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Nightingale House wurde nicht mit Geheimnissen geboren, aber sie sind hier entstanden.
Sie wurden in den Wänden versiegelt und unter den Dielen vergraben.
Die meisten von uns wissen nicht, was sich in unseren Wohnräumen zugetragen hat, bevor wir eingezogen sind. Wir erfahren nie, welche Tragödien sich in dem Zimmer abgespielt haben, in dem wir schlafen, oder welche unaussprechlichen Taten sich vor Jahren im Keller ereignet haben.
Und während die Geheimnisse der meisten Häuser irgendwann in Vergessenheit geraten, lässt Nightingale House das nicht zu.
Seine Geheimnisse bleiben bestehen, verborgen in den Schatten oben auf der Treppe, im Flüstern am Ende des Flurs und im Schluchzen eines kleinen Mädchens auf der anderen Seite einer Tür, hinter der sich ein leeres Zimmer befindet.
Sie sind immer noch da und warten …
1
Ich presse mir die Hand auf die Brust, wobei ich den Ring spüre, der unter meinem Hemd an einer Kette hängt. Mit der anderen Hand greife ich nach der Hand meiner achtjährigen Tochter Caitlyn, die neben mir steht. Peitschende Windböen wirbeln um uns herum.
„Bist du bereit?“, frage ich.
Sie holt tief Luft und hält meine Hand fest. „Ja.“
Vor uns erhebt sich das Nightingale House, das im Queen-Anne-Stil am Ufer des Willow Lake erbaut wurde.
„Auf geht’s“, sage ich.
Wir gehen langsam den gepflasterten Weg hinauf. Als wir näher kommen, ragen die Giebel des Hauses und das Turmzimmer vor uns in die Höhe. Der Wind tut sein Bestes, uns vom Weg abzudrängen, aber schließlich erreichen wir die umlaufende Verandastufe, die zur schweren Eichentür führt.
Ich fische den Schlüssel aus der Tasche und reiche ihn Caitlyn.
„Schließ du auf.“
Sie blickt mit ihren großen, blauen Augen zu mir auf. Sie sieht Nicole so ähnlich, dass es wehtut. Ich weiß, dass Caitlyn ihre Mutter in diesem Moment genauso schmerzhaft vermisst wie ich.
„Okay.“
Sie nimmt den Schlüssel und versucht, ihn ins Schloss zu stecken, aber ihre Hände zittern.
„Soll ich dir helfen?“, frage ich.
„Nein“, sagt sie stur und seufzt.
Ich muss lächeln. Sie ist Nicole unheimlich ähnlich.
Endlich schafft sie es, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. „Siehst du? Ich hab’s hingekriegt“, sagt sie und dreht ihn um. Dann drückt sie die Klinke nach unten und lehnt sich gegen die Tür. Die Scharniere ächzen leise, während sie aufschwingt.
Wir treten ein und lassen den Wind hinter uns. Der Geruch von Holzpolitur auf dem glänzenden Parkettboden schlägt uns entgegen. Links ist das Wohnzimmer. Vollgepackte Umzugskartons stehen um das Sofa und den Couchtisch herum. Wir stehen direkt vor der Treppe, die hinauf in den ersten Stock führt. Zu unserer Rechten liegt das Arbeitszimmer.
Nein.
Ich hatte ganz vergessen, dass wir es mein „Schreibzimmer“ nennen wollen. Da drin werde ich die Fortsetzung von Im Schatten der Gerechtigkeit schreiben.
***
Vor ein paar Jahren war ich ein erfolgloser Schriftsteller. Ich arbeitete als Aushilfslehrer und versuchte verzweifelt, Frau und Kind zu ernähren. Wir lebten in einer beengten Dreizimmerwohnung in Portsmouth, New Hampshire, und träumten davon, dass meine bescheidenen Geschichten eines Tages Bestseller werden würden. Bisher hatte ich nur zwei Romane vorzuweisen, die Flops waren. Ich hatte das Gefühl, dass das dritte Buch, ein Politthriller, mein letzter Versuch sein würde.
Nicole und ich hatten eine bestimmte Routine: Ich stand um vier Uhr morgens auf und fing an zu schreiben. Nicole stand um sechs Uhr auf und machte Caitlyn für die Schule fertig. Dann saßen Nicole und ich bei einer Tasse Kaffee an unserem Küchentisch aus dem Secondhandladen und ich las ihr vor, was ich seit unserem letzten Morgenkaffee geschrieben hatte. Diese Momente liebte ich. Ich wusste, wenn mein Politthriller durch ein Wunder ein Bestseller werden sollte, würde dies für mich immer der schönste Teil meiner Arbeit bleiben. Nur Nicole und ich am Küchentisch, während sie große Augen machte, als sich die Geschichte entfaltete. Sie war meine beste Kritikerin, Cheerleaderin und Lektorin. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem wir am Tisch saßen, während der Regen gegen das Fenster prasselte, und ich das Wort „Ende“ las. Als ich von meinem Manuskript aufblickte, hatte Nicole Tränen in den Augen. Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, küsste mich und sagte: „Das ist es.“
Wir fanden eine Literaturagentin, es gab ein Bietergefecht und dann waren wir im Rennen. Ich sage „wir“, weil ich „wir“ meine. Ohne Nicole? Kein Buch.
Vierzehn Monate später, nach einem Jahr des Überarbeitens, Optimierens und schließlich des Tages der Veröffentlichung kam „der Anruf“.
Das Buch war seit zwei Monaten auf dem Markt und verkaufte sich gut. Die Kritiken waren super. Mein Verlag hatte mir bereits eine Vertragsverlängerung um zwei weitere Bücher sowie einen großzügigen Vorschuss angeboten. Nicole und ich bemühten uns, nicht zu viel darüber zu sprechen, aus Angst, es zu zerreden.
Dann rief eines Morgens, während wir Caitlyn für die Schule fertig machten, meine Agentin Lana Gifton an. „Haben Sie heute früh die Bestsellerliste der New York Times gesehen?“, fragte sie.
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis mir dämmerte, was sie damit sagen wollte.
„Das gibt’s doch nicht.“
„Ich denke, Sie sollten sie sich mal ansehen.“ Sie legte auf.
Hastig sprang ich von meinem Stuhl auf und rannte zum Computer. Ich öffnete die Seite im Browser, weil ich sie selbstverständlich als Lesezeichen gespeichert hatte.
Mein Herz setzte aus.
„Nicole!“, brüllte ich.
Sie kam angerannt und stellte sich hinter mich.
„Was ist denn?“, fragte sie.
Ich zeigte auf den Bildschirm.
8. Im Schatten der Gerechtigkeit – Daniel Price
„Oh mein Gott!“, kreischte sie.
Ich sprang auf und wir hielten uns fest, während wir beide anfingen zu weinen. „Mom? Dad? Was ist denn los?“, fragte Caitlyn, die in der Tür stand.
Ich rannte zu ihr hin und drückte sie fest an mich.
„Aua …“
„Kleines, wie wär’s, wenn du heute mal die Schule schwänzt?“
Sie sah mich misstrauisch an. „Was machen wir denn heute?“
„Worauf immer du Lust hast.“
Den Rest des Tages verbrachten wir mit Bowling, Kino und Eisessen.
Nachdem Caitlyn an diesem Abend vor Erschöpfung fest in ihrem Bett schlief, gingen Nicole und ich in unser Zimmer und liebten uns so leidenschaftlich wie seit Jahren nicht mehr. Damit feierten wir all das, worauf wir hingearbeitet hatten.
Hinterher lagen wir schwitzend und glückselig nebeneinander im Bett.
„Hey, Shakespeare?“, flüsterte sie. Es war ihr Lieblingskosename für mich.
„Ja?“
„Ich finde, es wird Zeit, dass wir uns nach einer neuen Bude umsehen.“
„Das denke ich schon lange.“
„Ach, echt?“
„Ja. An was hast du gedacht?“
Sie kaute neckisch auf ihrer Unterlippe herum. „Hmm … Egal was?“
„Na ja, vielleicht müssen wir auf den Hubschrauberlandeplatz und die Garage für zwanzig Autos verzichten, aber abgesehen davon kannst du dir wünschen, was du willst.“
„Ich will am Wasser leben. Es muss nicht unbedingt das Meer sein, aber vielleicht an einem See.“
„Abgemacht.“ Ich nickte.
Sie lachte. „Mir gefällt der hübsche kleine Traum.“
Ich nahm ihre Hand. „Es ist kein Traum mehr.“
Ich glaube, in diesem Moment wurde uns beiden zum ersten Mal klar, dass es jetzt endlich wahr wurde. Keine Tagträume mehr, die dazu dienten, unsere verzweifelte Lage zu verdrängen. Keine Versuche mehr, vor Caitlyn zu verbergen, wie pleite wir waren.
„Ich möchte in einem alten Haus leben“, sagte Nicole und fügte rasch hinzu: „Keinem uralten, aber einem mit Charakter.“
„Perfekt.“
„Und was willst du?“
„Ich?“
Sie nickte.
„Ich will Runde Zwei.“
Sie lachte, als ich sie an mich zog.
***
Nicole brauchte ganze sechsunddreißig Stunden, um Nightingale House zu finden.
Ich war Feuer und Flamme, als sie mir online die Bilder zeigte und sagte, dass das Haus einen Namen hatte. Außerdem lag es in unserem Budget, befand sich nur eine Stunde entfernt von uns in dem Städtchen Kingsbrook, Maine, und wir hatten vier Stunden Zeit, bevor Caitlyn von der Schule nach Hause kommen würde.
„Komm, fahren wir hin!“, sagte sie und packte mich am Handgelenk.
Nicole rief bei der Maklerfirma an und bekam sofort einen Termin.
Während der Fahrt auf dem Highway 16 waren wir zu aufgeregt, um uns zu unterhalten. Das Haus. Die Kleinstadt. Alles war einfach perfekt.
Wir nahmen die Ausfahrt Kingsbrook/Willow Lake und fuhren die Main Street mit ihren stattlichen Häusern entlang, die alle mindestens hundert Jahre alt waren. Der Marktplatz war umgeben von Coffeeshops, Antiquitätenläden und Restaurants.
Die Wegbeschreibung brachte uns in die umliegenden Wälder. Es war Herbst und die Bäume waren leuchtend rote, orangefarbene und gelbe Farbtupfer. Eine letzte Biegung, dann tauchte Willow Lake auf. An der Straße, die parallel zum Ufer verlief, reihte sich ein Haus nach dem anderen; das letzte war Nightingale House.
Die Fotos waren ihm nicht gerecht geworden. Das wäre auch unmöglich gewesen. Die Veranda, die Giebel und das Turmzimmer mit Blick auf den See auf einem Computerbildschirm zu sehen, war das eine – aber davor zu stehen, war etwas ganz anderes.
Als Nicole den Steinweg hinaufging, schien sie in einer Art Trance zu sein. Ein spindeldürrer Makler mit einer Brille, die er immer wieder auf dem Nasenrücken hochschieben musste, begrüßte uns auf der Veranda.
„Mr. und Mrs. Price?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich, da es Nicole die Sprache verschlagen hatte.
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin Mark Stelowski.“
Ich schüttelte sie, und er machte eine großzügige, schweifende Geste in Richtung des Hauses. „Also, das ist es. 1893 erbaut von –“
„Äh, Mister … ähm …?“, unterbrach ich ihn.
„Stelowski.“
„Stelowski, richtig. Tun Sie mir bitte einen Gefallen.“
„Äh … Selbstverständlich.“
„Bitte sparen Sie sich die Ausführungen.“
Er blinzelte. „Oh … ähm … Natürlich, kein Problem.“
„Danke.“
Nicole und ich betraten das Haus.
Nun war ich sprachlos, doch sie erwachte plötzlich aus der Trance.
Sie warf einen Blick in den Raum zu unserer Rechten, in dem ein großes Bücherregal in die Wand eingelassen war. „Das ist dein Arbeitszimmer.“ Sie war dabei, ins Wohnzimmer zu gehen, hielt jedoch plötzlich inne. „Nein! Streich das. Es ist dein Schreibzimmer.“
„Ich finde es toll“, erwiderte ich.
Nun ging sie rasch weiter ins Wohnzimmer. „Sofa, Fernsehsessel, Fernseher“, sagte sie und deutete in die Ecken des Raums.
„Super.“
Ich folgte ihr ins Esszimmer. Ein großes Fenster bot einen atemberaubenden Blick auf den See. Ein Holzsteg ragte ins Wasser.
„Hier werden wir jeden Abend essen“, sagte sie.
„Ich koche!“, bot ich an.
Sie verzog das Gesicht. „Äh … Das sehen wir dann noch.“
Wir gingen weiter in die Küche. Eine Hintertür führte auf eine Terrasse und in den Garten. Obwohl das Haus seinen alten Charme bewahrt hatte, war die ultramoderne Küche mit den neuesten Geräten und einer Kücheninsel ausgestattet. Eine kleine Nische mit einem Fenster blickte auf den See.
„Hier trinken wir jeden Morgen Kaffee“, sagte ich.
„Während du mir vorliest“, fügte sie hinzu.
Nicole ging zu einer kleinen Holztür und öffnete sie. „Speisekammer?“, fragte ich.
„Nein.“
Sie ging hindurch, und ich hörte ihre Schritte auf der knarrenden Holztreppe nach unten gehen. Ich durchquerte die Küche und folgte ihr in die Dunkelheit. Um mein Gleichgewicht zu halten, stützte ich mich an der kühlen Steinwand zu meiner Rechten ab. Als wir unten angekommen waren, ging Nicole in die Mitte des Raums und zog an der Kette einer kleinen, nackten Glühbirne, die von der Decke hing und in der Dunkelheit kaum zu sehen war. Sie war offensichtlich Jahrzehnte alt und leuchtete nur schwach, sodass sie den Raum kaum erhellte.
„Und das ist … der Keller …“, sagte sie.
„Ja“, erwiderte ich nüchtern.
Mehr gab es nicht zu sagen. An den Wänden und auf dem Dielenboden standen Holzregale.
„Jetzt nach oben?“, fragte ich.
„Ja“, stimmte Nicole mir zu und schaltete das Licht aus.
Wir eilten die Stufen wieder hinauf und liefen durch das Haus wie Kinder, die um die Wette rennen.
„Gleich fertig!“, rief ich dem Makler im Vorbeigehen durch die offene Haustür zu. Er hielt uns sicher für verrückt, als wir die Treppe zum ersten Stock hinaufstürmten.
Vom oberen Treppenabsatz aus erstreckte sich der Flur. Rechts befand sich das Turmzimmer. Seine Fenster boten fast schon einen Panoramablick auf den See. Die gewölbte Decke lief spitz zu, und neben der Tür stand ein Schrank.
„Caitlyns Zimmer?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht. Meinst du, dass es eine zu große Umstellung für sie wäre?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wir fragen sie einfach.“
„Wir werden das Kind verwöhnen.“
„Unbedingt.“
Wir gingen in das blaue Gästezimmer, das gegenüber vom Turmzimmer lag. Ich blieb hinter Nicole im Türrahmen stehen.
„Ein Gästezimmer?“
„Solange, bis wir Caitlyn ein Geschwisterchen schenken“, antwortete Nicole.
Ich schlang meinen Arm um ihre Taille, knurrte scherzhaft und knabberte an ihrem Hals.
Sie lachte und drehte sich von mir weg. „Wir sind noch nicht fertig!“
Wir gingen den Flur entlang zum Elternschlafzimmer.
Ich öffnete die Tür und wir schnappten beide nach Luft. Die Wände waren mit edlem, rosa gebeiztem Holz getäfelt. In die gegenüberliegende Wand war ein Kamin eingelassen, und eine Tür in der Ecke führte zum Badezimmer.
„Unser Schlafzimmer hat sogar einen Kamin?“, flüsterte Nicole.
„Unser Schlafzimmer hat einen Kamin.“
Wie benebelt gingen wir die Treppe hinunter. Es schien unmöglich, dass dieses Haus unseres werden könnte. Im Wohnzimmer blieben wir stehen und sahen uns an.
„Willst du hier leben?“, fragte ich.
„Ich weiß, es klingt komisch, aber ich habe das Gefühl, als würde ich hierhin gehören … Willst du hier leben?“
Ich nickte.
Wir küssten uns, umarmten uns und pressten die Stirn aneinander.
„Nicole … Wir sind zu Hause.“
Wir küssten uns noch einmal. Dann rief ich in Richtung Haustür: „Mr. Kowalski?“
„Er heißt ‚Stelowski‘“, korrigierte mich Nicole kichernd.
„Sir!“, rief ich, um nichts Falsches zu sagen.
Der Makler kam herein und blieb stehen, als er sah, dass Nicole und ich uns im Wohnzimmer umarmten.
„Also, ähm … Haben Sie irgendwelche –“
„Wir nehmen es“, sagte Nicole.
***
Zwei Monate später, nachdem der Vertrag unterschrieben war, fuhren wir mit Caitlyn zum Nightingale House.
Nicole war sich immer noch nicht sicher, ob Caitlyn das Turmzimmer gefallen würde, aber ich zweifelte keine Sekunde daran. Sie kam zur Tür herein und war schockverliebt. Wir schafften es kaum, sie vom Fenster wegzuziehen, während sie auf den See hinausschaute. Ihr Zimmer in Portsmouth hatte keinen eingebauten Kleiderschrank, daher betrachtete sie sogar ihn als Luxus. Sie rannte in die Mitte des Zimmers, starrte an die Decke und fing an, sich im Kreis zu drehen.
Dann zeigten wir ihr das blaue Gästezimmer und die Master-Suite. Sie begutachtete brav beide Zimmer, aber ich merkte, dass sie mit dem Herzen immer noch im Turmzimmer war. Wir gingen wieder über den Flur zurück und blieben zwischen dem Turmzimmer und dem blauen Gästezimmer stehen.
„Werden wir echt hier wohnen?“, fragte Caitlyn.
„Ja“, sagte Nicole. „Und du hast die Wahl. Du kannst das blaue Zimmer haben oder das andere –“
Caitlyn stürmte ins Turmzimmer.
„Das hier! Das hier! Ich will das hier!“, rief sie, während Nicole und ich ihr von der Tür aus zusahen.
„Warum das hier?“, fragte ich.
„Weil ich wie eine Prinzessin im Schloss sein werde!“
Sie war so süß, dass ich mich fast setzen musste.
Danach fuhren wir zurück nach Kingsbrook und tranken in einem Lokal namens „Murphy’s“ Milchshakes. Das heißt, Caitlyn und ich hatten Milchshakes. Nicole trank heiße Schokolade.
Murphy’s war wie ein Limonadenshop aus den 1920ern. Er war nach dem schwarzen Labrador des Besitzers benannt, der in einem Hundebett auf dem Boden neben der Kasse schlief. Das Lokal war krachend voll, aber wir hatten das Glück, noch eine Sitznische zu ergattern. Caitlyn beobachtete die Leute, die draußen vor dem Fenster vorbeigingen, und dachte sich Geschichten für sie aus.
„Das ist Mr. Teffelbottom. Er ist ein Wissenschaftler, der in seinem Keller Experimente durchführt“, sagte sie. „Und das da ist Mrs. Longshanks. Man sagt, sie sei eine Hexe.“
Nicole und ich tauschten einen Blick aus. Diese Angewohnheit war ein kleines Problem, das wir mit Caitlyn hatten. Sie erzählte gern Geschichten. Die meisten Leute hätten sie der Lügen bezichtigt, aber da sie unser Kind war, nannten wir sie lieber Geschichten. Vor allem wenn sie überdreht war, neigte sie dazu, sie zu erzählen. Die meisten hielten wir für harmlos. Wenn man sie darauf ansprach, gab sie normalerweise zu, dass sie sich die Storys nur ausgedacht hatte. Trotzdem gab es deswegen Probleme in der Schule. Doch nach dem tollen Tag, den wir gerade erlebt hatten, wollte keiner von uns sie ermahnen. Stattdessen versuchten wir, das Thema wieder auf das neue Haus zu lenken.
Nach den Milchshakes und der heißen Schokolade stiegen wir wieder ins Auto und fuhren zurück nach Portsmouth. Keiner von uns war erpicht darauf, in unsere Wohnung zurückzukehren.
Auf halbem Weg hielten wir an einer roten Ampel.
„Können wir Verstecken spielen, wenn wir eingezogen sind?“, fragte Caitlyn. „Auf Sarahs Geburtstagsparty letztes Jahr haben wir alle Lichter in ihrem Haus ausgemacht und Verstecken gespielt.“
„Natürlich können wir das“, sagte ich.
Caitlyn strahlte.
Nicole drehte sich zu Caitlyn um, die auf dem Rücksitz saß. „Eine Prinzessin in einem Schloss, was?“
„Jep.“
Nicole zwinkerte mir zu. „Vielleicht sollten wir ein Prinzessinnenbett für dein Zimmer besorgen.“
Ich sah im Rückspiegel, wie Caitlyn große Augen bekam.
Die Ampel wurde grün.
Ich fuhr wieder los und lächelte Nicole an.
Unsere Blicke trafen sich.
In diesem Moment sah ich im Seitenfenster die blendenden Scheinwerfer über ihrer Schulter.
Ich hörte ein grauenhaftes Knirschen und hatte das Gefühl, als würde jeder Knochen in meinem Körper zerreißen.
Dann nichts mehr.
***
Caitlyn lässt meine Hand los und ich folge ihr, während sie durch das Wohnzimmer ins Esszimmer geht.
Als sie stehen bleibt, kann ich die tiefrote Narbe in ihrem Nacken sehen.
Sie lässt die Schultern hängen.
Ich fühle es. Ich spüre, dass Nicoles Abwesenheit Caitlyn allmählich überwältigt. Mich auch. Sie überwältigt mich schon seit Monaten, aber ich muss für Caitlyn stark sein. Sie darf mich niemals so erleben.
„Hey, weißt du was?“, frage ich.
Sie dreht sich zu mir um. „Was denn?“
„Ich glaube, in deinem Zimmer ist was.“
Sie legt den Kopf schräg. „Was?“
Ich zucke neckend mit den Schultern. „Das weiß ich doch nicht.“
„Woher weißt du dann, dass –“
„Kleines, schau am besten mal in deinem Zimmer nach.“
Sie wirft mir noch einen fragenden Blick zu und geht dann langsam zurück zur Treppe, während ich ihr folge. Je mehr sie sich den Stufen nähert, umso schneller geht sie. Als ich an der Treppe angekommen bin, ist sie schon oben und verschwindet im Turmzimmer. Ich lasse mir Zeit, sie einzuholen.
Auf halbem Weg höre ich sie in ihrem Zimmer vor Entzücken quietschen.
Ich erreiche den oberen Treppenabsatz. Alle Türen im Flur stehen offen. Aus Caitlyns Zimmer dringt ein rhythmisches Geräusch.
Ich biege um die Ecke, erreiche ihr Zimmer und sehe, dass sie auf ihrem neuen Himmelbett herumhüpft.
„Mein Prinzessinnenbett!“, singt sie fröhlich.
„Hey! Du machst es noch kaputt!“, warne ich sie, aber nicht wirklich streng.
Sie lässt sich auf den Rücken fallen und lacht ausgelassen.
„Okay, das reicht, du kleines Monster.“ Ich zeige auf die Umzugskartons in der Ecke. Auf jedem steht mit schwarzem Filzstift „Caitlyn“ geschrieben. „Fang schon mal an, auszupacken. Richte dein Zimmer so ein, wie du willst. Wenn du mich brauchst, bin ich unten am Flur, okay?“
Sie nickt.
Ich will gerade gehen, als ich höre, dass sie vom Bett springt und auf mich zuläuft. Ich drehe mich im selben Moment um, in dem sie die Arme so fest um mich schlingt, wie sie nur kann.
„Danke, Dad.“
Ich erwidere ihre Umarmung. „Gern geschehen, Liebling.“
„Ich hab dich lieb“, sagt sie.
„Ich hab dich auch lieb.“
Wir halten uns fest und vermissen Nicole.
Ich küsse Caitlyn auf den Kopf. „Also gut. Mach dich an die Arbeit.“
Sie geht hinüber zu den Kartons, als ich mich wieder zur Tür umdrehe. Ich höre, wie sie das Klebeband abreißt, während ich den Flur entlang zum Elternschlafzimmer –
Hä?
Eben noch war die Tür offen gewesen.
Es muss von irgendwo einen Zug geben. Ich höre den Wind, der ums Haus peitscht.
Ach, was soll’s?
Ich mache die Tür auf und gehe hinein.
7. April 1900
Ich liebe es. Ich liebe dieses Tagebuch.
Ich habe noch nie ein Tagebuch geführt, aber ich werde es versuchen, vor allem wegen dem, der es mir geschenkt hat. Aber dazu später mehr.
Die Party war schön, aber ich bin viel zu schüchtern für öffentliche Veranstaltungen. Außerdem war die Party, auch wenn sie an meinem siebzehnten Geburtstag war, nicht wirklich für mich gedacht. Es war Vaters Art, uns den Leuten von Kingsbrook „vorzustellen“, bevor wir die Apotheke eröffnen. Ich weiß, dass Vater es kaum erwarten kann, aber das war schon bei allen anderen Geschäften so, die er eröffnet hat, wie zum Beispiel dem Lebensmittelladen oder der Wäscherei, und jedes wurde zu einem Reinfall. Aber dieses Mal würde es ein Erfolg, hatte er meiner Stiefmutter Carol versprochen, wie ich zufällig mitbekommen hatte.
Die Party fand in dem Haus statt, das wir in der Stadt mieten. Wir können es uns nicht leisten, ein Haus zu kaufen, aber Vater wollte, dass wir wohlhabend wirken, weil das das Vertrauen der Leute in die Apotheke stärkt. Auch wollte Vater, dass die Party so elegant wie möglich würde, aber da wir uns kein Haus leisten können, haben wir natürlich auch kein Geld für Catering oder einen Partyplaner. Carol musste sich um alles kümmern und kam an ihre Grenzen. Ich hatte schreckliches Mitleid mit ihr und versuchte, ihr so gut ich konnte zu helfen, aber Vater bestand darauf, dass ich der Mittelpunkt des Fests sein sollte.
Als die Party begann und die Gäste eintrafen, bemühte ich mich, höflich zu sein, während Vater mich vorstellte, aber danach vergaß er mich völlig und redete ununterbrochen nur noch von der Apotheke. Es wurde so peinlich, dass ich rausgehen musste, um der Situation zu entkommen, wenn auch nur für einen Moment.
Ich ging in den Garten und versteckte mich hinter einer der Eichen. Ich dachte, ich wäre allein, aber da war noch jemand, der sich vor der Party versteckte.
Er war groß, mit dunklem Haar und strahlend blauen Augen. Seine Augen ließen mich wie angewurzelt stehenbleiben. Du kannst Dir sicher meine Überraschung vorstellen, als ich bemerkte, dass er aus einem Flachmann trank. Er war genauso erschrocken, mich zu sehen, wie ich ihn. Dann lächelte er leise und hielt mir den Flachmann hin. Er bot mir tatsächlich an, daraus zu trinken!
Unfähig, etwas zu sagen, ging ich zurück zur Party, aber ich musste ständig an sein verschmitztes Lächeln und die durchdringenden blauen Augen denken.
Später, beim Abendessen, als Vater einen ewig langen Toast aussprach, in dem er sich bei allen dafür bedankte, dass sie uns in Kingsbrook aufgenommen hatten, und die Vorzüge der Apotheke pries, die schon bald eröffnet würde, sah ich den Mann wieder. Er saß neben einer müde wirkenden blonden Frau ein paar Tische weiter. Während alle anderen höflich Vaters ausschweifender Rede zuhörten, trafen sich unsere Blicke. Er hatte immer noch dieses leise Lächeln auf den Lippen.
Nach dem Abendessen packten wir die Geschenke aus. Es war mir sehr unangenehm, von fremden Leuten Geschenke anzunehmen, aber ich gab mir alle Mühe, mich aufrichtig darüber zu freuen. Es gab Schmuck, einen Gedichtband, Dinger, die sich „Buntstifte“ nannten, und andere hübsche Sachen.
Als wir an ihrem Tisch angekommen waren, stand die blonde Frau auf. Sie gratulierte mir zum siebzehnten Geburtstag und überreichte mir ein Geschenk, das in Seidenpapier eingewickelt war. Ich wickelte das Seidenpapier aus und fand darin dieses Tagebuch! Die Gravur auf dem Deckel ist wunderschön und der Verschluss ist wirklich clever! Der Mann, der wohl ihr Gatte war, blieb auf seinem Stuhl sitzen und nickte mir zu. Ich nickte zurück.
Nach den Geschenken versuchte ich, den Mann im Auge zu behalten, während er sich unter die anderen Gäste mischte. Er machte einen charmanten und einnehmenden Eindruck. Seine Augen funkelten jedes Mal, wenn er lachte. Alle schienen sich in seiner Gesellschaft wohlzufühlen. Ich würde sagen, dass er mehr der Mittelpunkt der Party war als ich oder Vaters Bemühungen, für die Apotheke zu werben. Es kam mir seltsam vor, dass er kaum mit seiner Frau sprach, und ich hatte das Gefühl, dass er mir absichtlich aus dem Weg ging, auch wenn wir weiterhin Blicke tauschten.
Irgendwann wurde Vater frustriert und versuchte, die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu lenken, um über die Apotheke zu sprechen. Wieder war es mir so peinlich, dass ich in die Küche flüchten musste. Dort bereitete Carol gerade verzweifelt ein Tablett mit Desserts für die Gäste vor.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie.
„Vater ist unerträglich, weil er nur über die Apotheke redet“, antwortete ich.
Sie verdrehte als Zeichen der Zustimmung die Augen. „Na ja, aber bleib nicht zu lange weg. Es ist doch deine Party.“ Sie hob das Tablett auf und ging damit ins Wohnzimmer. Ich blieb außer Sichtweite, während die Tür aufschwang, und wartete, bis sie sich wieder schloss.
Es war heiß in der Küche. Carol hatte das Fenster geöffnet und ich hörte draußen Stimmen.
Ich blickte hinaus. Direkt unter dem Fenster unterhielten sich zwei Mädchen. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, nur ihre Köpfe.
„Kannst du glauben, dass sie gekommen sind?“, fragte die eine die andere.
„Warum nicht? Soweit ich gehört habe, ist es nicht das erste Mal“, erwiderte die andere.
„Was hast du denn gehört?“
„Na ja, hauptsächlich Gerüchte. Außer der letzten Geschichte. Da weiß ich mit Sicherheit, dass er mit einer jungen Frau erwischt wurde.“
„Wer hat dir das erzählt?“
„Jemand, der seinen Kammerdiener kennt … Aber kann man es der jungen Frau verübeln? Er ist ein stattlicher Mann.“
„Patricia, lass das.“
„Was denn? Das stimmt doch. Es lässt sich nicht leugnen. Viele Frauen haben ein Auge auf ihn geworfen, und wie gesagt, es wird so einiges gemunkelt. Er hat mir sogar gesagt, dass er mich hübsch findet.“
„Du bist wirklich eine schreckliche Klatschtante.“
„Wenn man weiß, dass es wahr ist, ist es kein Tratsch.“
In diesem Augenblick ging die Küchentür auf und Vater steckte den Kopf herein.
„Liebling, du bist unhöflich. Die Leute fragen schon, wo du bleibst.“
Beim Klang von Vaters Stimme gingen die Mädchen unter dem Fenster eilig davon. Die, die Patricia hieß, schaute über ihre Schulter und unsere Blicke trafen sich kurz, bevor die beiden um die Hausecke bogen.
„Komm schon“, beharrte Vater.
Ich ging zu „meiner“ Party zurück.
Als die Party vorbei war, standen Vater und ich unten an der Auffahrt, um die Gäste zu verabschieden und jedem von ihnen für ihr Kommen zu danken. Als ich den Mann am Ende der Schlange entdeckte, tat ich so, als wäre mir unsere formelle Vorstellung und Verabschiedung egal. Die blonde Frau hing an seinem Arm. Ich versuchte, mich auf die Leute zu konzentrieren, von denen ich mich verabschiedete, doch mein Blick wanderte immer wieder zu ihm zurück.
Schließlich erreichten sie Vater und mich.
Vater schüttelte ihnen die Hand und sagte: „Mr. und Mrs. Carrington, vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“
Die Frau bedankte sich für die Einladung und hieß uns noch einmal in Kingsbrook willkommen.
Dann wandten sie sich mir zu.
Ich dankte ihnen dafür, dass sie gekommen waren, und für das Tagebuch.
Sie nahm meine Hände und sagte: „Es war uns ein Vergnügen.“
Dann ließ sie mich los und ich reichte Mr. Carrington meine Hand. „Danke, dass Sie gekommen sind, Mr. Carrington. Es war nett, Sie kennenzulernen.“
Er sah mich mit diesem durchdringenden Blick an und schüttelte sanft meine Hand. „Ganz meinerseits“, sagte er.
Niemand bekam mit, dass er bei „meinerseits“ ganz leicht mit dem Finger auf meine Handfläche drückte. Es war eindeutig und beabsichtigt. „Sie sollten uns irgendwann einmal im Nightingale House besuchen.“
Vater, der sich nicht beherrschen konnte, warf plötzlich ein: „Also, wenn Sie irgendetwas aus der Apotheke brauchen, zögern Sie nicht, uns Bescheid zu sagen. Wir liefern sogar ins Haus.“
Sein Versuch, beiläufig das Geschäft zu erwähnen, ging zwar völlig daneben, doch die Carringtons blieben höflich. Ich konnte es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen, während Vater weiter quasselte. Mr. Carrington warf mir einen Seitenblick zu und zwinkerte verschmitzt. Vater und ich sahen ihnen nach, als sie in ihrer Kutsche davonfuhren, die von einem Mann gelenkt wurde, den die Frau mit „Theodore“ ansprach. Danach verabschiedeten wir die restlichen Gäste.
Jetzt liege ich im Bett und kann nicht aufhören, an ihn zu denken. Dieses Tagebuch ist das perfekte Geschenk. Obwohl ich den ganzen Abend über nur ein paar Worte mit ihm gewechselt habe, habe ich das Gefühl, dass seine Aufmerksamkeit hauptsächlich mir galt.
Vielleicht ist diese Stadt doch nicht so schlecht.
Gute Nacht.
2
Durch die offene Tür meines Schlafzimmers höre ich Caitlyn vor sich hin singen, während sie am anderen Ende des Flurs auspackt.
Meine Kartons auszupacken ist relativ einfach. Ich hänge meine Kleidung in den Schrank und verstaue den Rest in der Kommode. Ich bin kein großer Innenarchitekt, daher werden die Wände kahl bleiben. Die einzige „Deko“ ist ein gerahmtes Foto von Nicole und mir an unserem Hochzeitstag, das ich auf den Kaminsims gestellt habe. Nun sitze ich mit dem letzten Gegenstand, der noch weggeräumt werden muss, auf der Bettkante: einem kleinen Pappkarton. Ich starre ihn einen Augenblick lang an, dann mache ich den Deckel auf. Drinnen liegt die kleine Pistole mit der kurzen Mündung. Ich habe sie vor ein paar Monaten während meines Tiefpunkts nach Nicoles Tod in einem Pfandhaus gekauft. Es war ein Spontankauf, den ich zwar sofort bereut habe, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, sie wieder loszuwerden. Die Kugeln bewahre ich in der zweitobersten Schublade auf, um mich in Sicherheit zu wiegen. Nicole wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich eine Waffe im Haus habe.
„Aber Nicole ist nicht hier, stimmt’s?“, murmle ich vor mich hin und schäme mich sofort.
Ich mache den Deckel wieder drauf, gehe zur Kommode, schiebe die Schachtel ganz hinten in die oberste Schublade, vergrabe sie hinter einem Berg von Socken und schließe die Schublade.
Der Wind fegt über den Kamin und erfüllt den Raum mit leisem Heulen.
Ich betrachte mein neues Schlafzimmer.
Es fühlt sich kalt an, so als wollte es mich nicht hier haben. Es kommt mir vor, als würden die Schatten an den Wänden nicht zu den Möbeln um mich herum passen.
Der Gedanke ist natürlich lächerlich. Der Raum fühlt sich deshalb nicht freundlich an, weil er nicht mehr derselbe ist wie vorher. Eigentlich sollte ich dieses Zimmer mit Nicole teilen, aber jetzt ist sie nicht mehr da. Das ist alles. Ich werde mich daran gewöhnen. Ich habe ja auch nicht wirklich eine andere Wahl, oder?
Ein weiterer Windstoß verursacht ein noch lauteres Heulen als zuvor.
Aber heute noch nicht, denke ich und gehe zur Tür hinaus.
***
Eine Windböe rüttelt am Fenster über der Spüle.
„Schüssel“, verkündet Caitlyn.
Sie gibt mir die Schüssel, die ich in den Schrank stelle.
Dann nimmt sie einen weiteren in Papier eingewickelten Gegenstand aus dem Karton mit der Aufschrift „Küche“ und packt ihn aus.
„Kleine Schüssel“, erklärt sie.
„Danke“, erwidere ich und stelle sie neben den Stapel der anderen Schüsseln in den Schrank.
Nachdem wir die Sachen für unsere Zimmer ausgepackt hatten, wollte Caitlyn mit den restlichen Räumen im Haus helfen. Natürlich sagte ich nicht Nein und dachte, dass die Küche der Raum mit den meisten Dingen wäre, bei denen sie mir helfen konnte. Zuerst hatte sie Spaß daran, die Sachen wie Weihnachtsgeschenke auszupacken. Sie nahm sie aus dem Karton, riss das Papier weg, verkündete, was es war, und gab sie mir, damit ich sie in den Schränken verstauen konnte, an die sie nicht heranreichte. Doch das ist schon eine Stunde her und für sie ist es nicht mehr wie Weihnachten.
Sie nimmt einen weiteren Gegenstand aus dem Karton und wickelt ihn aus.
„Schüssel“, seufzt sie enttäuscht.
„Danke“, sage ich automatisch.
„Wir haben viele Schüsseln“, sagt sie.
„Ja … Vielleicht.“
Wahrscheinlich haben wir tatsächlich viele Schüsseln, aber das eigentliche Problem ist, dass sie allmählich unruhig wird. Der Reiz des Neuen ist verflogen.
Caitlyn blickt auf ihre Hände und klatscht sie zusammen.
„Handschuhe“, sagt sie.
„Was meinst du damit, Kleines?“
„Ich brauche Handschuhe. Die Umzugshelfer hatten auch welche. Ich sollte lieber Handschuhe tragen.“
Sie dreht sich auf den Fersen um und geht ins Esszimmer, außer Sichtweite.
„Caitlyn?“
„Bin gleich wieder da!“, ruft sie; ihre Stimme schallt von der Treppe herunter.
Ich lache leise, bücke mich, nehme einen weiteren Gegenstand aus der Schachtel und entferne das dicke Packpapier.
Eine Schüssel.
Vielleicht hat Caitlyn recht.
Ein weiterer Windstoß rüttelt am Fenster und erregt meine Aufmerksamkeit. Ich blicke über den Rasen zum See.
Am Ufer steht Nicole.
Sie starrt mich an, ohne sich zu rühren, mit einem ängstlichen, besorgten Ausdruck. Der Wind wirbelt ihr die Haare ins Gesicht.
Das Fenster bebt weiter in seinem Rahmen.
Hinter ihr kräuselt sich die Oberfläche des Sees im Wind.
Sie sieht so besorgt, so verängstigt aus. Es ist, als würde –
„Okay! Ich bin bereit.“
Ich lasse die Schüssel fallen. Sie kracht auf den Boden und zerspringt in tausend scharfe Keramikscherben.
Caitlyn steht im Türrahmen und trägt ihre großen, klobigen, roten Schneehandschuhe. Sie wirkt genauso erschrocken wie ich.
„Du hast mich erschreckt, Kleines.“ Ich atme aus und greife mir an die Brust. „Sorry.“
Wir starren auf die Scherben.
„Schon gut, Dad. Wir haben eine Menge Schüsseln.“ Sie betrachtet die Scherben noch einen Moment, dann hat sie eine Idee. „Ich suche den Besen!“, ruft sie, als würde sie zu einem neuen Abenteuer aufbrechen, und stapft davon.
Ich drehe mich wieder zum Fenster um.
Nicole ist verschwunden.
***
Ein paar Stunden später arbeite ich im Wohnzimmer an dem wichtigsten Projekt von allen: dem Entertainment-Center. Caitlyn liest auf dem Sofa ein Buch. Den Fernseher habe ich bereits angeschlossen. Er steht auf dem Boden, während ein Spiel der Cubs übertragen wird. Sie haben ihr Relief-Pitcher-„Ass“ eingesetzt, das prompt einen Zwei-Run-Vorsprung verspielt hat.
„Oh Mann, du Idiot!“, sage ich, während der Läufer die Endbase überquert.
Caitlyn hebt den Kopf und sieht mich an, liest dann aber weiter.
Der Wind hat etwas nachgelassen, aber hin und wieder fegen kurze Böen am Haus vorbei.
Ich habe den Schock überwunden, Nicole wiederzusehen. Ehrlich gesagt ist es nichts Neues.
Ich träume immer wieder von ihr. Die Träume begannen am Tag nach dem Unfall. Manchmal sind es Albträume. Dann sind es wiederum wunderschöne Visionen, in denen wir unser Leben leben, als wäre nichts passiert. Mitten im Traum wache ich auf und versuche, so schnell wie möglich wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, an der Stelle weiterzuträumen, an der ich unterbrochen wurde. Aber wenn ich wieder einschlafe, haben wir immer Wasserköpfe und sehen uns Sumo-Ringkämpfer an, die mit Fischen ringen, oder machen was ähnlich Bizarres.
Ich gebe zu, das hier ist anders. Es ist das erste Mal, dass ich sie im Wachzustand gesehen habe, aber das beunruhigt mich nicht sonderlich. Nach ihrem Tod hatte ich immer das Gefühl, dass sie irgendwo in der Wohnung war, und gerade heute, wo sie mir mehr fehlt, als ich es für möglich gehalten hätte, ist es nur natürlich, dass ich sie vor meinem geistigen Auge sehe. Ich habe mich mit dem Gedanken abgefunden, dass die nächsten Wochen und Monate hart werden, da ich ohne Nicole in ein neues Haus ziehe.
Es klopft an der Tür.
„Hallo?“, ruft eine Singsangstimme auf der Veranda.
Ich stehe auf und gehe zur Tür.
Als ich sie aufmache, steht draußen eine Frau mit kurzen, gefärbten Haaren, die sich kaum im Wind bewegen. Sie ist Anfang Sechzig und ihre Wangen sind von Lachfältchen durchzogen. Ihre Augen funkeln, und ihr Schmuck auch. In der einen Hand hält sie einen Teller Kekse, in der anderen eine Flasche Scotch. Sie ist eindeutig eine Klasse für sich.
„Sind Sie mein neuer Nachbar?“, fragt sie lächelnd.
„Ich glaube schon“, antworte ich. „Kommen Sie rein.“
„Danke.“ Sie tritt ein und ich schließe die Tür hinter ihr. „Ich bin Mildred Johnson. Ich wohne nebenan.“
„Hallo, Mrs. Johnson. Ich bin Daniel Price und das ist meine Tochter Caitlyn.“
Caitlyn steht vom Sofa auf und stellt sich zu uns. „Freut mich, euch kennenzulernen“, sagt Mildred Johnson und macht ausgerechnet vor Caitlyn einen Knicks.
Begeistert versucht Caitlyn, die Geste zu erwidern. „Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. Johnson.“
„Oh, nenn mich Mildred. Ich wollte euch beide in der Nachbarschaft willkommen heißen.“ Sie hält Caitlyn den Teller mit Keksen hin. „Das sind meine legendären ‚Twice-Spanked Cookies‘. Der Trick ist, sie, sobald sie beim Backen aufgehen, mit einem Spatel herunterzudrücken.“
Caitlyn nimmt den Teller. „Danke, Mrs. Johns… Ich meine, danke, Mildred.“
„Sehr gerne. Und das ist für Sie“, sagt sie und hält mir die Flasche Scotch hin, zögert dann jedoch. „Sie sind doch nicht etwa Antialkoholiker, oder?“
Ich lache. „Nee.“
„Ach, Gott sei Dank.“ Sie seufzt erleichtert und reicht sie mir.
Das Etikett ist mir nicht vertraut, aber ich sehe, dass die Flasche schon geöffnet wurde und etwas Scotch fehlt.
Mildred liest meine Gedanken.
„Ich musste doch testen, ob er gut ist“, sagt sie ohne einen Anflug von Scham.
„Und jetzt bin ich dran. Möchten Sie mir dabei Gesellschaft leisten?“
***
Wir unterhalten uns ein paar Minuten lang in der Küche, während Caitlyn einen von Mildreds Keksen probiert. Der Wind hat sich endlich zu einer leichten Brise gelegt und wir gehen nach draußen.
Mildred und ich setzen uns auf die Veranda, nippen an unserem Scotch, genießen die Sonne und sehen Caitlyn zu, die knietief im Wasser steht und versucht, Kiesel auf der Wasseroberfläche hüpfen zu lassen. Ab und zu frischt der Wind kurz auf, packt einen der flachen Steine, den Caitlyn gerade geworfen hat, und schleudert ihn nach links.
„Also, Daniel Price. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Autor.“
Sie zieht beeindruckt eine Augenbraue hoch. „Wirklich? Was schreiben Sie denn?“
„Romane.“
„Etwas, das ich womöglich kenne?“
„Vielleicht. Im Schatten der Gerechtigkeit? Es ist ein Politthriller.“
Sie schüttelt den Kopf. „Nö. Ich lese nur heiße Liebesromane. Wenn ich nicht rot werde, will ich nichts davon wissen.“
Glucksend nehme ich noch einen Schluck. Der Scotch ist gut.
„Gibt es auch eine Mrs. Price?“, fragt sie zögernd.
„Die gab es. Sie ist vor acht Monaten gestorben.“
„Oh … Das ist echt Scheiße.“
„Ja, das ist es.“
Sie betrachtet nachdenklich ihren Scotch und zuckt mit den Schultern. „Trotzdem. Ein sexy, alleinstehender, erfolgreicher Autor? Die Frauen dieser Stadt werden Sie bei lebendigem Leib verschlingen.“
Ihre Bemerkung überrascht mich beim Schlucken, und ich breche in hustendes Gelächter aus.
Ich habe herausgefunden, dass es ein Ritual gibt, wenn ich mitteile, dass Nicole tot ist. Ich führe eine nette Unterhaltung mit jemandem. Dann fragt er nach ihr. Ich erzähle es ihm. Es gibt einen peinlichen Schockmoment. Er spricht sein herzliches Beileid aus, und danach legt sich ein Schatten über das restliche Gespräch. Es ist erfrischend, wenn jemand so locker damit umgeht, und auf seltsame Weise bin ich dafür dankbar. Außerdem kenne ich Nicoles Humor, und sie hätte die Bemerkung urkomisch gefunden.
„Was ist mit Ihnen, Mrs. Johnson?“, frage ich, nachdem der Hustenanfall nachgelassen hat. „Gibt es auch einen Mr. Johnson?“
„Ja. Dadurch konnte ich das da vor dreißig Jahren kaufen“, sagt sie und macht eine schweifende Geste in Richtung ihres Hauses, das etwa hundert Meter weiter unten am Ufer liegt. Dann blickt sie wieder auf das Nightingale House. „Sie werden diesen Ort lieben.“
„Haben Sie die Leute, die vorher hier gewohnt haben, gekannt?“
„Ja, die Thompsons. Sehr nette Leute. Als sie älter wurden, machte ihnen das Haus zu viel Arbeit. Sie sind an irgendeinen gottverdammten Ort in Florida gezogen. Aber wenn Sie mich fragen, ist ganz Florida grauenhaft.“
Wir sehen zu, wie Caitlyn versucht, einen weiteren Stein aus dem Handgelenk zu werfen. Sie schafft zwei Sprünge, bevor der Stein unter der Wasseroberfläche verschwindet.
„Wie kommt sie damit klar? Mit dem Tod ihrer Mutter und dem Ganzen?“, erkundigt sich Mildred.
„Es ist hart für sie. Wir saßen alle zusammen im Auto. Ein betrunkener Autofahrer ist uns in die Seite geknallt. Meine Frau war auf der Stelle tot. Caitlyn lag ein paar Tage im Koma.“
„Das ist echt schlimm“, sagt sie, den Blick immer noch auf Caitlyn gerichtet.
„Ja, das ist es.“
„Und der betrunkene Fahrer?“
„Er starb noch an der Unfallstelle.“
„Das ist schade.“ Mildred blickt auf ihren Scotch und fügt dann hinzu: „Die hätten ihn am Leben erhalten sollen, dann hätten Sie ihn erledigen können.“
„Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir dieser Gedanke nie gekommen ist.“
Mildred nickt, als hätte ich eine Art Prüfung bestanden. „Also, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie jemanden brauchen, der sich um Caitlyn kümmert. Ich werde sie nach Strich und Faden verwöhnen.“
„Mildred Johnson, Sie sind genau die Art von Frau, die ich mag.“
Wir stoßen mit unseren Gläsern an.
***
Das Essen zur Feier unseres ersten Abends im Nightingale House ist Pizza.
Während ich den Lieferjungen bezahle, deckt Caitlyn den Tisch. Ich weiß zwar, es ist nur Pizza, aber ich finde, wir sollten eine Art Zeremonie abhalten und formal am Tisch essen. Als ich die Pizza in die Küche trage, sehe ich, wie Caitlyn drei Teller auf den Esstisch stellt.
„Für wen ist denn der dritte Teller?“, frage ich und mache mir plötzlich Sorgen, dass sie womöglich für Nicole deckt, als hätte sie vergessen, dass ihre Mutter nicht da ist.
„Für den Piraten“, antwortet Caitlyn.
„Wie bitte – für den Piraten?“
„Ja. Ich bin ihm draußen begegnet, als ich die Kiesel geworfen habe. Du hast ihn nicht gesehen. Du hast dich gerade mit Mildred unterhalten.“
Ehrlich gesagt bin ich ein wenig erleichtert.
„Isst er mit uns zu Abend?“
„Er hat gesagt, dass er vielleicht vorbeikommt“, erwidert sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Mögen Piraten überhaupt Pizza?“
„Jeder mag Pizza, Dad.“
Wahrscheinlich hat sie recht. Aber ich habe ihre Geschichten satt.
Seit Nicoles Tod sind Caitlyns Lügen weitaus schlimmer geworden. Sie hat mir Dinge über ihre Schulfreunde erzählt, die mich beunruhigt haben, doch eine nähere Untersuchung ergab, dass sie es sich nur ausgedacht hatte. Ich habe versucht, sie davon abzubringen. Jedes Mal hat sie gesagt, sie hätte verstanden, dass es falsch sei, und versprochen, damit aufzuhören, aber sie hat es immer wieder gemacht. Schließlich ging ich mit ihr zu einem Kinderpsychologen. Er hat gesagt, ihre Fantasien seien ein normaler Bewältigungsmechanismus für Nicoles Tod. Caitlyns Realität sei zerstört und ihre lebhafte Fantasie wäre für sie eine Möglichkeit, ihr zu entfliehen. Er hat hinzugefügt, ich solle mir nur Sorgen machen, wenn sie anfängt, die Geschichten zu glauben, die sie sich ausdenkt. Bisher hat sie nie darauf bestanden, dass sie wahr seien, wenn ich sie danach gefragt habe.
Mir ist bewusst, dass ich ihr diese kleinen Geschichten nicht durchgehen lassen sollte, aber heute war ein langer Tag, wir haben einen Bärenhunger und wenn ich mir etwas Zeit gebe, um die Dinge zu verarbeiten und nicht durchzudrehen, sollte ich Caitlyn wohl denselben Gefallen tun.
***
Nach dem Abendessen machen wir uns beide fertig fürs Bett und lassen uns aufs Sofa fallen, um einen Disney-Film anzusehen, den wir schon hundertmal gesehen haben. Am Ende schläft Caitlyn bereits tief und fest in ihrem Nachthemd und sabbert mir auf die Schulter. Ich bin auch hundemüde.
Der Film geht zu Ende. Ich greife nach der Fernbedienung und drücke auf den Ausschaltknopf. Der Bildschirm wird schwarz.
Neben dem Fernseher steht ein Mann.
Beschützend lege ich meine Hand auf Caitlyn und knipse schnell die Lampe auf dem Beistelltisch an, stoße sie dabei aber fast um.
Der Schatten ist verschwunden.
„Dad?“, murmelt Caitlyn und reibt sich die Augen. „Was ist los?“
Zitternd sehe ich mich im Zimmer um. Caitlyn und ich sind allein.
„Alles okay, Kleines. Tut mir leid. Dad hat schlecht geträumt.“
Im Halbschlaf setzt sie sich auf. „Was denn?“
Schließlich atme ich tief durch und beruhige mich.
„Ach, nichts. Komm, Zeit, ins Bett zu gehen.“
Statt aufzustehen, beugt sie sich zu mir herüber und schläft auf meinem Arm direkt wieder ein.
Ich lächle. „Ach, so machen wir das also, oder?“
Sie wehrt sich nicht, als ich sie sanft hochhebe. Sie schlingt nur die Arme um meinen Hals und lehnt ihr Gesicht an meine Schulter.
Ich trage sie zur Treppe. Ich kann es mir nicht verkneifen, noch einmal zu der Stelle zurückzublicken, an der ich die Gestalt gesehen habe.
Niemand ist da.
3
Dies ist die schlimmste Nacht seit Nicoles Tod.
Ich liege auf der linken Seite des Bettes, weil ich dort immer geschlafen habe, als Nicole und ich uns dieses Bett geteilt haben, starre in die Dunkelheit und kann nicht aufhören zu weinen. Meine Muskeln schmerzen von dem heftigen Schluchzen, das meinen Körper erschüttert. Ich habe Angst, Caitlyn aufzuwecken, daher greife ich schließlich nach einem Kissen, gehe ins Badezimmer und schließe die Tür. Ich drücke das Gesicht ins Kissen, um das Schluchzen zu unterdrücken, setze mich auf den kalten Boden und weine. Es ist mir egal, wie lächerlich das wirkt. Mein Ego ist nichts im Vergleich zu meiner unendlichen Trauer.
Als sie mir sagten, dass Nicole von uns gegangen war, fühlte es sich surreal an. Ich konnte es nicht verarbeiten. Ich kann es immer noch nicht. Die letzten Monate habe ich damit verbracht, zu denken, dass sie auf irgendeine Weise jeden Moment durch die Tür kommen und das Leben so weitergehen wird, wie wir es geplant hatten, wofür wir so hart gearbeitet hatten und das wir endlich erreicht hatten. Nach dem Unfall lebten Caitlyn und ich weiterhin in unserer alten Wohnung, und es fühlte sich immer so an, als wäre Nicole in der Nähe. Aber jetzt, in der neuen Umgebung, spüre ich sie nicht mehr. Zum ersten Mal fühlt es sich so an, als wäre sie wirklich von uns gegangen.
Nachdem ich – keine Ahnung, wie lange – schluchzend auf dem Boden gesessen habe, drücke ich mein Gesicht ins Kissen und schreie so laut ich kann. Ich schreie immer wieder und wieder, bis schließlich meine Lunge versagt. Das war’s. Ich lehne mich an die Wand und hole tief Luft, die mir in der Brust steckenbleibt. Mein Schluchzen verstummt, weil ich keine Kraft mehr habe.
Meine Schlafzimmertür geht knarrend auf.
Verflucht.
Trotz meiner Bemühungen hat mein Schluchzen offensichtlich Caitlyn aufgeweckt. Ich wische mir hastig die Augen ab und warte darauf, dass sie nach mir ruft und ihre Schritte sich dem Badezimmer nähern. Doch sobald die Scharniere der Schlafzimmertür aufhören, sich zu bewegen, ist alles still.
„Caitlyn?“
Keine Antwort.
Ich rappele mich vom Boden auf und gehe in mein Zimmer. Die Tür steht offen, aber der Durchgang ist leer. Während ich das Zimmer durchquere, greife ich nach meinem Handy und schaue auf die Uhrzeit. 2:42 Uhr. Diese lange Nacht ist gerade noch länger geworden.
Ich stecke den Kopf in den Flur.
Alles ist dunkel außer dem Nachtlicht in Caitlyns Zimmer, das durch den Spalt unter ihrer Tür leuchtet.
Leise gehe ich über den Flur zu ihrem Zimmer. Anscheinend hat sie sich erschrocken, als sie mich weinen hörte, und ist wieder ins Bett gegangen. Ich komme näher, und mein Verdacht bestätigt sich. Durch ihre Tür dringt Flüstern.
Vorsichtig drücke ich mein Ohr dagegen.
„Ich kann nicht schlafen … Ich kann nicht schlafen …“
Ich klopfe an die Tür und öffne sie sachte. „Caitlyn, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht –“
Das Nachtlicht wirft einen sanften Schein ins Zimmer. Caitlyn schläft in einer verrenkten Position, ein Bein steht auf dem Fußboden und der Hintern ragt in die Höhe.
„Caitlyn?“
Vielleicht stellt sie sich nur schlafend, um nicht mit mir reden zu müssen.
Ich schleiche mich näher heran und sehe, dass sie fest schläft.
Ich drehe mich leise um, verlasse das Zimmer und schließe die Tür hinter mir.
Ich bin viel müder, als ich dachte, denn ich höre schon Dinge. Ich muss zurück in mein Zimmer, ins Bett kriechen und versuchen zu schl–
Tropf … tropf …
Ich drehe mich um.
Es kommt von irgendwo auf der Treppe. Ich öffne die Taschenlampen-App auf meinem Handy und suche die Stufen ab. Sie sind trocken. Auch an der Decke sind keine Wasserflecken.
Tropf … tropf …
Es kommt von unten.
So leise, wie die Stufen es zulassen, schleiche ich hinunter ins Erdgeschoss. Am unteren Treppenabsatz halte ich inne und suche alles mit dem Licht meiner Handytaschenlampe ab.
Automatisch werfe ich einen verstohlenen Blick zum Fernseher, wo ich vorhin dachte, eine Gestalt zu sehen, aber da ist niemand.
Tropf … tropf …
Warte … Jetzt kommt es aus dem Esszimmer.
Mein Blut gerät in Wallung. Ich habe Stelowski geglaubt, als er sagte, alle Rohre seien überprüft worden. Jetzt werde ich wahrscheinlich Tausende von Dollar für die Reparatur bezahlen müssen.
Ich gehe ins Esszimmer und warte … und warte … und warte.
Ich suche weiter die Decke und den Boden ab, aber alles ist trocken. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Meine Atmung normalisiert sich wieder. Es ist sinnlos. Heute Nacht kann ich sowieso nichts dagegen tun. Ich werde morgen bei Tageslicht nachsehen.
Da ich schon so weit gekommen bin, checke ich auch noch die Küche, der Vollständigkeit halber. Ich gehe hinein und leuchte mit dem Licht den Herd, die Arbeitsflächen und den Kühlschrank ab. Dann überprüfe ich die Tür zum Hinterhof, um sicherzugehen, dass sie abgeschlossen ist, was sie auch ist. Durch die Glasscheibe in der Tür spiegelt sich der Mond im schwarzen Wasser des Sees.
Ich muss wieder ins Bett gehen. Morgen rufe ich Stelowski an, damit er jemanden sch–
Tropf … tropf …
Es ist direkt hinter mir.
Ich drehe mich um und lasse das Licht in einem weiten Bogen über den Boden kreisen. Das Geräusch klang so nah, dass es mich überrascht, das Wasser nicht an meinen nackten Knöcheln gespürt zu haben, aber der Boden ist trocken. Ich schaue an die Decke. Keine Wasserflecken. Ich stehe mucksmäuschenstill und halte den Atem an, bis sich meine Muskeln verkrampfen und meine Lunge anfängt zu brennen. Die Stille gewinnt die Oberhand. Die Anspannung strömt aus mir heraus. Ein neues Haus, völlig im Rückstand mit dem nächsten Buch, Stress, Trauer, zu wenig Schlaf? Natürlich höre ich Dinge. Es ist Zeit, mich wieder schlafen zu legen.
Ich schleiche durchs Erdgeschoss zurück und dann die Treppe hinauf. Auf Zehenspitzen gehe ich an Caitlyns Zimmer vorbei und den Flur entlang.
Ich steige schnell ins Bett, hebe meine eiskalten Füße vom Boden und schiebe sie unter die Decke. Dann klopfe ich das Kissen ab, schüttele es auf, streiche es glatt, bette meinen Kopf darauf und warte, bis der Schlaf kommt … und warte … und warte … und warte … und warte …
3. Mai 1900
Heute fand die große Eröffnung der Apotheke statt.
Letzten Monat hat Vater von den Menschenmengen gesprochen, die kommen würden. Am Ende waren es nur eine Handvoll Leute. Die meisten waren andere Ladenbesitzer mit Geschäften am Marktplatz , die eher höflich als begeistert waren. Vater hielt eine lächerliche Rede darüber, dass die Apotheke den gesamten medizinischen Bedarf von Kingsbrook decken würde. Er pries die Tonika aus dem Fernen Osten und die Pülverchen aus Afrika an. Anschließend verkündete er, dass er Proben verschenken würde, um ihre Wirksamkeit zu beweisen. Carol kochte vor Wut. Danach verschwanden sie nach hinten und ließen mich an der Kasse zurück. Die klemmte und ich brauchte Vaters Hilfe. Also ging ich durch den Vorhang des Lagerraums, wo sie sich stritten.
Carol war wütend. Sie warf ihm vor, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Vater entgegnete, dass alle wiederkommen würden, wenn sie merken würden, wie gut die Produkte wirken. Carol gab zurück, dass sie nicht wirken und dass Vater das schon in Boston gewusst hätte. In diesem Moment sahen sie mich am Vorhang stehen. Ich sagte ihnen, dass die Kasse klemmte.
Carol erwiderte, sie würde sich darum kümmern, und ging nach vorne.
„Ist das nicht wunderbar?“, fragte Vater mich mit einem krampfhaften Lächeln.
„Ist ‚was‘ nicht wunderbar?“
„Na, der Laden!“, antwortete er. „Er wird unserer Familie so viel Wohlstand einbringen.“
Das hatte er auch schon über den Lebensmittelladen in Boston und den Waschsalon gesagt.
Und jetzt über das hier.
Vater und Carol setzten ihren Streit im Lagerraum fort. Der Kundenstrom versiegte, und Vater entschied, dass es das Beste sei, wenn ich mich um den Verkauf kümmerte und sie beide nach Hause gingen, um zu reden. Mir war das gerade recht, Hauptsache, sie verschwanden aus dem Laden.
An diesem Tag kamen noch einige Kunden, aber lange nicht in der Größenordnung, die Vater vorhergesagt hatte. Ein paar Leute der Elite von Kingsbrook, die es nicht zur Eröffnung geschafft hatten, schauten später noch vorbei. Sie wirkten erleichtert, als ich ihnen sagte, dass Vater für heute nach Hause gegangen war. Daraufhin versprachen sie, ein anderes Mal wiederzukommen und Vater zur Eröffnung der Apotheke zu gratulieren, und verschwanden eilig.
Unter den Nachzüglern war auch Bürgermeister Fleming. Zu meiner Überraschung wurde er von der jungen Frau begleitet, die ich auf meiner Geburtstagsparty unter dem Fenster gesehen hatte – diese Patricia. Wir erkannten uns sofort wieder. Sie lächelte mit gespielter Höflichkeit, als er sie als seine Tochter vorstellte. Er fragte, ob er Vater sprechen könne, und ich sagte ihm, dass Vater zwar schon weg sei, aber dass ich ihm ausrichten würde, dass Mr. Fleming vorbeigekommen war.
Du wirst nicht glauben, wer hereinkam, als sie gerade gehen wollten … Mr. Carrington!
Er tauschte Höflichkeiten mit dem Bürgermeister und ein paar Worte mit Patricia aus, bevor er an den Tresen trat.
Wieder dieser Blick.
„Ms. Harker“, sagte er.
„Nett, Sie zu sehen, Mr. Carrington.“
Er freute sich, dass ich mich an seinen Namen erinnerte, und zwinkerte mir wieder zu.
Ich blickte über seine Schulter und sah, wie sich der Bürgermeister mit seiner Tochter unterhielt. Zwar konnte ich nicht hören, was sie sagten, aber es war eindeutig, dass er gehen und sie bleiben wollte.
„Arbeiten Sie alleine hier?“, fragte Mr. Carrington mich.
„Vater braucht meine Hilfe“, sagte ich ihm.
„Kann er nicht jemanden einstellen?“
„Noch nicht, aber hoffentlich bald.“
Er blickte sich in dem fast menschenleeren Laden um.
„Wie läuft der Tag der Eröffnung?“, fragte er mit einem leisen Grinsen, das mir nicht gefiel.
Auch entging mir nicht, dass Patricia Fleming sich der Theke genähert hatte. Ich konnte nicht glauben, dass sie ganz offensichtlich unser Gespräch belauschte.
„Vater hat gesagt, sobald wir uns etabliert haben, wird es besser“, antwortete ich.
„Glauben Sie das?“
„Ich … ich hoffe es.“
Es schockierte mich, dass er so unverblümt mit mir redete, doch ich bewunderte auch seine Offenheit.
„Nun, er muss jemanden einstellen“, sagte er. „Als Verkäuferin zu arbeiten ist keine angemessene Position für ein so liebreizendes Geschöpf wie Sie.“
Ja, das hat er gesagt! Er hat mich ein ‚liebreizendes Geschöpf‘ genannt!
Ich spürte, dass ich errötete, und mir fehlten die Worte. Dann fiel mir das Geschenk ein, das sie mir zum Geburtstag mitgebracht hatten. „Danke für das Tagebuch“, sagte ich.
„Auf die Idee ist zwar meine Frau gekommen, aber es freut mich, dass es Ihnen gefällt.“
„Ja, es gefällt mir sehr. Ich schreibe fast jeden Tag hinein.“
„Ist denn jeder Tag es wert, darüber zu schreiben?“, fragte er.
Ich sagte ihm, dass es ein gutes Ventil für meine Gedanken sei, worauf er erwiderte: „Und ich hoffe, auch für Ihre tiefsten, geheimsten Wünsche.“
Mir ist klar, dass seine Bemerkung vielleicht ein wenig unangemessen war, aber es machte auch Spaß, mich so mit ihm zu unterhalten. Mir ist noch nie ein so einschüchternder, scharfsinniger und stattlicher Mann begegnet. Außerdem genoss ich Patricia Flemings schockierten Gesichtsausdruck, den sie zu verbergen versuchte.
„Und wie geht es Ihrer Frau?“, erkundigte ich mich.
„Ihr geht es bestens. Sie ist bei ihrer Mutter in Boston, zusammen mit unserem Hausdiener. Zum Fest am vierten Juli werden sie wieder zurück sein. Da fällt mir ein: Wir veranstalten im Rahmen der Feierlichkeiten am vierten Juli ein Picknick auf dem Gelände von Nightingale House. Die ganze Stadt ist eingeladen, aber ich würde mich besonders freuen, wenn Sie kommen würden.“
Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, aber ich sagte ihm, dass ich vielleicht arbeiten müsste.
Er erwiderte, das sei Unsinn, denn am vierten Juli blieben alle Geschäfte geschlossen. „Und wer weiß“, fügte er hinzu, „vielleicht läuft das Geschäft ja bald so gut, dass Ihr Vater jemand anderen einstellen kann, der sein Leben hinter der Theke verschwendet.“ Er nahm ein Döschen Lippenbalsam aus der Auslage neben der Kasse und legte es auf den Tresen. „Was kostet das?“
Ich sagte ihm, dass es zwanzig Cent kostet.
Er zückte seine Brieftasche, nahm einen Fünf-Dollar-Schein heraus, legte ihn auf den Tresen und sagte: „Behalten Sie das Wechselgeld.“
„Möchten Sie, dass mein Vater ein Konto für Sie eröffnet?“, fragte ich.
„Ich habe nicht gesagt, dass Sie es Ihrem Vater geben sollen. Es ist für Sie – unter einer Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Sie müssen sich davon etwas kaufen. Etwas Hübsches.“
Ich war sprachlos.
„Danke“, brachte ich schließlich heraus.
Er zwinkerte mir wieder verschmitzt zu. „Sehen Sie? Das Geschäft läuft schon besser.“
Er steckte das Döschen ein und ging zur Tür hinaus.
Ich ließ ihn nicht aus den Augen, bis er vor dem Fenster außer Sichtweite war. Dann wandte ich mich Patricia Fleming zu. Sie tat so, als würde sie ein Regal mit Tonika betrachten.
„Kann ich dir helfen?“, fragte ich.
Sie schenkte mir erneut ein falsches Lächeln. „Nein, danke“, sagte sie. „Es ist alles ein wenig zu teuer für meinen Geschmack.“
Ich versuchte, ihrer Unaufrichtigkeit mit meinem eigenen falschen Lächeln zu begegnen.
„Viel Glück mit der Apotheke“, sagte sie, drehte sich um und ging zur Tür hinaus.
Ihre unhöfliche Art ärgerte mich, aber dann fiel mir wieder ein: Er hatte mich ein ‚liebreizendes Geschöpf‘ genannt und gesagt, ich solle mir etwas Hübsches kaufen.
Während ich Patricia nachsah, wanderte mein Blick zu den Juwelieren auf der anderen Seite des Marktplatzes.
Ich glaube, ich muss ihnen demnächst einen Besuch abstatten.
Gute Nacht.
4
Ich werde von dem widerlichen Knirschen draußen vor meiner Schlafzimmertür geweckt, als Metall auf Metall prallt und Glas zersplittert.
Dann Stille.
Ich öffne die Augen und setze mich auf.
Ein leichter schwarzer Nebel füllt den Raum.
Ich steige aus dem Bett und lausche an der Tür. Von der anderen Seite ist ein leises Geräusch zu hören.
Tick … tick … tick … tick …
Ich mache die Tür auf und gehe durch den schwarzen Nebel hindurch.
Er hat sich auf die Kreuzung gelegt. Der Asphalt ist mit Glasscherben und Metallsplittern übersät. Aus der zerquetschten Motorhaube des Pickup-Trucks, der in unseren Wagen gekracht ist, steigen kleine Dampf- und Rauchschwaden auf. Die Wucht des Aufpralls hat die beiden Fahrzeuge zu einem deformierten, verdrehten Haufen verschmolzen.
Die Ampel über der Kreuzung blinkt rot.
Tick … tick … tick … tick …
Es scheint, als würde der schwarze Nebel mich zu den Autowracks führen. Die Glassplitter bohren sich in meine nackten Fußsohlen, während ich über den Asphalt laufe, aber ich spüre sie nicht.
Ich kann zwar nicht in den Truck hineinsehen, aber ich weiß, was da drin ist: der Körper des Fahrers, der gegen das Lenkrad gedrückt ist.
Ich will es nicht sehen, aber der schwarze Nebel drängt mich weiter.
Ich gehe näher an unseren Wagen heran.
Durch die Überreste der zerbrochenen Fensterscheibe erkenne ich Nicoles eingequetschten, zerfetzten Körper. Ihr Kopf ist in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Ihr Gesicht ist blutüberströmt. Ihre Augen sind offen. Sie starren geradeaus, ohne etwas zu sehen.
Warum? Warum musste dies das letzte Bild sein, das ich von ihr habe? Es ist das Bild, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Nicole, meine Frau, die Frau, die ich geliebt habe, die Mutter unseres Kindes, zerbrochen, leblos, grotesk. Als ich nur wenige Augenblicke nach dem Unfall das Bewusstsein wiedererlangte, sah ich sie und schrie; ich flehte sie an, aufzuwachen, auch wenn ich wusste, dass es sinnlos war. Warum muss ich mich so an sie erinnern? Das ist der grausame Schicksalsstreich, der noch zu dem grausamen Schlag, von einem betrunkenen Fahrer angefahren worden zu sein, hinzukommt.
Ich blicke über Nicoles zerfetzten Körper hinweg auf den Rücksitz.
Caitlyn.
Sie ist angeschnallt, ihr Körper ist zurückgelehnt. Wie Nicole ist ihr Kopf in einem beängstigenden Winkel verdreht. Ihre Augen sind offen. Leblos.
Nein. Nein. So war es nicht.
Sie war am Leben. Ich habe versucht, ihr zu helfen. Sie atmete zwar, aber ich konnte sie nicht anfassen, weil ich Angst hatte, eine Lähmung zu verursachen, falls ihr Rückenmark verletzt war. Also musste ich dasitzen und sie anflehen, wieder aufzuwachen. Die Minuten zwischen meinem Notruf und dem Eintreffen des Krankenwagens dehnten sich zu einer Ewigkeit. Ich konnte meine Tochter nicht anfassen. Ich konnte gar nichts tun. Die Rettungssanitäter mussten mich schreiend zum Krankenwagen zerren, als die Feuerwehrleute anfingen, die Tür aufzuschneiden. Caitlyn lebte noch.
Aber jetzt liegt sie tot auf dem Rücksitz.
So war das nicht!
„Caitlyn?!“, schreie ich und versuche in Panik, die eingedrückte Tür zu öffnen. Der Griff klemmt fest. Durch die Reste der Fensterscheibe umklammere ich die innere Türkante und ziehe daran. Die Glassplitter schneiden in meine Hand und bohren sich unter meine Fingernägel.
Ich stöhne, fluche, schreie.
„Caitlyn! Hilfe! So hilf mir doch jemand!“
Zwischen meinem Schreien und Rütteln höre ich ein leises Flüstern.
„Es ist deine Schuld …“
Ich halte inne und spähe in den schwarzen Nebel. Eine dünne Schneeschicht liegt zwischen den dunklen Bäumen auf dem Boden, aber ich kann niemanden sehen.
„Es ist deine Schuld …“, ertönt das Flüstern wieder, irgendwo in meiner Nähe. „Warum hast du den Lastwagen nicht gesehen? Es ist deine Schuld …“
Ich drehe mich langsam wieder zu dem Autowrack um. Nicoles Augen starren leblos ins Leere, aber ihre Lippen bewegen sich. „Es ist deine Schuld …“
„Nein … Nein … Nicole … Bitte … Es tut mir so leid.“
Ihr Körper rührt sich nicht, außer ihren Lippen. „Es ist deine Schuld … Warum hast du das zugelassen?“
„Nicole. Ich habe ihn nicht gesehen –“
„Es ist deine Schuld …“
Ihr Flüstern wird lauter. Ihre Stimme ist anklagend, traurig und zugleich verängstigt.
„Es ist deine Schuld … Es ist deine Schuld … Du hast das getan … Du hast mich getötet … Du hast uns umgebracht …“
„Hör auf damit! Bitte!“
Heiße Tränen brennen in meinen Augen.
„Nicole, ich liebe dich. Bitte, bitte, hör auf damit …“
Ihre Stimme und ihre Lippen zittern, aber ihre Augen und ihr Körper bleiben leblos.
„Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld.“
Ich kann das nicht ertragen. Daher wende ich mich von der Unfallstelle ab, aber ich höre sie immer noch.
„Warum, Daniel? Warum hast du es zugelassen?“
Die Tür zu meinem Schlafzimmer ist direkt am Straßenrand. Der Nebel teilt sich zu einem Pfad dorthin.
„Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld.“
Ihre Stimme verfolgt mich, als würde sie mir dicht folgen.
Der Türknopf fühlt sich eiskalt in meiner Hand an, als ich ihn aufdrehe. Ich betrete mein Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir.
Schwarzer Nebel bedeckt den Boden.
Ich habe immer noch Nicoles Stimme im Ohr, als stünde sie direkt auf der anderen Seite der Tür.
„Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld. Es ist deine Schuld.“
Ich krieche zurück ins Bett.
Ihre Stimme verhallt im Nichts.
Ich liege im stillen Zimmer.
Plötzlich bricht der Nebel über mich herein. Er strömt aus allen Teilen des Raums und jeder Ecke des Hauses. Er dringt durch die Poren meiner Haut in meinen Körper ein und verwandelt mein Blut in einen eiskalten, schwarzen Schlamm. Mir wird schlecht, so als würde ich von innen heraus verfaulen.
Nicoles Gesicht taucht dicht vor mir auf. Nicht das zerfetzte Bild, das ich gerade im Auto gesehen habe, sondern die besorgte, ängstliche Nicole, die ich früher am Tag durch das Küchenfenster gesehen habe. „Daniel, wach auf!“
***
Meine Augen öffnen sich ruckartig. Ich setze mich im Bett auf.
Es ist kein Nebel da, auch nicht Nicoles Stimme. Es ist nur ein Zimmer, doch die Tränen auf meinen Wangen und mein Herzklopfen sind ganz real.
Ich schwinge meine Beine von der Bettkante.
So etwas habe ich noch nie erlebt. Ja, irgendwo tief in meinem Inneren habe ich seit dem Unfall das Gefühl, dass es meine Schuld ist. Ich hätte den Pickup rechtzeitig bemerken sollen. Ich hätte mich umsehen sollen. Ich bin alle Dinge durchgegangen, die ich hätte anders machen können, aber diese Szene zu sehen, Nicole zu hören …
Ich kann nicht wieder einschlafen. Unmöglich. Ich muss raus aus diesem Zimmer. Ich brauche ein wenig Fernsehen; etwas, um zu vergessen, was ich gerade gesehen habe.
Ich stehe auf und gehe zur Tür.
Ich strecke die Hand nach dem Türknopf aus, halte jedoch inne, aus Angst vor dem, was auf der anderen Seite sein könnte.
Ich drehe den Knopf und öffne die Tür.
Da ist keine Kreuzung. Kein Autowrack. Kein Nebel. Keine Nicole. Nur ein leerer Flur.
Ich laufe rasch zurück zum Bett und schnappe mir mein Kissen.
Zum zweiten Mal heute Nacht gehe ich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
Ich knipse die Lampe an und gehe zu der offenen Blu-ray-Box, die neben dem Fernseher auf dem Boden steht. Ich suche mir einen Film aus, der mir garantiert helfen wird, den Kopf freizubekommen, und schiebe ihn in den Player. Dann strecke ich mich auf dem Sofa aus, schiebe mir das Kissen unter den Kopf und ziehe die Decke hoch.
Der Film beginnt und fünf Minuten später schlafe ich fest.