Leseprobe Kalt wie die Nordsee | Der spannende Küstenkrimi zwischen Aurich und den Inseln Spiekeroog und Langeoog

Kapitel 1

Der Regen prasselte so heftig auf die Windschutzscheibe, dass die Scheibenwischer trotz höchster Stufe nicht mehr hinterherkamen. Serafine Küster, von allen nur Fine genannt, blinzelte, doch das änderte nichts. Sie konnte keine zehn Meter weit sehen. Selbst die roten Rücklichter des voranfahrenden Autos waren nur mit Mühe zu erkennen. Hier war Schritttempo angesagt. Abgesehen davon, dass die B210 sich binnen weniger Minuten in ein Schwimmbad verwandelt hatte. Fine erinnerte sich an ihr letztes Fahrtraining, das sie noch in Erlangen absolviert hatte, bevor sie sich nach Aurich hatte versetzen lassen. Um Aquaplaning zu vermeiden hieß es: Ruhe bewahren, nicht zu schnell fahren, kaum lenken, möglichst wenig bremsen, und die anderen Autos im Auge behalten. Was an und für sich schon ein Witz war, wenn man rein gar nichts vor oder hinter sich erkannte.

Aber rechts ranfahren war auch nicht möglich, dort befand sich ein tiefer Graben. Stehenbleiben war auch keine Option, wenn sie nicht riskieren wollte, dass das hintere Auto auf sie auffuhr. Außerdem musste sie nach Neuharlingersiel zu einem Tatort.

Falls es ein Tatort war. Das stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Alles, was Fine wusste, war, dass am Sandstrand von Neuharlingersiel eine männliche Leiche gefunden worden war. Vermutlich angeschwemmt. Sie holte tief Luft. Vielleicht war der Mann ertrunken, ein Badeunfall. Oder er war von einem Boot gefallen. Zumindest hatten die Verantwortlichen, die den Fundort gesichert hatten, die Polizeiinspektion in Aurich angerufen. Und Fine war als Kriminaloberkommissarin zusammen mit ihrem Kollegen Bernhard Mies, genannt Hardy, nach Neuharlingersiel geschickt worden, um sich selbst ein Bild zu machen.

Bis vor zwei Tagen hatten sie traumhaftes Sommerwetter an der Küste genossen. Temperaturen um die zweiundzwanzig Grad, maximal Schleierwolken am Himmel und nicht ein Tröpfchen Regen. Nicht unbedingt ideal für die Natur, aber perfekt für den Start in die Saison. Die Touristen bevölkerten bereits das historische Harlingerland mit den Inseln Spiekeroog und Langeoog, das heute weitestgehend den Landkreis Wittmund umfasste. Rund 2,5 Millionen Übernachtungen zählten sie hier pro Jahr. Eine Zahl, die für Fine nicht greifbar war. Mit was sollte man das auch vergleichen?

Hinter sich hörte Fine jetzt ein Hupen. Sie schaute in den Rückspiegel und dann in den Seitenspiegel, konnte aber nicht ausmachen, wer wen angehupt hatte. Wenigstens hielt sich Hardy mit Äußerungen jeglicher Art zurück und ließ Fine in Ruhe fahren. Ob er tatsächlich so ruhig war, wie es die Stille im Auto vermittelte, konnte Fine nicht beurteilen – sie traute sich nicht, den Blick von der Straße abzuwenden und zu Hardy zu schauen. War vielleicht auch besser so.

***

Eine gute Dreiviertelstunde später, wesentlich langsamer als sonst, erreichte Fine den Parkplatz hinter der Touristeninformation in Neuharlingersiel. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken türmten sich noch zu hohen Bergen über dem Deich, doch in Richtung Nordsee spähte an einer Ecke schon die Sonne hervor. Es war wie so oft am Meer: Das Wetter kam, das Wetter ging. Teilweise innerhalb von Minuten. Regen ist es erst, wenn die Fische horizontal an dir vorbeischwimmen. Das hatte Fine vor Kurzem auf einer Postkarte gelesen.

Sie grinste und stieg aus dem Auto, fuhr sich durch die schwarzen Haare, die der Wind ihr ins Gesicht wehte. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken und spiegelte sich in den Pfützen des Parkplatzes, sodass diese kurz wie Diamanten aufleuchteten. Die Luft roch frisch, als wäre die Natur von all dem Staub und Sand, der sich auf sie gelegt hatte, reingewaschen worden. Fine atmete tief ein. Glaubte fast, das Meer riechen zu können, das Salz in der Gischt. Dabei wusste sie nicht einmal, ob Flut oder Ebbe war. Sie holte ein Zopfgummi aus ihrer Umhängetasche, die auf dem Rücksitz des Autos lag, und zwirbelte ihre Haare zu einem Messy Bun zusammen. Würde sie das nicht tun, könnte sie ihre Haare heute Abend in stundenlanger Kleinarbeit auseinanderziehen, weil der Wind die Strähnen ineinander verknotet hätte.

„Weißt du, wo wir hinmüssen?“ Hardy hatte zwar schon die Beifahrertür geöffnet, saß aber noch auf dem Sitz und schaute zu ihr hoch, das Handy in der Hand. Er steckte sich eine seiner langen Locken hinter das Ohr, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatte.

Fine warf einen Blick auf das Display. Eine Wetter-App, die den Regenverlauf über der Küste anzeigte. Momentan schien die Gefahr gebannt, der Regen zog weiter in Richtung Inland.

„Eigentlich müssen wir nur über den Deich, dann sollten wir es schon sehen. Zumindest hat das Werner Thomas gesagt. Falls der Regen sie nicht weggeschwemmt hat.“

Wenn der Leiter der Spurensicherung nicht wusste, wo die Leiche war, wer dann?

Fine hängte sich ihre Tasche über die Schulter und bedeutete Hardy, aus dem Auto zu kommen. Er brummte vor sich hin und erhob sich mühsam, indem er ein Bein nach dem anderen nach draußen streckte und sich am Türrahmen hochzog. Fine grinste. Hardy war mit seinen 1,90 Meter doch etwas groß für den Mittelklasse-Kombi, selbst wenn er den Sitz so weit wie möglich nach hinten schob.

„Lach nicht.“ Hardy verzog den Mund, verschränkte die Hände hinter seinem Rücken und zog sie von sich weg, bis es deutlich hörbar in seiner Wirbelsäule knackte. Obwohl er das jedes Mal machte, wenn er aus dem Auto stieg, hatte Fine sich noch nicht daran gewöhnt. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken, was wiederum Hardy zum Lachen brachte.

„So schreckhaft heute?“

Fine wandte den Kopf hin und her. „Ist das ein Wunder? Wahrscheinlich bin ich völlig überreizt nach der Fahrt. Zu viel Konzentration auf einmal.“

„Sollen wir uns vorher noch einen Kaffee für den Weg holen?“ Hardy deutete auf die Deichkombüse, ein Imbiss vor dem Treppenaufgang zum Deich.

Fine nickte und nahm ihren Thermobecher aus der Tasche. Hardy drehte sich um, bückte sich ins Auto hinein und griff ebenfalls nach seinem Becher, der in der Mittelkonsole stand. Dann schlug er die Autotür zu, und Fine schloss ab.

***

Mit ihren gefüllten Thermobechern in der Hand stiegen sie nebeneinander die Treppenstufen zum Deich hoch. Der Wind nahm zu, und als sie oben angekommen waren, fuhr er Fine unter die Jacke, die sich daraufhin deutlich aufplusterte. Schnell schlug sie beide Arme um ihren Oberkörper zusammen und zog den Reißverschluss der Jacke ganz nach oben. Warum hatte sie nur wieder ihren Schal vergessen? Dabei wusste sie doch, dass der Wind sich an der Küste viel kälter anfühlte als in der Stadt. Wobei, Aurich als Stadt zu betiteln schon etwas übertrieben war, Fines Meinung nach.

Aurich hatte rund 42 000 Einwohner – nicht einmal halb so viel wie Erlangen, der Stadt in Mittelfranken, aus der Fine ursprünglich stammte. Lange Zeit hatte sie dort gelebt, zusammen mit ihrem Mann Tom und der gemeinsamen fünfjährigen Tochter Lilith. Bis ein Amokfahrer ihr die beiden genommen hatte.

Fine schluckte schwer. Das alles lag gut zwei Jahre zurück. Ihre Nase kribbelte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Verdammt. Sie zog die Nase hoch und schaute schnell in die andere Richtung, weg aus Hardys Blickwinkel. Blinzelte, bis die Tränen sich mit dem Wind auflösten. Dann kniff sie die Lippen zusammen und drehte sich wieder zu Hardy um. Schniefte noch einmal.

„Der Wind. Und die Kälte.“ Sie deutete auf ihre Nase. Er nickte langsam und beobachtete sie, sagte aber nichts. Konzentrierte sich stattdessen auf den Horizont, der kaum zu sehen war. Alles grau in grau. Aber immerhin in verschiedenen Schattierungen. Irgendwo weit hinten im Meer lag Spiekeroog. Bei schönem Wetter konnte man die Insel von hier aus sehen, dann konnte sie ihrer Freundin Insa gedanklich in ihrem Café Strandmöwe zuwinken. Gut, das konnte sie jetzt auch – in Gedanken funktionierte schließlich alles.

Der Strand war weitestgehend verlassen. Kein Wunder nach dem Wolkenbruch. Ein Stück weiter den Strand entlang in Richtung Westen sah Fine ein großes, weißes Zelt. Oder das, was noch davon übrig war. Der Wind und der Regen hatten ihm offenbar stark zugesetzt, sodass es fast davonwehte. Mehrere Beamte waren damit beschäftigt, es festzuhalten und wieder im Boden zu verankern.

Fine runzelte die Stirn. Das konnte ja heiter werden. Sie nickte Hardy zu, und die beiden stiegen weitere Treppen auf der anderen Seite des mit Gras bewachsenen Deichs hinunter in Richtung Strand. Die Regentropfen hatten unzählige kleine Krater im Sand hinterlassen. Ein natürliches Lochmuster. Fast zu schön, um einfach darüber hinwegzutrampeln. Dicke Tropfen hingen an den Dächern der Strandkörbe und platschten in unregelmäßigen Abständen zu Boden. Störten die Regelmäßigkeit des Lochmusters, indem sie breitere Krater dazwischen formten. Wenigstens war der Sand durch die Nässe schön fest, sodass er nicht durch jede Ritze in Fines Schuhe drang.

„Moin, da seid ihr ja.“ Werner Thomas nickte ihnen zu, wie üblich bei einem Leichenfund mit einem weißen Overall bekleidet, inklusive Schuhüberziehern und Handschuhen. Er reichte Fine und Hardy ebenfalls Überzieher für die Schuhe.

„Meinst du wirklich, das bringt hier irgendetwas?“ Fine nahm die Überzieher entgegen, zog sie aber nicht an. „Der Kerl ist angeschwemmt worden, das ist also nicht einmal der Tatort oder Ablageort, nur ein Fundort. Und außerdem hat der Regen doch sowieso alles weggeschwemmt, was ihr nicht sofort gerettet habt.“

Thomas warf ihr einen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ. Wenn es um seinen Beruf ging, war mit ihm nicht zu spaßen, geschweige denn zu diskutieren.

Hardy schüttelte lachend den Kopf, griff nach den Überziehern und zog sie über die Schuhe. Danach schlüpfte er in ein Paar Handschuhe, die in einer Packung auf einem Tisch unter dem Zeltdach lagen. Fine seufzte leise, tat es ihm dann aber gleich.

„Der Tote ist männlich, vermutlich Mitte zwanzig und nicht sehr muskulös, soweit ich das erkennen kann. Und ja, er ist vermutlich angeschwemmt worden. Er hatte keine Papiere dabei, kein Handy, nichts, womit er sich identifizieren ließe. Die Arme sind vollständig tätowiert. Die Fingerabdrücke überlasse ich Frau Dr. Mattes, die Hände sind viel zu aufgequollen.“ Werner Thomas deutete auf das Opfer, das hinter ihm unter einer Plane auf dem Sand lag.

Fine runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. „Sag mal, warum bist du eigentlich hier?“

Jetzt war es Thomas, der die Stirn runzelte. „Ich kann auch wieder gehen, wenn du meinst, dass das besser ist.“

Fine verdrehte die Augen. „So habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich wollte nur wissen, um was es sich hierbei eigentlich handelt. Wenn der Mann nur angeschwemmt wurde, nachdem er ertrunken ist, dann gibt es doch gar keinen Fall für uns.“

„Da bin ich anderer Meinung“, hörte sie eine weibliche Stimme hinter ihrem Rücken.

Fine drehte sich um und sah in das Gesicht einer Notärztin, deutlich erkennbar an ihrer Kleidung. Sie war gut einen Kopf größer als Fine, trug ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und nickte ihr zu. „Moin, ich bin Kerstin Nagegast, die zuständige Ärztin heute. Mein Team und ich sind hier an den Strand gerufen worden, um den Tod festzustellen. Ich habe den Mann entkleidet, um nach Auffälligkeiten zu schauen. Ich kann natürlich nicht in den Körper hineinsehen, aber es gibt doch mehrere Dinge, die seltsam sind, und definitiv nicht für einen Tod durch Ertrinken sprechen. Deshalb habe ich die Polizei informiert. Und Sie sind?“

Fine zeigte ihr ihren Dienstausweis. „Serafine Küster, Kriminaloberkommissarin aus Aurich.“ Sie deutete auf Hardy. „Das hier ist Bernhard Mies, mein Kollege. Können Sie mir genauer sagen oder zeigen, was Sie meinen?“

Die Ärztin führte sie an den Leichnam heran und entfernte die Plane, die an einigen Stellen mit Steinen beschwert worden war. Vermutlich, damit sie bei dem Wind, der vorhin noch das Zelt angehoben hatte, nicht weggeweht wäre. Kerstin Nagegast deutete auf den Schädel, der mit halblangen, blonden Haaren bedeckt war. Sie strich sie zur Seite.

„Sehen Sie diese Schürfwunden auf dem Gesicht? Und der Schädel ist auch gebrochen.“

Fine fuhr sich über das Kinn, ging in die Hocke und inspizierte die Wunden genauer.

„Könnten die Schürfwunden nicht auch vom Meeresboden stammen, wenn die Leiche dort beim Wellengang entlang geschrappt ist?“ Hardy, der ihnen gefolgt war, beugte sich über das Opfer. Fine sah zu ihm auf.

Nagegast zuckte mit den Schultern. „Die Schürfwunden vielleicht, aber der Schädelbruch? Ich weiß nicht. Da möchte ich doch gern eine nähere Untersuchung empfehlen. Immerhin muss ich ja den Totenschein ausfüllen.“

Fine nickte. „Vielleicht ist er ja auch mit dem Kopf in eine Schiffsschraube geraten.“

„Ich weiß nicht, ob die Verletzung dann nicht anders aussehen müsste.“ Nagegast hob beide Hände. „Abgesehen davon, wäre er wohl kaum mit Kleidern mitten auf dem Meer schwimmen gegangen.“

Hardy richtete sich auf, seine Gelenke knackten. „Sie gehen also entweder von einem Unfall oder einem Tötungsdelikt aus?“

Nagegast streckte abwehrend beide Hände in seine Richtung. „Nicht doch, ich werde hier bestimmt keine Theorien abgeben, das überlasse ich der Rechtsmedizin. Aber ich kann mir zumindest nicht guten Gewissens vorstellen, dass es sich hierbei um einen natürlichen Tod handelt. Und selbst wenn es ein Unfall war, warum hat keiner etwas bemerkt? Ist der Mann allein mit einem Boot unterwegs gewesen? Falls ja, wo ist das Boot jetzt? Und wieso hat er keine Papiere bei sich oder ein Handy?“

Hardy grinste. „Sie haben sich ja doch schon viele Gedanken gemacht. Wollen Sie bei uns einsteigen?“

Nagegasts Wangen flammten rot auf. „Ich habe einfach nur nachgedacht.“ Sie verzog den Mund zu einem Lächeln. „Und ich will nichts falsch machen. Es wird immer wieder in den Medien berichtet, dass Mordopfer nicht erkannt werden, weil die zuständigen Ärzte oder auch die Polizei selbst sie nicht als Mordopfer erkennen und fälschlicherweise eine natürliche Todesursache oder einen Unfall angeben. Lieber rufe ich einmal zu oft die Polizei, als dass ich mir später Vorwürfe machen muss, etwas übersehen zu haben.“

Fine erhob sich ebenfalls, nachdem sie den Leichnam wieder zugedeckt hatte. „Das haben Sie richtig entschieden. Was mir noch als Möglichkeit einfallen würde, wäre Selbstmord. Dann hätten wir unter Umständen eine Erklärung dafür, dass das Opfer keine Papiere und kein Handy dabeihatte. Und eventuell allein unterwegs gewesen ist.“ Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf die Plane. „Auf jeden Fall kommt er erst einmal nach Oldenburg in die Rechtsmedizin zu Dr. Mattes. Dann wissen wir hoffentlich bald mehr.“ Sie wandte sich an Thomas. „Bist du schon fertig mit der Spurensicherung?“

Werner Thomas nickte.

„Hast du auch eine Nahaufnahme vom Gesicht gemacht? Wenn wir keine Ergebnisse über die Fingerabdrücke bekommen, können wir ein Bild von ihm in den Medien zeigen, vielleicht erkennt ihn ja jemand.“

„Wenn du die Erlaubnis dazu von Staatsanwalt Dr. Wiese bekommst.“ Hardy runzelte die Stirn.

Wiese … den hatte Fine fast vergessen. Aber er sie vermutlich nicht. Bei einem ihrer letzten Fälle hatte er ihr mehr als deutlich gemacht, dass er nur dann einen Beschluss unterschrieb, wenn sie ihm logisch begründen konnte, dass die Erkenntnisse zu der Lösung des Falls beitragen würden.

Fine spitzte die Lippen und starrte auf die Nordsee hinaus, die immer noch aufgewühlt war. Eine Welle jagte die nächste in einem Staccato aus schlammigem Braun, gekrönt mit schaumiger Gischt.

Das sollte doch in diesem Fall kein Problem sein. Wenn jemand das Opfer erkannte, waren sie der Lösung doch sicher einen großen Schritt näher, oder nicht?

Kapitel 2

„Wie sieht’s aus? Wissen wir inzwischen, wer der Tote ist? Und ob er ertrunken ist?“ Fine wuchtete ihre Tasche auf den Schreibtisch in der Polizeiinspektion Aurich. Manchmal fragte sie sich, was sie da alles mit sich herumschleppte. Wenn sie so weitermachte, würde sie schon mit dreiunddreißig Jahren Rückenprobleme bekommen.

Tom hatte ihre Handtasche immer liebevoll als Transportsack bezeichnet. Was sie mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen in seine Richtung kommentiert hatte. In der Hoffnung, dass er die Blitze, die daraus hervorschossen, wahrnahm. Was natürlich nie der Fall gewesen war. Er hatte nur gegrinst und gemeint: „Du bist so süß, wenn du wütend bist.“ Danach hatte er sie in die Arme geschlossen und geküsst, sodass es ihr unmöglich gewesen war, ihm länger böse zu sein. Fine blinzelte, Tränen schossen heiß in ihre Augen. Ihre Finger verkrampften sich um die Henkel ihrer Tasche. Es war so unfair. Ihre Tasche war noch da. Tom nicht mehr. Genauso wenig wie Lilith. Sie atmete tief durch. Jetzt war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, darüber nachzudenken.

„Die Mattes konnte die Fingerabdrücke von der Wasserleiche abnehmen, und wir wissen nun, wer der Tote ist. Seine Abdrücke sind im System gespeichert.“ Hardys Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Selten war sie darüber so dankbar gewesen wie jetzt.

Fine setzte sich und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Ihre Finger zitterten, hoffentlich nicht auch ihre Stimme. „Und? Mach’s doch nicht so spannend.“

„Sein Name ist Konrad Kasten, sechsunddreißig Jahre alt. Hat acht Jahre gesessen wegen Totschlags an seiner Freundin Nicole Brandtner, ist erst vor einem halben Jahr auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden. Und du errätst nie, wo er im Knast gesessen hat.“ Er schaute sie an.

Fine zuckte mit den Schultern.

„In der JVA Nürnberg.“

„Das kann doch nicht sein, was für ein Zufall.“ Ausgerechnet Nürnberg, sozusagen gleich um die Ecke von Erlangen, wo sie früher gearbeitet hatte. Warum nur verfolgte sie ihre Vergangenheit überallhin? Am Ende musste sie sich noch mit den ehemaligen Kollegen dort auseinandersetzen. Wobei Nürnberg und Erlangen nicht die gleiche Dienststelle teilten. Ganz im Gegenteil. In Nürnberg gab es mehrere, in Erlangen nur eine. Dennoch hatte sie gehofft, dass sie ihre alte Heimat mit ihrer neuen Stelle in Aurich hinter sich lassen könnte. Sie seufzte.

„Ich habe die Akte schon bei der Staatsanwaltschaft dort angefordert. Dachte, ich nehme dir mal was ab.“ Er grinste.

„Ach Hardy, du bist ein Schatz!“ Ohne darüber nachzudenken, erhob sie sich und umarmte ihren nur zwei Jahre älteren Kollegen kurz. Es fühlte sich ungewohnt an, aber nicht unangenehm. Sie zuckte zusammen. Was würde er jetzt von ihr denken? Oder ging es hier eher darum, was sie selbst darüber dachte? Aber was war schon dabei, jemanden zu umarmen? Eben. Nichts. Sie war ihm nur dankbar, dass er diese Aufgabe für sie erledigt hatte.

Er grinste breit. „Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, von dir eine Umarmung zu bekommen, hätte ich das schon früher getan.“

Gegen ihren Willen musste Fine lächeln. Sie stupste mit der flachen Hand gegen seine Schulter. „Versuch gar nicht erst, das auszunutzen. Das funktioniert nur einmal.“ Sie hielt kurz inne. „Danke.“

„Und …“, Hardy hob den Zeigefinger, „es gibt einen weiteren Hinweis. Kasten ist drei Wochen, nachdem er entlassen worden ist, verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Er hat sich nicht einmal mehr bei seinem Bewährungshelfer gemeldet und wird seitdem gesucht.“

„Na, die Suche können sie jetzt abblasen. Zumindest wenn das wirklich Kasten ist, den wir da gefunden haben.“

„Die Mattes hat die Ergebnisse mehrfach gecheckt, das kannst du aber glauben. Außerdem hat sie auch noch seinen Zahnstatus mit den Daten aus Nürnberg abgeglichen. Und wenn ich sie halbwegs richtig verstanden habe, läuft auch noch ein DNS-Abgleich im Hintergrund.“

Fine ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. „Was hat der Kerl hier nur zu suchen gehabt? Und warum ist er aus Nürnberg getürmt? Der muss doch gewusst haben, dass er sich damit in Teufels Küche bringt.“

Hardy zuckte mit den Schultern. „Er könnte auch entführt worden sein. Und dann getötet.“

Fine schnaubte. „Wer sollte den schon entführen? Reich war der doch bestimmt nicht.“ Sie biss auf ihre Unterlippe. „Aber wenn er wegen Totschlags im Gefängnis saß, gibt es vielleicht jemanden, der sich an ihm rächen wollte. Oder er hat noch irgendwas anderes angestellt …“

„Das sind mir ein bisschen zu viele Spekulationen auf einmal. Vielleicht warten wir erst einmal ab, bis die Akte da ist. Aber wir könnten sein Bild an die Presse weitergeben und fragen, wer den Mann hier gesehen hat. Eventuell kommt dabei etwas heraus. Wir müssen ja nicht verraten, dass wir schon wissen, wer er ist.“

Fine nickte. „Gute Idee. Vielleicht hat ihn jemand gesehen und kann uns sagen, was er hier wollte. Könntest du …?“

„… Staatsanwalt Wiese fragen?“ Hardy lachte. „Aber nur ausnahmsweise. Das nächste Mal erklärst du schön selbst, warum du die Erlaubnis zur Veröffentlichung eines Fotos brauchst.“

***

Nach dem Mittagessen eilte Hardy im Stechschritt auf Fine zu, eine Akte in der hocherhobenen Hand.

„Die Akte aus Nürnberg ist da, ich hab sie gleich ausgedruckt. Es sind auch ein paar Fotos von Kasten von früher dabei.“ Er reichte ihr die Bilder.

Ein Mann in Gefängniskleidung mit raspelkurzen, braunen Haaren. Ihr Toter hatte doch blonde Haare gehabt, oder irrte sie sich da? Sie musste gleich noch einmal nachschauen.

„Kastens Foto ist auch schon in den örtlichen Medien gezeigt worden. Und …“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause, in der er hinter ihnen die Tür zum Büro schloss. „Es gibt jemanden, der sich wegen Kasten gemeldet hat. Allerdings hat er nicht von Konrad Kasten gesprochen, sondern hat einen anderen Namen genannt.“

„Das gibt es doch nicht! Der war hier unter falschem Namen? Na ja, eigentlich logisch, wenn er gesucht worden ist.“

Hardy grinste. „Unser Toter Konrad Kasten hat hier aller Wahrscheinlichkeit nach als Bent Eilers im Industriegebiet in Aurich in einer Wohnung über einer Autowerkstatt gewohnt, in der er auch gearbeitet hat. Die DNS muss noch überprüft werden, aber dem Foto nach, das sein Arbeitgeber geschickt hat“, er zeigte auf das Bild auf seinem Monitor, „ist es der gleiche Mann.“ Fine schaute erst auf den Bildschirm, danach auf die Fotos in ihrer Hand. Anschließend blätterte sie in der Akte ihres Leichenfunds und zog das Foto des Opfers hervor, legte es zu den anderen Bildern und nickte.

Es stimmte: Kastens Haare waren jetzt blond gewesen, nicht mehr braun, und er hatte sie halblang getragen statt kurz wie früher. Aber wenn man die Aufnahme des aufgequollenen Toten mit den Fotos aus dem Knast und der Autowerkstatt verglich, war eine Ähnlichkeit zu erkennen. Ob sie diese auch erkannt hätte, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Kasten Eilers war und umgekehrt, konnte sie nicht beantworten.

„Und in der Autowerkstatt hat ihn keiner vermisst, als er nicht zur Arbeit erschienen ist?“ Das klang doch irgendwie seltsam. Allerdings war es auch seltsam, dass Kasten als Eilers einfach so hier hatte arbeiten können. Aber vermutlich hatte er sich vorher falsche Papiere besorgt. Und wenn der Arbeitgeber nicht sorgsam nachgeprüft hatte, ob diese echt waren, hatten sie Kasten im wahrsten Sinne des Wortes Tür und Tor geöffnet.

„Das wundert mich ehrlich gesagt auch. Mal ganz abgesehen davon, dass wir immer noch nicht wissen, wie lange Kasten schon tot ist.“

„Das stimmt. Ich ruf gleich mal Frau Dr. Mattes in Oldenburg an, die müsste ja mittlerweile mit der Obduktion fertig sein.“ Fine griff nach ihrem Handy. „Oder willst du?“

Hardy wehrte mit beiden Händen ab. „Oh nein, das darfst gern du übernehmen. Aber stell auf Lautsprecher.“

Fine wählte, stellte das Handy laut und legte es in die Mitte des Tisches. Es tutete.

„Mattes hier, wer stört?“

„Hier ist Serafine Küster, die …“

„Ja, ich weiß schon, die Kriminaloberkommissarin aus Franken, die es nach Norden verweht hat.“ Vermutlich meinte sie die es nach Norden verschlagen hat. Mattes verdrehte ständig Formulierungen oder Sprichwörter, was manchmal zu einer unfreiwilligen Komik führte.

„Sie wollen sicher etwas zu Ihrer Wasserleiche wissen, aber dazu bin ich noch gar nicht gekommen.“

Fine stöhnte leise. „Können Sie mir absolut gar nichts sagen?“

Die Rechtsmedizinerin atmete hörbar ein und aus. „Lassen Sie mich überlegen.“ Stille folgte.

Fine fragte sich, ob Renate Mattes aus Versehen aufgelegt hatte. Aber nein, das konnte nicht sein. Oder doch?

„Nein. Da müssen Sie noch abwarten. Ich möchte mich nicht in Mutmaßungen zerreißen lassen.“

Mattes‘ Stimme drang so unvermutet aus dem kleinen Lautsprecher, dass Fine zusammenfuhr. Hardy prustete, unterdrückte es aber sofort, als er Fines Gesicht sah.

„Nicht einmal, wie lange er ungefähr im Wasser lag?“ Fine warf Hardy einen strengen Blick zu.

„Also, so Delta mal Daumen etwa zwei Tage. Plus minus zwei weitere Tage, schätze ich. Aber sicher kann ich das erst nach der Obduktion sagen. Wenn Sie mich jetzt nicht länger aufhalten, wäre ich auch schon am Tisch und könnte anfangen. Näheres später.“ Es klickte, und die Leitung war tot.

„Delta mal Daumen – das klingt doch ganz nett. Pi mal Daumen ist auch wirklich ausgelutscht.“ Hardy griente. „Und jetzt?“

Fine seufzte. „Jetzt will ich erst mal wissen, was es überhaupt mit Konrad Kasten auf sich hat. Warum er im Gefängnis gewesen ist.“ Sie griff nach der Akte aus Nürnberg.

„Konrad Kasten ist am 24. März 1988 in Erlangen geboren worden.“ Da war es wieder, Erlangen. „Ist dort aufgewachsen und hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung zum Mechatroniker gemacht.“

„Das klingt bisher alles noch ganz normal.“ Hardy setzte sich zu ihr an den Schreibtisch.

„Nur dass es mehrere Beschwerden über Kasten gab.“

„Hinsichtlich was?“

„Er soll Mädchen aus seiner Berufsschulklasse belästigt haben. Was genau vorgefallen ist, steht hier allerdings nicht.“

Hardy spitzte die Lippen.

„Und dann gibt es hier noch eine Anklage wegen dem Verschwinden seiner Ex, einer Luisa Engel. Ihre Eltern haben ihn beschuldigt, für ihr Verschwinden verantwortlich zu sein. Er hätte sie angeblich vorher auch schon öfter gestalkt, angerufen, sie verfolgt und solche Sachen. Aber als Luisa Engel verschwunden ist, hatte er ein Alibi, zumindest ist er deswegen freigesprochen worden.“

„Ist die Tochter danach wieder aufgetaucht, oder haben sie einen anderen Täter gefunden?“

Fine schüttelte den Kopf. „Weder noch. Das muss damals ein ordentlicher Schlag in das Gesicht der Eltern gewesen sein. Aber sie konnten nichts daran ändern.“

Hardy nickte. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass er deswegen ja auch nicht noch einmal hätte angeklagt werden können – selbst mit neuen Beweisen hätten sie kaum eine Chance gehabt. Da müssten schon sehr dringende Gründe, unwiderlegbare Beweismittel und neue Tatsachen vorliegen. Ansonsten gilt: Einmal freigesprochen, immer freigesprochen. Ich frage mich, weshalb es überhaupt zu einem Prozess gekommen ist? Es muss doch vorher klar gewesen sein, dass sie nichts in der Hand hatten.“

Fine zuckte mit den Schultern. „Kann ich dir nicht sagen. Vielleicht haben sie einfach gehofft, dass sie mit Indizien durchkommen.“

„Und damit hätten wir ein Paar auf unserer Verdächtigen-Liste.“

„Du meinst die Engels?“

„Klar. Die Tochter ist und bleibt verschwunden. Irgendjemand hat sie auf dem Gewissen.“

Das stimmte. Allerdings kannte sie das Ehepaar nicht, wusste nicht, wie sie sich in den letzten Jahren entwickelt hatten. Hatten sie sich mit der Situation abgefunden? Das sollten die Nürnberger Beamten einmal in Erfahrung bringen. Sie las weiter in der Akte.

„Verurteilt wurde Kasten dann aber trotzdem, allerdings erst 2016 wegen Totschlags an Nicole Brandtner. Damals war er achtundzwanzig, sie vierundzwanzig Jahre alt.“ Fine blätterte in der Akte. „Er hat sie wohl im Paisley’s kennengelernt, einem Club in Erlangen. Laut Zeugenaussagen haben sie sich ein paar Mal getroffen, dann hatte Nicole genug von ihm und hat ihm das auch ziemlich deutlich mitgeteilt. Aber er hat nicht locker gelassen, hat sie überallhin verfolgt und sie angefleht, zu ihm zurückzukommen. Und als das nicht funktioniert hat, hat er sie bedroht.“ Warum verstanden manche Kerle einfach nicht, wo die Grenze war? Fine schüttelte den Kopf.

„Hat sie ihn nicht angezeigt?“

Fine fuhr mit dem Finger ein paar Zeilen tiefer. „Doch, das hat sie. Es ist sogar eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt worden. Kasten durfte sich ihr nicht mehr nähern, zumindest nicht unter fünfhundert Meter.“

Hardy schnaubte. „Das ist doch keine Entfernung. Ich wette, er hat sich auch nicht daran gehalten, wenn er sie danach getötet hat.“

„So sieht‘s aus. Nicoles Mutter hat ausgesagt, dass nachts Anrufe gekommen sind, alle halbe Stunde, aber es hat sich keiner gemeldet, wenn ihre Tochter abgenommen hat. Wer angerufen hat, konnten sie nicht erkennen. Anonym. Ihre Tochter hat dann das Telefon stumm gestellt, sogar die Nummer gewechselt. Nicole ist letzten Endes umgezogen, wollte einfach nur noch weg aus Erlangen. Sie hat sich eine Wohnung in Nürnberg gesucht, ohne ihre Adresse irgendwo anzugeben, sie hat auch nicht im Telefonbuch gestanden. Am Ende ist sie nicht einmal mehr auf Social Media aktiv gewesen, weil jedes Mal, wenn sie Kasten blockierte, hat er sich unter einem neuen Fake-Account wieder Zugriff verschafft.“

„Das ist doch ein Albtraum.“

Fine nickte. „Du kennst doch das Problem. Du musst es ihm nachweisen können. Wenn er anonym anruft, sich dabei nicht meldet und sofort wieder auflegt, eventuell auch noch ein Prepaid-Handy verwendet, kannst du das Gespräch auch nicht zurückverfolgen. Und wenn jemand einen Fake-Account nach dem anderen eröffnet, hast du auch keine Chance. Klar liegt die Vermutung nahe, dass es Kasten gewesen ist, aber beweisen kannst du es nicht. Da muss immer erst etwas passieren. Sie hatte schon die einstweilige Verfügung erwirkt. Mehr ging nicht. Er hat ja de facto nicht mehr getan, als sie vermutlich telefonisch und via Social Media zu belästigen. Wie gesagt: vermutlich. An das tatsächliche Kontaktverbot hat er sich gehalten. Und: Er hatte sie bis dahin noch nicht körperlich angegriffen. Da sind uns nun mal leider die Hände gebunden.“

Hardy schüttelte den Kopf. „Trotzdem Mist. Was geht eigentlich in den Köpfen von solchen Menschen vor? Was glauben die denn, wer sie sind, wer ihnen das Recht gibt, so über das Leben anderer zu bestimmen? Da fehlt mir echt jedes Verständnis.“

Fine presste die Lippen aufeinander. „Mir auch. Aber es kommt noch schlimmer.“ Sie deutete auf die Akte. „Als er mitbekommen hat, dass sie heimlich umgezogen ist, ist er wohl ihrer Mutter gefolgt, als sie ihre Tochter besucht hat. Was ja nicht verboten gewesen ist, weil das Annäherungsverbot nur für Nicole gegolten hat, aber nicht für ihre Mutter. Und so ein Kontaktverbot gilt auch nur für längstens zwei Wochen, danach wird es nur fortgeführt, wenn du dir einen Anwalt nimmst und vor Gericht gehst. Doch dafür brauchst du dann stichhaltige Beweise, zum Beispiel ein Übertreten des Kontaktverbots, eindeutige Nachrichten oder Anrufe, die tatsächlich auf ihn zurückzuführen sind und nach dem Kontaktverbot aufgetreten sind. Das alles hatte Nicole aber nicht. Auf diese Weise hat er wieder mitbekommen, wo sie gewohnt hat. Nicole hatte sich währenddessen neu verliebt, und das hat Kasten natürlich gar nicht gepasst. Nehme ich an. Und nachdem Nicoles Freund ihre Wohnung nachts verlassen hat, ist er durch die Tür in das Haus geschlüpft und hat an ihrer Wohnungstür geklingelt – laut Kastens eigener Aussage. Den Rest wissen wir nur von ihm und aus rekonstruierten Ergebnissen der Ermittler.“

„Lass mich raten: Nicole hat wahrscheinlich völlig arglos die Tür geöffnet, weil sie dachte, ihr Freund hat etwas vergessen.“

Fine zuckte mit den Schultern. „Das könnte sein. Wir können sie ja nicht mehr fragen. Zumindest hat sie die Tür geöffnet. Es hat keinen Kampf an der Haustür gegeben, die Polizei hat keine dementsprechenden Spuren gefunden. Entweder hat Nicole ihn tatsächlich hereingelassen oder sie ist so überrumpelt gewesen, dass sie ihn nicht aufgehalten hat. Kasten hat ausgesagt, dass er sich mit ihr gestritten habe, und dann könnte er sich nicht mehr wirklich erinnern, was danach passiert wäre. Aber plötzlich hätte sie tot vor ihm gelegen.“

„Echt, jetzt? Sie hat plötzlich tot vor ihm gelegen? Aus heiterem Himmel? Und er konnte sich nicht mehr daran erinnern? Wie praktisch!“

„Die Ermittler und der Rechtsmediziner haben letzten Endes herausgefunden, dass Nicole Brandtner bei einem Sturz auf den gläsernen Couchtisch so heftig mit dem Hinterkopf auf die Stahlkante geprallt sein muss, dass sie einen Schädelbasisbruch erlitten hat. Daran ist sie gestorben. Außerdem sind Blutergüsse an ihren Armen gefunden worden, als hätte sie jemand gepackt und festgehalten.“

„Und das hat nicht gereicht, um ihm einen Mord nachzuweisen?“

Fine seufzte wieder und sah Hardy lange an. „Du weißt doch, wie das ist. Ein Mord bedingt den Vorsatz. Der konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Klar, er hat sie wohl ziemlich heftig an den Armen gepackt, vermutlich auch in Richtung Couchtisch gestoßen. Aber das ist eine Affekthandlung, also Totschlag. Und wie gesagt, er hat sich ja an nichts mehr erinnert und vor Gericht geschwiegen. Dafür hat er dann zehn Jahre bekommen. Die letzten zwei sind zur Bewährung herabgestuft worden.“

Hardy schüttelte wieder den Kopf. „Ich möchte gar nicht wissen, wie sich Brandtners Eltern in dem Moment gefühlt haben müssen. Acht Jahre und zwei auf Bewährung für ein Menschenleben. Das ist doch nicht fair.“

Fine legte den Kopf schräg. „Wer hat mir das letzte Mal etwas von wegen „Du kannst die Gerechtigkeit nicht steuern“ erzählt? Kannst du dich noch daran erinnern?“

Hardy winkte ab. „Du hast ja recht. Aber damit hätten wir wie gesagt schon einmal die ersten Verdächtigen auf unserer Liste. Nicole Brandtners Eltern sind bestimmt nicht glücklich darüber gewesen, dass Kasten schon nach acht Jahren wieder auf freiem Fuß gewesen ist. Sie hätten allen Grund, ihm den Tod zu wünschen.“

Fine verzog das Gesicht. „Das ist ein Punkt. Zumindest sollten wir das überprüfen. Wohnen die denn noch in Erlangen?“

Hardy tippte auf der Tastatur des Computers herum. „Das werden wir gleich wissen.“ Nach einer kurzen Pause, in der er mit der Maus herumscrollte, schien er fündig geworden zu sein. „Jupp, die wohnen immer noch dort. Soll ich die Kollegen in Erlangen um Amtshilfe bitten?“

„Mach das, bitte. Erkundige dich, ob sie die beiden befragen können, wo diese die letzten zwei bis drei Wochen verbracht haben. Wir wissen ja noch nicht, wie lang die Leiche in der Nordsee getrieben hat. Und ob die Eltern überhaupt mitbekommen haben, dass Kasten schon aus dem Gefängnis raus ist.“

„Aye-aye, Ma‘am.“ Hardy deutete ein Salutieren an und griff zum Telefon.

Fine stieg das Blut in die Wangen. Deutlicher hatte sie die Vorgesetzte nicht raushängen lassen können. Hardy telefonierte immer noch. Als er auflegte, schaute sie ihn fragend an.

„Alles erledigt, die Erlanger Beamten werden sich darum kümmern und uns sofort informieren, wenn es etwas Neues gibt.“

„Und jetzt?“ Fine schaute ihn an.

„Jetzt packen wir unsere Sachen und fahren ins Industriegebiet Sandhorst hier in Aurich und besuchen Karl Essner.“

Fine runzelte die Stirn. „Wer ist das denn? Hab ich was verpasst?“

„Das war Bent Eilers‘ Chef in der Autowerkstatt Essner. Derjenige, der Kasten als Bent Eilers erkannt hat und hier angerufen hat. Er hat einen Schlüssel zu Eilers‘ Wohnung und wird uns reinlassen. Und uns hoffentlich erklären, warum er Bent Eilers alias Konrad Kasten nicht als vermisst gemeldet hat.“