Leseprobe Ihr Ehemann | Ein packender Domestic Thriller

Kapitel 1

Beth umklammerte das Lenkrad. Sie musste sich auf die Straße konzentrieren, doch ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Nur heil ankommen – mehr nicht. Unermüdlich schoben die Scheibenwischer den Regen beiseite, den der Sturm seitlich gegen die Windschutzscheibe peitschte. Die Dämmerung legte sich über die dunklen Moorwiesen, die sich zu beiden Seiten der Fen Road ausbreiteten. Tiefe Entwässerungsgräben säumten die Fahrbahn.

Sie hasste diese Straße, diesen Ort. Immer, wenn sie hier entlangfuhr, legte sich Beklemmung auf ihre Brust. Dieses Land war einst dem Meer abgerungen worden, und schon der bloße Anblick erzeugte das Gefühl in ihr, zu ertrinken. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, ihre Lunge verlangte nach mehr Luft, als sie einatmen konnte. Eine irrationale Angst, die Kontrolle zu verlieren, von der Straße abzukommen und in das kalte, dunkle Wasser zu stürzen, überkam sie. Und trotz aller Vernunft raste jedes Mal ihr Herz.

Beth blinzelte heftig – einen Augenblick zu lang. Das Auto geriet ins Schlingern, und sie riss das Lenkrad herum, um wieder auf die Fahrspur zu kommen. Langsam stieß sie die Luft zwischen den zusammengepressten Lippen aus, wandte den Blick kurz vom glänzenden Asphalt ab und schaltete das Radio aus. Sie hatte beruhigende klassische Musik gewählt, die sie nicht kannte und die sie deshalb nicht ablenkte – keine Melodien, die zum Mitsummen verleiteten. Doch selbst diese weichen Klänge drängten sich in ihren Kopf. Sie brauchte Stille.

„Verdammt noch mal!“, fluchte Beth, als sie bemerkte, wie dicht der Wagen hinter ihr auffuhr. „Du musst mir nicht im Nacken sitzen …“ Sie umklammerte das Lenkrad noch fester und zwang sich, den Blick wieder auf die Fahrbahn zu richten. Lass dich davon nicht aus der Ruhe bringen, mahnte sie sich. Eigentlich sollte die Fen Road so schnurgerade sein wie die Straße, die die Römer vor Jahrhunderten hier gebaut hatten. Doch ausgerechnet hier gab es ein Stück, das sich ohne jeden ersichtlichen Grund schlängelte. Jedes Mal ärgerte sich Beth aufs Neue. Eine Straße hatte gefälligst gerade zu verlaufen – sie war kein Fluss.

Der Nachmittag war eine einzige Qual gewesen, und sie wollte nur noch irgendwohin, wo sie zur Ruhe kommen konnte. Ihre Nackenmuskeln fühlten sich an, als wären sie aus Stein, so angespannt war sie. Beth blinzelte erneut, um die Tränen zurückzuhalten. Sie musste einfach nur ankommen, kurz durchatmen und dann irgendwie Ordnung in all das Chaos bringen. Allein der Gedanke daran verursachte ihr Kopfschmerzen. Wie sollte sie das bloß schaffen?

„Einfach nur ankommen. Einfach. Sicher. Ankommen“, murmelte Beth und presste die Kiefer zusammen. Ihr Blick huschte zum Rückspiegel. Der Fahrer hinter ihr hatte zum Glück etwas Abstand genommen, und auf der Straße war kaum Verkehr. Beths Herz hämmerte gegen ihre Brust. Übelkeit stieg in ihr hoch, als sie sich wieder auf diesen kleinen Abschnitt der Straße konzentrierte und sich angestrengt bemühte, nicht an das kalte Grabenwasser sowie die Wasserpflanzen zu denken, die sie packen und unter Wasser ziehen könnten.

Doch das Bild ließ sie nicht los. Sie konnte so nicht weiterfahren. Es war zu viel.

Ich muss anhalten.

Unvermittelt trat Beth auf die Bremse. Bei all dem Lärm in ihrem Kopf konnte sie sich nicht konzentrieren. So konnte sie diese Straße nicht sicher befahren.

Ihr Auto kam quietschend zum Stehen.

Der Fahrer hinter ihr, abgelenkt vom Handy, krachte in ihr Heck.

Beth wurde nach vorn geschleudert, knallte mit ihrer Stirn auf das Lenkrad und wurde dann vom Sicherheitsgurt zurückgerissen. Das Kreischen von sich verbiegendem Metall schrillte in ihren Ohren. Etwas Warmes lief ihr über das Gesicht – Blut. War ihre Nase gebrochen? Sie konnte es nicht sagen. Der Schmerz blieb noch aus.

Beth zog scharf die Luft ein, ihre Gedanken rasten. Was war geschehen? Was musste sie jetzt tun? Nur Sekunden später schoss ein weiteres Auto aus einer Nebenstraße. Es beschleunigte und raste direkt auf sie zu. Verwirrt, benommen und im Schock kniff Beth die Augen zusammen, als wollte sie das Bild vertreiben. Das konnte nicht sein. Niemand steuerte einfach so in einen Unfall hinein. Der Wagen musste doch bremsen. Doch auf der nassen Fahrbahn griffen die Reifen nicht. Ein gellendes Quietschen durchschnitt die Luft. Dann donnerte das Auto in die Beifahrertür.

Die Autos verkeilten sich ineinander, rutschten über die Straße und schoben Beths Wagen in Richtung Graben. Ihre Sicht verschwamm. Das Auto kippte. Dann riss die Dunkelheit sie fort.

Kapitel 2

Nichts.

Plötzlich wurde Beth sich der Abwesenheit von … allem bewusst. Sie war anwesend und zugleich auch wieder nicht. So als würde man nur eine leere Leinwand vor sich sehen. Da war etwas und doch auch nichts. Ihr war zu warm, als läge sie unter einer schweren Decke, die sie zurückhielt. Und gleichzeitig schwebte sie. Das passte nicht zusammen.

Sie holte Luft. Tat sie das wirklich? Ihre Gedanken waren völlig wirr; nur bruchstückhafte oder verzerrte Informationen erreichten ihr Gehirn. Alles wirkte so sinnlos.

Dann, aus dem Nichts: Schmerz. Irgendetwas tat weh. Unerträglich. Sie konnte nicht sagen, wo es schmerzte oder was die Ursache war. Nur, dass der Schmerz von überallher zu kommen schien. Allmählich drangen Geräusche wie aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein. Stimmen. Töne, die sie nicht zuordnen konnte. Plötzlich war es laut. Schmerzhaft laut. Sie versuchte, die Zähne zusammenzubeißen, doch es gelang ihr nicht. Warum nicht? Sie geriet in Panik, schluckte – und spürte noch mehr Schmerz.

„Beth?“, fragte jemand mit sanfter Stimme.

Beth versuchte erneut zu schlucken. Mühsam öffnete sie die Augen. Sie fühlten sich an, als wären sie zugeklebt. Als hätte sie eine wilde Partynacht hinter sich und mehr getrunken, als gut für sie war. Und nun bezahlte sie den Preis dafür. Ihr Kopf schmerzte, als würde ein enger Metallring ihn zusammenpressen. Was um alles in der Welt war passiert?

Das Licht war gedämpft und trotzdem viel zu grell, ihre Augen ungewohnt lichtempfindlich. Beth schloss sie wieder. Sie sehnte sich zurück in die Bewusstlosigkeit. Was auch immer das hier war, es war zu viel. Aber … sie musste es wissen.

„Ja?“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang brüchig, fast kraftlos.

„Wunderbar, Sie können mich hören.“

Beth spürte rauen Stoff auf ihrer Haut – sie lag in einem Bett. Als sie sich aufzurichten versuchte, wurde sie von sanften, aber bestimmten Händen zurückgehalten.

„Warten Sie. Noch nicht. Bleiben Sie liegen. Können Sie Ihre Augen noch einmal öffnen? So ist es brav.“

Brav? Wo zum Teufel war sie? Wer sprach da? Eine Frau. Wenigstens das. Neben irgendeinem wildfremden Mann in irgendeinem wildfremden Bett aufzuwachen, war wirklich das Letzte, was sie wollte.

Sie öffnete – so gut sie konnte – noch einmal die Augen und sah sich um. Schnell wurde ihr klar, dass sie in einem Krankenhaus war. Ihr Herz schlug schneller. Verzweifelt durchforstete sie ihr Gedächtnis nach einer Erklärung dafür, wie sie hierhergekommen war. Vergeblich. Da war nur Leere. Panik stieg in ihr auf.

„Ich bin Schwester Carmichael, und Sie sind im Krankenhaus, Beth“, sagte die ältere Krankenschwester, zu der die Stimme gehörte. „Sie hatten einen kleinen Unfall, aber Sie sind hier in guten Händen. Möglicherweise sind Sie noch etwas desorientiert, da Sie eine Kopfverletzung erlitten und einige Tage geschlafen haben … Nein, bitte fassen Sie die Stelle nicht an …“

Beth hatte sich instinktiv an die Stirn gegriffen, wo ihre Haut spannte und sich sehr empfindlich anfühlte. Dabei bemerkte sie auch, dass sie an verschiedene Schläuche und Kabel angeschlossen war. Sie musste furchtbar aussehen.

„Was …?“

„… ist passiert? Der Arzt kommt gleich, um Ihnen alles zu erklären und Sie zu untersuchen. Ich möchte Sie jetzt nicht mit zu vielen Informationen überfordern. Kurz gesagt: Sie hatten einen Autounfall.“

„Einen Au…“ Beth hustete. „Einen was?“ Frustriert schüttelte sie den Kopf, woraufhin ihr ein stechender Schmerz in den Nacken schoss und sie zum Stillhalten zwang. „Mein Hals … Er …“

„Ja, Sie waren eine Weile am Beatmungsgerät, deshalb tut Ihr Hals jetzt noch weh.“ Schwester Carmichael goss Wasser aus einer Karaffe, die auf dem Nachttisch stand, in einen Becher mit Strohhalm und Deckel und hielt ihn Beth an die Lippen. Beth trank. Es war das beste und zugleich schlimmste Gefühl, das sie je erlebt hatte. Unendlich erfrischend, doch gleichzeitig auch so, als würde sie Glasscherben trinken. Einen Moment behielt sie den lauwarmen Schluck im Mund, um das Gefühl von ausgetrocknetem Pergament zu vertreiben, bevor sie das Wasser ganz langsam die Kehle hinunterrinnen ließ.

Dann legte sie sich zurück, während Schwester Carmichael routiniert ihren Blutdruck und ihre Temperatur maß. Noch einmal bat sie sie, sich bis zum Eintreffen des Arztes auszuruhen.

Beth schloss die Augen und versuchte, die wenigen Informationen, die sie hatte, zu sortieren und Lücken zu füllen. Doch einige Puzzleteile fehlten offenbar.

Sie hatte also einen Autounfall gehabt. Aber wohin war sie unterwegs gewesen? Woher war sie gekommen? Als sie darüber nachdachte, fiel ihr nur eine Möglichkeit ein: Sie war vermutlich gerade von der Schicht im Café auf dem Heimweg gewesen. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie solle sich endlich einen „richtigen“ Job suchen, anstatt weiterhin ihrem Studentenjob nachzugehen, während sie einen Fotografie-Kurs am College belegte, hatte ihr Vater ihr immer gepredigt. Ihr Magen verkrampfte sich noch mehr. Sie hatte sein Auto genommen, weil ihres schon wieder kaputt war und der Bus zu lange gebraucht hätte. Nie und nimmer hätte sie es pünktlich zur Arbeit geschafft. Hatte sie es etwa zu Schrott gefahren? Er würde ausflippen. Sie krallte ihre kalten Hände in die Bettdecke und versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr, sondern erwachsen. Und so musste sie sich auch benehmen. Ihre Eltern wären doch wohl froh, dass sie am Leben war. War sie das denn wirklich? Sie riss die Augen auf, linste zu ihren Füßen und wackelte mit den Zehen. Gott sei Dank. Sie war am Leben. Alle Gliedmaßen noch dran und nichts gebrochen.

Sie entspannte sich ein wenig. Ihr dunkles Haar hing ihr feucht am Hals, und sie lauschte den Geräuschen um sich herum. Am Fußende ihres Bettes stand Schwester Carmichael und unterhielt sich mit einer anderen Krankenschwester. Beide waren Engländerinnen. Beth fragte sich, ob sie sich womöglich aus der Heimat kannten. Dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass das ein alberner Gedanke war – als würden sich alle Engländer kennen. Es war nicht ungewöhnlich, zwei englische Pflegekräfte in einem australischen Krankenhaus anzutreffen; Engländer gab es schließlich überall in Victoria. Sie hatte selbst mit einer Engländerin im Café gearbeitet, doch die war bald weitergereist. Beth hatte sie damals darum beneidet und sich geschworen, selbst eines Tages zu reisen. Vielleicht, sobald sie sich von diesem Unfall erholt hatte – das wäre doch was! Dann könnte sie ihrem Vater beweisen, dass sie nicht nur dahinlebte.

Gerade fragte sie sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihre Eltern kämen, als ein großer, älterer Arzt ans Bett trat, der auf Beth wie ein ehemaliger Offizier wirkte.

„Na, Beth? Schön, dass Sie wach sind“, sagte er und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich bin Dr. Preston, der leitende Oberarzt der Intensivstation. Sie haben leider ganz schön was abbekommen.“

Auch ein Engländer …

„Hallo“, krächzte Beth.

Er blätterte in seinen Unterlagen und setzte sich auf die Bettkante. Seine steife, britische Haltung passte nicht so ganz zu dieser freundlichen Geste. Verwirrt runzelte Beth die Stirn und verzog gleich darauf schmerzhaft das Gesicht.

„Also, Sie haben eine schwere Kopfverletzung. Ich weiß, Schwester Carmichael hat Ihnen das Gröbste erklärt, aber ich möchte hören, woran Sie sich selbst erinnern. Was denken Sie – warum sind Sie hier?“ Er sah sie erwartungsvoll an.

„Ähm … Ich weiß nicht. Das … klingt jetzt vielleicht seltsam …“

„Nur zu. Hier klingt nichts seltsam. Vertrauen Sie mir.“

„Sind wir in Australien?“, fragte sie und war sich sicher, dass die Antwort Ja lauten würde. Sie war doch bei der Arbeit gewesen, oder? In Melbourne. Und trotzdem …

„Nein … Nein, wir sind in Cambridge“, sagte er mit einem Anflug von Besorgnis in der Stimme. „In Großbritannien.“ Er lehnte sich zurück und beobachtete sie.

„Ich bin in England?“

„Ja.“

Panik überkam sie. Was zum Teufel ging hier vor? Sie war noch nie in Großbritannien gewesen – sie hatte Australien noch nie verlassen. Das konnte doch nicht stimmen. War sie …? War sie noch im Koma und das hier irgendein verrücktes Theaterstück, das ihr Gehirn aufführte? So wie in diesen Filmen, in denen jemand aufwacht und feststellt, dass das Unterbewusstsein ihm einen Streich spielt? Sie hatte reisen wollen, hatte heimlich dafür gespart, damit sie eines Tages einfach in ein Flugzeug steigen konnte. Aber getan hatte sie es noch nicht. Oder etwa doch?

„Ich bin in England?“, fragte Beth noch einmal. Nur für den Fall, dass sie sich verhört hatte.

„So ist es. Ich vermute, dass Sie etwas verwirrt sind. Ihre Kopfverletzung war nicht ohne, auch wenn sie gut heilt. Sie hatten eine Hirnblutung, die ist aber jetzt gestoppt. Nach so einem Unfall kann das schon mal vorkommen.“

„Was ist passiert? Ich …“ Beth spürte, wie abermals Panik in ihr aufstieg. Ihr Puls flatterte wie ein verängstigter Vogel, der hinter Glas gefangen war.

„Ich weiß, das ist schwer, aber bitte, bleiben Sie ruhig. Sie sind hier in Sicherheit und bei uns in besten Händen. Ihr Ehemann wurde verständigt, er ist auf dem Weg und sollte in wenigen Minuten hier sein.“

„Wie bitte?“ Beth zwang sich, lauter zu sprechen. Jetzt war sie überzeugt, dass ein Irrtum vorliegen musste. Vielleicht gab es eine Verwechslung mit einem weiteren Unfallopfer. Denn obwohl sie gerade noch akzeptieren konnte, dass sie sich in England befand, wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie keinen Ehemann hatte. Sie … Nein, sie war nicht einmal in einer Beziehung! Sie wollte einfach nur, dass ihre Mutter und ihre Tanten vorbeikamen und den Ärzten eine überzeugende Erklärung lieferten, warum sie „ewiger Single“ war und alle sich sorgten, dass sie nie Mutter werden würde.

„Mein Ehemann? Ich habe … Ich bin nicht verheiratet.“ Sie hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass sie keinen Ring trug, und war für einen Moment erleichtert, tatsächlich keinen zu sehen.

Dr. Preston runzelte die Stirn. „Doch. Ihr Ehemann“, sagte er bestimmt.

Beth blies zitternd die Luft aus. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die verwirrt war. „Nein. Nein, rufen Sie meine Eltern an, dann klärt sich das alles.“

Dr. Preston lächelte, machte sich ein paar Notizen auf dem Klemmbrett und drückte es sich dann fest an die Brust.

Beth ließ sich wieder ins Kissen sinken und wartete darauf, dass er seinen Fehler bemerkte. Das alles war einfach zu viel für sie. Sie lag in einem Krankenhaus, in England, und die Ärzte hatten sie offensichtlich mit jemand anderem verwechselt. So etwas passierte nur in diesen albernen Seifenopern, für die ihr Vater sie immer tadelte, wenn sie sie anschaute. Vielleicht schlief sie noch und träumte von irgendeinem seltsamen Melodram. Oder sie war Opfer eines medizinischen Missverständnisses geworden. Vielleicht verlor sie auch langsam den Verstand. Keine dieser Optionen gefiel ihr. Doch als der Arzt sie immer noch schweigend musterte, beschlich sie das ungute Gefühl, dass all das nur zu real war.

„Sie müssen meine Mutter anrufen. Sie soll herkommen – ich will sie dabeihaben, ich brauche sie!“, sagte Beth mit so viel Autorität, wie sie gerade aufbringen konnte.

„Wir haben Ihren nächsten Angehörigen bereits informiert. Er müsste gleich da sein.“ Dr. Preston blickte zu Schwester Carmichael, die nickte und zu ihnen trat.

„Sie verstehen nicht. Sie haben mich verwechselt. Ich bin nicht verheiratet, ich … Sehen Sie! Kein Ring!“ Sie wedelte mit der Hand und zog dabei fast die Kanüle heraus.

„Meine Liebe, atmen Sie tief durch und versuchen Sie, sich zu beruhigen“, sagte Schwester Carmichael, nahm Beths Hand und hielt sie fest. Nicht zu fest, sondern fürsorglich.

„Ich kann nicht! Ich will nicht! Das ist doch alles absolut verrückt!“, rief Beth. Ächzend richtete sie sich auf und verzog das Gesicht. Ihr ganzer Körper schmerzte und einige Muskeln weigerten sich, zu gehorchen.

„Beth, bitte legen Sie sich wieder hin. Sie hatten einen schweren Unfall und sind noch in der Genesungsphase. Sie müssen uns erlauben, Ihnen zu helfen. Es wird sich alles aufklären, aber jetzt ist Ruhe das Wichtigste.“ Sie drehte sich zum Arzt um.

„Ganz genau. Ruhen Sie sich jetzt aus. Wir kümmern uns um alles, Beth. Wir werden alles klären, versprochen. Ich muss noch ein paar Telefonate führen und nach den anderen Patienten sehen. Aber dann komme ich zurück. Schwester Carmichael bleibt bei Ihnen.“ Dr. Preston nickte der Schwester zu und ging.

„Rufen Sie meine Mutter an“, rief Beth ihm noch hinterher. „Sie wird Ihnen alles erklären. Ich … Ich weiß vielleicht nicht, warum ich in England bin, aber verheiratet bin ich sicher nicht. Sie werden schon sehen. Und wenn dieser … Ehemann hier ankommt, wird er sofort erkennen, dass ich nicht seine Frau bin!“

„Okay, ruhen Sie sich jetzt erst einmal aus.“

„Warum glaubt mir denn niemand? Das ist … Das ist lächerlich!“, rief Beth, wand sich im Bett und verhedderte sich in Laken und Schläuchen.

„Beth“, sagte Schwester Carmichael und klang diesmal wie eine strenge Lehrerin. „Sie müssen jetzt wirklich ruhig bleiben. Es wird sich alles klären. Wir versuchen, Ihre Mutter zu erreichen. Und wenn Dr. Preston zurückkommt, wird er Ihnen alles erzählen, was passiert ist und wie es mit Ihrer Behandlung weitergeht. Sie haben einiges durchgemacht. Da ist es normal, dass Sie durcheinander sind. Ruhe ist jetzt das Wichtigste für Sie. Okay?“

„Okay …“ Beth war plötzlich völlig erschöpft. Die bizarre Situation hatte sie völlig ausgelaugt. Eigentlich wollte sie gar nicht warten, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie war ja kaum fähig, aufzustehen. Außerdem wusste sie weder, wie sie nach England gekommen war, noch, warum alle überzeugt waren, sie habe einen Ehemann – was völlig unsinnig war. Also würde sie einfach abwarten müssen. Sie hatte keine andere Wahl. Sollte dieser vermeintliche Ehemann doch kommen – dann wäre den Ärzten sicher auch sofort alles klar. Dann würde man ihre Mutter holen, die die fehlenden Informationen liefern würde. Ja, so würde sich alles auflösen. Irgendwann wäre das hier bestimmt eine lustige Anekdote, oder?

Beth kniff die Augen zusammen und kämpfte mit der aufsteigenden Angst, die sich langsam in ihr breit machte.

Was zum Henker ging hier bloß vor?

Kapitel 3

Beth wandte ihr Gesicht der Sonne zu, die durch das große Fenster neben ihr hereinschien. Die warmen Strahlen erinnerten sie an zu Hause. Schwester Carmichael hatte ihr Sarah vorgestellt, ihre persönliche Intensivpflegekraft. Gemeinsam hatten sie entschieden, dass Beths Werte stabil genug waren, um sie in einen Stuhl zu setzen. Eine Tasse Tee sollte ihr wenigstens ein bisschen Kontrolle und Normalität geben, inmitten einer Situation, die alles andere als normal war. Beth hatte sofort in dem Glauben zugestimmt, dass sie einfach gehen und diesem Wahnsinn entkommen könnte, sobald sie erst auf den Beinen war. Doch schnell wurde ihr klar, dass auf der Intensivstation besondere Sicherheitsvorkehrungen galten. Außerdem war sie noch nicht in der Verfassung, irgendwohin zu gehen, und sie wusste auch gar nicht, wohin sie denn überhaupt gehen sollte. Sie war in England, das hatte sie akzeptiert, auch wenn sie im Moment nicht sagen konnte, wie sie hierhergekommen war oder warum. Sie kannte niemanden hier, aber es musste doch jemanden geben – eine Mitbewohnerin, eine Reisebekanntschaft, eine Kollegin – irgendwen, der sie vermisste. Zudem hatte sie erneut darum gebeten, mit ihrer Mutter sprechen zu dürfen. Doch als man sie nach der Telefonnummer fragte, konnte Beth sich nicht daran erinnern. Wer wusste denn im Zeitalter der Smartphones Telefonnummern auswendig? Es würde ihr schon wieder einfallen. Sarah versprach, Beths Hinweise zu überprüfen und die Nummer zu ermitteln. Beth wusste, wo sie arbeitete. Dort könnte man anrufen und eine Nachricht hinterlassen. Das wäre sicherlich machbar.

Beth ließ sich von der Müdigkeit überwältigen, schloss die Augen und döste in dem Stuhl ein. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie die Augen wieder öffnete, stand eine Gruppe von Menschen am Ende ihres Bettes: Schwester Carmichael, Sarah, Dr. Preston und ein fremder Mann. Sie sprachen in einem gedämpften und ernsten Ton.

Endlich, dachte Beth. Das muss der „Ehemann“ sein. Gemeinsam könnten sie dieses Missverständnis aus der Welt schaffen und vielleicht würde man sich dann endlich bemühen, ihre Eltern zu kontaktieren. Dann könnten sie einen Plan schmieden, wie sie nach Hause fliegen könnte. Allein durch den Gedanken, im elterlichen Garten in Melbourne zu sitzen, eine Tasse Kaffee in der Hand und den Duft von Zitronenmyrte in der Luft, fühlte sie sich besser.

„Beth“, sagte Dr. Preston, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. „Schön, dass Sie sitzen können. Das ist großartig. Sie machen wirklich Fortschritte.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

Beth lächelte zurück, aber etwas in seinem Gesicht machte sie nervös. Ein Knoten zog sich bei seinen Worten in ihrem Magen zusammen. Sie warf einen Blick zu den Krankenschwestern und diesem fremden Mann. Warum war der noch hier? Sicher hatte er doch inzwischen festgestellt, dass sie sich nicht kannten. Seltsam. Ihre Freundinnen im Café würden sich ausschütten vor Lachen, wenn sie das hören könnten.

„Aber wir machen uns ein bisschen Sorgen um Ihr Gedächtnis“, fuhr Dr. Preston fort. „Deshalb würde ich gern ein paar Tests mit Ihnen machen, wenn das in Ordnung ist?“

„Was? Hören Sie, ich weiß, dass ich mich nicht an die Handynummer meiner Mutter erinnern kann, aber …“ Beth stockte.

„Ich weiß. Wie gesagt, das ist nicht ungewöhnlich. Deshalb wollen wir feststellen, wo wir stehen.“

„Na schön“, sagte Beth und verschränkte die Arme. Das war doch lächerlich. Aber wenn sie mitspielte, ging das vielleicht schneller vorbei, als wenn sie sich sträubte.

„Wie lautet Ihr vollständiger Name?“

„Beth. Kurz für Bethany. Masters. Bethany Masters.“ Sie warf Dr. Preston einen gereizten Blick zu, als er sich das notierte. Reine Zeitverschwendung.

„Und wo sind wir?“

„Das haben Sie mir bereits gesagt. Ich bin in England. In Cambridge.“

„Nicht in Australien?“

„Nein. Sie haben selbst gesagt, es sei nicht ungewöhnlich, nach so einem Unfall verwirrt aufzuwachen. Also …“ Sie brach ab. Wut stieg in ihr auf. Dieser Arzt redete mit ihr, als wäre sie dumm.

„Wissen Sie, warum Sie in England sind und nicht in Australien?“

Beth überlegte und presste die Lippen zusammen. „Noch nicht. Nein.“

„Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an den Unfall?“

„Ich … Nein.“ Ihr Blick richtete sich auf ihre Füße. Sie hatte angenommen, sie wäre mit dem Auto ihres Vaters gefahren, aber das konnte ja nicht stimmen. Bei aller Anstrengung fiel ihr keine andere Erklärung ein. Wenigstens hatte sie nicht das Auto ihres Vaters zu Schrott gefahren. Sie lächelte schwach.

„Welches Datum haben wir? Oder besser: Welches Jahr?“

„Ist das Ihr Ernst?“ Beth runzelte die Stirn und zuckte vor Schmerz zusammen. Sie hatte sich noch nicht im Spiegel gesehen, aber sie war sich sicher, dass eine ordentliche Narbe zurückbleiben würde.

Dr. Preston sagte nichts, sondern wartete mit ausdruckslosem Gesicht auf ihre Antwort.

Beth sah die anderen an, die die Besorgnis in ihren Gesichtern nicht verbergen konnten. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Etwas stimmte hier nicht. „2019?“, fragte sie schließlich unsicher.

„Und wer ist Premierminister? In Australien oder Großbritannien, ganz wie Sie möchten.“

„Ähm … nun ja, Politiker wechseln schneller als manche ihren Mantel, nicht wahr?“

Dr. Preston lächelte höflich, schwieg aber.

„Morrison. Bei uns ist es, ähm, Morrison. Und bei euch … na ja, Bojo, Boris Johnson. Was für ein Witz!“

Niemand lachte.

„Gut. Eine Frage noch: Wann haben Sie Ihre Eltern zuletzt gesehen?“

Das tat weh. Beth wollte ihre Eltern gerade jetzt bei sich haben. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte. „Ich wohne bei ihnen. Zumindest wenn ich in Australien bin. Also vermutlich, als ich das letzte Mal dort war.“

„Und wissen Sie, wann das war?“

Beth blinzelte heftig, als könnte sie ihre Erinnerungen mit bloßer Willenskraft zurückholen. Doch da war nichts. Sie schluckte und als sie zu Dr. Preston aufblickte, dessen Miene ruhig und einfühlsam wirkte, stiegen ihr die Tränen in die Augen.

„Da stimmt was nicht, oder?“, flüsterte sie und brachte die Worte kaum heraus. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und wünschte sich, sie hätte eine Decke. Ihr war kalt. Und sie fühlte sich bloßgestellt.

„Wir glauben, dass Sie an einer retrograden Amnesie leiden. Manchmal schützt sich das Gehirn nach einem traumatischen Erlebnis wie einem Beinahe-Tod-Erlebnis oder …“ Er hielt inne und wählte seine Worte sorgfältig. „Oder einem Unfall, der großen emotionalen Stress verursacht. Es verhindert die Speicherung oder den Zugriff auf bestimmte Erinnerungen. Leider funktioniert das Gedächtnis nicht immer so präzise wie man möchte und es verschwinden manchmal auch andere Erinnerungen, was zur Amnesie führt.“

Beth blickte von Dr. Preston zu den anderen und ließ das sacken. Schwester Carmichael und Sarah sahen sie mitfühlend an. Der fremde Mann hatte Tränen in den Augen. „Also hat mein Verstand mein Gedächtnis gelöscht?“

„Nicht gelöscht im eigentlichen Sinne. In den meisten Fällen ist das nur vorübergehend. Sobald Sie genesen und das Trauma verarbeiten, kehren auch oft die Erinnerungen zurück. Manchmal stückweise, manchmal auf einmal. In einigen Fällen kehren die meisten Erinnerungen zurück, in anderen nur sehr wenige oder gar keine. Das ist bei jedem Patienten unterschiedlich. Im Moment versuchen wir, das Ausmaß Ihres Gedächtnisverlusts zu bestimmen. Sind Sie … Sind Sie für weitere Fragen bereit?“ Er neigte mitfühlend den Kopf zur Seite. „Oder brauchen Sie eine Pause?“

Beth war erschöpft und ihre Gedanken überschlugen sich. Doch sie wollte wissen, wie schlimm es um sie stand, und sie spürte die Erwartungen der anderen. „Ich schaffe das. Machen wir weiter.“

„Sehr gut. Sie können jederzeit aufhören, wenn Sie möchten.“ Er räusperte sich. „Erzählen Sie mir etwas über sich. Von Ihrem Alltag, an den Sie sich erinnern können.“

Beth öffnete den Mund, die Antworten lagen ihr auf der Zunge, doch sie zweifelte an sich selbst und hielt inne. Wie schlimm ist es? Wie viel habe ich vergessen? Dennoch hielt sie es für das Beste, einfach zu sagen, was sie zu wissen glaubte. „Ich bin Beth. Vierundzwanzig Jahre alt. Ich lebe mit meiner Mutter, meinem Vater, meinem jüngeren Bruder und unserer Katze in Melbourne, Australien. Wir wohnen in Altona, in der Rosebery Street.“ Beim Gedanken an ihr Zuhause lächelte sie. Wie gern wäre sie jetzt dort. Dort wäre sie in Sicherheit. „Ähm, ich arbeite in einem Café namens Beans and Brew. Ich habe dort schon während meines Studiums gearbeitet und jetzt bin ich dort Vollzeit beschäftigt, um Geld für eine Reise zu sparen. Nur …“

„Ja?“

„Nun, ich muss ja schon gereist sein, oder? Wenn ich jetzt hier bin?“ Sie klang unsicher und ängstlich. Nicht wie sie selbst.

„Das können wir nur vermuten. Die Fakten klären wir noch.“

„Was sagt uns das alles?“, fragte Beth und klammerte sich an die Hoffnung, dass der Gedächtnisverlust minimal und, wie er gesagt hatte, wirklich nur vorübergehend war. Es fühlte sich an, als passierte das alles jemand anderem. Was in gewisser Weise auch stimmte.

Dr. Preston wandte sich wieder den anderen zu, sodass Beth sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er sich wieder umdrehte, blieb sein Ausdruck unergründlich.

„Das sagt uns, dass Sie etwa fünf Jahre Ihrer Erinnerungen verloren haben. Es ist jetzt 2024. Sie leben nicht mehr bei Ihrer Familie in Australien, sondern hier. In England. Mit Ihrem Ehemann.“

Der Fremde am Fußende des Bettes machte einen zögernden Schritt nach vorn, und Beth wich instinktiv zurück. Er hielt inne. Zögerte. Wirkte … enttäuscht? Verletzt? Beth war noch zu verwirrt, um sich darum Gedanken zu machen.

Schließlich holte er tief Luft. „Beth. Beth, du … bist es.“ Er fuhr sich durch sein dunkelbraunes Haar, das an den Schläfen schon grau war. „Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“ Er lachte und blickte dann verunsichert zu Dr. Preston. „Ist das okay so?“ Er wirkte nervös. Seine Hände zuckten an seinen Seiten, und er ballte sie zu Fäusten.

Sprich mit mir, nicht über mich!

„Was ist okay?“, fragte Beth laut, überrascht über den heiseren Klang ihrer Stimme, der sie älter wirken ließ. Als hätte sie ihr ganzes Leben damit verbracht, in verrauchten Nachtclubs starken Whisky zu trinken. Ihre Wut war jedenfalls deutlich in ihrem Tonfall zu hören.

„Ich verstehe, dass das für Sie beide sehr seltsam ist“, sagte Dr. Preston. „Es wird etwas Zeit brauchen, bis Sie sich daran gewöhnen. Beth, Sie haben in den letzten Tagen viel durchgemacht und dazu auch noch Ihr Gedächtnis verloren. Das ist alles sehr verwirrend, aber wir können Ihnen helfen. Auch Ihr Mann …“

„Nein. Jetzt hören Sie endlich auf. Ich habe es Ihnen gesagt. Immer wieder. Ich bin nicht verheiratet. Ich kenne ihn nicht!“ Sie sah den Fremden an. „Sie könnten sonst wer sein! Dr. Preston, Sarah, bitte. Ich … Das ist zu viel.“

Sarah wandte sich an den Fremden.

„Könnten Sie uns bitte einen Moment allein lassen?“

Er wirkte gequält und nickte. Dann zog er sich ein paar Schritte zurück, blieb aber in Hörweite.

Sarah setzte sich auf die Bettkante und sah Beth an. Beth kam sich vor wie ein Kind. „Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie schwer das für Sie ist. Sie haben einen körperlichen Schock erlitten, ein emotionales Trauma – keine leichte Situation.“

„Sie hören mir nicht zu! Er ist nicht mein Mann. Ich bin nicht verheiratet. Ich kenne ihn nicht!“

Sarah griff nach ihrer Hand. „Als die Polizei am Unfallort eintraf, hat sie das Auto überprüft. Besitzer und Versicherungsnehmer sind Rob“ – sie deutete auf den Fremden – „und seine Ehefrau Bethany. Ihr Ausweis und Ihr Führerschein wurden gefunden. Wir wissen genau, wer Sie sind. Die Polizei hat Rob kontaktiert und er hat Beweise, dass Sie seine Frau sind: die Heiratsurkunde, Fotos von Ihrem Zuhause.“

Dr. Preston nickte.

Beth atmete flach. Das konnte einfach nicht wahr sein. Sie schloss die Augen und wollte all das verdrängen.

„Beth …? Sie müssen jetzt nicht mit ihm sprechen, wenn Sie nicht möchten. Dr. Preston hat Ihnen bereits erklärt, dass dies für alle schwierig ist. Ihr Mann …“

„Nennen Sie ihn nicht so!“

„Rob … weiß, dass es Zeit braucht.“

„Ich muss mit meiner Mutter sprechen. Haben Sie sie erreicht?“ Beth schüttelte den Kopf. Sie wollte das nicht akzeptieren. Das musste ein Irrtum sein. Sie musste mit jemandem sprechen, den sie kannte. Sie brauchte ihre Mutter. Warum war sie nicht hier? Warum hatte Rob nicht längst angerufen, wenn er wirklich ihr Mann war?

„Noch nicht. Wir bemühen uns, ihre Nummer herauszufinden. Die Zeitverschiebung macht es etwas schwierig, aber wir sind dran.“

„Wenn dieser Rob wirklich mein Mann ist, warum ruft er sie dann nicht für mich an?“

Sarah sah unbehaglich aus.

„Was?“, fragte Beth. Ihr war bewusst, dass sie gerade unvernünftig, ja sogar unhöflich zu Sarah war. Trotzdem konnte sie nicht aus ihrer Haut.

„Ich … Es ist besser, wenn Sie und Rob direkt miteinander sprechen. Glauben Sie, dass Sie das schaffen? Ich bin hier, wenn Sie mich brauchen.“

Beth war völlig verwirrt. Ihr Gehirn fühlte sich wie ungebrannter Ton an: zäh und ungeformt. Beruhige dich, dachte sie. Man kümmert sich um dich und versucht deine Eltern zu erreichen. Du musst nur mit diesem Mann sprechen, mehr nicht. Was konnte das schon schaden? Wenn er log, würde er sich doch sicher bald verraten. Warum sollte er überhaupt lügen?

Ein leiser Zweifel keimte in ihr auf. Sie hatte fünf Jahre verloren. Hätte sie in dieser Zeit eine Weltreise machen, in Großbritannien landen, jemanden kennenlernen und heiraten können? Es wäre … denkbar. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie würde sich doch erinnern. Auf jeden Fall! Und doch: Wenn sie wollte, dass sie ihre Mutter ausfindig machten, die all das im Handumdrehen klären würde, musste sie sich wenigstens ein Stück weit kooperativ zeigen. Sie nickte Sarah zu, die Rob herbeiwinkte.

„Lassen Sie sich Zeit. Ich bin gleich dahinten, falls Sie mich brauchen.“ Dann ging sie zum Stationszimmer und widmete sich dem Papierkram.

„Ich schaue später nochmal vorbei, falls Sie noch Fragen haben. Sie sind hier in guten Händen, Beth. Das verspreche ich Ihnen“, sagte Dr. Preston und verabschiedete sich ebenfalls.

Rob nahm neben Beth Platz, wo Dr. Preston gesessen hatte, und griff nach ihrer Hand. Zuerst wollte sie sie zurückziehen, ließ ihn dann aber gewähren. Es fühlte sich falsch an, aber sie wollte ihn nicht verletzen. Vielleicht würde seine Berührung ja eine Erinnerung in ihr auslösen. Ein Gefühl von Nähe. Sie sah auf ihre ineinander verschränkten Hände und hoffte, dass diese kleine Geste den Nebel in ihrem Kopf ein wenig lichten würde. An seinem Finger glänzte ein goldener Ehering. Als sie den Blick wieder hob, starrte er sie erwartungsvoll an. Er sah besorgt aus.

„Ähm …“ Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und entzog ihm schließlich doch ihre Hand, um sich aufzurichten. „Soll ich …? Wollen wir …?“ Was sollte sie nur sagen?

Robs Gesicht verfinsterte sich für einen Moment, doch schon im nächsten Moment huschte ein freundliches Lächeln über seine Züge. Wie ein Scheibenwischer, der den Regen von der Windschutzscheibe wischt. „Du erkennst mich wirklich nicht, oder?“ Seine Stimme zitterte. Seine Augen schienen ihr etwas sagen zu wollen, doch da sie ihn nicht kannte, konnte sie die Botschaft nicht entschlüsseln.

Beth schüttelte leicht den Kopf, worauf sofort ihr Nacken protestierte. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück und wartete, bis der Schmerz nachließ.

Rob wirkte nachdenklich und wählte seine Worte offenbar mit Bedacht. Seine Haltung hatte etwas Bedächtiges, fast Sanftes. „Soll ich … ein paar Lücken füllen? Vielleicht macht es irgendwo klick?“

Gierig nach Informationen nickte Beth, obwohl sie nicht sicher war, ob sie ihm trauen konnte. Im Moment hatte sie keinen inneren Wegweiser, auf den ihr Bauchgefühl reagieren konnte. Alles in ihr war leer.

„Okay. Also, ich bin Rob. Dein Mann. Wir sind … ähm … Das ist so seltsam. Ähm … Wir sind seit fast vier Jahren verheiratet. Kennengelernt haben wir uns in London, als wir beide dort gearbeitet haben. Ähm …“ Er stockte, suchte offenbar nach den richtigen Worten.

„Ich habe in London gearbeitet?“

Sie hatte schon immer von London geträumt. Es hieß, es sei wie Sydney, nur älter und mit verwinkelten Gassen wie aus einem Roman von Dickens. Die Stadt erschien ihr unglaublich glamourös, und zu wissen, dass sie dort gelebt und gearbeitet hatte, fühlte sich an, als hätte sie einen Punkt auf ihrer Bucketlist abgehakt, auch wenn sie sich im Moment nicht daran erinnern konnte. Sie errötete, senkte den Blick und bemerkte erst jetzt die Schnitte und Kratzer an ihren Händen. Sie sah aus, als hätte sie sich geprügelt. „Entschuldigung. Ich … Das ist gerade alles viel. Ich … Ich weiß nicht, ich …“

Robs Lächeln wurde schmal. Auch für ihn war das alles offensichtlich sehr aufwühlend. „Du kannst dich wirklich an nichts erinnern? Weder an unsere Hochzeit noch an unser … gemeinsames Leben?“ Er senkte den Blick und rang damit, seine Gefühle vor Beth zu verbergen. Vielleicht wollte er sie schützen.

Sarah trat ein. Offenbar hatte sie das kommen sehen. Sie setzte sich ans Bettende und wandte sich an Beth. „Das ist sehr viel auf einmal, ich weiß“, sagte sie freundlich, „aber wir sind alle hier, um Ihnen beiden zu helfen. Normalerweise erzählen wir unseren Patienten nicht alles auf einmal, weil das zu überwältigend sein kann. Und manche wollen sich lieber selbst erinnern. Verstehen Sie das?“

Beth nickte benommen und wandte sich wieder zu Rob um. Er starrte weiter auf seine Füße, die Schultern verkrampft und angespannt.

„Gibt es etwas Bestimmtes, was Sie wissen möchten?“, fragte Sarah. Dann wandte sie sich an Rob. „Aber erzählen Sie ihr nicht zu viel auf einmal. Manche Dinge können warten.“ Sie nickte Rob zu, der zu verstehen schien.

In Sarahs Worten lag eine unterschwellige Botschaft, doch ohne den Zusammenhang hatte Beth keine Ahnung, was damit gemeint war.

Plötzlich kochte Wut in ihr hoch. Sie fühlte sich so machtlos. Das war nicht fair! Diese beiden Menschen, die ihr völlig fremd waren, wussten mehr über ihr Leben als sie selbst. Sie konnten ihr alles Mögliche erzählen. Woher sollte sie wissen, ob es stimmte? Selbst die Menschen, die einem am nächsten standen, logen manchmal.

„Vielleicht reden wir erst einmal über die Welt im Allgemeinen, anstatt über Sie persönlich?“, schlug Sarah vor. „Die letzten Jahre waren … bedeutend. Das könnte Ihnen vielleicht bei den Erinnerungen helfen.“

„Was? Habe ich den Dritten Weltkrieg verpasst?“, fragte Beth gereizt, genervt von ihrer eigenen Unwissenheit.

Rob atmete tief aus. „Fast“, sagte er ernst. Doch als er sie ansah, wurde seine Miene weicher. Es fühlte sich … schön an, so angesehen zu werden, mit … was auch immer das war. Verehrung?

„Was ist passiert? Geht es allen gut?“

„Ja und nein. Wir hatten eine globale Pandemie, so etwas wie … wie die Spanische Grippe, weißt du?“

Beths Augen weiteten sich. „Was?“

„Ja! Man nennt es Covid, und, nun ja, viele Menschen sind gestorben. Millionen. Vor allem die Schwachen, die ganz Jungen, die Alten und die Kranken. Alle mussten zu Hause bleiben. Die Länder haben ihre Grenzen dichtgemacht und niemand durfte raus oder andere treffen. Alles war geschlossen – Geschäfte, Bars, Schulen.“

„Oh Gott … Geht es meiner Familie gut?“, fragte Beth panisch.

„Ja. Ja, ihnen geht es gut.“

„Gott sei Dank. Das klingt wie ein Horrorfilm. Total unwirklich.“

Beth brach in Tränen aus. Mehr denn je wollte sie nach Hause und ihre Familie in den Arm nehmen.

„Hey. Hey, Schatz. Es ist alles gut. Ich bin hier. Ich passe auf dich auf“, sagte Rob, zog seinen Stuhl näher heran und nahm wieder ihre Hand.

Diesmal war Beth ihm dafür dankbar. Er war freundlich und geduldig – der Typ Mann, den sie sich als Ehemann vorstellen konnte. Sie ließ ihre Hand in seiner liegen, versuchte, sich zu entspannen und das Gefühl zu genießen, von ihm umsorgt zu werden. Müde und emotional wie sie war, tat es gut, für einen Moment die Kontrolle loszulassen.

„Als der Anruf kam, dass du einen Unfall hattest und schwer verletzt bist … Püppi, da ist meine Welt zusammengebrochen. Dann sagten sie, du hättest einen Teil deiner Erinnerung verloren und würdest mich vielleicht nicht wiedererkennen … Aber du bist am Leben, okay? Den Rest kriegen wir wieder hin.“

Beth wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte ihn an und fragte sich, wie es wohl wäre, verheiratet zu sein. Mit ihm. Sie suchte sein Gesicht nach vertrauten Zügen ab. Trotz seiner freundlichen Art und aufmunternden Worte war er für sie immer noch ein Fremder. Seine ständige Beharrlichkeit, dass sie zusammengehörten, nervte sie. Das passierte ihr, nicht ihm. Klar war er betroffen, aber für sie war das etwas ganz anderes.

„Ich … Entschuldige“, sagte sie in der Hoffnung, die Spannung zu lösen, die durch ihr Schweigen entstanden war. Ihr war bewusst, dass sie unfair war.

Rob fuhr sich durch die Haare. Er schien etwas sagen zu wollen, hielt sich aber zurück. „Nein, nein, sei nicht albern. Das ist nicht deine Schuld.“ Seine Stimme brach. „Nichts davon ist deine Schuld, okay?“ Er drückte ihre Hand, doch sie zog sie zurück.

Warum sagt er das? Ich habe doch gar nicht behauptet, dass es meine Schuld ist. Habe ich den Unfall verursacht? Ist es doch meine Schuld?

„Hast du meine Eltern angerufen?“, fragte Beth, um das Thema zu wechseln.

Robs Miene wurde düster.

„Was? Was ist los?“

Er biss sich auf die Lippe. „Ich wollte, aber …“

„Aber was?“

„Nun, unser Verhältnis ist etwas angespannt …“

Beth setzte sich aufrechter hin und ihre feuchten Handflächen klebten an dem abwischbaren Kunstleder des Stuhls. „Wie meinst du das?“

Rob strich sich über den Nacken und überlegte. „Sie mögen mich nicht.“ Er sah verlegen aus.

Beth schwieg; sie wollte die ungeschminkte Wahrheit von ihm hören.

„Sie … glauben, ich hätte dich ihnen weggenommen, weil du nicht mehr nach Hause gegangen bist, seit wir zusammen waren, und dann so schnell bei mir eingezogen bist.“

Das klang nicht nach ihr. Ja, sie war impulsiv, aber auch vorsichtig und unabhängig, wenn es um Männer ging. Sie hatte die Welt bereisen wollen. Warum sollte sie sich also ausgerechnet so weit von zu Hause niederlassen?

„Warum habe ich das getan?“

Rob begann zu lächeln, lachte kurz auf und schien dann zu begreifen, dass Beth es ernst meinte. Seine Miene wurde traurig. „Wir waren verliebt“, sagte er, als wäre das selbstverständlich.

Beth blieb skeptisch. Sie war … Sie war erst vierundzwanzig gewesen; ihr stand die Welt offen. Warum sollte sie das tun? Selbst wenn es aus Liebe geschah. Sie war nie so naiv gewesen. Hatte er sie wirklich so umgehauen?

„Und …“

Ah. Jetzt kommt der wahre Grund.

„Na ja, die Lockdowns. Dein Job in der Bar fiel weg. Deine Mitbewohner sind zu ihren Familien zurückgekehrt und die Grenzen waren dicht.“

„Ich hatte keine andere Wahl?“, fragte Beth und bereute es sofort. Rob sah sie an, als hätte sie ihn geohrfeigt.

„Nein!“ Er klang wütend, beruhigte sich aber sofort. „Nein. Es war eher so, dass alle vernünftigen Gründe, nicht zu deinen Gefühlen zu stehen, weggefallen waren. Es ergab Sinn. In jeder Hinsicht. Aber …“ – sein Gesicht verdüsterte sich – „deine Eltern sahen das anders. Und sie haben mich nie besonders gemocht. Ich war ihnen zu englisch, wie es scheint.“ Er verzog den Mund. „Sie haben mir nie eine wirkliche Chance gegeben.“

„Aber sie würden dir zuhören? Wegen mir?“

„Deine Eltern …“

Beth wurde flau im Magen.

„Was? Was ist mit ihnen? Sag es mir!“

„Du sprichst nicht mit ihnen. Wir sprechen nicht mit ihnen. Nicht mehr. Es gab einen großen Streit, als du aus London hierher gezogen bist und wegen … der Hochzeit. Sie konnten nicht kommen und wollten, dass du wartest. Sie … wollten dich zurück nach Australien holen. Du … Wir haben uns entschieden, nicht zu warten und hierzubleiben. Ich habe sie nicht angerufen. Ich wusste nicht, ob du das wolltest.“

Beth rang nach Worten und ließ die Informationen sacken. Sie und ihre Eltern hatten immer ein sehr enges Verhältnis, auch wenn sie als Teenager öfter mit ihrer Mutter gestritten hatte. Was war nur passiert? Für Beth war es erst gestern gewesen, dass sie unbeschwert zu Hause gelebt hatte. Und plötzlich, aus heiterem Himmel, fand sie sich ohne ihre Familie am anderen Ende der Welt wieder – verheiratet mit einem Fremden. War das ein Albtraum? Denn nichts davon ergab einen Sinn.

„Ich … Sie sollten es wissen. Ich möchte, dass du sie anrufst.“

Streit hin oder her, sie brauchte sie jetzt, und sie würden kommen. Das wusste sie.

„Sind die Grenzen wieder offen?“

„Ja.“

„Also können sie kommen?“

„Ja.“

„Dann ruf sie an.“

„Ich habe ihre Nummer nicht.“

Beth starrte ihn entgeistert an. Was zum Teufel meinte er damit? „Was? Du bist mein Mann und hast nicht mal die Nummer meiner Eltern?“

„Sie haben ihre Nummer gewechselt und mir nicht gegeben. Ich versuche, sie ausfindig zu machen. Das dauert aber und inzwischen habe ich ein paar Dinge geregelt.“

„Was denn zum Beispiel?“ Beths Stimme war angespannt und wütend.

Sarah trat einen Schritt auf sie zu, bereit, einzugreifen.

Was war denn wichtiger, als ihre Familie zu informieren?

„Zum Beispiel das Auto aus dem Graben zu holen!“, bellte Rob. „Entschuldige. Tut mir leid. Es ist alles viel zu verkraften. Ich bin müde und wollte dich nicht anschreien. Aber ich werde es weiter versuchen. Ich finde sie, ganz sicher.“

Es fühlte sich an, als hätte Beth erneut einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ihre Sicht verschwamm und ihr Puls raste. Sie war mit ihrer Familie zerstritten? Warum? Lag es an ihnen? Sie waren zwar fürsorglich, aber nie kontrollierend oder fordernd. Oder lag es an ihm? Was hatte er getan, dass sie ihn hassten? Oder lag es an ihr? Hatte sie mit ihrem impulsiven Verhalten die Kluft verursacht?

Ihre letzten Erinnerungen waren die an den Kaffee am Morgen mit ihren Eltern, bevor sie sich alle für die Arbeit fertig machten. Und an die endlosen Diskussionen über ihre Zukunft – dass sie mal was aus sich machen und ihr Leben in den Griff bekommen sollte. Hatten sie sie ermutigt, so weit wegzuziehen? Oder hatten sie protestiert? Beth wollte unbedingt mit ihren Eltern sprechen und bat Sarah, dranzubleiben. Sie kam sich vor wie ein Buch mit herausgerissenen Seiten, in dem ganze Kapitel fehlten. Um all das tragen zu können, war sie doch noch viel zu jung. Oder zumindest fühlte sie sich so. Dabei war sie schon fast dreißig. Eine Erwachsene – und doch nichts als ein Kind.

„Danke.“ Beth schenkte Rob ein schwaches Lächeln. Sie wollte etwas fühlen. Irgendetwas, das diesen ganzen Wahnsinn erträglicher machte. Doch da war nur ein vages Unbehagen und das Bedürfnis, das Richtige zu sagen. Aber was war das Richtige?

„Also …“, sagte sie.

„Ja, Püppi?“

Warum nannte er sie immer so? Sie hasste es. Doch sie schwieg. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. „Was ist passiert? Mit dem Auto?“

Rob nickte nachdenklich. So viel hing davon ab, was er erzählte und wie er es sagte.

Die Pause zwischen ihrer Frage und seiner Antwort wurde länger, die Stille bedrückender. Mit gesenktem Blick stützte er die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände vor sich. Er sah aus, als würde er beten. Vielleicht tat er das sogar. „Bist du sicher, dass du es wissen willst?“

Beth lachte trocken. „Nein. Aber es nicht zu wissen, hilft mir auch nicht weiter, oder? Du bist mein Mann. Ich kann dir doch vertrauen, oder?“ Die Worte „mein Mann“ schmeckten fremd auf ihrer Zunge. Das Krankenhaus hatte doch alles überprüft. Sarah hatte es bestätigt und die Polizei auch. Er war kein völlig Fremder. Auch wenn es sich so anfühlte. Mein Bauchgefühl trügt. Ich kann mir nicht glauben. Also muss ich den anderen vertrauen.

„Na gut, wenn du sicher bist.“

„Ich bin mir überhaupt nicht sicher“, sagte Beth etwas angespannt.

Rob lächelte gequält. Trotzdem war es ein schönes Lächeln, stellte Beth fest. Es gefiel ihr. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

Zumindest ein Anfang.

„Du weißt, dass du einen Autounfall hattest. Der Airbag ist nicht aufgegangen, und du hast dir den Kopf heftig am Lenkrad gestoßen und dir die Nase gebrochen.“

Beth sah besorgt aus und fasste sich ans Gesicht.

„Sie haben sie wieder gerichtet, keine Sorge. Sobald die Schwellung zurückgeht und die Blutergüsse verblassen, siehst du wieder aus wie neu. Die Nähte im Gesicht hat ein erstklassiger plastischer Chirurg gesetzt. Er hat mir versichert, dass von den Narben später kaum etwas zu sehen sein wird.“

Es war doch normal, sich Gedanken über das Aussehen zu machen, oder? Beth verspürte einen leisen Ärger darüber, dass Rob sich offenbar auch Sorgen gemacht hatte. Hieß es nicht „in Gesundheit und Krankheit“, und nicht „immer schön und nie verletzt“?

Konzentrier dich, Beth.

„Ein Autounfall.“

Rob nickte.

„Ich bin gefahren.“

Er zögerte. „Ja.“

Sein Gesicht war grimmig. Was verschweigt er mir? Hatte sie den Unfall verursacht? War sonst noch jemand verletzt?

„Okay …“, sagte sie und wartete darauf, dass er fortfuhr, aber er tat es nicht.

Er schaute wieder auf den Boden. Ob er nach Worten suchte, die sie nicht beunruhigten?

Was hatte sie getan? Ihr Atem ging schneller.

„Waren noch andere Autos beteiligt?“

Er nickte. Mehr nicht.

Sie sollte nachfragen. Aber was? Vielleicht würden bestimmte Dinge Erinnerungen wecken, ein Ort zum Beispiel. „Wo war der Unfall?“

Rob schluckte. Es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu sprechen. Natürlich – er hatte fast seine Frau verloren. Und in gewisser Weise hatte er das auch: Ihr gemeinsames Leben war aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

„Es war die Fen Road. Die mit den Gräben auf beiden Seiten.“ Er sah sie erwartungsvoll an. Als ihre Miene ausdruckslos blieb, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Wirklich? Du erinnerst dich an nichts?“ Er klang fast verärgert. „Du hast diese Straße gehasst, und ich habe es immer abgetan und gemeint, da würde schon nichts passieren. Aber jetzt? Das ist meine Schuld.“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen.

Plötzlich tat er ihr leid, und sie streckte die Hand nach ihm aus. War das Liebe? Oder einfach nur Mitgefühl für jemanden, der offensichtlich litt?

„Was meinst du damit? Du warst doch nicht dabei.“

Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich war nicht dabei, aber du bist bei mir losgefahren. Ich habe dir gesagt, du sollst die Abkürzung nehmen und dir vorgeworfen, du übertreibst. Und dann kam ein Schlagloch. Hinter dir war ein unaufmerksamer Fahrer und ein anderer kam viel zu schnell von einer Kreuzung. Sie haben dich von der Straße gedrängt, direkt in den Graben. Du hättest ertrinken können.“

Beth erschauderte. Was auch immer sie sonst vergessen haben mochte, ihre Angst vor dem Ertrinken war geblieben. Als Kind hatte sie am Strand mit ansehen müssen, wie ein kleiner Junge auf einer Luftmatratze vom Wind über die Sandbank hinaus aufs offene Meer getrieben wurde. Seine Eltern hatten nichts bemerkt. Dann kam eine Welle und riss ihn von der Matratze. Er tauchte kurz wieder auf, verschwand, kam erneut hoch – und war plötzlich weg. Beth hatte ihre Mutter alarmiert und aufgeregt auf den Jungen gezeigt. Dann brach Panik aus.

Die Schreie der Mutter des Jungen hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt, ebenso wie die verzweifelten Wiederbelebungsversuche am Strand. Und das heisere Aufschluchzen, als klar wurde, dass alle Bemühungen vergeblich waren. Beth fröstelte, ihr wurde kalt. Das war der schlimmste Tod, den sie sich vorstellen konnte. Die Sehnsucht nach ihren Eltern wuchs. Beth drehte den Kopf von Rob weg und drückte sich in die Lehne des Stuhls.

Plötzlich erschien Sarah neben dem Bett. „Das ist zu viel auf einmal.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, sanft, aber unmissverständlich. „Ich glaube, wir alle könnten eine Tasse Tee vertragen. Beth? Möchten Sie etwas trinken? Ich kann Ihnen etwas Beruhigendes für den Hals holen.“

Beth nickte. Alles raste auf sie ein, zu viel, zu schnell. Die Welt wirkte verschoben, verdreht. Nichts gehörte mehr dahin, wo es sein sollte. Sie war wütend auf Rob. Er wusste alles. Seinetwegen hatte sie sich mit ihren Eltern zerstritten. Seinetwegen war sie diese Strecke gefahren. Sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe, ganz gleich, ob das fair war oder nicht.

„Rob“, sagte Sarah, „wären Sie so nett und würden etwas aus der Cafeteria holen? Ich könnte zwar Tee aus dem Automaten machen, aber den will wirklich keiner trinken.“

Rob wischte sich die Tränen weg, sammelte sich und nickte. „Ich bin gleich zurück.“

„Keine Sorge, ich laufe dir nicht weg!“, sagte Beth und versuchte, unbeschwert zu klingen, aber es klang sarkastisch.

Sarah blickte Rob nach und wandte sich wieder Beth zu. Mitfühlend neigte sie den Kopf. Die Geste erinnerte Beth so stark an ihre Mutter, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt.

„Liebes, ich wollte Ihnen nur sagen, dass das, was Sie gerade durchmachen und wahrscheinlich fühlen, in Ordnung ist. Normalerweise verlassen wir uns auf unsere Instinkte, doch wenn das Gedächtnis streikt, geraten die durcheinander. Das ist okay. Nehmen Sie sich Zeit. Sie können Ihrem Bauchgefühl trotzdem vertrauen.“ Sie sah zur Tür. „Auch in Bezug auf Menschen. Sie müssen vielleicht einiges neu lernen und manche Lücken füllen, aber wir sind für Sie da. Sie sind nicht allein. Kommen Sie, ich helfe Ihnen zurück ins Bett, ja?“

„Danke“, flüsterte Beth und ließ den Tränen freien Lauf, während sie sich wieder auf das Bett legte. Sarahs Freundlichkeit tat ihr gut. Beth hatte tausend Fragen, aber sie war so müde. Sie wollte nur schlafen und hoffen, dass das alles nur ein Albtraum war, aus dem sie aufwachen und in ihr Leben zurückkehren würde. Aber sie wusste nicht einmal, wie dieses Leben aussah. Der Schlaf zog sie schließlich wieder in seinen Bann.

Sie lächelte Sarah zu, die ihr die Hand tätschelte.

„Ich bin hier, okay?“, sagte sie und zog sich zurück, damit Beth sich ausruhen konnte.

Beth konnte nicht sagen, ob Sekunden oder Stunden vergangen waren, als sie Stimmen am Fußende ihres Bettes hörte. Sarah sprach mit einem Mann. Vermutlich Rob. Sie wollte die Augen öffnen, doch etwas in ihrem Tonfall hielt sie davon ab.

„Ich weiß, Sie wollen Ihre Frau zurückhaben, aber sie ist gerade erst aufgewacht. Sie hatten ein paar Tage Zeit, sich an die ganzen Veränderungen zu gewöhnen. Wir müssen Geduld haben.“

„Aber was, wenn sie fragt? Besonders wegen …?“

„Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Sie hat jetzt schon genug zu verkraften, und sie erholt sich noch. Wie die Ärzte gestern sagten, ist die Schwellung zurückgegangen. Körperlich geht es ihr viel besser, aber mental und emotional ist es noch zu früh, um etwas zu sagen. Sie ist sehr labil.“

„Ich kann mich um meine Frau kümmern. Sie ist alles, was ich habe.“

„Niemand sagt, dass Sie das nicht können, aber Sie dürfen diese Dinge nicht überstürzen. Emotionaler Stress kann die Genesung behindern. Wir müssen die Dinge langsam angehen. Behutsam und in ihrem Tempo. Geduld ist hier wirklich das A und O.“

Rob seufzte.

„Hören Sie“, sagte Sarah, „ich weiß, wie sehr Sie das alles mitnimmt. Ihr Leben hat sich von jetzt auf gleich völlig verändert, und damit müssen Sie erst einmal klarkommen. Aber Sie dürfen nichts überstürzen, nichts erzwingen …“

„Ich will doch nichts erzwingen. Ich …“

„So war das nicht gemeint. Schauen Sie, Beth schläft gerade und Sie sind auch erschöpft. Warum gehen Sie nicht nach Hause und ruhen sich aus?“

„Ich habe das Gefühl, als würde ich sie anlügen.“

„Nein, das tun Sie nicht. Ihr Zeit zu geben, um alles zu verarbeiten, ist keine Lüge.“

Er brummte eine Art widerwillige Zustimmung.

„Auch Sie müssen das verarbeiten. Gehen Sie und ruhen Sie sich aus. Ich bleibe hier bei ihr.“

„Okay. Sie rufen mich an, wenn sich etwas ändert?“

„Natürlich. Versprochen.“

„Danke.“

Beth tat ihr Bestes, so zu tun, als würde sie schlafen, während Rob etwas auf den Nachttisch legte. Es raschelte, dann quietschte leise der Stuhl, als er seine Jacke nahm. Sie wusste, dass sie mit ihm reden sollte, aber er war ein Fremder für sie. Schuld und Scham mischten sich mit der Erleichterung darüber, dass er gegangen war. Endlich musste sie nicht mehr so tun, als wäre sie jemand, der sie nicht war. Seine Frau? Sie kannte nicht einmal seinen Nachnamen. Ihren Nachnamen. Trotz Sarahs freundlichen Worten fühlte sie sich völlig allein.

Wer zum Teufel war sie?