Kapitel Eins
Es war an der Zeit, dass ich endlich meinen Willen mit Monsieur Hugh St. Sevier bekam.
Der Herr jedenfalls war willens, daran hatte ich nicht den Hauch eines Zweifels. Noch überzeugter war ich, dass St. Sevier ein Gentleman war und ein ausgezeichneter Partner sein würde für meinen ersten Ausflug in die Privilegien und Freiheiten, die einer diskreten Witwe vergönnt waren.
Zu diesen Schlüssen war ich gekommen, als St. Sevier abermals als mein Begleiter fungierte, diesmal auf einer Reise, die uns durch ganz England und bis nach Zentralschottland führen sollte. St. Sevier hatte den Wunsch bekundet, mehr von seinem Wahlheimatland zu sehen, und obwohl viele Witwen ohne männliche Begleitung reisten, fühlte ich mich noch nicht unabhängig genug, um diese Herausforderung allein zu bewältigen.
Mein Entschluss, einen nackten Zeh in die Gewässer der Tändelei zu tauchen, war langsam in mir gereift, im Verlauf eines langen Winters in London. In den kältesten Monaten gibt es in der Hauptstadt nur wenige Vergnügungen, insbesondere da das Parlament seit Waterloo erst weit nach den Weihnachtsfeiertagen wieder zusammentrat.
Im vergangenen Jahr war ich mehr oder weniger dazu gezwungen worden, an einer sommerlichen Landpartie teilzunehmen und anschließend einer Zusammenkunft auf dem Familiensitz beizuwohnen, anlässlich der Hochzeit meines Bruders Felix. St. Sevier hatte mich auf diesen Reisen begleitet, und auch auf den Abenteuern, die ich fern meines Zuhauses erlebte. Die Landpartie war Ziel einer Reihe von Diebstählen gewesen, und Felix' Braut war vor der Hochzeit entführt worden.
Beide Rätsel waren zu meiner Zufriedenheit gelöst worden, und jene Ausflüge hatten mich aus einer anhaltenden Lethargie befreit. Nach zwei Jahren Trauer um meinen verstorbenen Ehemann war mir die Einsamkeit so vertraut geworden, dass jedes Verlassen des Hauses zur gefürchteten Tortur geworden war. St. Sevier, ein Arzt, hatte mich dazu gebracht, die Stadt zu verlassen, und der Tapetenwechsel hatte mir gutgetan.
Während ich ländliche Ausblicke, gute Bücher und gelegentliche Ausritte genoss, hatte ich die Trägheit der Trauer abgeschüttelt – eine schwierige Ehe zu verlieren ist meines Erachtens ein komplizierterer Verlust als eine glückliche –, und begann nun, mein Leben zu überdenken.
Die Bestandsaufnahme ergab ein erdrückendes Maß an Langeweile, Pflichten, Routine und Einsamkeit. Letztere war nur schwer zu identifizieren gewesen, teils, weil ich so lange Anspruch darauf erhoben hatte – oder sie auf mich. Als einziges Mädchen und jüngstes von fünf Kindern war ich durch Geschlecht und Alter stets isoliert gewesen. Meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war, und das hatte mich zusätzlich an den Rand des Familienkreises gedrängt.
Mit siebzehn Jahren hatte ich mich mit Frederick Belmaine verlobt, ein gut aussehender, reicher Lebemann, der mir wie die Erfüllung all meiner mädchenhaften Träume erschien – jedenfalls nachdem mein Vater Freddie in den höchsten Tönen gelobt hatte.
Papa, den die Welt als Sylvanus, Earl von Derwent, kennt, hat ein Talent dafür, Tatsachen reichlich auszuschmücken. Nach dem Hochzeitsfrühstück gab mir Freddie einen keuschen Kuss auf die Wange und machte sich angeblich auf den Weg, um sich von seinen Freunden im Klub zu verabschieden.
In Wahrheit war er zu seiner Mätresse gegangen, um sich dort ihr Mitgefühl für die Leiden zu sichern, die ihn als frischgebackenen Ehemann erwarteten. Freddie war nicht absichtlich grausam gewesen, was die Ehe mit ihm für ein Mädchen, das ohne weibliche Führung aufgewachsen war, umso verwirrender und schmerzhafter machte.
Er starb fünf Jahre nach dem Ehegelübde, das er bereits am Tag seines Ausspruchs gebrochen hatte. Die Todesursache war, soweit man mir sagen konnte, eine Lebensmittelvergiftung. Er war in seinem Lieblingsbordell gestorben, in den Armen einer Frau, die ich später kennenlernte und sogar zu mögen begann.
Im Tod war er ein besserer Ehemann gewesen als im Leben. Ich war gut versorgt und hatte keinen Grund, erneut zu heiraten. Ich war auch etwas weltgewandter als viele junge Witwen, denn Freddie hatte es sich zur Freude gemacht, mich aus meiner behüteten Kindheit heraus und in die Welt der Erwachsenen einzuführen. Hätte ich ihm Kinder geschenkt, hätte er mir zweifelsohne seinen Segen zu allerlei Affären gegeben – und mich sogar dazu ermutigt.
Die Gedanken an meine Ehe konnten mich noch immer in Zorn versetzen, aber nicht mehr in jene mein Inneres zerfressende Wut, die mich in den ersten Ehejahren erfüllt hatte. Ich hatte mich mit der Hoffnung versöhnt, dass Freddie mit der Zeit seine außerehelichen Vergnügungen aufgegeben und ich ihm seine Verfehlungen verziehen hätte.
Diese Theorie spendete mir Trost und erlaubte mir, mich stattdessen auf den Gedanken zu konzentrieren, dass ich erst sechsundzwanzig Jahre alt war, und obwohl ich nicht wieder heiraten wollte, hatte ich ebenso wenig das Bedürfnis, Nonne zu werden. Auch hatte ich nicht den Wunsch, ohne die Vorteile der Ehe Mutter zu werden, und St. Sevier als Arzt wäre zweifellos mit Methoden zur Empfängnisverhütung vertraut.
Getragen von meiner Vorstellung eines großen Abenteuers packte ich meine Truhen, ertrug das Murren meiner Zofe Lucy und stieg in meine Reisekutsche. Ich schickte Lucy mit meinem Gepäck und einem gut aussehenden jungen Diener voraus, während ich mir selbst das Vergnügen von St. Seviers Gesellschaft gönnte.
Dass er mich nicht schon vor Peterborough umgebracht hatte, zeugte von großer Geduld und ritterlicher Zurückhaltung. Dass ich ihn nicht umgebracht hatte, lag allein daran, dass der Erziehung einer englischen Dame nicht entnommen werden kann, wie man Gewalt wirksam anwendet.
***
Peterborough liegt fünfundachtzig Meilen von London entfernt an der Great North Road. Auf trockenen Straßen im Sommer, mit guten Pferden an jedem Wechsel, lässt sich diese Strecke problemlos an einem langen Tag zurücklegen. Postkutschen, die auch nachts unterwegs waren, konnten in vierundzwanzig Stunden die doppelte Entfernung schaffen.
St. Sevier und ich reisten jedoch im Frühling. Die Straßen von London herauf waren schlammig, zwei verschiedene Pferde aus zwei verschiedenen Gespannen waren lahm geworden, und unser Gefährt war meine eigene geräumige – und daher schwerfällige – Reisekutsche.
An unserem dritten Tag war ich fest entschlossen, zügiger voranzukommen. Ich gab John Coachman die Anweisung, dort Tempo zu machen, wo es sicher möglich war, und wir fuhren los. Das daraus resultierende rhythmische Geruckel in der Kutsche veranlasste St. Sevier dazu, gar nicht erst zu versuchen, seine Zeitung zu lesen.
„Erzählen Sie mir von der Braut“, sagte er und steckte besagte Zeitung in das dafür vorgesehene Fach an der Seite der Kutsche. „Ich glaube nicht, dass Sie sie mir gegenüber je erwähnt haben, bevor die Einladung kam.“
„Fanetta MacPherson war eine Mitschülerin an Miss Harmons Akademie. Wir liebten beide Bücher und verbrachten daher viele Stunden in der Schulbibliothek. Sie war eine wahre Gelehrte, während ich …“
Was war ich gewesen? Darauf wartend, erwachsen zu werden und zu heiraten, wie es sich für wohlerzogene englische Mädchen gehörte?
„Während Sie wirklich neugierig waren“, sagte St. Sevier. „Sie ist Schottin?“
„Sie ist halb Schottin. Ihre englische Mutter wuchs in den Borders auf und heiratete einen Schotten, der leider starb, als Fanny noch jung war. Ich hätte gedacht, Fanny sei längst verheiratet, aber wie ich höre, hatte sie kaum Gelegenheit, in dem gesellschaftlichen Umfeld ihres Stiefvaters passende Bekanntschaften zu machen. Ihre Mutter war lange krank, bevor sie verstarb, und Fanny war ihre Gefährtin und Pflegerin.“
Fanny wäre eine ausgezeichnete Wahl in diesen Rollen gewesen. Sie hatte die melodischste Stimme, und ihr Vortrag wertete alles auf, von Gedichten über Theaterstücke bis hin zu Walter Scotts großartigen Romanzen. Dass sie so fern der Vergnügungen der Drury Lane lebte, war ein schweres Unrecht gegenüber ihrem literarischen Wesen.
„Und nun“, sagte St. Sevier, „lädt Sie diese Frau, die Sie seit über acht Jahren nicht gesehen haben, nach Norden ein, und Sie – die beinahe ein Einsiedlerleben führt – haben gepackt und sich auf den Weg gemacht. Ich muss mich fragen, warum.“
Er fragte mich, warum, und das von der gegenüberliegenden Bank aus. Ich war Witwe, und Anstandsregeln wie jene, niemals eine Bank mit einem Mann zu teilen, der nicht zur Familie oder zum engsten Freundeskreis gehörte, galten für mich nicht mehr. Ich hatte mir meine Freiheit auf eine von zwei Arten erworben, die einer Dame von Stand zur Verfügung standen.
Der erste Weg zur Freiheit bestand darin, meinen guten Ruf aufzugeben, der zweite darin, einen Ehemann zu begraben.
Es gab jedoch einen dritten Weg, der große Diskretion und nicht wenig Raffinesse erforderte. Ich vermutete, dass die meisten Damen aus gutem Hause früher oder später auf diesen dritten Weg stießen und ihr Leben damit wesentlich angenehmer wurde. Sie tranken, sie nahmen sich Liebhaber, frönten dem Glücksspiel und rauchten gelegentlich eine Pfeife Opium oder Haschisch, um ihre Nerven zu beruhigen.
Aber sie ließen sich nicht erwischen. Wenn ich also mein erstes Abenteuer nach der Ehe beginnen würde, dann wollte auch ich mich nicht erwischen lassen, und St. Seviers Diskretion war dieser Herausforderung gewachsen.
„Ich nehme an Fannys Hochzeit teil, weil sie mich nicht nur eingeladen, sondern geradezu gefordert hat, dass ich komme.“ Sie hatte mich in einem Brief gebeten, wie nur Fanny es konnte. Ihre Korrespondenz war über die Jahre sporadisch, aber lebendig gewesen, hatte mir die Schönheit ihrer Heimat beschrieben, das Gezänk der Bediensteten im Haus ihres Stiefvaters und ihre völlige Frustration über dessen gesellschaftliche Untätigkeit geschildert.
„Sie verpassen den Großteil der Frühjahrssaison in London“, sagte St. Sevier. „Stört Sie das?“
„Keineswegs.“ Die Kutsche erreichte ein glattes Stück Straße, und ich ließ den Halteriemen los. „Das Letzte, was ich will, ist meine Zeit mit lauter sinnlosen gesellschaftlichen Anlässen zu verbringen, bei denen ich den Avancen der Freunde meines verstorbenen Mannes ausweichen muss.“
„Man bedrängt Sie direkt? Engländer sind so ungeschickt.“
Während Franzosen dagegen nervtötend begriffsstutzig sein konnten. Hugh St. Sevier war im Winter der Begleiter meiner Wahl gewesen, und egal wie sehr ich mich auch an seinen angebotenen Arm schmiegte oder wie oft ich ihn auf eine späte Tasse Tee einlud, er war nie mehr als vollkommen korrekt zu mir.
Und das störte mich. Er hatte mich ein- oder zweimal geküsst, als wir auf unseren Ausflügen außerhalb der Stadt gewesen waren, aber seit unserer Rückkehr von der Hochzeit meines Bruders hätte Hugh genauso gut zu den eingefleischten Junggesellen Londons gehören können.
Während ich zunehmend das Bedürfnis verspürte, meine Flügel auszubreiten.
„Diese Lümmel machen sich nicht einmal die Mühe, mich zu umwerben“, erwiderte ich. „Einige von ihnen gehen einfach davon aus, dass ich willig bin, und …“ Ich machte eine kreisende Handbewegung. „Ich musste Timothy Carstairs auf den Fuß treten, damit er seine Hände und Lippen von mir lässt.“
„Carstairs ist der hübsche Blondschopf mit dem süßen Mund?“
„Genau der.“
„Er verkehrt gerne mit Männern“, sagte St. Sevier. „Ich sage nicht, woher ich das weiß, aber es ist Tatsache. Er belästigt Sie, um seine Männlichkeit zu beweisen oder wenigstens genug Gerüchte zu streuen, um seine Vorlieben zu verschleiern. Es ist mir gleich, mit wem er sich verabredet, solange es einvernehmlich geschieht, aber ich werde ihn für Sie verdreschen, wenn Sie es möchten.“
Hugh war stets galant, auch wenn er meine direkten Avancen nicht bemerkte. „Nein, danke. Je weniger Aufhebens, desto besser. Carstairs hat sich immerhin entschuldigt. Henry Newell war da nicht halb so gnädig.“
„Der.“ St. Seviers Gesicht spiegelte klassisch gallische Verachtung. „Er glaubt, weil Gott ihm blonde Locken geschenkt hat, sollten die Frauen ihm zu Füßen liegen, trotz seines schwachen Kinns und seiner großen Ohren. Er ist dumm, was er nicht ändern kann, aber für seine Arroganz sollte er verprügelt werden.“
St. Sevier hatte recht – Henry Newell war weder gut aussehend noch klug. St. Sevier dagegen war ein attraktiver Teufel, mit kastanienbraunem Haar, rehbraunen Augen und genug Größe und Muskelkraft, dass er selbst ohne seinen charmanten französischen Akzent ein begehrter Gast auf jeder Einladungsliste gewesen wäre. Sein Akzent, fiel mir auf, wurde stärker, wenn er von heftigen Gefühlen ergriffen war, und er fluchte am liebsten in seiner Muttersprache.
Welche Sprache würde er wohl im Bett benutzen?
„Violet, haben Sie Ihre gesellschaftlichen Abende in meiner Begleitung verbracht, nur um Mayfairs Horde von Henry-Nichtsnutzen zu entgehen?“
Und manchmal war St. Sevier sehr scharfsinnig. „Ich blieb nicht bloß an Ihrer Seite, um den Lümmeln zu entkommen.“ Näher an eine Einladung zur Offenheit war St. Sevier in den letzten sechs Monaten kaum gekommen. Ich suchte nach einer subtilen, geistreichen Bemerkung oder zumindest nach etwas, das nicht albern klang.
„Ich mag Sie, Hugh.“ Nicht gerade meine schlagfertigste Bemerkung. „Ich mag Sie und …“
Er legte den Kopf schief. „Und?“
„Und ich mag Sie.“ Eine Röte stieg mir vom Hals in die Wangen. Ich sagte ihm nicht, dass seine Küsse sich mir ins Gedächtnis eingebrannt hatten wie perfekte Feiertage, oder dass ich mir ausmalte, wie er ohne Kleidung aussah, oder dass ich es genoss, ihn zu berühren.
„Ich verehre Sie“, erwiderte er und griff nach seiner Zeitung. „Ich hoffe, in dieser Hinsicht war ich deutlich genug.“
Er schüttelte seine Zeitung aus, und ich fragte mich, ob er mich auf den Arm nahm.
„Wussten Sie, dass sich diese Bänke zu einem recht bequemen Reisebett ausklappen lassen?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. „Das Geruckel ist im Liegen wesentlich erträglicher.“
Er faltete die Zeitung und las den Artikel in der oberen rechten Ecke. „Violet, machen Sie mir gerade ein Angebot? Falls ja, kann ich Ihnen zwei Fakten nennen, die für Ihre Absichten von Bedeutung sind. Erstens – ich begehre Sie wie verrückt. Und wenn ich sage verrückt, meine ich verrückt. Zweitens – falls mir die große Ehre zuteilwird, Ihr Liebhaber zu sein, werde ich nicht zulassen, dass unsere Leidenschaft ihren Anfang in dieser rollenden Monstrosität nimmt, in der Ihr verstorbener Ehemann sich zwischen den Poststationen mit Ihnen vergnügt hat.“
Dass Hugh auf eine Gelegenheit verzichtete, mit mir zu schlafen, tat weh – aber dass er meinen Ehemann für den lüsternen Opportunisten hielt, der er gewesen war, tröstete mich.
„Also.“ St. Sevier faltete die Zeitung erneut. „Haben Sie mir ein Angebot gemacht?“
„Sie schmeicheln sich maßlos.“
Er grinste und salutierte mit zwei Fingern. „Verzeihung für meine Annahme. Möchten Sie die Gesellschaftsseiten lesen?“
Die Gesellschaftsseiten waren mir völlig gleichgültig. „Danke.“
Er reichte sie mir, und über die nächsten drei Wechselstationen hinweg starrte ich pflichtschuldig auf das Geschwätz über ein venezianisches Frühstück. Die ganze Zeit über war ich jedoch mit einer Frage beschäftigt: Wenn Hugh St. Sevier unsere Leidenschaft nicht in meiner bequemen Reisekutsche ausleben würde, unter welchen Umständen würde er es tun?
***
St. Sevier und ich verfielen in eine gewisse Routine: Wir lasen einander vor, dösten auf unseren jeweiligen Bänken und nahmen sogar – was unter normalen Umständen nicht üblich war – abwechselnd auf dem Kutschbock neben John Coachman Platz. Die Landschaft auf unserer Reise nach Norden beeindruckte mich sehr, denn sie war dramatischer als die sanften ländlichen Hügel des Südens. An unserem vierten Abend hielten wir bei einem Gasthof, der bessere Unterkunft versprach als die meisten.
Leider war das Stag and Stork so lärmend wie ein Marktplatz am Wahltag. Am fünften Morgen stieg ich erschöpfter in die Kutsche, als ich am Vorabend ausgestiegen war.
Wir zankten uns den halben Tag lang, und ich bestand darauf, unsere Reise mit einem Picknick zu unterbrechen. Unser Kutscher und der Stallknecht nahmen nur zu gern ein oder zwei zusätzliche Pints im Schankraum eines Landgasthauses zu sich, während St. Sevier und ich unser Mittagessen auf einer Decke unter einer riesigen Eiche auf dem Dorfanger einnahmen.
Wir waren in Yorkshire, für mich Neuland, und ich empfand die frische Luft und den weiten Himmel als belebend.
„Sie haben Appetit“, sagte St. Sevier, als ich mein zweites Schinken-Käse-Brötchen zu essen begann. „Nur großer Hunger könnte einen feinen Gaumen über das hinwegsehen lassen, was in England als Senf gilt.“
„Ich habe tatsächlich Appetit“, sagte ich, „und ich habe darum gebeten, Ihre Brötchen mit Butter statt Senf zu bestreichen, weil ich weiß, dass Ihre Verdauung empfindlich ist.“
Er saß mit überkreuzten Beinen auf seiner Hälfte der Decke, und im hellen Licht des frühen Nachmittags konnte ich sehen, dass St. Sevier in der letzten Nacht nicht mehr Schlaf bekommen hatte als ich.
„Meine Verdauung ist der Beleidigung durch englischen Senf angemessen“, entgegnete er. „Ich war beim Militär. Ich hätte zuweilen sogar gekochte Baumrinde gegessen und wäre dankbar gewesen. Das heißt aber nicht, dass ich im Frieden nach kulinarischem Leid strebe. Sie haben da einen Klecks Butter …“ Er fuhr mit seinem kleinen Finger den Rand meiner Lippe entlang. „Englische Butter, das muss ich zugeben, ist besser als jede, die ich auf dem Kontinent probiert habe, obwohl irische Butter noch besser ist.“
Er dozierte über die Butter verschiedener Nationen, während ich mir mit einer Serviette den Mundwinkel abtupfte. Als ich mich fertig gesäubert hatte, fuhr Hugh langsam mit der Zunge über seine buttrige Fingerspitze.
Als wäre ich von einem herabfallenden Ast auf den Kopf getroffen worden, so wurde mir klar, dass er möglicherweise mit mir flirtete.
Oder auch nicht. Wir packten zusammen und stiegen wieder in das Monstrum, und fast sofort wurden mir die Augen schwer.
„Sie brauchen ein Nickerchen“, sagte Hugh. „Als Ihr Reisegefährte habe ich kein Verlangen, die scharfe Zunge zu ertragen, die Schlafmangel bei Ihnen zur Folge hat. Ich glaube, Sie erwähnten, dass die Bänke sich ausklappen lassen?“
„Das habe ich bereits vor drei Tagen erwähnt, St. Sevier.“
„Vor zwei, und nun sind wir müde und der Nachmittag liegt noch vor uns. Ruhen wir uns aus.“ Er erhob sich und benötigte trotz des Schwankens der Kutsche nur einen Moment, um Kissen und Decken aus den mit Zedernholz ausgekleideten Fächern unter den Bänken zu holen und unsere Sitze zu einer brauchbaren Matratze umzufunktionieren.
„Sie scheinen mit den Mechanismen der Kutsche vertraut zu sein“, sagte ich, während ich mir eine Decke über die Beine zog.
„Ich habe meine eigenen Fahrzeuge“, entgegnete er und reichte mir ein Kissen. „Nicht so geräumig wie Ihre Vergnügungsbarke, aber ausreichend.“ Er setzte sich an die Rückwand gelehnt, während er seine Stiefel und Strümpfe auszog.
Ich tat es ihm mit meinen Halbstiefeln gleich und stellte unser Schuhwerk an die Tür. Dass Hugh und ich gemeinsam barfuß waren, ließ meine Fantasie auf allerlei unkeusche Wege abschweifen.
„Ich werde Ihr Kissen sein“, sagte er, wobei er aus dem Angebot eher eine Feststellung machte. „Legen Sie sich ein Kissen hinter den Rücken und den Kopf hierher.“ Er klopfte auf seinen muskulösen Oberschenkel. „Sie werden eingeschlafen sein, noch bevor wir das nächste Mal Pferde wechseln.“
St. Sevier hatte offenbar tatsächlich in fahrenden Kutschen geschlafen, im Gegensatz zu dem, was mein Mann mit mir als Freizeitbeschäftigung darin betrieben hatte. Ich stellte fest, dass man sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt und leicht schräg liegend tatsächlich bequem ausstrecken konnte. Das Kissen in meinem Rücken dämpfte das Schwanken der Kutsche, und als ich den Kopf in St. Seviers Schoß bettete, streichelte er mir das Haar.
„Wunderbar. Nun schließen Sie die Augen und schlafen Sie. Sollte ein Straßenräuber auftauchen, werde ich Sie wecken, damit Sie ihn mit Sonnenschirm und Hutnadel vertreiben. Das verspreche ich, Mylady.“
Seine Berührungen waren auf magische Weise beruhigend und – zu meiner Enttäuschung – nicht im Geringsten verführerisch. Dennoch genoss ich seine Zärtlichkeit, genoss das Gefühl von Fürsorge und Zuneigung, das sie vermittelte, und bald dämmerte ich weg. Ich konnte mich nur wieder darüber wundern, ob diese skandalöse Vertraulichkeit nicht doch ein verstohlener Flirt war oder gar – wahrlich, meine Fantasie schlug Kapriolen – tatsächlich ein Verführungsversuch.
Erst drei Stationen später wachte ich wieder auf. Als wir am Abend unseren Gasthof erreichten, begleitete Hugh mich nach dem Abendessen zu meinem Zimmer und verneigte sich über meiner Hand mit derselben höflichen Korrektheit wie an den Abenden zuvor.
„Wenn ich Sie einlüde“, fragte ich, „würden Sie hereinkommen?“
Er hielt meine Hand fest, sein Griff war warm. „Natürlich, für eine Partie Whist oder ein weiteres Kapitel aus Walter Scotts Abenteuergeschichten. Wenn Sie mich jedoch fragen, ob ich Sie in einem englischen Gasthof verführen würde, bei dem der Lärm des Schankraums unsere Musik und der Stallgeruch unser Duft ist, muss ich mich fragen, ob Sie nicht ein leichtes Fieber haben. Ein so bedeutsames Vorhaben verdient allen Luxus und Komfort, den man sich nur vorstellen kann.“
„Zum Glück“, erwiderte ich, „habe ich Ihnen so etwas gar nicht vorgeschlagen. Gute Nacht, St. Sevier, und danke für einen weiteren Tag prächtiger Gesellschaft.“
Er verbeugte sich. „Zu Diensten, Mylady.“
Er entfernte sich den Korridor entlang, und vielleicht bildete ich es mir nur ein – ein leichtes Fieber, gewiss –, doch es schien mir, als würde St. Sevier ganz subtil für mich stolzieren. In dieser Nacht schlief ich gut und träumte wundervoll unanständige Träume, und St. Sevier kam in jedem einzelnen davon vor.