Leseprobe Hinter der Tür | Ein fesselnder Psychothriller

Kapitel 1

Teil 1

 

Jetzt

Annie

„Wie bin ich hierhergekommen?“

Das ist meine neueste Marotte. Mit mir selbst zu reden. „Ich meine nicht physisch“, fahre ich fort, meine Stimme gedämpft durch die Bettdecke über meinem Kopf. „Ich weiß, wie ich hier gelandet bin, allein mit dreißig in einer Wohnung in Greenwich mit Schimmel, der meine Brustbeschwerden verschlimmert. Im Grunde kann ich mir mit meinem Gehalt in London nichts Besseres leisten. Assistenzärzte werden einfach nicht gut genug bezahlt.“ Wenn ich also frage, wie ich hierhergekommen bin, meine ich damit mental. Allerdings muss ich zugeben, dass es mir auch physisch nicht besonders gut geht. Meine Mitgliedschaft im Fitnessstudio ist seit 2015 abgelaufen, und das Gesündeste, was ich zu mir nehme, sind die Erdbeeren in meiner Frühstücksmarmelade.

Ich schäle mich unter der zickzack gemusterten Decke hervor und lasse meinen Kopf gegen das Kopfteil sinken, während ich das süße Katzenvideo auf meinem Handy wegklicke.

Sertralin braucht eine Weile, bis es wirkt, Annie. Aber hoffentlich geht es Ihnen dann besser, sagte die Hausärztin vor ein paar Wochen. Dann schickte sie mit einem mitfühlenden Kopfnicken das Rezept digital an Boots, ohne zu begreifen, dass es für mich schon eine Tortur ist, quer durch die Stadt zur Apotheke zu laufen.

Ich warte immer noch darauf, dass die Tabletten wirken. Darauf, wieder ich selbst zu sein. Die Person, die gerne unter Menschen war. Die ihren Job geliebt hat. Die mit einem Mann zusammen war, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Aber im Moment fühle ich mich lethargisch, mein Kopf ist benebelt, ich bin zu taub, um zu weinen. Vielleicht ist es genau das. Vielleicht ist es genau das, was die Ärztin beabsichtigt hat. Wenn ja, gefällt es mir nicht.

Ich werfe einen Blick auf die Digitaluhr auf meinem Nachttisch. Elf Uhr morgens. Schlaf ist seltsam. Sobald ich mein Kopfkissen berühre, egal wie spät ich ins Bett gehe, liege ich wach und sehe jede Stunde verstreichen – die fetten roten, fluoreszierenden Zahlen verspotten mich. Dann, gegen sieben Uhr morgens, beschließt mein Körper, dass es endlich Zeit ist, einzuschlafen, und nimmt mich mit auf eine Reise durch lebhafte bizarre Träume. Aber das ist egal. Ich muss nicht aufstehen. Ich habe mich krankschreiben lassen, bis ich ein Gespräch mit dem Team für psychische Gesundheit und Wohlbefinden habe. Ich will nicht lügen, es ist einsam unter dieser schwarzen Wolke. In meiner Wohnung regnet es in Strömen und hinterlässt überall Pfützen der Traurigkeit.

Ich nehme die Tasse von meinem Nachttisch, nippe an meinem Kaffee. Er ist kalt. Natürlich ist er kalt, ich habe ihn vor fünf Stunden gekocht. Ein unangenehmer Geruch von Not My Cats letztem Besuch steigt mir in die Nase. Der Vormieter hat eine Klappe in die Tür eingebaut, sodass die Katze meines Nachbarn oft hereinkommt, um den Blumentopf meiner Yucca als Toilette zu benutzen. Ich müsste die Klappe eigentlich verschließen, aber manchmal kommt die pelzige Katze abends vorbei, um zu kuscheln, und das mag ich, brauche das sogar, und die Yucca scheint es auch nicht sonderlich zu stören, ihre Blätter sind nur an den Rändern ein bisschen braun.

Ich lese einen Absatz aus meinem neuesten Download auf meinem Kindle. Lege ihn wieder beiseite. Ich sollte duschen. Ich habe seit drei Tagen nicht geduscht. Aber zuerst brauche ich eine Dosis heißes Koffein und vielleicht einen Schokoladenmuffin.

Zurück zur Frage: Wie bin ich hierhergekommen? Nun, ich glaube, es war eine Anhäufung von Dingen, die mich an diesen Punkt gebracht haben. Eine Affäre. Nicht meine. Ich würde niemals betrügen. Außer bei Brettspielen als Kind. Nein, es war die Affäre meines Ex. Obwohl es offenbar, laut ihm, meine Schuld war. Ich habe ihm nie genug Aufmerksamkeit geschenkt, habe immer meine Arbeit in den Vordergrund gestellt. Okay, da hatte er recht. Aber er hätte etwas sagen können. Mit mir reden, anstatt mit einer anderen ins Bett zu kriechen. „Hättest du mir zugehört, Annie?“

Es folgte der Umzug aus einer schönen Zwei-Zimmer-Wohnung in Finchley in diese Hölle, in der ich jetzt stecke. Die gute Nachricht ist, dass Brenda mit mir gekommen ist – nicht, dass mein Ex sie jemals besonders gemocht hätte. Er ist kein Katzenfreund. Die schlechte Nachricht ist, dass Brenda zwei Wochen nach unserer Trennung starb. Sie war sechzehn. Ich hatte sie als Kätzchen bekommen. Ich habe wochenlang geweint.

Obendrein waren die letzten fünf Jahre im Krankenhaus anstrengend, und obwohl ich dachte, ich hätte das einigermaßen unbeschadet überstanden, BÄMM! Vor sechs Wochen kam eine junge Frau wegen eines Anfalls in die Notaufnahme. Wir fanden inoperable Tumore in ihrem Gehirn. Ich riss mich zusammen, als ich es ihr sagte, obwohl ihre Augen groß und glasig wurden, als ich ihr die Nachricht überbrachte. Währenddessen saß ihre Mutter daneben, umklammerte die Hand ihrer Tochter, ihr Kinn zitterte. Ich hatte leider schon oft mit solchen Dingen zu tun gehabt, aber irgendwie war das anders. Frag mich nicht warum. Warum dieses Mädchen mich so aus der Bahn geworfen hat. Warum mein Körper auf ihren Schmerz reagierte, warum meine Augen sich mit Tränen füllten. Warum ich völlig zusammenbrach und meine Arbeitskleidung mit Tränen durchnässte.

Ich habe mich selbst immer wieder dafür verurteilt, damit niemand anderes es tun musste, und ich bin wirklich nicht stolz darauf, wie unprofessionell ich mich verhalten habe. Seitdem hat mich die Angst im Griff, sie drückt und drückt und lässt nicht locker – sie bringt mich um.

Okay, mein Leben ist nicht ruiniert, sage ich mir jeden Tag. Ich mache gerade nur eine schwere Zeit durch. Viele Menschen kämpfen mit ihrer psychischen Gesundheit. So ist es nun mal in der heutigen Welt. Es wird wieder besser werden. Das laute Herzklopfen, die Tränen, der Wunsch, mich einzuschließen und nie wieder rauszukommen – was zunächst nicht dadurch besser wurde, dass mein Pager mitten in der Nacht losging oder Anrufe aus der Notaufnahme auf mein Telefon umgeleitet wurden, von Leuten, die keine Ahnung hatten, dass ich ein nervliches Wrack bin – wird irgendwann verschwinden. Ich brauche einfach Zeit, um in die Spur zu kommen, dann werde ich zur Arbeit gehen, und alles wird wieder eitel Sonnenschein sein – nun ja, zumindest einigermaßen normal.

Ich quäle mich aus dem Bett, ziehe meine riesige gelbe Kapuzen-Decke über mich und schleppe mich aus meinem Schlafzimmer. Fast stolpere ich über den Saum, während ich in die Küche zur Kaffeemaschine gehe. Als ich durch den Flur schlurfe, entdecke ich einen Umschlag auf der Fußmatte und erkenne sofort die verschnörkelte Handschrift meiner Mutter – die Art, wie sie die i-Punkte mit Herzchen schreibt. Ich bücke mich, um ihn aufzuheben, und stöhne dabei wie ein Mann in seinen Neunzigern. Der Brief riecht nach Weihrauch – nach Mum. Ich reiße ihn auf, und eine Handvoll winzige goldene Feen flattert auf den Boden – wie Konfetti, das man auf Partys auf den Tisch streut. Ich ziehe den Brief heraus, lese ihre Worte und mein Herz wird schwer.

Dein Bruder hatte einen schweren Unfall. Bitte komm nach Hause.

Kapitel 2

Schneeflocken tanzen auf der Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer schwenken über das Glas. Ein Strom weißer Lichtstrahlen rast auf mich zu, Geisterlichter in der Dunkelheit, die mich desorientieren.

Ich komme nicht besonders gut damit zurecht, alleine nach Devon zu fahren. Selbst wenn ich in Topform bin, ist das Fahren über längere Strecken für mich genauso schlimm wie Fallschirmspringen oder eine Zahnbehandlung.

„Ich hasse Autofahren“, sage ich zu niemandem. „Und Autobahnen hasse ich besonders. Man sollte Pferde und Kutschen wieder einführen, finde ich. Klapp, klapp. Klapp, klapp.“

Ich hasse es wirklich, nach Devon zurückzukehren, um mich dem Unvorstellbaren zu stellen. Hassen ist ein heftiges Wort, hatte meine Mutter gesagt, als ich ihr unmissverständlich mitteilte, dass ich Falafel hasse.

Ich werfe einen Blick auf den cremefarbenen Umschlag auf dem Beifahrersitz. Mum hat es noch nie gemocht, zu telefonieren. Sie hat sich nie mit dem Internet angefreundet. Das wird der Untergang der Zivilisation sein, sagte sie, als ihre Freunde sich AOL anschafften. Sie schreibt Briefe. Egal, was passiert. Egal, wie traumatisch es ist. Man erfährt es von einem müde aussehenden Postboten in Shorts.

Die Bremslichter des Vordermanns blinken auf, gefolgt von den Warnblinkern. Ich bremse ebenfalls, die Reifen drehen durch auf dem festgefahrenen Schnee. Meine Yucca fällt auf dem Rücksitz um. Ich hätte sie unmöglich in London lassen können, sie würde Not My Cat niemals überleben. Ich schaffe es, anzuhalten, bevor ich auf den Volvo auffahre, mein Herz pocht. Vor mir ist ein Stau. In der Ferne blinken Blaulichter.

Ich bin vor drei Stunden losgefahren, obwohl ich die Wettervorhersage kannte. Ich wusste, dass es dunkel sein würde, bevor ich Ridgewater erreiche. Dass es in meinem derzeitigen Zustand der Unausgeglichenheit nicht einfach werden würde. Aber ich hatte keine Wahl. Bevor ich losfuhr, habe ich versucht, meine Mutter anzurufen. Sie hat einen Festnetzanschluss. Sie nahm nicht ab. Ich habe sie vor langer Zeit gefragt, warum sie immer noch das Telefon besitzt, das mein Vater installiert hat, obwohl sie es nie benutzt. Sie antwortete: Nur für den Fall. Für welchen Fall, weiß ich nicht. Um es klar zu sagen: Mum funktioniert nicht wie andere Menschen.

Ich drehe den CD-Player leiser. Ja, CD-Player. Ich verstehe Bluetooth, weiß, dass es kein Zahnproblem ist, aber wie meine Mutter mit ihren Briefen bevorzuge ich etwas Greifbares. Etwas, das ich in die Hand nehmen und sagen kann: Das ist meine Musikauswahl und ich werde sie immer haben, selbst wenn KI die Welt übernimmt. Die Leute halten mich für seltsam und erklären, ich sei wahrscheinlich die einzige Frau in den Dreißigern, die kein Spotify oder was auch immer nutzt. Aber das ist mir egal. Ich kann mich nicht ändern.

Der Verkehr kommt langsam in Bewegung, dann bin ich auf zwanzig Meilen pro Stunde und fahre an der Unfallstelle vorbei. Ich schaue nicht hin. Ich schaue nie hin. Wenn ich hinschaue, wird es real.

Mum weiß nicht, dass ich komme, weil sie nicht ans Telefon gegangen ist, also werde ich sie überraschen. Überraschung! Aber sie wird sicher wissen, dass ich auf die herzzerreißende Nachricht über Elliot reagieren werde.

Elliot ist mein älterer Bruder, und obwohl er Mums Liebling ist – er behauptet, das sei er nicht, aber er ist es –, habe ich ihn immer geliebt. Er lebt seit zwölf Jahren in den schottischen Highlands, ist einunddreißig und unverheiratet.

Laut Mums Brief ist Elliots Unfall sechs Wochen her; ich versuche nicht verletzt zu sein, dass sie mir das erst jetzt erzählt. Ihr Brief war kurz. Ein paar Zeilen, in denen sie mir die tragische Nachricht mitteilte, dass mein Bruder gelähmt ist und kein Wort mehr gesprochen hat, seit er am Fuße einer Klippe in Ridgewater Cove gefunden wurde. An derselben Stelle, an der Giselle Bancroft vor zwölf Jahren tot aufgefunden wurde.

Ich atme tief durch. Ist er gestürzt? Wurde er gestoßen? Ist er gesprungen? Nein, nicht Elliot! Elliot doch nicht.

Ich setze den Blinker, um an der nächsten Kreuzung von der M5 abzubiegen, und schalte herunter, als ich den Kreisverkehr erreiche. Jetzt ist es weniger als eine Stunde bis Ridgewater. Gott sei Dank, denn ich bin erschöpft.

Ich bin etwa eine Meile auf kurvigen dunklen Straßen unterwegs, fahre durch einen Tunnel aus Bäumen, deren Äste schwer von Schnee bedeckt sind, als mich die Hitze im Auto schläfrig macht und meine Augenlider schwer werden. Ich drehe George Ezra lauter und öffne das Fenster, sodass eine Schneewolke hereinweht. Ich überlege, anzuhalten und auszusteigen, um mir die Beine zu vertreten, aber die Gegend ist abgelegen. „Niemand würde mich schreien hören“, sage ich und drücke das Gaspedal durch, sodass die Reifen quietschen.

Als ich endlich vor dem Haus halte, in dem ich so viel Zeit meiner Kindheit verbracht habe, und die Handbremse anziehe, bin ich völlig erschöpft. Ich lasse meinen Kopf auf das Lenkrad fallen und schließe die Augen, weil ich einen Moment brauche, bevor ich mich dem stelle, was hinter der schweren Eichentür des Fairy Cottage auf mich wartet. Meine Mutter hat dem Haus diesen Namen gegeben. Sie glaubt an Feen. Als Elliot und ich Kinder waren, zeigte sie uns im Garten, wo sie lebten, und da wir viel kindliche Fantasie hatten, waren wir sicher, dass wir sie auch sehen konnten, wie sie über das Gras tanzten und auf Baumstämme und Pilze sprangen. Mum ist überzeugt, dass sie sie vor allem Bösen warnen und sie und unsere Familie beschützen. Ich frage mich, wo sie waren, als Elliot seinen Unfall hatte, als Papa starb, als eine ganze Reihe schrecklicher Dinge passierte.

Als ich in die weiterführende Schule kam, lernte ich schnell, dass es ein absolutes Tabu war, jemandem von den Feen zu erzählen. Als ich meiner besten Freundin Natalie Ford im Vertrauen davon erzählte, verbreitete sich das wie ein übler Geruch im Klassenzimmer und die beliebteren Mädchen fanden es zum Totlachen. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass meine Mutter bestenfalls exzentrisch sein könnte, schlimmstenfalls psychisch gestört, denn ich war mir doch sicher, dass ich die Feen auch gesehen hatte, oder? Aber vielleicht wollte ich meiner Mutter auch nur gefallen und meine Fantasie hatte den Rest erledigt. Für mich hatten sie sich echt angefühlt.

Das sind Libellen, sagte mein Bruder oft.

Danach versuchte ich zu verstehen, warum Mums Glaube an sie so eindeutig und unerschütterlich war. Sie erzählte mir, dass nur Blumenfeen zu Besuch kämen, es aber noch andere Feen gäbe: Baumfeen, Wasserfeen, Hausfeen und viele mehr, die sie noch nicht kennengelernt hatte. Ihre Augen leuchteten, wenn sie von ihnen sprach. Sie erklärte mir, dass viele Menschen daran glaubten, sich aber nicht trauten, darüber zu sprechen, weil sie Angst hatten, für verrückt gehalten zu werden. Aber zu glauben bedeutet, eins zu sein mit der Natur, der schönen Welt, in der wir leben … dass man an Wunder glaubt.

Trotz ihrer Worte habe ich nie wieder über den Glauben meiner Mutter gesprochen.

Jetzt öffne ich die Augen, richte mich auf und kreise meine schmerzenden Schultern. „Los gehts.“

Ein Streifen bernsteinfarbenes Licht dringt durch einen Spalt in den Vorhängen. Meine Mutter hatte immer doppelte Vorhänge, um die Wärme drinnen und das Böse draußen zu halten. Rauch quillt aus dem Schornstein. Im Kamin prasselt wahrscheinlich ein gemütliches Feuer.

Ich habe Mum seit etwa einem Jahr nicht mehr gesehen. Das letzte Mal waren wir mit Elliot zum Mittagessen in Covent Garden. Aber ich hatte nur ein paar Stunden Zeit, weil ich zurück ins Krankenhaus musste. Das bereue ich jetzt. Ich hätte mir mehr Zeit für die beiden nehmen sollen.

Ich atme tief ein, bevor ich die Autotür aufschwinge und auf den festgefahrenen Schnee trete. Ich ziehe meinen wadenlangen Mantel enger um mich und bleibe einen Moment stehen. Es ist zwölf Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Seit ich nach London gegangen bin, um Medizin zu studieren. Wieder überkommt mich ein Gefühl der Schuld, dass ich Ridgewater so lange nicht besucht habe.

Ich atme die kalte Seeluft ein, mein Blick schwenkt zum dunklen Himmel und dem verschwommenen Halbmond. Eine Erinnerung kommt hoch: Elliot und ich rennen die nahe gelegene Straße entlang, tragen Schwimmflügel und Flip-Flops, Handtücher um den Hals, können es kaum erwarten, zum Strand zu kommen und den Abhang hinunter ins salzige Wasser zu springen. Wir hatten eine schöne Zeit in Ridgewater Cove. Elliot kannte diesen Ort so gut, wie ist er nur am Fuße einer Klippe gelandet?

Das einzige andere Anwesen in der Nähe ist Sycamore House, ein weitläufiges Einfamilienhaus, das ich als Kind für etwas aus einem Gruselfilm hielt, aber jetzt sehe ich darin nur noch eine Tragödie. Die roten Backsteinmauern scheinen den Schmerz über Giselles Tod in sich zu tragen. Ich spüre ein Kribbeln im Nacken, als ich meinen Blick über die Silhouette des Gebäudes schweifen lasse. In einem Fenster im Erdgeschoss brennt Licht, aber der Rest des weitläufigen Hauses liegt im Dunkeln. Ich blinzele. Jemand schaut heraus, und ich frage mich, ob es Margot Bancroft ist, ob sie noch dort wohnt. Nach dem tragischen Tod ihrer jugendlichen Tochter würde ich es ihr nicht verübeln, wenn sie tausend Meilen weit weg leben würde.

Ich hole meine Yucca-Pflanze vom Rücksitz, versuche die verschüttete Erde auf den Schnee zu bürsten, und zerre meine Reisetasche aus dem Kofferraum. Ich hänge sie mir über die Schulter – die Tasche, nicht die Yucca – und schleppe mich zur Eingangstür des Fairy Cottage, wo ich innehalte, bevor ich klopfe, denn Erinnerungen kommen hoch: der Verlust meines Vaters, Giselles tragischer Tod.

Ich denke an Elliot, der drinnen so hilflos ist, und der Wunsch, wieder in mein Auto zu springen und wegzufahren, treibt mich zurück, während Panik in meiner Brust aufsteigt.

Aber die Tür öffnet sich und die Wärme des Häuschens umhüllt mich wie eine sanfte Umarmung. Und da steht sie: Florence Blake. Groß und schlank, mit kirschrotem Haar, das unordentlich auf ihrem Kopf aufgetürmt ist, in ihrem langen, fließenden violetten Kleid und flauschigen Hausschuhen. Sie sieht jünger aus als ihre sechzig Jahre, meine schrullige, verrückte, wunderschöne Mutter.

„Annie“, sagt sie, tritt auf die verschneite Türschwelle und umarmt mich. „Elliot wird sich so freuen, dass du gekommen bist.“

Kapitel 3

Ich stelle meine Reisetasche ab und ziehe meine Stiefeletten aus.

Mum schließt die Tür hinter uns und legt eine Zugluftrolle davor. Als ich meinen Mantel an die überfüllte Garderobe hänge, entdecke ich ihre Gartenjacke und Elliots Wollmantel. Ich schlucke schwer, um die Tränen zurückzuhalten. Das Letzte, was Mum jetzt braucht, ist, dass ich gleich nach meiner Ankunft zusammenbreche.

Sie berührt Elliots Mantel und drückt den Ärmel an ihre Nase. „Es ist seltsam“, sagt sie. „Er ist am Morgen seines Sturzes damit hinausgegangen, aber als man ihn fand, trug er ihn nicht. Ein paar Tage später lag er vor der Haustür.“

„Wer hat ihn dort hingelegt?“

Sie zuckt mit den Schultern und winkt mich zur Treppe – ein kleiner quadratischer Bereich, der durch einen Stapel sauberer Kleidung in einem Wäschekorb, der noch nach oben gebracht werden muss, noch kleiner wirkt. „Er wird sich freuen, dich zu sehen.“

Ich wäre früher gekommen, wenn du mich angerufen hättest, als es passiert ist.

Ich drücke meine Hand gegen die Wand, um mich zu stützen, meine Beine sind wie Pudding und drohen jeden Moment nachzugeben. Der Gedanke, meinen Bruder hilflos zu sehen, schickt Schmerzen durch meinen ganzen Körper. „Ich brauche einen Moment. Ich muss wissen, was passiert ist.“

„Natürlich. Ich hole dir etwas Warmes zu trinken, du musst von der Reise erschöpft sein.“ Sie geht in die Küche, rote Haarsträhnen fallen aus ihrem lockeren Dutt. „Setz dich. Ich setze Wasser auf“, fügt sie hinzu und deutet zur Wohnzimmertür.

Ich betrete den warmen Raum und nehme den intensiven Geruch des prasselnden Feuers und der brennenden Räucherstäbchen wahr. Es hat sich nicht viel verändert: Alice im Wunderland -Bilder an den Wänden, Kristalle und Feenornamente auf jeder Oberfläche, ein Regal voller Bücher, die von Theorien über das Leben nach dem Tod bis hin zu mythischen Kreaturen und Hexenprozessen reichen. Über dem Kamin hängt eine unglaubliche Holzschnitzerei des Grünen Mannes, die Elliot vor vielen Jahren angefertigt hat. Auf dem Kaminsims darunter stehen Fotos von Elliot und mir in verschiedenen Lebensphasen, aber keine Bilder von Dad. Nicht mehr.

„Setz dich bitte“, sagt Mum, die nach etwa fünf Minuten, die mir wie Sekunden vorkommen, wieder auftaucht und dampfende Tassen auf den überfüllten Couchtisch stellt. Sie dreht sich um und berührt meine Wange mit ihren rauen Händen. „Du siehst müde aus.“

„Bin ich auch. Es war eine lange Reise.“ Und ich bin vollgepumpt mit Antidepressiva, aber das sage ich nicht. Es scheint mir im Vergleich zu dem, was hier gerade passiert, unbedeutend. Sie wusste sowieso nichts von meinem Ex und ich werde ihr den Verlust von Brenda ersparen.

Sie reibt sich über den unteren Rücken, lässt sich mit einem Stöhnen auf das mit Decken übersäte Sofa sinken, nimmt ein plattgesessenes Kissen mit einem Igel darauf und legt es sich auf die Knie.

„Ist dein Rücken in Ordnung?“

„Er macht mir wirklich zu schaffen, wenn ich ehrlich bin. Elliot ist eine rechte Last.“

Sie schüttelt den Kopf. „O Gott, entschuldige, das wollte ich so nicht sagen.“ Sie hält einen Moment inne, als würde sie ihre Gedanken ordnen. „Er muss regelmäßig umgelagert werden und sein Pfleger kommt oft, aber ich mag den Gedanken nicht, dass dein Bruder so lange in einer Position liegt; er bekommt Druckstellen.“

„Du musst vorsichtig sein.“

„Ja, nun, er ist mein Junge, und ich werde tun, was ich kann.“

„Du könntest dich verletzen oder sogar Elliot wehtun. Um einen Patienten zu drehen, braucht man zwei Personen. Überlass das den Profis.“

Sie nickt, als wüsste sie, dass ich recht habe. Sie ist so blass, dunkle Ringe umgeben ihre großen irischen Augen. Nicht dass sie einen irischen Akzent hätte; ihre Eltern sind in den Sechzigern über die Irische See gekommen und lebten in East London, bis sie fünf war und ihre Mutter starb. Danach zog sie mit ihrem Vater und ihren beiden Brüdern nach Bedfordshire. Sie hat mir oft erzählt, wie sie ohne weibliche Vorbilder in ihrem Leben zu einem richtigen Wildfang wurde.

„Wie geht es ihm?“ Meine Stimme zittert. „Wie geht es Elliot?“

„Setz dich“, wiederholt sie. „Bitte.“

Als ich mich auf die Kante eines Ohrensessels setze, schüttelt sie den Kopf, Tränen füllen ihre Augen. „Er wurde am Fuße der Klippe unten in Ridgewater Cove von einem Hundebesitzer gefunden.“ Sie fährt sich mit der Hand über den Hals. „Wie durch ein Wunder hat er sich keine Knochen gebrochen und keine inneren Verletzungen davongetragen, aber wie ich dir in meinem Brief geschrieben habe, ist er gelähmt und spricht nicht.“ Sie zupft an der losen Haut um ihren Hals. „Während seines Aufenthalts ist er oft zum Strand hinuntergelaufen. Er war niedergeschlagen. Er war überhaupt nicht er selbst.“ Sie wischt sich eine Träne von der Wange und nimmt ihr Glas.

Ich presse mir die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zurückzuhalten.

„Hast du irgendeine Ahnung warum?“

Sie nickt. „Sein Laden oben in Schottland ging in die Insolvenz. Auch die Wohnung darüber – sein Zuhause – hat er verloren.“

„O Gott, er hat diesen Laden geliebt.“

„Er war sein Leben.“ Sie schüttelt den Kopf und stellt ihren Tee ab, ohne einen Schluck zu trinken. „Anscheinend hat sein Geschäftspartner …“

„Er hat einen Geschäftspartner?“ Warum wusste ich davon nichts? Warum hat er mir nichts davon erzählt? Aber die Antwort liegt auf der Hand. Mein Job stand immer an erster Stelle und hatte Vorrang vor allem anderen: meinem Bruder, meiner Mutter, meinem Ex … sogar meinem eigenen Wohlbefinden.

Hatte einen Geschäftspartner“, sagt sie. „Christer. Er tätigte ein paar dumme Investitionen und ist dann abgehauen, als alles den Bach runterging. Er hat Elliot in einem ziemlichen Schlamassel zurückgelassen.“

„Mistkerl!“

„Da stimme ich dir zu, aber Elliot hat ihm keine Vorwürfe gemacht. Jeder macht Fehler, meinte er.“

„Aber er ist abgehauen!“

„Aus Schuldgefühlen, vermute ich. Dein Bruder war schon immer zu gutherzig. Zu nachsichtig. Ich hätte den Kerl an seinen Weichteilen am Dachbalken aufgehängt.“

Mein Lächeln über ihren Versuch, witzig zu sein, hält nur Sekunden an. „Wann hast du davon erfahren?“

„Ich habe Elliot vor ein paar Monaten in London getroffen.“

Ich halte einen Moment inne, eine Schwere legt sich auf meine Schultern. „Habt ihr nicht daran gedacht, mir zu sagen, dass ihr euch trefft?“

„Das haben wir doch.“ Mums Gesichtsausdruck wechselt von Traurigkeit zu Enttäuschung. „Du konntest nicht kommen, weißt du noch? Etwas Wichtiges im Krankenhaus.“

Ich erinnere mich daran. Es gab immer einen Grund, warum ich mich selten mit meiner Mutter und meinem Bruder traf, selbst wenn sie nach London kamen.

„Er war an diesem Tag völlig fertig, so aufgebracht wegen des Ladens. Ich habe ihm gesagt, er solle für eine Weile nach Hause kommen. Zuerst zögerte er, aber er brauchte ein Dach über dem Kopf und jemanden, der sich um ihn kümmert. Ich weiß, dass er Ridgewater nicht mag, genau wie du …“ Ihre Augen treffen meine, wieder voller Traurigkeit. „Nun, er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Aber ich wusste, dass er eine Auszeit brauchte. Er mag zwar einunddreißig sein, aber er brauchte seine Mum. Er war vor seinem Unfall ein paar Wochen hier gewesen, um sein Leben in Ordnung zu bringen.“

Es folgt eine lange Stille, in der ich weitere Fragen stellen möchte, aber keine Worte finden kann. Ich nehme meine Tasse und umschließe sie mit meinen Händen, die Wärme ist wohltuend. Aber ich trinke nicht.

„Sie haben Röntgen- und Ultraschalluntersuchungen gemacht, Bluttests, alles“, sagt Mum und durchbricht die Stille. „Aber sie haben keinen Grund für seine Lähmung gefunden, keinen Grund, warum er nicht spricht. Tatsächlich vermuten sie, dass es psychologische Ursachen haben könnte.“

„Psychologische Ursachen?“ Was für eine tolle Familie wir doch sind: Man muss nicht verrückt sein, um hier zu leben, aber es hilft. Mein Puls beschleunigt sich. Depressionen können genetisch bedingt sein. Waren wir beide darauf programmiert, uns so niedergeschlagen zu fühlen? „Wenn es also psychologische Ursachen hat, kann er wieder gesund werden, oder?“

„Sie sind zuversichtlich.“ Mum presst ihre Knöchel gegen den Mund, eine Träne rollt ihr über die Wange.

Es überrascht mich nicht, dass Elliot niedergeschlagen war, das wäre wohl jeder, der sein Geschäft verloren hat und von jemandem enttäuscht wurde, dem er vertraute. Es ist nicht das erste Mal, dass er unter Depressionen leidet. Als Dad vor zwölf Jahren starb, hat er seinen Verlust nie wirklich überwunden, was noch dadurch verschlimmert wurde, dass Mum den Namen unseres Vaters im Haus verboten hat. Und als Giselle einen Monat später starb und Elliot von der Polizei befragt wurde, verstärkte das seine Depressionen. Obwohl sich ihr Tod als Unfall herausstellte, hat er die Angst vor den Verhören und den Blicken, wenn er durch Ridgewater ging, nie ganz überwunden. Dann nahm alles eine positive Wendung. Er reichte eine seiner Holzschnitzereien bei einem Wettbewerb ein und gewann. Während einer großen Zeremonie in Schottland nahm er seine Auszeichnung und das Preisgeld entgegen. Er verliebte sich in die Highlands, wo er sein Geschäft eröffnete und nie zurückblickte. Bis jetzt.

Endlich nehme ich einen Schluck von meinem Getränk. Ich zucke zusammen. Mum macht immer starken Tee. Ich blicke sie einen Moment lang an. Sie hat den Kopf gesenkt, lose Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht, während sie in ihre Tasse starrt.

„Der Spezialist hat seinen Zustand als Konversionsstörung bezeichnet.“ Sie sieht auf und trifft meinen Blick.

„Davon habe ich noch nie gehört.“

Sie schüttelt den Kopf. „Und du nennst dich Ärztin?“

Ihre Bemerkung trifft mich. „Ja, aber ich bin nicht auf psychische Störungen spezialisiert.“

„Nun, im Grunde gibt es keine Erklärung für Elliots Symptome. Keine bekannte Erkrankung, keine neurologische Krankheit, die sie erklären könnten.“

„Also was? Sie können nichts an ihm finden?“

„Genau. Aber er ist gelähmt und hat seit dem Unfall kein Wort gesagt. Seit sechs ganzen Wochen schweigt er. Es ist qualvoll, ihn so zu sehen.“

Tränen steigen mir in die Augen. „Wie zum Teufel willst du damit fertig werden?“, flüstere ich mir selbst zu.

„Entschuldigung? Hast du etwas gesagt?“

Ich schüttle den Kopf. „Nichts.“

„Ist alles in Ordnung? Du scheinst nicht ganz du selbst zu sein.“

„Ich mache mir nur Sorgen um Elliot, das ist alles.“

„Natürlich.“ Sie beugt sich vor und tippt mir auf das Knie. „Das tun wir alle.“

Ich nehme noch einen Schluck von dem starken Tee. „Wird er mich erkennen?“

„Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass er es nicht tun wird. Keinen Grund, zu glauben, dass er sich nicht völlig bewusst ist, was um ihn herum vorgeht. Und sie sind zuversichtlich, dass seine Symptome genauso schnell verschwinden werden, wie sie gekommen sind. Die neurologischen Physiotherapeuten kommen regelmäßig vorbei und achten darauf, dass er seine Muskelkraft behält, sodass er, sobald es ihm wieder besser geht, nun ja …“ Sie versucht optimistisch zu klingen. Das gelingt ihr jedoch nicht besonders.

„Das ist gut“, sage ich.

„Ja.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Nun, ich hoffe es. Aber das könnte noch Monate dauern oder sogar länger.“ Ihr vorgetäuschter Optimismus ist verflogen.

„Wie konnte das passieren?“ Meine Stimme bricht, und ich stelle das Getränk, an dem ich kaum genippt habe, ab, sodass Tee auf ein Naturmagazin tropft. „Entschuldige“, sage ich.

„Mach dir keine Sorgen.“ Mum war noch nie übermäßig auf ihr Zuhause bedacht, obwohl das Cottage sauber ist.

Hier wird gewohnt, sagt Mum immer.

Mein Körper beginnt zu zittern. Ich atme tief durch und versuche mich unter Kontrolle zu halten, weil ich Angst habe, dass Mum merkt, wie völlig nutzlos ich bin und ihr wieder einmal eine zusätzliche Last aufgebürdet habe.

„Natalie Ford war letzte Woche hier.“

Ich bin froh, dass sie das Thema wechselt, obwohl es mich überrascht, dass meine einst beste Freundin zum Fairy Cottage gekommen ist.

„Natalie? Ich dachte, sie hätte Ridgewater vor Jahren verlassen.“

„Das hat sie. Sie ist mit ihren Eltern nach Hertfordshire gezogen, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube, sie ist seit ein paar Monaten zurück.“

„Mit ihren Eltern?“

„Die sind tot.“

„Beide?“

„Ihr Vater ist vor einigen Jahren gestorben – an einem Gehirnaneurysma –, und ihre Mutter vor Kurzem, nachdem sie mehrere Jahre lang gegen den Krebs gekämpft hat.“

„Das ist schrecklich.“ Ich kämpfe mit meinen Gefühlen. Ich mochte Natalies Eltern nicht. Sie haben ihre Tochter während ihrer Teenagerjahre kontrolliert und ihr das Leben zur Hölle gemacht. „Und, wie geht es ihr?“

„Sie wirkte … ich weiß nicht … aufgewühlt. Und ich will nicht unfreundlich sein, aber sie sah ganz anders aus, und zwar nicht im positiven Sinne. Viel zu dünn.“ Sie fasst sich an die Haare. „Und all die schönen blonden Haare, die sie als Teenager hatte. Weg. Abgeschnitten. Schwarz gefärbt.“

Ich versuche mir ein Bild davon zu machen, aber es gelingt mir nicht. Ich sehe immer noch das schöne junge Mädchen vor mir, mit dem ich so viel Zeit verbracht habe. „Was wollte sie?“

„Sie wollte mit dir oder Elliot sprechen. Ich habe ihr gesagt, dass du in London bist und tust, was auch immer du in London tust …“

„Eine Ärztin sein.“ Wenn ich keinen Nervenzusammenbruch habe.

„Und dass Elliot einen Unfall hatte und momentan nicht in der Lage ist, Leute zu empfangen. Sie hat nicht einmal gefragt, wie es ihm geht.“

„Und du hast keine Ahnung, warum sie uns sehen wollte?“

Mum zuckt mit den Schultern. „Sie plapperte etwas davon, dass du dich vielleicht an etwas erinnern könntest, das vor Jahren passiert ist, aber sie hat sich nicht klar ausgedrückt.“

Natalie verließ Ridgewater mit ihren Eltern, als wir achtzehn waren. Im selben Jahr starben mein Vater und Giselle. Meine einst beste Freundin hatte vor ihrer Abreise aufgehört, mit mir und Elliot zu sprechen, und drehte sich um und ging in die andere Richtung, wenn sie uns sah. Wir haben nie erfahren warum. Nur dass ihr Schweigen auf eine durchzechte Nacht im Sycamore Wood folgte. Ich habe sie einmal angesprochen und gefragt, warum sie mich ignoriert, ob ich etwas getan habe, das sie verärgert hat, aber sie ist vor mir weggerannt, als wäre ich der Teufel. Wenn sie es damals nicht ertragen konnte, mit uns zu reden, warum jetzt?

„Wie auch immer“, sagt Mama, „sie ist Rezeptionistin beim Tierarzt in Ridgewater. Ich habe sie gesehen, als ich neulich einen der Igel dorthin gebracht habe. Der Kleine war aus dem Winterschlaf erwacht, und bevor du etwas sagst, ich weiß, dass so etwas passieren kann“, das wollte ich gar nicht sagen, „aber ich wollte mich vergewissern, dass es ihm gut geht.“

„Und war er das?“

„War er was?“

„In Ordnung? Der Igel?“

„Ja, alles in Ordnung.“ Mum streicht sich eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. „Du solltest hochgehen und nach deinem Bruder sehen. Bring es einfach hinter dich.“

Ich schüttle den Kopf. Ich will ihn nicht sehen, noch nicht. Dann wird es real. Ich will nicht, dass es real wird. Bitte zwing mich nicht, ihn zu sehen. Warum fühle ich mich wie zehn Jahre alt?

Sie stellt ihre Tasse ab, steht auf, nimmt meine Hand und zieht mich auf die Beine. Sie ist gut fünf Zentimeter größer als ich, und ich fühle mich klein neben ihr, obwohl ich einen Meter fünfundsechzig groß bin.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann“, sage ich. Aber sie lässt mir keine Wahl, sie zieht mich durch den Raum hinaus auf den Flur, wo sie stehen bleibt und mit traurigen Augen die Treppe hinaufschaut. Ich stehe neben ihr und betrachte den abgenutzten Teppich, das Geländer, das einen neuen Anstrich nötig hätte, die Bilder von Blumenfeen.

„Er hat einen Pfleger, den lieben Michael, der dreimal am Tag kommt und oft einen Assistenten mitbringt, der ihm beim Waschen und Umlagern hilft und so weiter“, erzählt sie und geht schließlich weiter, wobei sie meine Hand festhält, während ich ihr folge. „Sie haben vorgeschlagen, dass Michael hier einzieht. Hier ins Fairy Cottage. Aber das wollte ich nicht. An manchen Tagen ist es bei uns wie am Piccadilly Circus, mit Ärzten, Krankenschwestern, Physiotherapeuten, was auch immer, die ständig rein- und rausrennen. Aber das ist mir immer noch lieber, als wenn Elliot in einem Hospiz oder im Krankenhaus wäre. Das könnte ich nicht ertragen. Ich könnte ihn nicht allein lassen. Nicht meinen Jungen.“

Wir bleiben auf dem Treppenabsatz stehen, wo mir der Geruch von Desinfektionsmittel und Zitrone in die Nase steigt.

„Ich tue alles, was ich kann, Annie.“

„Ich weiß, dass du das tust, Mum.“ Ich lege meine Hand auf ihren Arm. „Er hat Glück, dass er dich hat.“

„Ich würde gerne einen Treppenlift einbauen lassen, damit er die Treppe runterkommen kann, und es war auch schon von einem elektrischen Rollstuhl die Rede. Aber das alles fühlt sich so langfristig an …“

„Na, hoffen wir, dass es ihm bald besser geht, dann braucht er beides nicht.“

„Es war für das Pflegeteam nicht einfach, ihn mit all seinen Bedürfnissen hierher zu bringen, und ich frage mich jetzt, ob ich ihn nicht lieber im Esszimmer hätte unterbringen sollen.“ Sie redet um den heißen Brei herum, bemüht, ihre Stimme ruhig zu halten, und scheint unseren Eintritt in sein Zimmer hinauszuzögern, jetzt, dawo wir hier oben sind.

Ein schmaler Lichtstreifen ist unter der Tür zu sehen. Ein Keramikschild mit einem kleinen roten Traktor sagt „Elliots Zimmer“. Mein Herz rast, mein Körper schmerzt. Sobald ich ihn sehe, gibt es kein Zurück mehr.

Mum drückt die Tür auf, geht vor und greift nach meiner Hand, drückt sie und zieht mich hinein.

Ich schnappe nach Luft. Ich hätte wissen müssen, was mich erwartet. Ich habe schon oft bettlägerige Patienten behandelt, aber das ist mein Bruder, und ich bin völlig unvorbereitet auf das, was ich erblicke.

Als wir aufwuchsen, sagten alle, mein Bruder und ich sähen uns ähnlich: dieselben dunklen Haare, dieselben blauen Augen wie Dad, Mums schmale, markante Nase. Aber als wir Teenager wurden, trug er seine Haare kurz und war immer brauner als ich, und unsere Ähnlichkeiten wurden weniger. Heute, wo er so regungslos in einem speziell ausgestatteten Bett liegt, sieht er mir überhaupt nicht ähnlich. Aber er sieht auch nicht wie der Elliot aus, den ich kenne. Er ist so still. So blass. So leblos. Ich lege meine Finger auf meine Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Ich darf nicht zusammenbrechen. Ich muss Mum davon überzeugen, dass ich stark und hier bin, um sie zu unterstützen. Um Elliot zu unterstützen.

Sie eilt durch den sterilen Raum und setzt sich auf einen der Plastikstühle neben ihm, hält seine Hand, aber ich kann mich nicht von der Tür wegbewegen, meine Augen wandern durch den Raum, der ihm als Junge gehörte. Ein großer waschbarer Teppich bedeckt den Boden. An einer Wand hängen noch die gerahmten Poster von Marvel-Helden, die er als Teenager aufgehängt hat, aber seine CDs und DVDs, seine Pokémon-Bettdecke, seine Harry-Potter- und Gänsehaut-Bücher sind alle weg.

„Annie ist da, mein Schatz“, sagt Mum leise an seinem Ohr, und mein Blick kehrt zu meinem Bruder zurück. Meinem schönen, hilflosen Bruder.

In seinen Augen ist Leben und er öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen. Aber was auch immer es ist, es bleibt in ihm gefangen. Sie haben ihn untersucht, aber keinen Grund gefunden, warum er gelähmt ist, warum er nicht spricht.

„Elliot“, sage ich, viel fröhlicher, als ich mich fühle, und mache einen Schritt nach vorn. Es sind die Infusion, der Katheter, aber vor allem die Magensonde, die mich so mitnehmen. Die Erinnerung daran, wie er sich mit Burgern und Pizza vollgestopft hat. Wie er gelacht hat, als er eine Flasche Bier ex getrunken hat. Oh, Elliot.

Mum sieht meinen Blick. „Hoffentlich ist es nur vorübergehend“, sagt sie und klopft auf den Platz neben sich.

Ich gehe zu ihm hinüber, setze mich neben Mum, der Stuhl knarrt in der Stille.

„Hey!“ Ich streichle seinen Arm, schaue zu meiner Mutter und flehe sie mit meinen Augen an, die Stille zu füllen, denn wenn ich etwas sage, werde ich weinen. Kann man spüren, wie das eigene Herz bricht? Ich glaube, das kann man.

„Es schneit“, sagt Mum und erhört meine Gebete. „Erinnerst du dich an den riesigen Schneemann, den du und Annie gebaut habt, als du etwa zehn warst?“

„Und ich habe geweint, als er geschmolzen ist“, sage ich und finde meine Stimme wieder. „Und du hast gemeint, der Schneemann sei magisch und würde nächstes Jahr wiederkommen.“

Elliot antwortet nicht, seine Augenlider flattern. Entschuldigung, wir haben geschlossen. Wenn ich noch einen Moment länger bleibe, verliere ich die Kontrolle über meine Gefühle, das weiß ich.

„Wir sprechen uns morgen wieder, Elliot“, flüstere ich und stehe auf.

Mum nimmt ein Buch von Dan Brown in die Hand. „Ich bleibe noch ein bisschen.“

„Mag er Dan Brown?“, frage ich und stelle mir vor, wie er einem Genre lauscht, das ihm vielleicht gar nicht gefällt, ohne protestieren zu können. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er schon schläft.

„Es lag bei seinen Sachen“, sagt sie und nickt in Richtung einer leeren Reisetasche am Fenster. „Obwohl er es vielleicht schon gelesen hat.“

Ich werfe einen Blick in die Ecke des Zimmers. Die Schranktür steht offen, ein rot-schwarz kariertes Hemd ragt heraus. Die Vorstellung, dass er es trug, als er seine Holzfiguren schnitzte, dreht mir den Magen um. Mein Blick fällt auf einige Pokémon-Aufkleber aus seiner Kindheit an der Schranktür. Unmöglich zu entfernen.

„Du musst dein Bett in deinem alten Zimmer machen“, sagt meine Mutter, als ich zur Tür gehe. „Bettlaken, Kissenbezüge und ein Bettbezug liegen im Wäscheschrank.“

Als ich das Zimmer verlasse, schaue ich noch einmal zurück und sehe, wie sie das Buch aufschlägt und zu lesen beginnt. Sie liebt ihren Sohn über alles. Aber was gäbe es auch nicht an ihm zu lieben? Mein Bruder war schon immer der Beste.

Kapitel 4

Ich stolpere über den Saum meiner Kapuzen-Decke und taumle mit den Händen in den riesigen Taschen in die Küche.

Mum dreht sich vom Gasherd um, auf dem der Wasserkessel steht, und fasst sich an die Brust. „O mein Gott, du hast mich erschreckt. Du siehst aus wie ein Mönch.“

„Seit wann tragen Mönche Gelb?“

„Dann eben eine Ente. Eine riesige gelbe Ente.“

Ich lächle. „Daisy oder Donald?“ Mein Blick fällt auf einen einsamen Blaubeermuffin auf der Arbeitsplatte. „Kann ich den haben?“

„Zum Frühstück? Annie, du musst auf dich achten. Es gibt Müsli, Obst und griechischen Joghurt.“

Ich kenne keines dieser Wörter. „Vielleicht später“, sage ich und beiße in den Muffin.

Es war seltsam, die Nacht in meinem Kinderzimmer zu verbringen, das Bett war viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Die verschneite Stille in diesem fast abgeschiedenen Teil von Ridgewater fühlte sich nach der Hektik Londons seltsam an. Ich hatte Mühe, einzuschlafen, aber das war nichts Neues. Letzte Nacht konnte ich nur an Elliot im Nebenzimmer denken, der so still dalag und über eine Sonde ernährt wurde.

Mums Blick wandert hinaus durch das Fenster und ich stelle mich neben sie. Ein Teil des Schnees ist verschwunden und eine blasse Sonne erhellt die Umgebung. Der Garten ist stellenweise absichtlich wild gehalten. Es ist ein wunderschöner Anblick, noch eindrucksvoller von den Fenstern im oberen Stockwerk, wo man den Sycamore Wood und in der Ferne die Ridgewater Cove sehen kann, wo raue Wellen gegen die Küste schlagen.

„Die Feen werden heute draußen sein“, sagt Mum. „Ich habe heute Morgen zwei gesehen; sie lieben den winterlichen Sonnenschein.“ Sie sieht mich an. „Hast du auf dem Weg nach unten nach Elliot geschaut?“

Ich schüttle den Kopf und wische mir eine Krume aus dem Mundwinkel. „Ich gehe später hoch.“

Die Wahrheit ist, dass ich vor fünf Minuten, als ich an seinem Zimmer vorbeikam, eine Welle der Panik verspürte und mich nicht traute, die Tür zu öffnen. Ich weiß, dass ich es tun muss. Dass er hören und denken kann und dass er bereits weiß, dass ich hier bin, und wenn ich nicht zu ihm gehe, wird er glauben, ich hätte ihn im Stich gelassen, dass er mir egal wäre.

Als wir beide eine Tasse Kaffee in der Hand halten und ich schnell meine Sertralin-Tablette geschluckt habe, ohne dass meine Mutter es sieht, gehen wir ins Wohnzimmer und setzen uns.

„Ich habe deine Yucca gegossen“, sagt sie.

„Danke, aber das war nicht nötig. Die muss nur alle zehn Tage gegossen werden.“

„Ich weiß.“ Natürlich weißt du das. „Aber sie sah so trocken aus.“

Um ehrlich zu sein, habe ich die arme Pflanze wahrscheinlich schon seit zwei Wochen nicht mehr gegossen. „Danke“, sage ich noch einmal.

„Sie riecht ein bisschen komisch. Ich habe sie wieder in den Schuppen gestellt.“

„Okay.“

„Vielleicht muss die Erde gewechselt werden. Das kann ich machen.“

„Zieh Handschuhe an.“

„Das mache ich immer.“

Wir schweigen einen Moment, aber meine Gedanken rasen, und ich sage: „Warum hast du mir so lange nichts von Elliot erzählt?“ Ich hatte mir geschworen, nicht zu fragen, aber jetzt, wo ich hier bin, kann ich mich nicht zurückhalten. Elliots Unfall ist sechs Wochen her; warum hat sie nicht einfach zum Telefon gegriffen und mich angerufen?

„Um ehrlich zu sein …“ Sie legt ein Kissen wie einen Schutzschild auf ihren Schoß und sieht mir in die Augen. „Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.“

„Was? Warum nicht?“

„Du warst seit deiner Abreise vor all den Jahren nicht mehr in Ridgewater. Dein Studium, dann deine Arbeit, das hatte immer Vorrang.“ Sie bricht den Blickkontakt ab. „Wenn wir nicht nach London gekommen wären, hätten wir dich nie gesehen.“

Ich verkrampfe mich. Sie hat recht. Als ich Ridgewater verlassen habe, war mein einziger Gedanke, mein einziger Traum, Ärztin zu werden. Ich weiß nicht, vielleicht hatte ich das Gefühl, meiner Mum etwas beweisen zu müssen, mir selbst. Und sieh, wie das ausgegangen ist.

„Ich bin doch jetzt hier, oder?“ Ich klinge schnippischer, als ich wollte.

„Ja, aber wie lange noch?“ Sie nimmt einen Schluck von ihrem Getränk. „Du bist immer so beschäftigt.“

„Ich kann eine Weile bleiben.“ Ich habe nicht vor, ihr zu sagen, warum, und dass ich unter dem Druck eines Jobs zusammengebrochen bin, von dem sie sicher nie geglaubt hat, dass ich darin erfolgreich sein würde. Aber Mum war auch nie beeindruckt davon, dass ich hart studiert habe, dass ich Doktor Annie Blake bin, mit einem Titel vor meinem Namen. Tatsächlich war sie immer mehr davon beeindruckt, dass Elliot ihr im Garten ein Igelschutzgebiet gebaut hat, dass er Holzskulpturen anfertigte und Gemüse und Kräuter anbaute. Die Feen lieben ihn. Bis zu einem gewissen Grad verstehe ich das. Mum war so jung, als ihre Mutter starb, dass sie sich nur daran erinnert, wie sie von ihrem Vater erzogen wurde. Sie erzählte mir einmal, wie sie mit ihren Brüdern auf der Straße Fußball oder Fangen spielte, bis die Sonne unterging. Dass sie sich in ihrer Jugend immer als „einer der Jungs“ gesehen habe – vielleicht war ihr eine Tochter fremd.

Ich lasse meinen Arm über die Stuhllehne hängen, sie streckt sich zu mir herüber und berührt meine Hand, ihre Augen glänzen.

„Der Facharzt hat erklärt, dass Elliot wegen des Sturzes so ist, wie er ist“, sagt sie, „aber dass er schon vorher depressiv war, hat es seinem Gehirn leichter gemacht, dem Trauma zu erliegen. Er bekommt Antidepressiva über die Infusion.“

Ich muss das Thema wechseln. Irgendetwas, um die dicken schwarzen Wolken zu vertreiben, die über uns schweben. „Ich habe gestern Abend Licht im Sycamore House gesehen. Wohnt Margot Bancroft noch dort?“

Mum wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und zieht ihre Hand aus meiner. Mit schroffem Ton fragt sie: „Warum bringst du sie ins Spiel?“

„Es hat mich nur interessiert, das ist alles.“ Okay, vielleicht sollte ich es besser wissen, als mit Mum über Margot zu sprechen. In Sycamore House ist Dad vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Tod war ein schrecklicher Schock, wenn auch nicht völlig unerwartet. Er hatte seit einiger Zeit Herzprobleme und in den Monaten vor seinem Tod von zu Hause aus gearbeitet und seinen Studenten über Skype Vorlesungen über theoretische Physik gehalten. Was schockierte, war, dass er halb nackt in Margots Wohnzimmer starb. Margot brach zusammen, gestand, dass sie eine Affäre hatten. Sie behauptete, es täte ihr unendlich leid. Sie flehte meine Mutter an, ihr zu vergeben. Das tat sie nicht.

Ich habe nie geglaubt, dass sie eine Affäre mit meinem Vater hatte. Ich weiß nicht so recht, wie ich seine unbekleidete Erscheinung oder Margots Geständnis erklären soll, aber er war nicht der Typ, der fremdging, außerdem war er zu dieser Zeit krank. Und trotz der Tatsache, dass er glaubte, alles könne mit Mathematik oder Physik erklärt werden und Feen nur Fantasieprodukte seien, waren meine Eltern, Richard und Florence Blake, Seelenverwandte. Sie blieben lange auf, hörten Vinyl-LPs – Fleetwood Mac oder Genesis –, unterhielten sich und lachten. Sie teilten die Liebe zur Tierwelt. Mein Vater, ein begeisterter Vogelbeobachter, saß stundenlang mit seinem Fernglas in seinem Arbeitszimmer und zeichnete die Vögel auf, die er im Sycamore Wood oder entlang der felsigen Küste sah. Oft erwischte ich meine Eltern dabei, wie sie auf ihren Spaziergängen in der Natur Händchen hielten oder sich heimlich küssten, wenn sie dachten, Elliot und ich würden nicht hinschauen. Ja, ich bin überzeugt, dass mein Vater keine Affäre mit der glamourösen Margot Bancroft hatte. Was auch immer der Grund für seinen Besuch im Sycamore House an diesem Tag war, das war es nicht.

Dad starb einen Monat, bevor Margots jugendliche Tochter Giselle tot am Fuße einer Klippe in der Ridgewater Cove gefunden wurde. Die Ironie, dass man Elliot an derselben Stelle fand, ist mir nicht entgangen. Zunächst wurde gemunkelt, dass Giselles vorzeitiger Tod Selbstmord gewesen sei, dann kamen Vermutungen auf, dass es sich um Mord handelte. Letztendlich entschied der Gerichtsmediziner, dass es ein Unfall war. Mum hat Margot nie ihr Beileid ausgesprochen, sie meinte, die Feen hätten ihr gesagt, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen habe, nachdem sie eine Affäre mit meinem Vater hatte. Dass die geflügelten Wesen glaubten, es gäbe Böses im Sycamore House und Margot sei eine böse Frau. Es half auch nicht, dass am Morgen, als Giselles Leiche gefunden wurde, die Polizei an unsere Tür klopfte und Elliot zu ihrem Tod befragte.

„Wenn du es unbedingt wissen willst“, sagt Mum jetzt und nimmt einen Schluck Kaffee. „Margot lebt immer noch dort. Ich meide sie, und das solltest du auch tun.“

Als Kind war ich Margot gegenüber misstrauisch. Sie hatte etwas an sich. Sie war wie eine schöne Königin aus einem Märchen, und ich war mir nie ganz sicher, ob sie wirklich so wunderbar war, wie sie schien. Ob sie vielleicht eine andere Seite verbarg. Ob sie sich in eine böse Hexe verwandeln könnte.

Nachdem wir ausgetrunken haben, stehe ich auf. „Ich gehe nach Ridgewater“, sage ich und überrasche mich selbst. Ist der Wunsch, nach draußen zu gehen, wirklich zurückgekehrt? Beginnen die Tabletten zu wirken? Oder hat es eher damit zu tun, dass ich dort weder Arbeitskollegen noch meinem Ex begegnen werde? „Ich brauche frische Luft.“

Ich verlasse das Wohnzimmer und gehe die Treppe hinauf, um zu duschen. Als ich an Elliots Zimmer vorbeikomme, lege ich meine flache Hand gegen die Tür und atme tief durch. „Wir sehen uns, wenn ich zurück bin“, flüstere ich, unterdrücke ein Schuldgefühl und versuche mir einzureden, dass ich meiner Mutter und meinem Bruder nicht helfen kann, wenn ich mich nicht um meine eigene psychische Gesundheit kümmere.

***

Obwohl die blasse Sonne die Gegend erhellt, liegt noch überall Schnee und mein Auto ist vereist. Ich setze meine Wollmütze auf, ziehe die Handschuhe an und mache mich auf den Weg vorbei am Sycamore House.

Es sieht aus wie immer: gotisch, weitläufig, prächtig. Ein unglaubliches Haus, das von Tragödien überschattet ist. Ich eile mit gesenktem Kopf vorbei, denn der Gedanke, mit Margot sprechen zu müssen, lässt mich erschauern. „Bitte sieh mich nicht“, flüstere ich und wage einen Blick auf die rechteckigen Fenster im Obergeschoss, die alle mit schweren Holzläden verschlossen sind.

Ich schaue wieder auf die unbefestigte Straße vor mir und beschleunige meine Schritte. Ich bin fast vorbei, als ich ihre Stimme höre. Mist!

„Annie!“, ruft sie, und ich drehe mich um und sehe sie auf der Türschwelle stehen und winken. Sie muss jetzt Ende vierzig, Anfang fünfzig sein. Schlank, grazil. Sie trägt eine weit geschnittene cremefarbene Satinhose und einen Kaschmirpullover. Ihr dunkles Haar ist zu einem perfekten Dutt hochgesteckt, und selbst aus dieser Entfernung sehe ich ihren scharlachroten Lippenstift. „Wie schön, dich zu sehen, Liebes. Es ist Jahre her.“

Zwölf, möchte ich sagen. Kurz nach Giselles Tod. Nachdem mein Vater in deinem Haus gestorben ist.

„Ich will in die Stadt“, rufe ich, obwohl ein Teil von mir am liebsten zurück zum Fairy Cottage laufen und nie wieder weggehen möchte.

„Komm bitte auf dem Rückweg vorbei“, ruft Margot, als ich mich zum Gehen wende. „Ich habe Kuchen gebacken.“

Ich möchte sagen, dass ich nicht kann. Dass ich beschäftigt bin. Aber sie hat die Fähigkeit, mich mit ihrem eleganten englischen Akzent und ihrer steifen, starken Ausstrahlung wie ein Kind fühlen zu lassen. Und es gibt noch etwas anderes, das mich zu ihr hinzieht. Die Teenagerin, die ihren Vater verloren hat, muss immer noch wissen, ob sie wirklich eine Affäre hatten.

„Okay“, sage ich, hebe meine Hand und drehe mich weg, um weiterzugehen.

Kapitel 5

Ich gehe über die wackelige Brücke, die über den hübschen Fluss führt, und fühle mich seltsamerweise wohl, draußen in der Natur zu sein. Ridgewater ist noch genauso schön wie damals, als ich klein war, und die frische Seeluft hilft mir, klar zu denken.

Links komme ich an meiner alten Grundschule vorbei. Als Kind habe ich es dort geliebt. Seit ich in der dritten Klasse war, sind Elliot und ich jeden Morgen die zwei Meilen vom Fairy Cottage zur Schule gelaufen und am Ende des Tages wieder nach Hause gerannt, die Rucksäcke auf dem Rücken, die Schnürsenkel offen, die marineblauen Pullover um die Hüften gebunden, egal bei welchem Wetter.

Gedanken an Giselle schleichen sich in meinen Kopf. Wie sie von ihrer Mutter zu Hause unterrichtet wurde. Ich erinnere mich, dass ich mich damals gefragt habe, wie das wohl sein muss. Heute weiß ich, dass sie sicher einsam war.

Im Alter zwischen fünf und elf Jahren war ich Giselles einzige Freundin gewesen. Wir spielten zusammen, obwohl ich immer auf den Garten beschränkt war und nie ins Haus durfte, nicht einmal zum Pinkeln – und manchmal musste ich ziemlich dringend. Ich erinnere mich, wie ich als Kind durch die Fenster schaute und die alte Dame, Joan, Giselles Großmutter, hinter dem makellosen Glas wie ein Phantom umherwandern sah, was mir unheimlich war. Einmal fragte ich Giselle, warum ich nicht ins Haus durfte, und sie sagte nur: „Ich habe dich sehr gern, Annie, das weißt du doch, aber Mutter meint, du bist immer schmutzig.“ Sie nahm meine Hände und zeigte auf meine mit Schlamm verkrusteten Handflächen und meine schmutzigen Fingernägel. „Sie und Großmutter mögen alles blitzblank, und du bist es nicht.“

Giselle durfte sich nie ans Meer oder nach Ridgewater begeben. Auch darin war Margot streng. „Die Welt ist ein gefährlicher Ort“, meinte Giselle einmal. „Das sagt meine Mum.“

Als Giselle kurz nach ihrem elften Geburtstag eine schlimme Hautkrankheit bekam, hörte sie auf, draußen zu spielen. Margot erzählte mir, dass Giselle keinem Sonnenlicht ausgesetzt werden dürfe, weil ihre Haut sonst heftig reagiere. Ich habe im Laufe der Jahre oft darüber nachgedacht und habe trotz meiner medizinischen Ausbildung immer noch keine Ahnung, was mit ihr los war.

Von da an sah ich meine Freundin nur noch, wie sie mir aus ihrem Schlafzimmerfenster zuwinkte, wenn ich vorbeiging. Ich hatte großes Mitleid mit ihr, war aber auch erleichtert, was mich jetzt, wenn ich daran denke, gemein erscheinen lässt. Mit elf Jahren war Giselle noch glücklich, mit Spielzeug zu spielen, darunter die meiner Meinung nach gruseligsten viktorianischen Puppen, die ich je gesehen hatte. Zu dieser Zeit begann ich mehr zu wollen, als nur in ihrem Garten zu spielen, und freundete mich mit Natalie Ford an, einem der hübschen, beliebten Mädchen in meiner Klasse.

Ich erreiche den Secondhand-Buchladen, in dem ich als Kind so viel Zeit damit verbracht habe, nach Romanen von Jacqueline Wilson zu suchen. Heute bin ich auf der Suche nach den Gänsehaut-Büchern, die Elliot als Teenager so gerne hatte. Die werde ich ihm vorlesen.

Ich drücke die Tür auf und erkenne sofort den muffigen Geruch gebrauchter Bücher. Ich war eine begeisterte Leserin, bis ich meine Ausbildung zur Ärztin begann, und ich verspüre einen Anflug von Traurigkeit, dass ich in den letzten zwölf Jahren kaum Zeit zum Lesen von Belletristik fand. Oft habe ich mir mit guten Vorsätzen ein Buch auf meinen Kindle heruntergeladen, es aber nie zu Ende gelesen. An einer Pinnwand neben der Tür hängt ein Schild, auf dem eine Vollzeitstelle als Mitarbeiterin ausgeschrieben ist, und ich stelle mir kurz vor, wie es wäre, hier zu arbeiten. Anstelle des Drucks in der Notaufnahme wären meine einzigen Sorgen, die Regale aufzufüllen und mit Kunden über Bücher zu diskutieren. Natürlich würde das einen enormen Gehaltsverlust bedeuten und die Verschwendung jahrelanger harter Arbeit, aber was ist das schon im Vergleich zum Preis meiner geistigen Gesundheit?

Ich finde ein paar Klassiker von R. L. Stine für Elliot und nehme mir ein Buch von Kate Atkinson. Mich in den Seiten zu verlieren und meine rasenden Gedanken auszublenden, könnte genau das sein, was ich jetzt brauche. Ich bezahle und mache mich auf den Weg zur Tierarztpraxis in der Clifton Street. Ich muss mit Natalie reden und herausfinden, warum sie zum Fairy Cottage gekommen ist. Warum sie mit mir und Elliot sprechen wollte. Warum sie nach all den Jahren ihr Schweigen gebrochen hat.

***

„Ich fürchte, Natalie ist heute Morgen nicht da.“

Die junge Frau an der Rezeption der Tierarztpraxis wirkt erschöpft und hält eine Handvoll Papiertücher in der Hand. Hinter mir warten drei Hunde, zwei Katzen in Körben und eine Rennmaus auf einen Termin beim Tierarzt. Eines der Tiere hat auf den Boden gepinkelt. Die Pfütze muss von einem der Hunde stammen, denn für eine Rennmaus ist sie viel zu groß.

„Sie arbeitet nur samstags.“ Die Frau starrt mich durch ihre runde Brille an. „Kann ich Ihnen sonst noch helfen?“ Sie versucht höflich zu sein, aber es gelingt ihr nicht ganz.

Ich schüttle den Kopf. „Ich habe keine Tiere. Nicht im Moment. Meine Katze ist gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Und Not My Cat ist nicht meine Katze, sie ist sowieso in London und ziemlich gesund, wenn man ihr … ach, egal.“

Das Mädchen ballt die Papierhandtücher in der Faust und macht große Augen. Ich verstehe ihre Verwirrung. Ich weiß nicht, warum ich das Bedürfnis hatte, ihr zu erzählen, dass ich keine Haustiere habe, aber ich bin ja auch nicht ich selbst.

„Sie wissen vielleicht nicht, wo Natalie wohnt?“, frage ich. „Ich bin eine alte Freundin, gerade wieder in der Gegend.“

„Ich fürchte, diese Information kann ich Ihnen nicht geben. Das ist vertraulich. Und ich sollte wirklich …“ Sie deutet auf die Pfütze.

„Nein, natürlich nicht. Machen Sie weiter.“

„Ich kann ihr sagen, dass Sie hier waren.“ Sie kommt hinter dem Schreibtisch hervor.

„Nein, schon gut. Danke für Ihre Hilfe.“ Ich drehe mich um, mache einen Schritt nach vorn, rutsche auf der Pfütze aus und gleite ein Stück, bevor ich mithilfe der Rückenlehne eines Rollstuhls, auf dem ein Mann mit einer roten Katze auf dem Schoß sitzt, mein Gleichgewicht wiederfinde. Ein Labrador-Mischling hält das für ein Spiel und springt auf mich zu, wedelt mit dem Schwanz und hinterlässt Urin-Pfotenabdrücke auf meinem Mantel.

„Jasper!“, ruft eine Frau, steht auf und zieht den Hund weg, während ein lebhafter Jack Russell bellt.

„Trixie?“ Eine Tierärztin in grüner OP-Kleidung ist erschienen, und der Mann im Rollstuhl fährt quer durch den Raum auf sie zu.

Ich verlasse schnell den Raum durch die automatischen Türen, die kalte Luft trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sollte die lustige Seite sehen, über mich selbst lachen, aber stattdessen renne ich um die Ecke des Gebäudes, außer Sichtweite, und weine. Nein, das ist kein Weinen. Ich schluchze. Mein Körper schüttelt sich, während ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch fummele. O Gott, ich muss mich zusammenreißen. Elliot wird es wieder gut gehen. Ich weiß, dass es so sein wird. Ich muss stark und positiv sein – für ihn, für Mum. Ich atme tief durch, tupfe mein Gesicht mit dem zerknüllten Taschentuch ab, komme aus meinem Versteck heraus, um schnell zum Cottage zu gehen.

***

Margot schaut aus einem Fenster im Erdgeschoss des Sycamore House, als ich mit den Büchern unter dem Arm vorbeigehe. Innerhalb weniger Augenblicke öffnet sie die Haustür und eilt mit einer theatralischen Geste den Weg herunter. „Annie, meine Liebe!“

Wir treffen uns am schmiedeeisernen Eingangstor und sie küsst mich auf beide Wangen, wobei mir der starke Geruch von Puder und Parfüm in die Nase steigt. „Schön, dich zu sehen, Liebes. Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du trägst immer noch so gerne Jeans. Und diese langen, glatten Haare. Hast du nie daran gedacht, sie ein bisschen aufzuhellen? Oder Lockenwickler zu benutzen … mit ein paar Locken würdest du bezaubernd aussehen.“ Sie legt ihre Hand auf meinen Arm, ihre Nägel sind wunderschön manikürt und tiefrot lackiert. „Hast du ein paar Minuten Zeit? Ich würde mich so gerne mit dir unterhalten.“

Mir fällt keine Ausrede ein, ohne unhöflich zu sein, also folge ich ihr wie ein braves Kind den Weg hinauf, werfe Blicke auf das Fairy Cottage und bete, dass Mum mich nicht mit der Frau, die sie für die Geliebte meines Vaters hält, in das Sycamore House gehen sieht.