruf die Schuld geben, Mylord. Ich habe gelernt, meine Zunge zu gebrauchen, damit ich die Rute nicht nutzen muss.“
„Eine Zuchtmeisterin, Ma’am? Ich beneide Ihre Schüler nicht.“
„Ja, das habe ich wohl verdient.“
Sein Lachen ließ es ihr unerwartet warm ums Herz werden. Edith unterdrückte das Gefühl und nippte an ihrem Kaffee. Er tat es ihr gleich und wandte den Blick von ihr ab, fast so, als hätte er ihre Reaktion bemerkt. Sie suchte nach einem unverfänglichen Thema und fiel auf seine frühere Bemerkung zurück.
„Sagt mir bitte, was Euch daran Spaß macht, auf dem Feld gegen Eure Mitmenschen zu kämpfen.“ Sie fing seinen Blick auf und hob eine Hand. „Oh, ich will Euch nicht necken, Sir, ich bin interessiert.“
Seine Augenbrauen hoben sich. „Ich kann mir nicht vorstellen, warum.“
„Weil ich offensichtlich etwas übersehe. Ich hatte gedacht, ein Schlachtfeld bestünde nur aus Schüssen, Rauch und schreienden Männern.“
Er zuckte zusammen. „Das auch, und ich gebe nicht vor, dass mir das Vergnügen bereitet. Es ist kein Vergnügen, nein. Wie kann ich es nur erklären? Doch, vielleicht so: Es ist das, was man als inneres Feuer bezeichnen könnte.“
Die Veränderung des Mannes ihr gegenüber war verblüffend. Seine Augen, in denen eben jenes Feuer brannte, wie sie vermutete, leuchteten als Echo seiner Gedanken, während er sprach.
„Es ist ein Gefühl wie kein anderes – ein brüllender Riese in mir, der die Welt erobern kann.“
Wie gebannt betrachtete Edith ihn, während ihre Tasse auf halbem Wege zum Mund verharrte. Er fing ihren Blick auf und war fast sofort verlegen, wobei er unter seiner gebräunten Haut errötete.
„Ich bitte um Verzeihung. Das ist kaum ein passendes Thema für weibliche Ohren.“
Edith atmete verärgert aus. „Ruiniert es nicht. Und ich habe Euch gefragt, wie Ihr Euch erinnert.“
„Ja, aber ich hatte nicht das Recht, über solche Dinge zu sprechen. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Das habe ich noch nie. Sie haben einen schrecklichen Einfluss, Miss Westacott.“
Edith fand Gefallen an seiner Schelte. Warum, konnte sie sich nicht sagen, aber sie mochte es, dass er sich dazu hatte verleiten lassen, frei zu sprechen. Sie antwortete ebenso frei.
„Das freut mich, denn jetzt weiß ich, warum die Männer des Dorfes darauf bestehen, immer auf dem Anger zu kämpfen, wenn sie zu tief ins Glas geschaut haben.“
Er brach in Gelächter aus. „Ihnen fehlt es völlig an angemessenem weiblichen Verhalten, Miss Westacott. Ich wundere mich, dass man Sie überhaupt in die Nähe junger Frauen lässt.“
Sie kämpfte mit dem unmittelbaren Pfeil, der sie durchbohrte, und schimpfte mit sich selbst, weil sie überempfindlich war. Lord Hetherington konnte es nicht wissen, und er würde sie nicht absichtlich verspotten.
Zu ihrer großen Erleichterung öffnete sich in diesem Augenblick die Tür und ihr Onkel kam herein, bevor Seine Lordschaft die Veränderung an ihr bemerken konnte.
„Lord Hetherington! Meine Güte, Sir, es tut mir leid, dass ich Euch habe warten lassen.“
Seine Lordschaft war aufgestanden. „Ganz und gar nicht, Sir. Ich wurde gut unterhalten.“
„Von Edith? Das freut mich sehr. Nicht, dass es sich gehören würde, ohne Begleitung mit ihr allein zu sein, aber das werden wir ignorieren.“
Lord Hetherington schaute bestürzt zu Edith herüber. „Hätte ich gehen sollen, als die Damen gingen?“
„Auf keinen Fall“, sagte sie verärgert. „Ich bin kein Mädchen, Onkel Lionel. Ich bin Lehrerin. Daher wird es keine Ungehörigkeiten geben.“
Ihr Onkel kam an das Tagesbett und klopfte ihr leicht auf die Schulter. „Meine Liebe, ich würde dich niemals der Unanständigkeit beschuldigen. Auch könnte ich Lord Hetherington nicht unterstellen, dass er dich in irgendeiner Weise bedrängt, nicht nach seiner Freundlichkeit neulich.“ Er wandte sich von ihr ab und reichte dem Gast die Hand. „Mrs Tuffin sagt, Ihr wolltet mich sehen, Mylord?“
„Das wollte ich, Sir, und Sie können sich darauf verlassen, dass Miss Westacott nichts von mir zu befürchten hat.“
Was in etwa hieß, dass ihre tatsächlichen Befürchtungen, er könnte sich auch nur ein bisschen zu ihr hingezogen fühlen, unbegründet waren. Warum diese Erkenntnis ihre Stimmung kippen ließ, konnte Edith nicht nachvollziehen. Sie sollte froh sein. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was Lord Hetherington sagte.
„Ich war nachlässig, Reverend Westacott, aber ich hoffe, Sie verzeihen mir das Versäumnis, denn ich hatte keine Ahnung, dass meine Ländereien dieses Dorf umfassen. Auch nicht, dass das Pfarrhaus in meiner Hand liegt.“
Ihr Onkel strahlte durch seine Brille hindurch. „Das erklärt es, Mylord. Ich habe mich das bereits gefragt. Aber freilich, freilich schuldet Ihr mir keine Entschuldigung. Andersherum, Mylord, wird ein Schuh daraus, und ich hätte Euch sicher aufgesucht, wenn ich nicht mit meiner armen Ede hier beschäftigt gewesen wäre.“
Sie fing Lord Hetheringtons Blick auf, als er zu ihr herübersah.
„Dann fiel unsere jeweilige Ankunft also auf die gleiche Zeit?“
Ihr Onkel widmete sich der Beantwortung der Frage. „Nein, durchaus nicht, Sir. Keiner von uns im Dorf hat von Eurer Ankunft gehört, bis ich vor drei Wochen mit Mr Eddows zusammentraf, und zu diesem Zeitpunkt befand sich meine Nichte schon in meiner Obhut. Das arme Mädchen war in einem furchtbaren Zustand, und ich muss gestehen, dass meine Aufmerksamkeit ganz auf ihre Bedürfnisse gerichtet war.“
„So sollte es auch sein, Sir. Ich bin froh zu wissen, dass Sie unter diesen Umständen keinen Gedanken an mich verschwendet haben.“
Edith konnte kein weiteres Gespräch über ihre Krankheit ertragen. „Also, warum habt Ihr Euch so heimlich hergeschlichen, Mylord? Seid Ihr mitten in der Nacht angekommen und habt Euch in Eurem Schloss verschanzt?“
Ihr Onkel tadelte sie. „Ede, meine Liebe, was in aller Welt sagst du da?“
Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich in Geduld zu üben. „Oh, Lord Hetherington wird es mir nicht übel nehmen. Ich bin sicher, dass er sich an meine Angriffe gewöhnt hat.“
„Das habe ich in der Tat.“ Ein drohender Blick wurde ihr zugeworfen. „Ich werde jedoch für den Moment davon absehen, darauf einzugehen, Miss Westacott.“
Ihre Lippen zuckten. „Und Ihr seid Soldat, Sir? Darf ich Euch dann Feigling nennen?“
„Ede!“
Lord Hetherington ignorierte die Einmischung, und seine Augen quittierten stattdessen einen Treffer. „Keineswegs. Aber ein guter Soldat weiß, wann er sich zurückziehen muss.“ Sie lachte, als er sich an ihren Onkel wandte. „Schauen Sie nicht so bestürzt, Sir. Die Scherze Ihrer Nichte sind erfrischend. Sollen wir uns in ein anderes Zimmer zurückziehen?“
Ihr Onkel wurde nervös. „Ja, ja, durchaus. Mein Arbeitszimmer, Sir, wenn Ihr mögt. Aber das ist schon sehr merkwürdig von Euch. Meine Güte, ja, höchst merkwürdig.“
Er geleitete seinen Gast zur Tür, wo Seine Lordschaft den Kopf drehte.
„Au revoir, Miss Westacott. Ich freue mich auf unseren nächsten Kampf.“
„Meine Güte, Mylord! Sehr merkwürdig.“
Der verschwörerische Blick, den Lord Hetherington ihr zuwarf, als er ging, war zu viel, um ernst zu bleiben, und sie war froh, dass sich die Tür hinter den beiden Herren schloss, als sie dem Lachen nachgab.
Es war nicht von Dauer. Zu schnell kehrte die Sorge in ihren Kopf und in ihr Herz zurück, um sie zu quälen. Sie erinnerte sich daran, dass Lord Hetherington gesagt hatte, er finde sie erfrischend. Oder zumindest ihr Geplänkel. Sie könnte dasselbe von ihm sagen, da er ihr eine Ablenkung von der Dunkelheit ihrer Gedanken verschafft hatte.
Ihr Onkel hatte Recht, denn Seine Lordschaft war in der Tat eine merkwürdige Kreatur. Oh, nicht, wenn sie sich im Schlagabtausch neckten, denn da musste sie sich schuldig bekennen, dass sie ihn provozierte. Aber nach dem, was sie von ihm erfahren hatte, war er eher frustriert als geehrt, dass er in seinen neuen Stand erhoben worden war. War es der Verlust seiner militärischen Karriere? Denn er war eindeutig ein Mann, der mehr als fähig war, eine schwierige Herausforderung anzunehmen. Und offensichtlich hielt ihn sein Verantwortungsbewusstsein davon ab, das Erbe auszuschlagen. Sie ging davon aus, dass es möglich war, es dem nächsten in der Reihe zufallen zu lassen. Das hatte er nicht getan, stattdessen hatte er etwas angenommen, was er als Last empfand, und machte nun das Beste daraus.
Doch genau das tat er nicht, oder? Wie sie selbst war er voller Enttäuschung, ärgerte sich über seine Situation und hasste die Notwendigkeit, sie zu ertragen. Wie merkwürdig. War das der Grund, warum es ihn offenbar so sehr zu ihr hinzog, wie sie zu ihm?
Nein, hör sofort damit auf, Edith Westacott!
Sie konnte sich vielleicht erlauben, mit Worten zu necken – ihren Witz auf seine Kosten auszuüben, wie er es ausgedrückt hatte –, aber das war es dann auch; das musste es sein.
Stattdessen sollte sie sich auf ihre Zukunft konzentrieren. Sie sollte damit beginnen, die Zeitungsanzeigen zu durchforsten. Es würde ihren Einfallsreichtum nicht überfordern, dies zu tun, ohne dass Onkel Lionel merkte, was sie vorhatte. Sicher dauerte es jedoch einige Zeit, eine geeignete Stelle zu finden. Es war besser, jetzt damit anzufangen, statt zu warten, bis ihr Nemesis sie einholte.
Dann wäre es für eine Flucht zu spät.