Leseprobe Kerwe, Kater und Kadaver | Ein Pfalz-Regiokrimi mit Witz, Mord und ungleichem Ermittlerduo

1. Merlot oder Weißburgunder?

Jonas streckte sich und bereute es augenblicklich. Sein Sofa war nicht dafür gemacht, darauf zu übernachten. Es war zu kurz und zu schmal, die Decke zu dünn und die Nähte des Sofakissens hatten bestimmt einen Abdruck in seinem Gesicht hinterlassen. Sein Rücken fühlte sich an, als sei jemand darauf Schlitten gefahren. So ähnlich musste sich ein Achtzigjähriger fühlen, wenn er morgens aus dem Bett kroch. Aber er war nicht achtzig, sondern erst Ende zwanzig. Und wer war schuld, dass er sich wie achtzig fühlte?

Die Jessica.

Die gerade in seinem Bett schlief, nachdem sie mitten in der Nacht Sturm geklingelt hatte. Völlig verheult war sie gewesen, die Augen zugequollen, die Wimperntusche verlaufen.

„Der Manuel“, hatte sie geschluchzt. „Der Manuel, der Schuft.“

Was der Manuel Böses getan hatte, wusste Jonas immer noch nicht. Nur, dass die Jessica mächtig sauer auf ihn war, weil … Ja, keine Ahnung. So weit war sie nie gekommen.

Und dann hatte sie mit den Wimpern geklimpert, was gar nicht so sexy aussah, wie sie wahrscheinlich glaubte. Und sie hatte geflötet: „Ach, Jonas, du Lieber. Kann ich nicht bei dir schlafen? Nur eine Nacht. Ich weiß ja gar nicht, wo ich hinsoll.“

Jonas waren eine Menge Freundinnen eingefallen, zu denen sie gehen konnte. Die Sandra, die Uschi, die Simone und die Nina. Aber nein, er hatte wieder einmal nicht den Mund aufgekriegt und irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart gemurmelt.

„Ach, ich hab ja gewusst, dass du nicht Nein sagst“, hatte die Jessica geflötet. „Du bist halt ein Lieber. Mein Allerliebster.“

Und sie hatte sein Haar gewuschelt und seine Schultern getätschelt. Was für ein toller Kerl er doch sei, so als angehender Kommissar. Jaja, die Polizei, dein Freund und Helfer. Da bewahrheitete sich der Spruch wieder. Und dann war sie einfach in sein Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht.

Und er hatte wie ein Trottel in der Küche gesessen und auf die Espressotasse geglotzt, die sie stehen gelassen hatte. So wie vor einem Jahr, als die Jessica ihm wegen dem Manuel den Laufpass gegeben hatte. So war sie, die Jessica.

Und wenn er so dämlich war, wieder auf ihr Wimperngeklimpere und ihre Krokodilstränchen hereinzufallen, dann geschah es ihm recht, dass er sich wie gerädert fühlte. Also konnte er auch das Selbstmitleid einstellen, und Zähne putzen und sich rasieren. So bekam er wenigstens den Geschmack nach muffigen Schuhen aus seinem Mund und rasieren gab ihm wenigstens das Gefühl, dass seine Haut aufgewacht war. Wenn sein Hirn auch immer noch das Gegenteil behauptete.

Der Tran musste schuld daran sein, dass er ins Schlafzimmer tappte. Nur um dort die Jessica in seinem Bett zu finden, die immer noch selig schlief und wahrscheinlich seinen Kopfkissenbezug mit Wimperntusche eingesaut hatte. Die Nacht, die er ihr versprochen hatte, war vorbei. Zeit, dass er sie weckte und ihr die Tür zeigte. Sonst nistete sich die Zecke am Ende noch dauerhaft bei ihm ein.

„Der Manuel, der Schuft“, hörte er sie wieder schluchzen. Jesses, er konnte sie doch jetzt nicht einfach vor die Tür setzen. Wenigstens ausschlafen lassen sollte er das arme Mädel. Wäre ja nicht schlimm, wenn sie sich vielleicht erkenntlich zeigte. Und vielleicht, man konnte ja nie wissen … Schlecht war es nicht gewesen, als sie zusammen waren. Jedenfalls war ihm nie langweilig geworden.

Musste er das jetzt alles am frühen Morgen übers Knie brechen, wenn sein Hirn so lahm war wie eine altersschwache Ente? Ging das nicht anders und später? Weniger aufwändig? So dass er jetzt kein erneutes Geflenne und Gejammer ertragen musste?

Kleider, erinnerte er sich. Deswegen war er hereingekommen. Da lagen seine Jeans, frische Unterwäsche, Socken – und ein frisches T-Shirt stahl er aus dem Schrank. Husch, wieder raus, ehe sie wach wurde. Okay, das Shirt war jetzt nicht unbedingt die erste Wahl für den Dienstantritt, aber vielleicht hatte seine Chefin ja Humor. Dann würde es ihr vielleicht gefallen. Immerhin war es Justitia, die auf der Vorderseite prangte.

Kaffee. Kaffee war immer gut. Der half ihm vielleicht dabei, sein schlafendes Gehirn aufzuwecken. Das Röhren der Kaffeemaschine half leider nicht. Natürlich musste er Wasser und Bohnen nachfüllen. Er musste immer Wasser und Bohnen nachfüllen. Nur der Trester blieb ihm heute erspart.

Und jetzt? Während er schlaff wie ein nasser Sack auf dem Barhocker saß, fand er den Schreibblock, der dort lag und ihn daran erinnerte, dass er Milch und Oregano brauchte. Er riss ein Blatt ab, holte sich den Kaffee. Vielleicht half der ihm ja dabei, das leere Blatt mit Text zu füllen. Okay, wie fing er an?

Liebe Jessica – nee, ganz schlecht. Hallo, Jessi – ja, das war schon besser.

Musste ins Büro. – Das war nicht gelogen.

Bedien dich und mach dir Frühstück. – Jo, das war nett und unverfänglich. Jetzt kam der schwierige Teil.

Schönen Tag noch, ich hoffe, du bist weg, bis ich nach Hause komme. – Ganz schlecht. Alles Gute mit Manuel, bis bald! – Nee, das war nicht besser. Dann konnte er genauso gut „Verpiss dich!“ schreiben. Ja, wollte er denn überhaupt, dass sie ging? Mann, musste er das jetzt entscheiden? Konnte er die Entscheidung nicht einfach ihr überlassen? Das war genial! So machte er es: Wenn du gehst, zieh die Tür einfach hinter dir zu. Unterschrift: Dein Jonas! – Bloß nicht! Einfach Jonas, das müsste genügen.

Super! Jetzt die Nachricht so auf der Frühstückstheke platzieren, dass sie sie nicht übersehen konnte. Perfekt! Er war ein bisschen stolz auf sich.

Pling! Das war das Handy. Mit einem Fingerdruck aktivierte er es. Eine Textnachricht. Von Laura. „Melde dich mal wieder!“ Dahinter ein lachender Smiley. Verflixt! Er hatte der Laura versprochen, dass er ihr die Termine mitteilte, wenn sie einen Gig hatten. Und am Sonntag war es wieder so weit. Das hatte er ihr doch bestimmt geschrieben. Er scrollte im Nachrichtenchat hoch. Nö, da war nichts. Jesses, das musste er ihr noch schreiben.

Ach, du Schande! Schon kurz vor drei viertel acht. Runter mit dem Kaffee! Jacke, Rucksack. Laptop war drin. Motorradhelm, Handschuhe, Schuhe an. Tür zu.

Hoffentlich hatte er nichts vergessen.

War ja klar, dass jetzt noch sein Vater vorbeikommen musste. Zärtlich rieb Jonas mit seinem Schal einen Fleck vom glänzenden schwarzen Lack des Tanks, ehe er den Schal anlegte.

„Vater, ich muss!“

Wie als Beweis drehte er die Maschine ein bisschen auf. Der Sound war schon geil.

„Stopp, wo wilschten hin?“

„Nach Landau, ins Kommissariat.“ Wohin sonst? Rucksack gerade rücken.

„Isch brauch dich beim ausgeize vunn de Ausles.“

„Ja, Vater. Aber nicht jetzt. Heute Abend. Ich muss.“

„Du hoscht a immer ä Ausred.“

„Vater, das ist keine Ausrede. Schon vergessen? Ich habe jetzt einen Job.“

„Wieso hoschten du iwwerhaupt Kommissar werre misse? Langt der des Woigut net?“

„Vater, das habe ich dir doch schon x-mal erklärt. Ich -“

„Nix hoscht erklärt. Eefach fort bischt gange. Isch wart immer noch druff, dass du’s mer erklärscht.“

Grundsatzdiskussionen! Ja, die konnte sein Vater gut. Deswegen hatte er auch keine Lust, mit ihm zusammen das Weingut zu führen. Immerhin, er konnte guten Gewissens behaupten, dass er es versucht hatte. Ein paar Jahre nach dem Weinbaustudium, bis er es nicht mehr ausgehalten hatte. Und wenn der Vater nur ein einziges Mal zugehört hätte, dann wüsste er, weshalb Jonas Kommissar werden wollte. Weil es sich sinnvoll anfühlte. Aber ihm das zu erklären, hatte ohnehin keinen Sinn. Nur die Mutter, die verstand das. Und die war auch der einzige Grund, weshalb er noch in der Gästewohnung wohnte. Weil es ihr das Herz brechen würde, wenn er ging. Okay, und auch weil es super bequem war und sie seine Wäsche wusch und er so keine Wohnung suchen musste.

„Vater, wirklich! Ich muss jetzt los. Sonst komme ich zu spät.“ Und das am ersten Tag!

„Geh mer fort. Du kummscht doch immer zu spoot. Immer nur nemme, awwer nix gewe. Henn mer disch so erzooge?“

„Ach, Vater. Ich helfe dir ja. Heute Abend.“ Schnell den Helm aufziehen, aber der Vater hielt seinen Arm fest.

„Und was iss mit dere Schickse? Geht die a noch?“

„O Vater! Das ist keine Schickse. Das ist die Jessica und -“

„Die Jessica? Isch hab gedenkt, mit dere isses aus. Was machten die doo?“

„Die Jessi hat Krach mit dem Manuel und deswegen hat sie eine Nacht bei mir geschlafen.“

Und woher wusste der Alte das überhaupt? Jessica war doch mit dem Taxi gekommen. Spionierte er etwa hinter ihm her?

„Und desdewege schlofscht jetzt widder mit ere.“

Einfach bis zehn zählen! Damit er nicht explodierte und die Geduld verlor. Vielleicht war das Wäsche waschen doch nicht so toll, wenn er das Gezeter des Vaters jeden Tag ertragen musste.

„Vater! Erstens geht dich das nix an und zweitens hab ich nicht mit ihr geschlafen. Die Jessica hat nur ein Bett gebraucht für eine Nacht und -“

„Die Jessica? Awwer isses mit dere net aus?“

Die Mutter hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Auch wenn sie lieb war.

„Mutter, ich hab’s dem Vater schon erklärt. Die Jessica hat Krach mit dem Manuel und deswegen hat sie eine Nacht bei mir geschlafen.“

„Na, dann bass nur uff, dass se dich net widder oiwiggelt.“

„Mutter, ich lass mich nicht einwickele.“ Eigentlich war das schon längst passiert, wenn er ehrlich zu sich selbst war.

„Was issen mit de Laura? Des iss ä ostännisches Mädsche. Die basst zu der!“

„Mutter, was hat denn jetzt die Laura damit zu tun?“

Die Laura war ja lieb. Aber allein die Vorstellung, die Laura zu daten, das war ja, als ob er mit Kevin, Niklas und Felix ausgehen würde. Allein bei der Vorstellung gruselte ihm.

„Des werscht hoffentlich noch rausfinne. Aber Andi, weswege isch dich gsucht habb. Der Fahrer do“, die Mutter zeigte auf den Tanklaster, der hinter dem Schmalspurtrecker im Hof stand, „sagt, dass er fünfhunnert Litter Spätburgunder fer Aldi kriegt. Awwer mer henn doch gar kein Spätburgunder mehr.“

„Mutter, die Laura -“

Aber der Vater unterbrach ihn. „Awwer mer henn Merlot.“

„Awwer er will doch Spätburgunder.“

„Dann iss der Spätburgunder jetzt ewe Merlot. Hoschtst jetzt verstonne?“

„Was sagt en de Baba dezu?“

„Doin Vadder hot noch vor e paar Joor Zucker in de Woi gedon. Der soll gonz ruisch soi.“

Jesses, schon wieder fünf Minuten um! Jetzt oder nie. „Ich muss!“ Helmvisier runter und Gas geben.

„Ausgeize net vergesse heit owend“, rief der Vater. „Und schmeiß die Schickse raus! Hoscht ghert?!“

Gehört hatte er es. Aber da er bereits am Tanklaster vorbei durchs Hoftor fuhr, konnte er so tun, als hätte er es nicht gehört. Laut genug war die Maschine, Gott sei Dank.

***

„Ja, ja, ja! Ich komm ja schon“, brummte Sabine.

Den roten Kater beeindruckte das nicht. Er maunzte weiter, als wäre er am Verhungern. Auf das Getue fiel sie nicht rein. Sobald sie ihm etwas Nassfutter in Gelee – nur in Gelee, in Soße kam nicht infrage! – in den Napf getan hatte, würde er wieder das feine Näschen rümpfen und ihr und dem Futter die kalte Schulter zeigen.

Natürlich passierte genau das. Hannes schleckte fein säuberlich das Gelee ab und maunzte dann weiter. Der Tonfall war so jämmerlich, als beschwerte er sich, wieso sie ihm immer das falsche Futter kaufte.

„Was willst du eigentlich, Hannes? Reines Gelee?“

Als Antwort kam ein Maunzen.

Wieso hatte das noch niemand erfunden? Reines Gelee. Darauf müssten Katzen doch fliegen. Das wäre der Verkaufsschlager! Aber wer weiß, wenn die Brocken fehlten, um die man jetzt drumherum fraß, beklagte sich der feine Herr Kater vielleicht darüber, dass die Brocken fehlten, die er jetzt so mied.

Na gut! Geschlagen griff Sabine zum Trockenfutter und ließ eine Handvoll Körner in ein anderes Schälchen rieseln. Sofort stürzte Hannes sich darauf, als wäre er komplett ausgehungert. Bald hörte sie sein knuspern. Wenn er danach nur nicht wieder postwendend kotzte. Wieso gab sie ihm das Zeug eigentlich? Sie wusste doch, was die Konsequenzen waren.

Gähnend schlurfte sie zum Kaffeevollautomaten und schaltete ihn an. Während die Maschine röhrend einmal durchspülte, beobachtete sie den roten Kater, der zufrieden knusperte. Na, keine Retourkutsche heute? Zweifelnd schob sie die grüne Kaffeetasse mit der gelben Sonnenblume unter den Brühkopf und ergötzte sich an dem Geruch des dampfenden Kaffees, der in die Tasse sprudelte. Sie goss noch ein Schlückchen Biomilch dazu, um sich dann im Esszimmer in den Ohrensessel mit Blick auf den verwilderten Garten zu setzen.

Eine Blaumeise kam angeflattert, landete nach einigem Hin und Her auf dem Meisenknödelspender und pickte daran herum. Die Morgensonne hüllte die Szenerie in goldenes Licht. War das schön! Als sie die Kaffeetasse an die Lippen setzte, um den ersten Schluck zu genießen, hörte sie hinter sich in der Küche das würgende Geräusch des Katers, der das Trockenfutter erbrach.

Och nee! Sollte sie jetzt aufstehen, um die Kotzwurst wegzumachen? Da wiederholte sich das Würgegeräusch an anderer Stelle. Sitzenbleiben, einfach sitzenbleiben, mahnte sie sich. Die Blaumeise hatte derweil Gesellschaft erhalten. Drei Spatzen hatten sie verjagt. Nun saß sie unschlüssig auf einem Ästchen und wartete auf eine neuerliche Gelegenheit, ans Futter zu kommen. Später, geduldete Sabine sich. Die Kotzwurst würde nicht weglaufen, die Vögel schon.

Da kam Hannes und verlangte ihre Aufmerksamkeit. Nach drei Drehungen und wildem Getrete hatte er ihren Schoß endlich so weit vorbereitet, dass er sich darauf niederlassen konnte. Die Vögel ließen sich davon nicht stören. Seufzend streichelte Sabine den dicken Katerkopf, während sie mit der anderen Hand an ihrem Kaffee nippte. So ließ es sich aushalten! Wen störte da schon die Kotzwurst?

Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte der Tasse getrunken, als sie jenseits des Staketenzauns eine Gestalt ausmachte. Och nee! Nicht der Lehmann! Nicht, wenn sie noch nicht einmal ihren Kaffee ausgetrunken hatte. Aber der Lehmann ließ sich von ihren Gedanken nicht beirren, sondern drängte sich am Forsythienstrauch vorbei an den Staketenzaun und winkte. Hatte der nichts Besseres zu tun?

Vielleicht, wenn sie einfach so tat, als sähe sie ihn nicht … Da drang seine quäkende Stimme durch die geschlossenen Scheiben an ihre Ohren. „Frau Spieß! Frau Spieß, die Himbeeren …“

Die Himbeeren! Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was der Lehmann wollte. Die Himbeeren wuchsen durch den Zaun in seinen Garten. Die bösen Himbeeren! Überhaupt war ihr Garten eine Schande. Überall nur Unkraut. Da müsste mal ein Mann her, der Ordnung schaffte. Wenn das so weiterging, würde er die Ordnungsbehörde einschalten, denn das Unkraut breitete sich von ihrem Garten in seinen aus. Das ging ja gar nicht. Das hatte er nicht zu dulden.

„Frau Spieß!“

Wenn sie jetzt nicht aufstand, würde der Kerl noch ihren Staketenzaun kaputtmachen. „Tut mir leid, Hannes“, brummte sie, während sie den Kater von ihrem Schoß schob und die Tasse auf dem Esstisch abstellte. Die Strickweste fest um sich geschlungen, öffnete sie die Terrassentür und machte ein paar Schritte hinaus auf die Sandsteinplatten.

„Guten Morgen, Herr Lehmann. Was gibt’s denn?“ Immer höflich bleiben. Auch wenn es noch so schwerfiel.

„Die Himbeeren“, begann er.

Natürlich!

„Die Himbeeren wachsen in mein Staudenbeet. Frau Spieß, Sie müssen die Himbeeren beseitigen. Das geht so nicht weiter!“

„Himbeeren machen halt Wurzelbrut.“

„Ja, dann müssen Sie sie halt eindämmen.“

„Sie dürfen auf Ihrer Seite gerne alles wegmachen. Oder sie pflücken. Schmecken ja auch.“

„Ja, das würde Ihnen so passen! Dass ich die Arbeit für Sie mache.“

„Entschuldigung, Herr Lehmann. Aber der Zaun da ist die Grenze. Was Sie jenseits des Zauns machen, geht mich nichts an. Das gilt umgekehrt auch für Sie. So einfach ist das. Soll ich Ihnen noch den passenden Paragrafen heraussuchen?“ Als ob sie den als Staatsanwältin a. D. nicht kannte!

„Dass Sie sich mit Paragrafen auskennen, weiß ich schon. Aber Ihre Himbeeren wachsen in mein Staudenbeet und -“

„Es steht Ihnen frei, sie zu entfernen.“

„Ja, Ihre Arbeit soll ich machen. Das hätten Sie wohl gern. Außerdem weht der Samen von Ihrem Unkraut in meinen Garten. Mein Rasen ist schon voller Löwenzahn und Gänseblümchen.“

„Ja, und? Dann haben die Wildbienen wenigstens etwas zu fressen.“

„Hören Sie mir mit Ihren dämlichen Wildbienen auf! Außerdem kackt Ihr lästiges Katzenvieh überall in meinen Garten und zerwühlt die Staudenbeete.“

„Das nennt man artgerechte Haltung.“

„Machen Sie sich nur über mich lustig. Sie werden schon sehen, was Sie davon haben!“

Sabine zuckte mit den Schultern und kehrte zu ihrem Ohrensessel zurück. Der Kaffee war kalt geworden und die Meise und die Spatzen waren auch weg. Da konnte sie auch gleich noch die Kotze wegmachen.

2. Pralinen und Haferschnitten

Zu spät!

Natürlich! Wie immer. Wieso schaffte er es eigentlich nie, rechtzeitig zu kommen? Nicht, dass er nicht früh genug wach gewesen wäre. Dafür hatte schon das verdammte Sofa gesorgt. Aber dann kamen immer andere mit ihren Befindlichkeiten und hielten ihn auf.

„Du hast einen Sprachfehler“, hatte Laura mal gesagt. „Du kannst nicht Nein sagen.“

Deshalb lag die Jessica jetzt in seinem Bett. Deshalb erwartete der Vater jetzt, dass er ihm heute Abend beim Ausgeizen half. Und deshalb war er jetzt zu spät. Wieder einmal.

Laut genug angekündigt hatte er sich. Seine alte Triumph wirkte fehl am Platz zwischen den Mittelklassefahrzeugen neben dem altehrwürdigen Gebäude. Er ergötzte sich noch mal an ihrem Anblick. Schnell abschließen, Helm ab. Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe hoch.

Lambrecht, fand er das Türschild, das ihm zeigte, dass er hier richtig war. So hieß seine neue Chefin. Einmal mit dem fünfzinkigen Kamm durch die Haare fahren, ehe er an der Tür klopfte.

„Herein“, rief eine muntere Stimme.

Eine Frau Mitte vierzig mit blondem Pferdeschwanz lachte ihn an. Ihre Blusenknöpfe drohten von ihrer Oberweite gesprengt zu werden. Überhaupt saß der dunkelblaue Hosenanzug sehr figurbetont auf ihren üppigen Rundungen.

„Ah, der Neue“, verkündete sie und pflückte etwas Kleines, Rundes, Braunes aus ihrer Schublade und steckte es in ihren Mund.

„Tut mir leid, dass ich zu spät …“

Kauend kam sie um den Schreibtisch herum und schüttelte seine Hand. Dabei musterte sie ihn von oben bis unten. Gleich würde sie etwas über sein Shirt sagen. „Manuela Lambrecht. Kriminalhauptkommissarin.“ Sie klopfte gegen den Helm. „Easy Rider, was? Gute Idee, um den Stau und die Parkplatzsuche zu umgehen. Hat wohl nicht geklappt heute Morgen.“ Sie lachte, als hätte sie einen Witz gemacht.

„Meine Eltern …“ Eigentlich waren die schuld. Und wenn er sich richtig erinnerte, dann war einer der beiden – Dennis Hopper oder Peter Fonda – in dem alten Schinken umgebracht worden. Oder wenigstens fast. Von wegen große Freiheit! Und überhaupt war ein Motorrad einfach nur ein Fortbewegungsmittel. So wie ein Auto. Okay, aber der Sound war besser. Das musste er zugeben.

„Auch eine Praline?“, fragte sie.

Pralinen waren das also, die sie in ihren Mund steckte. „Nein danke!“

„Dann bring ich Sie jetzt zu Ihrem Kollegen. Sie werden sich wunderbar verstehen.“ Sie lachte wieder. Was daran witzig war, verstand er nicht.

Aber was war das denn für ein Instrumentenkoffer, der da in der Ecke stand? Das sah aus, als verberge sich darin ein Blasinstrument.

„Ist das Ihres?“, fragte er.

„Ah, die Tuba!“ Sie nickte. „Kerweumzug am Sonntag. Wir haben heute Abend Probe. Wehe, Sie kommen nicht. Das wird als Fehlstunde negativ in Ihrer Akte vermerkt.“ Erneut lachte sie, ehe sie an ihm vorbei auf den Flur ging und eine der Türen gegenüber aufriss.

Der Mann, der dahinter an einem der beiden Schreibtische saß, fiel fast vor Schreck vom Stuhl. Wie von einer Tarantel gestochen sprang er auf und nahm Haltung an. Fehlte nur noch, dass er salutierte. Ein Tom-Selleck-Gedächtnisschnauzer zierte sein Gesicht, konnte aber das lichte Haupthaar nicht wettmachen.

„Frau Lambrecht“, stotterte er.

Eilig bot Jonas dem Mann die Hand. „Jonas Braun. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Sein Partner in spe nickte steif. „Ebenso. Konrad Gellert ist mein Name.“ Seine Hand fühlte sich so kalt und leblos an wie ein toter Fisch.

Lambrecht schlug Gellert leutselig auf die Schulter. „Freuen Sie sich doch mal, Gellert. Jetzt haben Sie endlich den passenden Partner an Ihrer Seite!“ Dann lachte sie, als hätte sie einen besonders guten Witz gemacht.

„Sie sind fünf Minuten zu spät“, stellte Gellert fest, als Lambrecht gegangen war.

„Meine Eltern -“, begann Jonas.

„Sie müssen aufpassen, dass sich Ihre Fehlzeiten nicht kumulieren“, unterbrach Gellert ihn.

„Verstehe.“ Mist, wo sollte er jetzt den Helm abstellen? Für den Rucksack war neben dem freien Schreibtisch Platz. Den Helm konnte er nur auf die linke Ecke des Schreibtischs legen, wenn er die Schubfächer beiseiteschob.

„Der Posteingang steht aber immer links“, wandte Gellert ein.

Ein Blick sagte Jonas, dass er den Helm nicht mit den Schubfächern tauschen konnte, da er dann die Schreibtischlampe hätte verschieben müssen.

„Ich finde es okay so.“

„Wie Sie meinen.“ Gellert räusperte sich. Seine Stimme verriet Jonas, dass Gellert es ganz und gar nicht in Ordnung fand, dass er die Schubfächer verschoben hatte. „Mittagspause ist von zwölf Uhr bis dreizehn Uhr. Unsere Dienstbesprechungen sind montags und mittwochs um acht Uhr. Am besten, Sie nehmen den Bus der Linie vierzehn. Dann sind Sie um kurz vor halb acht Uhr hier.“

„Danke für den Tipp. Aber ich fahre lieber mit dem Motorrad.“ Ganz sicher würde er nicht mit dem Bus fahren, damit er eine halbe Stunde vor der Dienstbesprechung hier war. Überhaupt: Wie käme er dazu, mit den Öffis zu fahren?

Wieder räusperte sich Gellert. Sein Blick hing an Jonas’ Helm. „In der Cafeteria gibt es jeden Tag zwei Gerichte zur Auswahl. Aber sie haben auch belegte Brote und Salat.“

„Danke für die Info.“

„Ihre Durchwahl steht auf dem Tischapparat. Die der Kollegen stehen auf dem Blatt Papier, das unter dem Telefon liegt.“ Gellerts Blick irrte zu den verschobenen Schubfächern.

„Okay. Danke.“

„Wenn Sie Schreibmaterial brauchen, können Sie das bei der Beschaffung anfordern. Sie müssen dazu das digitale Anforderungsschreiben ausfüllen.“ Feine Schweißperlen hatten sich auf Gellerts Schläfen gebildet.

Jonas entdeckte auf Gellerts Schreibtisch zwei akkurat ausgerichtete Kugelschreiber neben einer alten, abgewetzten Schreibtischunterlage. Die Schubfächer waren ebenso peinlich genau ausgerichtet wie das Telefon und der Schreibblock.

„Gut zu wissen.“

Gellert schluckte und fixierte weiter Jonas’ Schreibtisch. Jetzt, jetzt musste er etwas sagen. Dass es sein Helm war und sein Schreibtisch und …

Gott sei Dank klingelte in diesem Moment Gellerts Telefon. Dieser zuckte zusammen, als sei er ertappt worden. Mit einem Räuspern nahm er ab: „Kriminalkommissariat, Dienststelle Landau, Kriminalkommissar Gellert am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“

Mit gerunzelter Stirn lauschte Gellert, bis er schließlich nickte. „Ja, ich habe verstanden. Bruchweg 1, Familie Klein. Fassen Sie nichts an. Wir kommen. Auf Wiederhören.“ Zu Jonas gewandt, fügte er hinzu: „Wir haben einen Einsatz. Ein Toter in der Jauchegrube. Machen Sie sich bereit. Ich rufe noch die Spurensicherung an, ehe wir losfahren.“

Nichts wie los! „Herr Gellert -“

Echt jetzt?! Jonas verschlug es die Sprache. Der Gellert legte tatsächlich seinen Helm ins Regal und schob die Schubfächer wieder an ihren alten Platz.

„Wir können“, verkündete Gellert dann sichtlich erleichtert und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

***

„Guten Morgen, Frau Schindler!“

Sabine drängte sich neben die Tür, damit die Frau, die ihr entgegenkam, die Bäckerei verlassen konnte, ehe sie in den Verkaufsraum trat.

Die runde Bäckersfrau sah von den Brötchen auf, die sie sortierte, und lächelte Sabine an. „Ah, die Fraa Spieß! Was darf’s denn heit soi?“

„Das Biobrot, bitte.“

Durch die geöffnete Tür zur Backstube war ein dumpfes rhythmisches Klopfen zu hören.

„Was sunscht? Net wohr?“ Schwitzend drehte die Bäckersfrau sich um, um das gewünschte Brot aus dem Regal zu holen und einzuwickeln.

Natürlich? War sie so vorhersehbar? Andererseits, hatte sie in den letzten Jahren jemals etwas anderes als Biobrot gekauft? Wie wäre es, wenn sie die Frau Schindler mal überraschte? Sabines Blick schweifte über die Auslage. Eine Haferschnitte vielleicht? Aber sie mochte eigentlich gar nichts Süßes.

„Felix“, schrie eine männliche Stimme in der Backstube. „Felix!“

„Henn Sie’s schun gehert?“, fragte Frau Schindler mit Verschwörermiene.

Echt jetzt? Sabine hatte nie geglaubt, dass die selbstherrliche Entscheidung von Bürgermeister Steglitz, dem Hund, auch bis zur Bäckersfrau gedrungen war. Obwohl, das war eigentlich weniger verwunderlich. Die Schindler war zusammen mit der Christmann der Dreh- und Angelpunkt des Dorftratsches. Verwunderlich war hier eher, dass die Schindler sich an dem Bauernmarkt störte, den der Steglitz da so einfach ohne Umweltverträglichkeitsprüfung auf die Feuchtwiesen in der Gänsewiese Gewann stellen wollte.

„Natürlich! Ungeheuerlich, oder?“

Die Schindler nickte heftig. „So was, awwer aa. In unserm Dorf. Do werd ehm jo Angscht und Bang. Gell?“

„Felix! Du Hallodri! Herscht du mich?“ Jemand hämmerte gegen eine Tür.

„Stimmt was nicht?“, erkundigte Sabine sich besorgt.

„Ach nää!“ Die Schindler winkte ab. „Des iss nur moin Monn.“

„Felix, isch warn disch …“

Mit einem entschuldigenden Lächeln schloss die Schindler die Tür zur Backstube.

„De Felix iibt widder uff’m Schlagzeug. Fer die Band. De Erich konn des net leide. Darf’s noch was soi?“

Die Band? Ob das die Band war, in der auch der Jonas spielte?

Sabines Blick fiel auf die Haferschnitte. Nicht mögen war die Untertreibung des Jahrhunderts. Durch die geschlossene Tür konnte Sabine immer noch das Hämmern hören. „Eine Haferschnitte“, sagte sie schließlich.

Die Bäckersfrau strahlte. „Ja, die sinn gud, gell? Un gonz bio und gar net so siiß.“

Als ob die Schindler nichts Süßes mochte. Sabine nickte trotzdem pflichtschuldig. „Und, unterschreiben Sie dann auch?“

„Unnerschreiwe? Was dann?“ Sabine erntete ein Stirnrunzeln, während die Schindler die Haferschnitte einpackte.

„Ja, die Unterschriftenliste wegen dem Bauernmarkt.“

„Was fer ä Unnerschriftelischt?“

„Zum Schutz der Gänsewiesen.“ Sabine kramte in ihrem Rucksack nach dem Portemonnaie. Sie fand stattdessen die Unterschriftenliste und legte sie mit dem Kugelschreiber auf den Tresen. „Hier. Wir haben schon siebenundachtzig Unterschriften.“

„Was is’n mit de Gänswisse?“

„Ja, wegmachen will er sie, der Steglitz. Für den Bauernmarkt. Die letzten guten Wiesen in unserer Gemarkung. Da wachsen Rote-Liste-Arten drauf.“

Das hatte die Laura herausgefunden, die Liebe.

„Aah so! Ja, mänen Se wirglisch?“

„Aber Sie haben eben doch noch gesagt, dass -“

„Isch?“ Die Schindler starrte sie an. „Was haww isch gsacht?“

„Ob ich es gehört hätte. Natürlich habe ich gehört, dass der Steglitz, dieser Windige, einen Bauernmarkt auf den Gänsewiesen bauen will.“

„Ja, awwer die Gänswisse gehern doch em Klein, Arno. Der verkaaft net. Der verkaaft gar nix mehr. Des kennen Se mer glaawe.“

Sabine ließ den Kugelschreiber sinken. „Der verkauft nichts mehr. Wieso das denn?“

„Ja, henn Se’s net ghert?“ Die Schindler setzte wieder ihre Verschwörermiene auf und beugte sich über die Theke. „Gstorwe iss er. Die Rosi hott mer’s verzehlt.“

Die Rosi brachte die Post. Das ergab Sinn.

„Tot?“

„Tot“, bestätigte die Bäckersfrau.

„Felix, wenn du jetzt net sofort uffherscht, donn brech ich die Ter uff“, drang es durch die geschlossene Tür zur Backstube. Der dumpfe Beat wurde aber nur lauter.

Die Schindler zuckte sichtlich zusammen.

„Herzinfarkt?“, fragte Sabine, als hätte sie nichts gehört.

Verwirrt sah die Bäckersfrau sie an, ehe sie den Kopf schüttelte. „In die Jauchegrub iss er gfalle. Wer fallt’n schun in die Jauchegrub?“ Hektisch sah die Schindler sich um, ehe sie sich Sabine mit vorgehaltener Hand neben dem Mund wieder entgegenbeugte. „Wann do mol kenner nochgholfe hot.“

„Wundern würde es mich nicht“, platzte es aus Sabine heraus.

Nein, wundern würde sie das wirklich nicht, denn der Klein Arno war so ziemlich der verhassteste Mann im ganzen Dorf. Es war eher verwunderlich, dass der bisher so ungeschoren durchs Leben gegangen war.