Leseprobe Im Schatten der Rosen | Ein mitreißendes Familiengeheimnis über die Suche nach den eigenen Wurzeln

Kapitel 1

Normandie, Saint-Céron, Ende März 1944

Bernadettes Atem erhitzte die kalte Frühlingsluft für Sekunden, bevor er sich, gleich der Darbietung eines Illusionisten, in Wohlgefallen auflöste. Ihr leises Kichern durchdrang Louis’ aufgestellten Mantelkragen, der an seinem unrasierten Kinn vorbeikratzte und so nach Staub roch, dass ihre Nase zu kitzeln begann. Doch das störte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Genießerisch presste sie ihre Wange in den Stoff und schloss ihre Arme ein wenig fester um Louis’ schmalen Körper. Dann gluckste sie erneut.

„Wenn wir uns weiter in diesem Tempo fortbewegen, kommen wir nie bei mir daheim an.“ Bernadette hob ihr Kinn und sah Louis an. Seine braunen Augen waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen, nur das schwache Licht einer einzelnen Straßenlaterne spiegelte sich darin und hinterließ ein Funkeln, das ihr einen angenehmen Schauer entlang ihrer Wirbelsäule bescherte. Oh, wie sie ihn liebte und sich wünschte, ihre Zukunft läge bereits klar vor ihnen und würde sich nicht lediglich bruchstückhaft wie hinter einem nebligen Schleier zeigen.

Er lachte leise und drückte sie an sich. „Wie üblich. Die Stimme der Vernunft. Dabei hätte ich gegen einen weiteren Kuss nichts einzuwenden.“

„Den wirst du bekommen, doch einer von uns muss ja den Überblick behalten, Liebster.“ Sich auf die Zehenspitzen stellend, erreichten ihre Lippen ein weiteres Mal die seinen, strichen zärtlich darüber, ließen sich in einem Kuss erobern. Sie spürte das amüsierte Zucken seiner Mundwinkel, bevor er sich langsam von ihr löste und ihre Hand in seine nahm. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verfinsterte sich leicht.

„Du machst dir zu viele Sorgen“, murmelte er.

Bernadette seufzte, während sie ihre Stirn an Louis’ Brust lehnte. Immerzu versuchte er, ihr die Angst zu nehmen. Versicherte ihr, dass alles gut gehen würde, dass man ihn nicht erwischte, ihn nicht wegbrachte, ihn nicht zu Tode quälte. Und sosehr sie ihm Glauben schenken wollte, sosehr sie mit ihren dunklen Befürchtungen rang, am Ende war es eine bittere Gleichung, der sie sich stellen musste: Die Aussichten darauf, dass Louis seine Meinung änderte, standen schlecht. Ohne sie verletzen zu wollen, ohne sein Wort über das ihre zu stellen, genoss sein Idealismus für ihn eine höhere Bedeutsamkeit als ihre Einwände. Dabei war es nicht so, dass sie ihn nicht verstand oder das, was er tat, nicht ausreichend würdigte. Sie wusste, wie wichtig sein Tun war, wie vielen Menschen er damit half, wie elementar jeder Handschlag war, den er unternahm, damit die Zukunft des Landes, wenn nicht sogar der ganzen Welt, gesichert wäre. Doch war sie nicht willens, ihre Zukunftsträume zu vernachlässigen, geschweige denn aufzugeben. Mit Louis zusammen zu sein und an seiner Seite zu stehen, war alles, was Bernadette sich wünschte. Jetzt und für immer.

„Wollen wir weiter?“ Louis hatte den Zeigefinger unter ihr Kinn gelegt und drückte es sanft nach oben, bis sein Blick den ihren traf. „Lass uns diesen wundervollen Abend nicht damit verschwenden, zu streiten.“

„Ist es das, was du denkst, dass ich wollte?“ Sie richtete sich auf und straffte die Schultern, spürte ihr Herz, das in ihrer Brust hämmerte. Es war oft so schwer für sie. Die Panik, die sich regelmäßig in ihr ausbreitete, die Gedanken daran, Louis könnte gefasst werden, brachten sie schier um den Verstand. Und doch ließ sie ihn gewähren. Dass sie sich sorgte, sollte er ihr wenigstens zugestehen.

„Selbstverständlich nicht.“ Er seufzte und sah über die niedrige Mauer hinweg auf die Felder und den Wald, den er wie seine Westentasche kannte. Seine Aufmerksamkeit schien nicht länger ihr zu gelten, sondern schwebte hinfort wie eine Geistergestalt in fließenden Gewändern und verharrte schließlich bei den Eichen, die den äußeren Saum des Waldes bildeten. Unstet sprangen Louis Pupillen hin und her, als bewegte er sich durch dichtes Unterholz und verworrene Sträucher, als kletterte er in den Kronen aus beinahe undurchdringlichem Blätterwerk, um unentdeckt zu bleiben.

Bernadette legte ihre flache Hand an seine Wange und malte mit ihren Fingerspitzen die Kontur seines Kiefers nach. Ob sie ihn zurückholen konnte aus jenem Zustand, in den er sich zurückzog, bewusst oder unbewusst, wenn Gefahr drohte und er seinen Fokus ausschließlich darauf lenkte, zu überleben?

„Salomon“, kam ihr sein richtiger Name über die Lippen.

Er schloss seine Augen für einen Moment, seine Nasenflügel blähten sich auf und einige tiefe Atemzüge ließen seine Brust in einem kontrollierten Rhythmus an- und abschwellen. Dann sah er sie an, und in den Tiefen seines Blickes fand sie nichts und niemand Geringeren als ein Abbild ihrer selbst. „Ich liebe es, wenn du mich nicht Louis nennst.“

Bernadette nickte, lächelte und verbiss sich eine Antwort, die zwar zum wiederholten Male von der Dringlichkeit erzählen würde, das Land zu verlassen – es gemeinsam zu verlassen, damit sie ein neues Leben beginnen konnten. Doch diese Unterredung musste sie verschieben.

Für heute war es genug. Morgen schon würde sie erneut um sein Leben bangen müssen, wenn er sich mit einer Gruppe Gleichgesinnter auf den Weg machte, um neue Routen und Standorte auszukundschaften, an denen sich entkommene Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer aufhalten oder Waffen und Vorräte aufbewahrt werden konnten. Wieder einmal war es an ihr, die Tage, Stunden und Minuten zu zählen, bis er hoffentlich unversehrt zu ihr zurückkehren würde.

Sie sollten den Abend nutzen, um sich in den Armen zu liegen, zu träumen, sich zu lieben und für ein paar Augenblicke der Grausamkeit der Gegenwart zu entkommen.

Bernadette schob ihre Hand in seine und streichelte mit ihrem Daumen über die Erhebungen seiner Fingergelenke. Seine Haut fühlte sich rau, aber unglaublich warm an. „Ich freue mich darauf, wenn du mich gleich ein wenig halten magst.“

„Nichts, was ich lieber täte“, antwortete er und zog sie mit sich durch enge Straßen und Gassen, die sie zu ihrer Wohnung – oder besser gesagt: zu ihrem Zimmer – führen würden. Rabenschwarze Dunkelheit hatte sich über das Städtchen gelegt. Nur ab und zu erhellte ein Lichtschein das Pflaster, spiegelte sich in den Schaufenstern einiger Geschäfte, die längst geschlossen hatten und in Pfützen, die der Regen erschaffen hatte. Ein schneidiger Wind erfasste Bernadettes Kopftuch, das sie sich über ihre zu einem Dutt aufgedrehten Haare drapiert hatte, und riss es mit sich. Gleichzeitig griffen sie danach. Doch es war Salomon, der mit einem tiefen Ausfallschritt in die Hocke ging und das Stück Stoff im letzten Moment zu fassen bekam, bevor es auf die nasse Straße geweht wäre. Triumphierend hielt er das Tuch in die Höhe und lachte Bernadette an, die hinter ihm stand und ihm den Arm hinhielt, damit er sich daran hochziehen konnte. Doch mitten in der Bewegung hielten beide inne.

Laute Stimmen, die wild durcheinanderriefen, Schreie, die ganz in der Nähe ausgestoßen wurden und die Stille des Abends sprengten, ließen Bernadette den Atem anhalten. Sie bemerkte, wie Salomons Blick nur für eine, vielleicht zwei Sekunden am Ende der Straße verweilte, wo sich hinter einer Biegung das Lärmen zu nähern schien. Dann sprang er auf die Beine und zerrte Bernadette in einen schmalen Spalt zwischen zwei Häusern. „Kein Wort!“, kam es ihm zischend über die Lippen. „Beweg dich nicht!“

Sie gehorchte, was nicht allzu oft der Fall war. Doch dass Salomon es ernst meinte, verrieten ihr nicht zuletzt sein vollkommen regloses Verharren und die ausgestreckte Hand, die sie in den sich verjüngenden Gang drängte. Seine Gesichtszüge, die sie nur noch erahnen konnte, waren einer ebensolchen Starre verfallen wie der Rest seines Körpers. Gemeinsam lauschten sie in die Finsternis.

Jemand rannte. Seine Laufschritte hallten laut durch die einsamen Gassen, wahrscheinlich war er nur noch wenige Meter von dem Versteck entfernt, in dem Bernadette mit Louis kauerte. Das Geräusch keuchenden Atems drang an ihre Ohren. Blanke Panik jagte ihm voraus. Wer auch immer es war, der dort unterwegs war. Er eilte nicht grundlos.

Er flüchtete. Er rannte um sein Leben.

Zu dieser Erkenntnis kam Salomon im gleichen Moment wie Bernadette. Doch während sie sich noch einige Zentimeter weiter in die Lücke zwängte, wohl wissend, dass die gemauerten Wände ihr die Luft aus den Lungen pressen und das aufkommende Schwindelgefühl sie demnächst in eine Ohnmacht reißen würde, machte Salomon Anstalten, den Unterschlupf zu verlassen.

„Nein!“, gab sie beinahe fauchend von sich und bekam im letzten Moment und mit verdrehten Gliedmaßen seinen Mantelärmel zu fassen.

Sein Kopf schnellte zu ihr herum. Welchen Ausdruck sein Antlitz trug, war sie nicht imstande zu erkennen. Aber sie wusste von dem Schmerz und der Enttäuschung, die seine haselnussbraunen Augen zweifelsfrei trübten. Salomon stieß seinen Atem aus, rückte noch ein Stück weiter an Bernadette, tiefer in den Schatten, und sah zu Boden.

„Bleib stehen, du Drecksjude!“, ertönte eine Stimme, die so viel Hass in sich trug, dass sich ein schmerzhaftes Frösteln über Bernadettes Schultern und Arme ausbreitete. Sie verstand die Bedeutung der Worte – bruchstückhaft nur aus dem Deutschunterricht von früher, doch aufgefrischt in Gesprächen mit Salomon, der der Sprache des Feindes mächtig sein musste, um in der Résistance zu überleben.

„Knall ihn ab, Franz! Knall das Schwein ab!“

Bernadette hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein aufkommendes Schluchzen unter Kontrolle zu halten. Sie würde nicht schreien. Auch wenn sie genau wusste, was als Nächstes passieren würde. Sie würde nicht schreien.

Ein Schuss fiel.

Grausames Lachen, das zu ihnen herüberwehte und ein Stechen wie von tausend Nadeln auf Bernadettes Haut hinterließ.

„Der ist noch nicht kaputt!“

Ein Schleifen war von der Straße aus zu hören. Ganz in der Nähe. Viel zu nah. Bernadette biss sich auf die Zähne und versuchte, in Salomons Gesicht zu lesen. Doch seine Züge waren von völliger Schwärze überzogen.

Aus dem Augenwinkel nahm Bernadette eine Bewegung wahr. Jemand kroch über das Pflaster, zog sich mühsam vorwärts, Zentimeter um Zentimeter. Bis sie sein Gesicht sah, schmerzverzerrt, die Augen in Panik aufgerissen und mit kaum noch einem Funken Leben darin. Der Mann ließ sein Gesicht schließlich auf den Boden sinken. Schwer holte er Atem, gurgelte unverständliche Laute, hustete angestrengt.

„Wirst du nun endlich abkratzen, du Missgeburt?“

Ein paar dunkle Stiefel kamen neben dem sterbenden Körper zum Stehen, traten in dessen Nieren. Dann beugte sich ein Soldat der Wehrmacht hinab, spuckte und grinste schäbig. „Ich muss wohl nachhelfen!“

Der zweite Schuss traf den Mann in den Hinterkopf und beendete sein Leben.

Kapitel 2

Normandie, nahe Saint-Lô, September 2023

„Isabelle, kommst du?“ Mamans Stimme hallt durch das Treppenhaus bis hinauf in mein Zimmer.

„Einen Moment noch“, antworte ich, während mein Blick über die weite Landschaft hinter unserem Anwesen und den Garten schweift, den ich von meinen Fenstern aus dem ersten Geschoss einsehen kann. Die großzügigen Rasenflächen, auf denen alte Obstbäume seit Jahrzehnten schon Schatten werfen, werden von frisch gemulchten Beeten aufgelockert, in denen Rhododendren ihre fast verblühte Pracht zur Schau stellen und sich mannshohe Gräser in verschiedenen Grüntönen im Wind wiegen. Dieser Garten war mir der liebste Spielplatz in meiner Kindheit, und ich erinnere mich gern daran, wie ich Verstecken und Nachlaufen gespielt oder mich in einer bunten Hängematte zwischen zwei Apfelbäumen in die Weiten des Himmels geträumt habe. Ein warmer Luftzug, geschwängert mit den Aromen spätblühenden Lavendels und Herbstflieders, bauscht die bodenlangen Gardinen auf und lässt mich die Augen schließen. Der Spätsommer wartet mit aller Schönheit auf, die er zu bieten hat. Es tut gut, ein paar Tage hier zu verbringen. Den Stress der letzten Wochen und Monate hinter mir zu lassen, in denen sich alles um meinen Abschied aus dem Grundstudium der Medizin drehte. Mich zurechtzufinden mit der Vorfreude, aber auch der Nervosität, die mein ganzes Sein erfüllen, wenn ich an die Zukunft denke, die vor mir liegt.

„Schatz, der Tisch ist längst gedeckt und dein Kaffee eingeschenkt. Hast du es dir anders überlegt?“

„Natürlich nicht“, rufe ich und lächele. Selbst wenn es so wäre und ich keine Lust hätte, meinen Eltern beim Kredenzen ihres Snacks am Sonntagnachmittag beizuwohnen – ich wäre nicht in der Lage, es ihnen abzuschlagen. Sie sind immer für mich da, unterstützten mich in allen Lebenslagen und kümmerten sich nicht zuletzt darum, dass ich mir in den vergangenen Jahren keine finanziellen Sorgen machen musste. Darüber hinaus weiß ich, wie sehr sie sich freuen, dass ich einen Teil meiner freien Zeit mit ihnen verbringe. Wahrscheinlich wäre es in Ordnung für Maman und Papa gewesen, wenn ich mit Noemi gleich nach Bekanntgabe unserer Prüfungsergebnisse nach Thailand geflogen wäre, um dort ausgiebig zu urlauben. Aber ich entschied mich dagegen. Sowohl meine Lieblingskommilitonin als auch ich haben einen verdammt guten Abschluss hingelegt, weshalb sich unser beruflicher Werdegang nach unseren Idealen und Vorstellungen entfalten kann. Die jahrelange Anstrengung, die nächtliche Paukerei und das konzentrierte Halten des persönlichen Fokus zahlen sich nun aus.

Während es Noemi in den Fachbereich der Chirurgie zieht und sie dazu an die Université Paris-Saclay wechselt, bleibe ich für Seminare und theoretische Kurse der medizinischen Fakultät in Caen treu.

Mein Wunsch, in der Region Normandie zu bleiben und eine kleine Hausarztpraxis irgendwo auf dem Land zu eröffnen, stieß zuerst auf Unverständnis innerhalb meiner Familie. Als ich meinen Eltern mitteilte, wie ich mir mein späteres Arbeitsleben vorstelle, das eher achtsam und gemächlich verlaufen soll, gefror Papas Gesichtsausdruck für ein paar Sekunden, und Maman schenkte mir ein Lächeln, das aufgesetzt wirkte. Natürlich hätte ich mir sofortigen Zuspruch und helle Begeisterung gewünscht, auch wenn ich damit in gewisser Weise aus der Reihe tanzte. Schließlich war es mir möglich – und in gewisser Hinsicht sogar vorbestimmt – mich zur Fachärztin ausbilden zu lassen, beispielsweise in der inneren Medizin oder der Gynäkologie, wie es bei den Dubois’ seit mehreren Dekaden üblich ist, und dann in der renommierten Privatklinik meines Vaters Karriere zu machen.

„Alle Türen stehen dir offen, Liebes“, sagte Papa, als die Farbe auf seine Wangen zurückgekehrt und er imstande war, wenigstens verhalten zu nicken, „ein bisschen traurig bin ich aber schon.“ Seine Reaktion schmerzte mich ein wenig, doch ich kann sie nachvollziehen. Immerhin brachte ich seine schillernde Seifenblase zum Platzen, dass sein einziges Kind fortführen möge, was sein Großvater einst ins Leben gerufen, sein Vater weitergeführt und er selbst zeit seines Lebens perfektioniert hatte. Aber davon ließ ich mich nicht beirren. Jedenfalls nach außen hin nicht. Und glücklicherweise freundeten sich meine Eltern dann doch noch halbwegs mit der Idee an, dass ich nicht in die Fußstapfen meiner Familie väterlicherseits treten wollte. Sie hatten ihre Ziele, sie lebten ein Leben, für das sie hart arbeiteten, und was meine Erziehung betraf, hatten sie eine recht konservative und strenge Linie beibehalten. Doch grundsätzlich waren und sind sie um Harmonie bemüht. Nicht enden wollende Diskussionen und Streitereien waren bei uns kaum ein Thema. Wir vertrauen uns. Loyalität und Ehrlichkeit sind bei uns hoch angesehene Werte.

Langsam nehme ich die breiten Stufen ins Erdgeschoss, verliere mich für einen Moment in den lichtblauen Augen meines vor zwei Jahren verstorbenen Großvaters Jean-Pierre, der mich aus einem der massiv hölzernen Rahmen an der Wand anschaut und zu verfolgen scheint.

„Sein Blick ist durchdringend, nicht wahr?“ Madame Lefèvre, unsere Haushälterin, die schon seit Urzeiten für meine Familie tätig ist, steht am unteren Treppenabsatz und sieht zu mir hoch, bevor sie ihren Kopf leicht dreht und ihren einstigen Arbeitgeber mustert. „Er war ein guter Mann, aber stets viel zu ernst. Ich sah ihn selten lachen.“ Kurz legt sich ihre Stirn in Falten, als suchten unschöne Erinnerungen sie heim oder verbanden sich Fragmente aus längst vergangenen Zeiten zu einem unvollständigen Puzzle. Doch dann heben sich Madame Lefèvres Mundwinkel und sie zwinkert mir zu. „Es gibt frische Schokocroissants, ich hoffe, du greifst ordentlich zu.“

Sie nimmt Kurs auf den Salon, aus dem es verführerisch nach süßem Gebäck und Kaffee duftet, und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, während ich dem Geruch und Madame Lefèvre folge. Ihre Gangart mutet an wie das Watscheln eines hochschwangeren Pinguins, was zweifelsohne ihrer stattlichen Körperfülle und ihrem hohen Alter geschuldet ist. Mehrfach schon haben Maman und Papa ihr angeraten, den wohlverdienten Ruhestand zu genießen, der mit Ende siebzig und nach so vielen Jahren in den Diensten der Familie Dubois mehr als überfällig ist. Doch Madame Lefèvre winkt stets ab, wenn es um ihren Abschied aus dem Berufsalltag geht. „So lange meine Füße mich noch durch diese Räume tragen und meine Hände imstande sind, mit einem Staubtuch zu wedeln, bin ich hier zu Hause“, pflegt sie dann zu erwidern – und da meine Eltern wissen, wie ernst es der alten Dame mit ihren Worten ist, lassen sie sie gewähren. Ich fand es immer traurig, dass Madame Lefèvre nie verheiratet war und niemand aus ihrer Verwandtschaft in der Nähe wohnt. Ihr ganzes Leben widmete sie meiner Familie – und ja, ich muss zugeben, wäre Madame Lefèvre nicht mehr zugegen, wann immer ich für einen Besuch heimkehre, sie würde mir unendlich fehlen. Sie war ein treuer Begleiter in meiner Kindheit und Jugend, hat mir in so mancher freien Minute aus einem Märchenbuch vorgelesen oder sich später meine Schwärmereien von Schauspielern und Sängern angetan, von denen sie nicht einmal wusste, wer sie waren. Madame Lefèvre – auch wenn sie sich bis heute von meinen Eltern und mir siezen lässt – war mir schon immer die Großmutter, die ich nie hatte. Papas Mutter ist früh verstorben, Mamans Eltern leben viel zu weit weg, als dass wir je genug Kontakt pflegten, um eine innige Beziehung aufbauen zu können.

„Da bist du ja“, begrüßt mich Maman, kommt auf mich zu und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Auch Papa betritt das Zimmer, legt das iPad, auf dem er bis gerade die Nachrichten gelesen hat, beiseite und setzt sich an den reich gedeckten Tisch. Wir lieben es, nachmittags eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Meist besteht der Snack aus einer Tasse Kaffee und einem Croissant oder ein paar Keksen. Aber sonntags geht es ein bisschen opulenter zu. Maman, die in einem Museum als Kuratorin arbeitet, hat an den Wochenenden keinen Dienst. Papa hat es seit Anfang des Jahres aufgegeben, auch samstags am OP-Tisch zu stehen, weshalb der Ausklang der Woche nun insgesamt entspannter und familiärer abläuft. Der Sonntag jedoch war ihm von jeher heilig. Nichts war und ist ihm wichtiger, als den Tag, der viele Jahre lang sein einzig freier war, mit Maman und – sofern ich daheim bin – mit mir zu verbringen. Mit der Familie zu essen, sich zu unterhalten, hin und wieder einen Ausflug zu unternehmen oder einfach nur im Garten zu sitzen und die gemeinsame Zeit zu genießen, gehört für ihn zu einem gelungenen Miteinander einfach dazu. Ich glaube, dass er daran so festhält, hat damit zu tun, dass sein Vater es grundsätzlich anders handhabte.

Grand-père war sein Beruf, ebenfalls Chirurg, wichtiger als das Familienleben. Maman sagte früher manchmal, dass es für ihn eine willkommene Ablenkung war von den Dingen, die ihn in seinem Inneren umtrieben. Er muss, wie Madame Lefèvre bereits sagte, schon immer ein eher verschlossener Mensch gewesen sein. Ich selbst habe ihn stets als unnahbar und in sich gekehrt erlebt. Papa sagte, dass er selbst als Kind darunter sehr gelitten hatte und sich als junger Erwachsener vornahm, es anders zu machen, wenn er selbst Vater sein würde. Unser Familienzusammenhalt ist wahrscheinlich das Ergebnis dieses Vorsatzes – und ich bin überaus dankbar dafür. Gerade heutzutage ist es nicht mehr selbstverständlich, mit beiden Elternteilen groß zu werden. Viele meiner Kommilitonen wuchsen als Scheidungskinder auf.

„Wie geht es Noemi? Hat sie sich gemeldet?“ Papa nimmt sich ein Stück Torte, die mit Mirabellen aus dem Garten gefüllt und verziert ist. Madame Lefèvre hat wirklich ein Händchen fürs Backen. Unter anderem.

„Sie tut den lieben langen Tag nichts anderes, als in der Sonne zu liegen, gekühlte Drinks zu schlürfen und abends am Strand zu tanzen.“ Ich sehe sie förmlich vor mir, wie sie sich in den Armen eines attraktiven Typen wiegt, über sich den endlosen Sternenhimmel, unter ihren nackten Füßen den weichsten Sand der Welt.

„Bereust du es, nicht mit ihr geflogen zu sein?“, fragt Maman und zieht ihre Augenbrauen bis unter ihren geföhnten Pony.

Ich beiße in mein Schokocroissant. „Nicht wirklich. Aber ich kann mir vorstellen, mir vielleicht ein paar Tage Wellness zu gönnen, bevor wir demnächst unsere WG räumen müssen.“

„Oh, ich glaube, in Saint-Lô hat so ein schicker Spa-Tempel aufgemacht. Das wäre doch was, oder?“ Maman nickt mir bekräftigend zu. Das Quäntchen Sorge, meine Eltern könnten enttäuscht sein, wenn ich ihnen eröffne, dass ich nicht die ganze Zeit über bei ihnen bleibe, löst sich in Luft auf, und ich lächele.

„Das klingt verlockend! Ich schau nachher mal, wie die Preise sind und ob überhaupt etwas frei ist.“

„Der Preis ist Nebensache, Schatz.“ Mein Vater sieht mich über den Rand seiner Lesebrille an. Er meint es gut. Das weiß ich. Er schenkt mir heißen Kaffee nach aus der Kanne, die Madame Lefèvre gerade zu Tisch gebracht hat. „Ich kann mich übrigens noch gut daran erinnern, dass meine Freunde und ich nächtelang gefeiert haben, bevor wir unsere Facharztausbildungen begannen. Du solltest deine Freiheit genießen, solange es noch geht.“ Er zwinkert und lacht verschmitzt.

„Aber treib es trotzdem nicht zu wild!“ Maman räuspert sich geräuschvoll und lugt mit gesenktem Kopf unter ihren langen Wimpern hervor, als wüsste sie nicht genau, dass mir ausufernde Partys und Eskapaden – in welcher Hinsicht auch immer – nicht liegen.

„Gibt es eigentlich Fotos aus der Zeit, als du den Facharzt gemacht hast, Papa?“, frage ich, bevor ich mir ein weiteres Schokocroissant aus dem Servierkörbchen angele und Madame Lefèvre einen dankbaren Blick zuwerfe.

„Na ja“, murmelt er, „als du geboren wurdest, war ich ja noch nicht fertig. Bilder, auf denen du noch ganz klein bist und auch ich zu sehen bin, stammen also aus dieser Phase.“ Er zuckt mit den Schultern. „Aber es gibt auch ein Album mit Fotos aus der Anfangszeit, wenn ich mich recht erinnere. Schatz, weißt du, wo das gelandet ist?“ Er wendet sich an Maman, die kurz überlegt.

„Wahrscheinlich irgendwo in deinem Arbeitszimmer in den hintersten Ecken deiner Bücherregale?“

Ich schiebe entschlossen meinen Stuhl zurück. „Ich schaue sofort nach. Papa Mitte der Neunzigerjahre – das will ich sehen!“

„Wenn du glaubst, dass ich Baggy-Jeans getragen habe, über die du dich lustig machen könntest, muss ich dich enttäuschen, Liebes!“, ruft er mir hinterher, und das Lachen beider begleitet mich bis in den Ostflügel unseres Hauses, in dem sich das geräumige Büro meines Vaters befindet.

Langsame, bedächtige Schritte tragen mich über die Schwelle. Immer noch überkommt mich eine Art Ehrfurcht, ein Gefühl, das sich vielleicht zwischen Distanziertheit und Bewunderung einordnen lässt, als ich in dem Zimmer stehe und mich im einfallenden Licht der Nachmittagssonne umschaue.

Winzige Staubpartikel schweben in der Luft, verleihen dem Raum noch ein bisschen mehr Mystik, einen Hauch von geheimnisvoller Vergangenheit, als ihm sowieso innewohnt. Während meiner Kindheit war es mir selten erlaubt, mich in Papas Büro aufzuhalten. Dass Maman es mir verbot oder mein Vater mich liebevoll hinausbugsierte, wenn ich es doch einmal geschafft hatte, mich mit meinen Puppensachen oder einem Stapel Bilderbücher auf dem edlen Parkettboden auszubreiten, hatte Gründe. Spätestens nachdem ich in einem unbeaufsichtigten Moment eine Reihe von OP-Berichten und medizinischen Akten mit meinen Filzstiften verschönert hatte, wurden meine Eltern vorsichtig, und die Tür des Büros blieb für mich verschlossen. Selbst in meiner Jugend, als nicht mehr damit zu rechnen war, dass ich etwas bemalte, zerknickte oder durcheinanderbrachte, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Vaters Arbeitszimmer sein privates Reich war. Ich akzeptierte das – interessierten mich die vielen Bücher doch erst, als sich während meiner letzten zwei Schuljahre herauskristallisierte, dass ich tatsächlich Medizin studieren wollte. Doch selbst dann hielt ich mich wenig in Papas Büro auf, sondern nahm mir hin und wieder ein paar Fachbände oder eine der Zeitschriften mit in mein Zimmer.

Ein Lächeln kitzelt an meinen Mundwinkeln, als ich das geordnete Chaos auf dem riesigen Schreibtisch aus Mahagoni betrachte: Neben einem Schreibblock, der in dunkles Leder eingebunden ist und auf dessen Blättern unzählige Notizen und Zeichnungen ineinanderfließen, steht Papas Laptop – immer aufgeklappt, immer staubbedeckt, egal wie oft Madame Lefèvre Hand anlegt. Unter der Tageslichtstehlampe finden sich außer einem Stifthalter aus Edelstahl und zwei aufgeschlagenen Büchern ein paar Zeitungen. Mein Blick schweift über den Ledersessel, der an der Sitzkante und den breiten Armlehnen abgenutzt wirkt, weiter zu den massiven Holzregalen, die zwei Seiten des quadratischen Zimmers auskleiden. Meine Finger streifen über die Buchrücken von Literatur zu Operationstechniken, Anatomie und Klinikmanagement. Auch Werke über Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung stehen dazwischen, genauso wie Erinnerungsstücke und Auszeichnungen, die Papas Werdegang beschreiben und ihm über die Jahre wichtig geblieben sind. Familienfotos sind hier rar gesät. Es gibt ein gerahmtes Bild, das mich bei meinem Schulabschluss zeigt und eines, auf dem Maman, Papa und ich während eines Urlaubs auf Madeira lächerliche Sonnenhüte tragen und in die Kamera winken.

Erst in der äußersten Ecke, versteckt hinter einer kleinen Sitzgruppe nebst gläsernem Beistelltisch, finden sich im unteren Fach ein paar Fotobücher, die Maman online kreiert hat und die Aufnahmen von Familienfesten und Ausflügen der letzten zehn Jahre beherbergen. Die dicken Fotoalben, in denen man im letzten Jahrtausend Erinnerungen festhielt, verziert mit Aufklebern und Eintrittskarten und versehen mit handschriftlichen Einträgen, kann ich nicht entdecken. Fast schon will ich aufgeben und unverrichteter Dinge zurück in den Salon gehen, da fällt mein Blick auf ein Fach, das durch eine Schiebetür verschlossen ist. Vorsichtig öffne ich es und triumphiere innerlich. Eins neben dem anderen stehen dort fein säuberlich aufgereiht die Wälzer voll mit alten Fotos, und bevor meine Hand über die glatte Oberfläche des ersten Albums gleitet, streift sie etwas, das sich rau und hölzern unter meinen Fingern anfühlt. Ich krabbele weiter hinter die Sitzecke, schiebe einen Sessel mit meiner Hüfte beiseite und lange in die Tiefen des Regals, bis ich eine Kiste zu packen bekomme, die aufrecht hinter den Fotoalben – der Gedanke drängt sich mir geradezu auf – versteckt ist.

Ich setze mich in den Schneidersitz und betrachte die Schachtel, die ich als Zigarrenkistchen identifiziere. Ich weiß noch, dass Großvater ab und an eine Zigarre genoss. Vage kann ich mich an den schweren, warmen Geruch erinnern, der mich an Waldboden und Moos, manchmal auch an eine Handvoll Nüsse denken ließ, wann immer Grand-père die dicken Stumpen zwischen seine Lippen führte und dann den Rauch ausstieß. Augenblicklich sehe ich ihn vor mir, wie er in dem alten Sessel im Salon ausruht und geistesabwesend durch die Fensterfront hinaus in den Garten und bis in die offenen Felder dahinter blickt.

Madame Lefèvre hatte mit der Aussage recht, die sie äußerte, als wir vorhin gemeinsam die gerahmte Fotografie von Großvater betrachtet haben: Er war ein in sich gekehrter Mensch gewesen, der nur das Nötigste sprach und tatsächlich kaum je gelacht hat.

Ich konzentriere mich wieder auf die Kiste, die auf meinen Schenkeln liegt. Wundern würde es mich nicht, gäbe die Schachtel beim Öffnen ein quietschendes Geräusch von sich. Doch der Deckel klappt lautlos zurück, als ich meine Daumenkuppe in den Spalt lege und ihn anhebe. Zum Vorschein kommen Postkarten, unbeschriftet, die Urlaubs- oder Kurorte zeigen. Vermutlich. Auch Berglandschaften, das Meer und sogar eine ägyptische Pyramide sind dabei. Darunterliegend finde ich vergilbte Zettel, auf denen irgendwann einmal etwas geschrieben stand, das mittlerweile unkenntlich geworden ist. Vorsichtig hebe ich die Papiere ab, inhaliere den muffigen Geruch, der davon ausgeht, und lege sie neben mich auf den Boden. Ganz unten in der Kiste liegt ein einzelnes Foto. Schwarz-weiß mit einem schmalen hellen Rand. Die Ecken sind abgeschabt. Eine Knickfalte verläuft mittig über das Bild, als hätte jemand das Foto jahrelang in seiner Brust- oder Hosentasche, vielleicht auch in einem Portemonnaie mit sich herumgetragen und dann irgendwann auseinandergefaltet in diese Schachtel gelegt.