Kapitel 1
»War … es okay für dich?«, fragt Moritz sanft, während seine Hand über meine Seite gleitet.
»Es war perfekt«, hauche ich und fahre mit den Fingern durch seine dunklen Haare. Tränen steigen in meine Augen. Nicht aus Schmerz, sondern weil es sich unglaublich anfühlt, mit ihm geschlafen zu haben. Ich könnte vor Glück zerspringen.
Langsam, fast zögerlich, löst er sich von mir, atmet tief durch und rollt sich auf die schmale Isomatte unter uns.
Der Zeltstoff raschelt leise im Wind. Draußen zirpen Grillen, als wäre nichts geschehen.
»Ist das eben wirklich passiert?«, frage ich lächelnd und verschränke meine Finger in seinen.
Moritz zieht den Schlafsack über unsere nackten Körper. »Ist es. Und weißt du was?« Er dreht den Kopf zu mir und grinst schief. »Ich hätte es mit keinem anderen Mädchen gewollt als mit dir.«
***
In den frühen Morgenstunden wache ich auf. Moritz’ verwuschelter Hinterkopf zaubert ein Lächeln auf meine Lippen. Seine Atmung gleicht dem Schnurren eines zufriedenen Katers.
Im Zeitlupentempo öffne ich erst den Reißverschluss des Schlafsacks, gefolgt von dem des Zeltes. Auf allen Vieren krieche ich nach draußen. Die harte Erde schmerzt unter meinen Knien. Wie lange ist es her, dass es geregnet hat? Die Luft ist nach dieser lauen Sommernacht noch immer schwül, und ich streiche mir eine schweißnasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
Barfuß wate ich durch das hohe Gras, das an meinen Fußsohlen kitzelt. An der Uferkante bleibe ich stehen. Die Morgensonne malt einen goldenen Schimmer auf die Wasseroberfläche des Chiemsees. Die Vögel sind schon wach und begrüßen mit einem Zwitschern den beginnenden Tag.
Als ich mich an die vergangene Nacht zurückerinnere, klopft mein Herz schneller. Meinen Eltern gegenüber hatte ich behauptet, dass ich mit den Pfadfindern am See übernachten würde – was gelogen war. Ja, ich weiß: Lügen ist nicht okay. Doch ich habe es trotzdem getan. Und natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Wirklich! Allerdings hat die Lust auf das gemeinsame Abenteuer mit Moritz überwogen.
Ich blicke auf das Zelt, das wir gestern verbotenerweise auf der großen Wiese eines Bauern aufgeschlagen hatten. Ein Campingplatz, auf dem die Zelte wie Ölsardinen nebeneinanderstehen, wäre nichts für uns gewesen. Wir wollten schließlich ganz für uns sein.
Romantischer hätte ich mir mein erstes Mal nicht erträumen können. Bei der Erinnerung wandert ein wohliger Schauer über meinen Rücken. Dort, wo Moritz mich geküsst hat, prickelt es noch immer auf meiner Haut. Mit dem Zeigefinger fahre ich langsam die Konturen meiner Lippen nach und schließe die Augen.
»Guten Morgen, Babe!«, raunt Moritz verschlafen in mein Ohr.
»Ich habe dich gar nicht kommen hören«, sage ich und drehe den Kopf zur Seite.
»Im Schleichen bin ich Meister.« Er schlingt von hinten beide Arme um mich. »Die Nacht war ein Traum, Babe«, flüstert er. Seine Worte veranstalten einen aufregenden Tanz in meinem Herzen.
Er drückt mir einen sanften Kuss auf die Wange und lehnt seinen Kopf an meinen. Gemeinsam betrachten wir das Glitzern des Chiemsees.
»Sie war besser als ein Traum«, sage ich. Sofort kehrt das Kribbeln der Nacht in meinen Bauch zurück. Dass es auch sein erstes Mal war, fühlt sich für mich besonders an. Einzigartig! Das wird uns auf ewig verbinden – wie ein untrennbares Band.
»Du bist das tollste Mädchen, das mir je begegnet ist, Lissy. Mein Mädchen.« Wie ich es liebe, dass er mich nicht Melissa nennt, sondern seinen eigenen Spitznamen für mich erfunden hat.
Meine Augen füllen sich vor Freude mit Tränen. »Für mich ist es, als wäre unser Glück unendlich wie der Himmel über uns.« Ich schlucke.
Moritz löst sich von mir und dreht mich zu sich, sodass wir uns gegenüberstehen. Mit dem Daumen wischt er die Tränen von meiner Wange. Er blinzelt mit seinen unglaublich blauen Augen gegen die Morgensonne. Leicht wie eine Feder streift sein Blick meinen Körper. »Und so wird es immer sein, Lissy. Unendlich wie der Himmel …«
»… und tief wie der Chiemsee«, füge ich mit einem Lächeln hinzu.
Er löst sich von mir und schlägt die Hände auf seine Schenkel. »Du meine Güte, das klingt wirklich schmalzig.« Womit er recht hat.
Trotzdem umhüllen mich seine Worte wie warmer Sommerregen. Noch nie hat mir ein Junge auf diese Weise seine Gefühle gestanden. Gut, mit sechzehn Jahren ist das vermutlich nicht verwunderlich. Moritz ist schließlich der Erste, der sich ernsthaft für mich interessiert, und ich mich für ihn. Was für ein Glück, dass es so gekommen ist. Mit ihm ist mein Leben perfekt. Moritz ist genau der Richtige für mich.
Er zieht mich eng an seine Brust. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt.
»Was hältst du davon, wenn wir uns eines Tages genau hier ein Haus bauen?«, fragt er.
»Hier? Auf dieser Wiese?« Ich verziehe das Gesicht und lache. »Glaubst du nicht, dass der Bauer da ein Wörtchen mitzureden hat?«
»Spielverderberin!« Er grinst und stupst mich sanft. »Warum träumst du nicht ein wenig mit mir, Babe.« Ich mag es, wie Moritz Pläne für unsere Zukunft schmiedet. Er meint es wirklich ernst mit mir.
»Also, was denkst du?«, fragt er.
»Ich sag jetzt einfach mal: Ja!« Kichernd schmiege ich mich an ihn. Ich werde ihn nie wieder loslassen.
In dieser innigen Umarmung sehen wir gemeinsam aufs Wasser. Ich genieße unsere Verbundenheit, während unsere Worte verstummen.
Als ich nach einer Weile zu ihm aufsehe, geht sein Blick ins Leere und sein Körper versteift sich.
»Was ist los mit dir?«, frage ich. Eben war noch Wärme zwischen uns und jetzt wirkt er ganz weit weg. Ich schiebe ihn von mir.
Er schüttelt den Kopf, als wolle er sich von unliebsamen Gedanken befreien. »Ach nichts«, sagt er und seufzt.
»Nach nichts sieht dein Gesichtsausdruck allerdings nicht aus.« Mein Herzschlag beschleunigt sich. Er wird doch nicht unsere gemeinsame Nacht infrage stellen oder seine eben gesagten Worte? »Bitte Moritz«, wispere ich und packe ihn an beiden Armen, »sprich mit mir. Bereust du …«
»Nein«, unterbricht er mich sofort. Er macht eine längere Pause, bevor es aus ihm herausplatzt. »Es ist so … mein Vater …« Er stockt. »Er ist in letzter Zeit seltsam.«
Ich runzle die Stirn. »Inwiefern?«
»Keine Ahnung.« Sein starrer Blick folgt den weißen Wolken am Himmel. »Als ich ihm gestern sagte, dass ich zelten gehe, wollte er es mir glatt verbieten.«
»Wirklich? Aber du machst das doch öfter mit deinen Freunden.«
»Ja eben.« Er zuckt mit den Schultern. »Und nachdem ich trotzdem meine Sachen zusammengepackt hatte, hat er glatt gefordert, dass ich um zehn Uhr wieder zu Hause sein muss.« Er reißt die Hände in die Höhe. »Dabei hatte es ihn noch nie interessiert, wenn ich mal bei einem Kumpel übernachtet habe oder spätabends heimgekommen bin.«
Ich verziehe die Lippen zu einem Strich. »Jetzt habe ich dich in Schwierigkeiten gebracht. Du hättest doch was sagen können, dann hätten wir gestern nicht …«
Er winkt ab. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich hätte unsere Übernachtung abgeblasen? Dafür bist du mir viel zu wichtig. Es ist ja nicht nur, dass er zu mir seltsam ist. Er spricht auch kaum noch mit meiner Mutter.« Moritz presst die Lippen aufeinander. »Und wenn doch, dann schreit er sie an.«
Ich schlinge meine Arme noch fester um ihn. »Ach, Moritz. Warum hast du mir denn nicht früher davon erzählt?«
»Scheiß Beziehungen«, murrt er und löst sich von mir.
»Hey, sag so etwas nicht.«
Er bückt sich nach einem Stein und schmettert ihn über das Wasser.
»Sieh uns an.« Ich deute auf ihn und mich und lächle aufmunternd.
»Du hast ja recht, sorry! Ich wollte meine Laune nicht an dir auslassen.« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Das mit uns ist sowieso einmalig.« Wie zum Beweis umfasst er meinen Nacken und küsst mich. »Zwischen uns darf niemals etwas kommen, hörst du?«
»Niemals! Ich verspreche es dir.«
Er wirft noch einen weiteren Stein, bevor wir zurück zum Zelt schlendern. Seine Kappe liegt in der Wiese. Er schnappt sie und setzt sie mir auf. »Sieht nicht übel aus.«
»Darf ich sie behalten? Als Erinnerung an unsere erste Nacht?«
Er grinst schief und in seiner Wange bildet sich das Grübchen, das ich so an ihm liebe. »Von mir aus. Ich hänge nicht dran. Aber halte sie in Ehren, ja?« Er umfasst meine Hand und streichelt mir mit dem Daumen über den Handrücken, bevor er den Schlafsack aus dem Zelt zieht.
»Treffen wir uns heute Abend wieder?« Ich lege den Rucksack zur Seite und rolle die Isomatte zusammen.
»Logisch!«
***
Nervös wie bei unserem ersten Date vor drei Monaten warte ich am Brunnen im Priener Kurpark auf Moritz. Er ist seit einer halben Stunde überfällig. Zum gefühlt hundertsten Mal blicke ich auf mein Smartphone-Display. Es ist keine neue WhatsApp-Nachricht eingegangen. Wir hatten doch achtzehn Uhr ausgemacht. Wo bleibt er nur? Hat er es sich anders überlegt? Nein, das würde er nicht. Nicht nach der vergangenen Nacht. Erneut lese ich seine WhatsApp-Nachricht vom Vormittag.
Ich vermisse dich schon jetzt.
Allein dieser kurze Satz hat mir bestätigt, dass er genauso empfindet wie ich. Dass er das, was er heute Morgen zu mir gesagt hat, ernst gemeint hat. Doch warum ist er immer noch nicht hier? Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere.
Wo bleibst du?
Es kommt keine Antwort. Nicht nur das: Unter der Nachricht erscheint lediglich ein einziger Haken. Offensichtlich hat er sein Smartphone ausgeschaltet. Mittlerweile pocht mein Herz unregelmäßig, und ich lege mir die Hand auf den Brustkorb.
Als um neunzehn Uhr weiterhin jede Spur von ihm fehlt, verwandelt sich das anfangs freudige Kribbeln in meinem Bauch in ein unangenehmes Ziehen. Frustriert kicke ich einen Stein zur Seite, der mir im Weg liegt.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Warum ist er nicht gekommen? Was, wenn ich mir alles eingebildet habe und er mir heute Nacht etwas vorgespielt hat? Doch da waren diese Blicke – sie wirkten so ehrlich. Oder nicht?
Ich stampfe mit dem Fuß auf. Schluss damit! Es macht keinen Sinn, mir die wildesten Theorien zusammenzuspinnen. Ich werde jetzt mit ihm sprechen.
Entschlossen, dennoch voller Anspannung marschiere ich durch die Straßen. Je näher ich zu seinem Haus komme, desto aufgeregter werde ich. Meine Beine tragen mich zwar den Weg entlang, aber irgendetwas bremst mich. Automatisch verlangsame ich den Schritt. Was, wenn er mich nicht wiedersehen will? Was, wenn er mit seinen Kumpels im Garten sitzt und sie über mich ablästern?
Ein dicker Kloß hat sich in meinem Hals gebildet, aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. An der Haustür angekommen, wippe ich mit den Füßen auf und ab. Ich atme tief durch und drücke auf den Klingelknopf. Nebenbei lege ich mir die passenden Worte zurecht. Ich puste Luft durch den offenen Mund, während ich die Tür anstarre.
Es macht niemand auf. Also läute ich erneut und presse die Hände aneinander.
»Hey, du!«, vernehme ich hinter mir eine Stimme.
Ich drehe mich um. Ein älterer Herr mit Krückstock humpelt auf mich zu. »Willst du zu den Schäfers?«
»Ja, richtig. Genau genommen zu Moritz Schäfer«, antworte ich und kaue auf meiner Unterlippe.
Er deutet mit dem Kinn auf das Haus. »Die wohnen nicht mehr da.«
»Wie bitte? Das kann nicht sein.« Dieser Mann muss sich irren. Moritz lebt schon immer mit seinen Eltern hier. Zur Sicherheit prüfe ich den Namen auf dem Klingelschild. »Doch, er wohnt da. Hier steht es: Schäfer.«
»Weiß ich. Lesen kann ich selbst. Aber seit heute Nachmittag wohnen sie nicht mehr da.«
Ich fühle Dinge, die ich nicht fühlen will. Mein Mund wird trocken; das Gesicht heiß. Ich schnappe nach Luft, als würde mir jemand die Nase zuhalten. »Sind sie vielleicht in den Urlaub gefahren?«, stammle ich mit erstickter Stimme. Die Ferien haben gerade angefangen – das wird es sein. Andererseits … Moritz hätte mir bestimmt davon erzählt. Doch von einem Umzug erst recht. Was läuft hier schief?
Der Mann kommt näher. Er riecht unangenehm nach Alkohol und Schweiß. Er hält die Hand vor den Mund und senkt die Stimme. »Nee! Weg sind sie. Für immer. Ich hab es von Maria gehört.« Er deutet mit der Spitze des Stocks auf das Haus mit dem gepflegten Vorgarten nebenan. »Ich hatte keinen Kontakt zu diesen Leuten, aber Maria … bei der haben sie sich verabschiedet.«
»Wo sind sie hingezogen?« Mittlerweile ist mein Gesicht so heiß, dass es vermutlich knallrot ist.
Er zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Frag am besten bei Maria nach.« Damit wendet er sich ab und humpelt zu einem Haus am Ende der Straße.
Mit einem flauen Gefühl im Magen gehe ich zum Nachbarhaus. Die besagte Frau steckt in einem geblümten Sommerkleid und schneidet ihre Rosen. Sie schenkt mir keinerlei Beachtung.
»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich und räuspere mich. Sind Sie Maria?«
Die Frau hebt den Kopf. »Ja, was kann ich für dich tun?«
Ich deute auf das Haus nebenan. »Stimmt es, dass die Schäfers umgezogen sind?« Bitte nicht, bete ich im Geiste.
Maria nickt und bestätigt mit dieser einzigen Kopfbewegung meine schlimmste Befürchtung. Moritz ist weg. Sie streicht sich eine ergraute Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem Dutt gelöst hat. »Ja, das stimmt. Ich habe es auch erst heute erfahren.«
»Und wohin? Ich meine … wissen Sie, wo sie hingezogen sind?«, frage ich schrill. Vor meinen Augen flimmert es.
»Nein, leider nicht. Ich hätte es gar nicht mitbekommen, wenn ich nicht zufällig am Nachmittag die Mülltonne vorn an der Ecke geholt hätte. Dabei habe ich einen Sprinter vor ihrem Haus gesehen, den die Schäfers mit allerlei Gepäck beladen haben. Obwohl wir nie viel Kontakt hatten, hätte es meiner Meinung nach der Anstand erfordert, dass sie mir Bescheid gesagt hätten. Haben sie jedoch nicht. Sie haben sich nur deshalb von mir verabschiedet, weil ich mich ihnen in den Weg gestellt hatte. Aber sie hatten außer einem flüchtigen Abschiedsgruß nichts mehr für mich übrig. Diese Familie ist mir von jetzt an schnurz.« In dem Augenblick macht es schnipp und sie köpft eine ihrer Rosen.
Ich drehe mich um und sage kein Wort mehr. Mit schnellen Schritten gehe ich geschockt zu Moritz’ Haus zurück. Stehenbleiben ist keine Option. In meinem Kopf rauscht es, als hätte jemand ein Radio aufgedreht und den Sender nicht gefunden. Auf der obersten Treppenstufe vor der Haustür setze ich mich und schlage die Hände vors Gesicht.
Das kann doch nicht sein. Moritz soll umgezogen sein?
Mir ist heiß und kalt zugleich. Nun kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schießen mir ungehindert in die Augen und kullern über meine Wangen. Meine Gedanken schlagen Purzelbäume und lassen sich nicht sortieren. Warum hat Moritz mir nichts von dem Umzug erzählt? Weshalb hat er überhaupt mit mir geschlafen, wenn er wusste, dass er Prien verlassen würde? Mein Schluchzen wird immer lauter. Wie konnte er nur? Hat er mir nicht heute Morgen noch bestätigt, unser Glück wäre unendlich wie der Himmel über uns? Wie konnte er mich dermaßen belügen? Warum hat er mir etwas vorgespielt? Ich habe jedes seiner Worte geglaubt und ihm mein Herz geschenkt. Hätte ich ihm nicht vertraut, hätte ich niemals mit ihm geschlafen.
Ich schlinge die Arme um mich, als könnte ich mich damit irgendwie zusammenhalten. Da ist so viel Scham in mir. Das, was sich bis vorhin wie ein Wunder anfühlte, ist auf einmal hässlich und demütigend. Ich hebe meinen Kopf und starre in den Himmel. Dicke Wolken ziehen auf. Ich werde nie wieder glücklich sein.
Kapitel 2
Neun Jahre später
»Ich fasse es nicht«, kreischt Flora begeistert. Im Hintergrund rumpelt es.
»Was hast du jetzt wieder angestellt?« Ich kichere. Bildlich stelle ich mir vor, wie meine tollpatschige Freundin mit einer unbedachten Handbewegung ihre komplette Ladentheke leer gefegt hat.
»Nur ein paar Scherben, nichts Weltbewegendes«, ruft sie in einer Lautstärke, bei der mein Trommelfell vibriert.
»Hey, ich bekomme gleich einen Hörschaden.« Rasch stelle ich das Smartphone auf Lauthören, bevor ich es auf mein Bett lege. Ich ziehe ein paar Klamotten aus dem Kleiderschrank und staple sie in den Koffer.
»Sag es noch mal. Los, sag es«, bettelt sie voller Euphorie und ihre Stimme überschlägt sich. Ob sie zwischen den einzelnen Sätzen Zeit zum Luftholen hat? Nebenbei vernehme ich das Geräusch des Zusammenkehrens von Scherben.
»Ich mache ernst, Flora«, sage ich in einem Tonfall, als würde ich einen Schwur vor dem Altar abgeben. »Ich verlasse Bayern und ziehe zu dir an die Ostsee.«
»Ich habe mich nicht verhört«, jubelt sie. »Wann … wann kommst du?«
»Schon in einer Woche.« Als ich es ausspreche, wird mir gleichermaßen warm wie mulmig. »Das Darlehen für das Haus ist genehmigt und der Kaufvertrag unterschrieben. Die Bank fand mein Konzept übrigens grandios.«
»Siehst du? Das habe ich dir doch prophezeit.«
»Ja, und dass trotz des sanierungsbedürftigen Zustands des Eiscafés.«
»Sie glauben an dich und daran, dass du dem Eiscafé neues Leben einhauchst.«
»Die Idee, dass ich ausschließlich regionale Zutaten für die Eisherstellung verwenden und zudem außergewöhnliche Eissorten kreieren will, hat sie umgehauen.«
»Und zusätzlich hast du es mit Charme und deiner Intelligenz geschafft, dich gegen den anderen Kaufinteressenten durchzusetzen.«
Ich grinse in mich hinein. »So ist es.«
»Warte, ich muss kurz zum Mülleimer.« Es rumpelt erneut. Wenige Sekunden später ist sie wieder dran. »So, das wäre erledigt. Ach Melissa, ich bin so happy, dass ich den richtigen Riecher mit dem entzückenden Fischerhaus in der Achterreeg hatte. Ich war mir so sicher, dass es zu dir passen würde. Und nachdem du nach deinem Studium ohnehin über einen Ortswechsel nachgedacht hattest …«
»… war es definitiv die beste Idee, die du seit Langem hattest«, vollende ich mit einem breiten Grinsen ihren Satz.
Ist es Fügung des Schicksals, dass das Erbe, das ich von meiner Oma bekommen habe, fast exakt für die Anzahlung gereicht hat? Ich halte kurz inne und denke an den Tag, als ich vor ihrem Grab stand.
Mama, die selbst voller Schmerz war, nahm mich in den Arm und sagte unter Tränen: »Immer, wenn wir im Leben loslassen müssen, gilt es, den freigewordenen Raum, mit Neuem zu füllen. Mit etwas, das uns glücklich macht.« Wie gerne hätte ich an Oma festgehalten. Genauso wie an … Die Erinnerung an Moritz blitzt im hintersten Winkel meines Gedächtnisses auf – zu schwach, zu weit weg. Rasch schiebe ich sie beiseite und besinne mich wieder auf das Hier und Jetzt.
»Selbst wenn der Laden momentan eher noch einer maroden Bruchbude gleicht, habe ich spätestens nach dem Gespräch mit Kevin das Gefühl, dass ich es schaffen kann. Nach der Renovierung werde ich ein bezauberndes Eiscafé eröffnen, das die Leute allein schon durch sein außergewöhnliches Flair anziehen wird.«
»Ja, mein Schatz ist der beste Gutachter in ganz Warnemünde. Und darüber hinaus: Auf sein Urteil ist Verlass. Er hätte dir nicht zum Kauf geraten, wäre er nicht davon überzeugt gewesen, dass sich die Investition lohnt.« Wie liebevoll sie über ihren Freund spricht.
»Zum Glück ist die Einliegerwohnung oberhalb des Eiscafés möbliert. Ist es nicht genial, dass ich sofort einziehen kann?«
Eine Glocke ertönt im Hintergrund.
»Mist! Ich habe Kundschaft. Wartest du?« Ohne meine Antwort abzuwarten, knallt sie mit einem dumpfen Laut den Hörer auf den Tresen.
Ich schmunzle, als ich gezwungenermaßen mit anhöre, wie Flora voller Überzeugung ihre hausgemachten Marmeladen anpreist, die sie in ihrem Souvenirladen verkauft.
»Gut, ich nehme zwei davon«, höre ich die Kundin sagen. Zusätzlich dreht Flora ihr in ihrem typischen Charme noch eine Pistazienschokolade an. Nach dem Klingeln der Kasse ertönt die Ladenglocke erneut und sie ist wieder am Apparat.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, keucht sie, als hätte sie einen Sprint zurückgelegt.
»Keine Ahnung«, antworte ich. »Auf jeden Fall bin ich tierisch aufgeregt.« Das bin ich wirklich. Schließlich liegt ein völlig neuer Lebensabschnitt vor mir. »Ach, Flora. Ich hatte während meines Studiums so viel Spaß dabei, die Eisherstellung zu erlernen.«
Sie lacht. »Und ich dachte anfangs wirklich, du wärst bekloppt, weil du ausgerechnet Lebensmitteltechnologie studieren wolltest. Ich hätte das nie geschafft.«
»Du hast andere großartige Talente. Meinst du, es ist Schicksal, dass mir ausgerechnet dieses Eiscafé vor die Füße gefallen ist?« Es ist so aufregend, vor einer neuen Herausforderung zu stehen. Nicht weniger aufregend ist die Tatsache, bald endlich wieder in Floras Nähe zu wohnen. Immerhin waren wir seit der vierten Klasse unzertrennlich. Zumindest bis sie nach dem Abitur beschlossen hatte, in Rostock zu studieren, und dort ihrer großen Liebe Kevin begegnete.
Die Ladenglocke ertönt erneut.
»Was ist heute nur los, zum Teufel?«, flucht sie gespielt genervt. »Wenn man einmal in Ruhe telefonieren will.« Ich kann förmlich sehen, wie sie die Augen verdreht und ihre dunklen Locken bei jeder Drehung wippen.
***
»Bist du sicher?« Zögernd schwingt Ricarda den Friseurumhang um meinen Oberkörper und legt die Stirn in Falten.
»Absolut! Die Haare müssen ab und ich will sie schwarz haben.« Das leichte Zittern in meiner Stimme kann ich zwar nicht unterdrücken, aber ich bin festentschlossen.
Sie deutet mit schmerzverzerrtem Gesicht auf meine lange, wasserstoffblond gefärbte Mähne, so als hätte ich ihr eine saftige Ohrfeige verpasst. »Du weißt überhaupt nicht, was du da tust.«
»Natürlich weiß ich das. Komm … mach schon.« Im Sekundentakt wippe ich mit den Fußballen am Boden auf und ab. »Es ist ohnehin das Letzte, das du für mich tun wirst.« Aus dem Seitenfach der Handtasche ziehe ich ein Foto, welches Ricarda, Flora und mich in jüngeren Jahren zeigt. Wir hatten es bei einem Ausflug nach München in einem dieser Fotoautomaten geschossen, die in den Untergeschossen auf dem Weg zu den S-Bahnen stehen. Damals trug ich einen frechen Bob. Ich halte Ricarda das Foto unter die Nase. »Jetzt behaupte bloß, dass mir das nicht gestanden hätte.«
»Doch schon …«, antwortet sie gedehnt und deutet auf die vergilbte Fotografie. Sie seufzt – offensichtlich betrachtet sie nicht nur meine Frisur auf dem Bild. »Wir waren so ein tolles Dreiergespann. Du, Flora … und ich.«
Ich nicke. »Ja, das waren wir.«
»Und jetzt lässt du mich auch noch hier allein zurück.« Ihr Blick ist mit Traurigkeit gefüllt.
Obwohl ich während des Studiums nur an den Wochenenden in Prien war, haben Ricarda und ich uns in den vergangenen Jahren mindestens einmal pro Woche gesehen.
Ich schlage ein Bein über das andere. »Du hast ja recht, es ist schade, aber ich muss es tun. Ich brauche diesen Ortswechsel. Wenn ich hierbleibe …« Ich hole tief Luft. »… dann erinnert mich zu viel an meine Vergangenheit und …«, murmle ich und seufze, »meinen untreuen Ex-Freund. Glaub mir, es war das letzte Mal, dass ich mich von einem Kerl so mies habe behandeln lassen.
Ricardas Stirn zieht sich leicht zusammen, die Augenbrauen wandern in die Mitte, während sie mich unverwandt ansieht. Sie sagt nichts. Muss sie auch nicht. Ihr Blick sagt schon alles: Scheißkerl!
»Keine Sorge, ich bin definitiv über ihn hinweg. Trotzdem habe ich die vier Jahre nicht vergessen, in denen wir glücklich waren.« Das waren wir – zweifelsohne. Ich sehe zu ihr auf. »Kannst du nicht mitkommen? Wie cool wäre es, wenn wir drei Mädels endlich wieder vereint wären.«
»Ich habe mir diesen Laden hier in jahrelanger harter Arbeit aufgebaut. Mein Zuhause ist hier. Auch wenn ich es hasse, dass du wie Flora verschwindest.« Sie schnieft und deutet erneut auf das Foto. »Du sahst damals echt süß aus. Trotzdem … ist pechschwarz nicht vielleicht doch ein wenig übertrieben?« Sie verzieht ihre schmalen Lippen zu einem Strich.
»Nein. Ich habe es mir gut überlegt.« Energisch stecke ich das Foto zurück in die Tasche. »Du vergisst, dass das meiner eigentlichen Haarfarbe sehr nahekommt. Dieses Blond …« Ich fuchtle mit einem Finger in der Luft herum. »Das habe ich doch nur wegen meinem Ex getragen. Und ich will das nicht mehr! Hattest du nicht selbst gesagt, ich hätte mich während der Beziehung mit ihm mehr und mehr in eine leblose Schaufensterpuppe verwandelt?« Wie behämmert ich war, dass ich ihm krampfhaft gefallen wollte.
»Ja, schon. Aber das war überzogen gemeint. Als ob du mit einem Haarschnitt von jetzt auf gleich eine andere Person werden könntest.«
»Das möchte ich doch gar nicht«, sage ich und klatsche energisch in die Hände. »Ich bin Melissa, fünfundzwanzig und eine Frau, die weiß, was sie will. Nicht mehr und nicht weniger.«
Ricarda macht einen Schmollmund. »Okay, dein Wunsch ist mir Befehl. Aber auf deine Verantwortung.« Schon teilt sie mein Haar in Strähnen und gibt schwarzes Färbemittel darauf. Währenddessen manikürt mir ihre Mitarbeiterin die Fingernägel.
»Du wirst Bayern vermissen, das prophezeie ich dir. Was haben eigentlich deine Eltern zu deinen Plänen gesagt?«
»Dass sie mich vermissen werden. Genauso wie ich sie. Doch sie verstehen auch, dass ich erwachsen bin und meine eigene, neue Geschichte schreiben will.«
Ich blicke in den Spiegel, aus dem mir mein zuversichtliches Gesicht umrahmt von einer schwarzen Pampe entgegenblickt.
»Ich verstehe ja, dass du nach deiner Trennung einen Tapetenwechsel brauchst.« Sie wirft einen Blick auf meine Haare. »Meinetwegen auch die neue Frisur. Aber musst du deshalb alles verlassen, was dir jemals lieb war? Vergiss nicht, die Ostsee ist nicht mit dem Chiemsee zu vergleichen. Denk doch an die Natur, die uns hier umgibt. Die Berge, die Wintersportmöglichkeiten und … ich bezweifle, dass es dort grandiose Sundowner Partys wie im Strandbad Übersee gibt.«
Ich lache auf. »Wann bitte schön, war ich in den vergangenen Jahren dort? Das kannst du an einer Hand abzählen.« Mein Ex-Freund mochte es nicht, in durchgelegenen Liegestühlen am Lagerfeuer zu sitzen. Dabei gibt es für mich nichts Schöneres. Er hatte Angst, der Rauchgeruch würde nie wieder aus seinen maßgeschneiderten Anzügen verschwinden. »Mein Entschluss steht fest!«, stelle ich energisch klar. »Außerdem kann ich ihn ohnehin nicht mehr rückgängig machen.«
Ricarda schiebt den Friseurwagen zur Seite und die Trockenhaube hinter meinen Stuhl, um die Farbe mit der Wärme zu fixieren.
»Mir bleiben zwei Monate, das Eiscafé in einen angesagten Treffpunkt für Eisliebhaber zu verwandeln.«
»Schaffst du das in so kurzer Zeit?« Sie stellt die Wärme am Gerät ein. »Kaffee?«
»Ja, gerne. Im April ist Saisonbeginn. Laut Kevin müssen die Holzböden geschliffen, einige Dielenbretter und die Außenfassade erneuert und die Einrichtung repariert werden. Ich habe schon Kontakt mit einem Tischler aufgenommen. Der wird, sobald ich da bin, mit der Renovierung loslegen. Um die Malerarbeiten und so weiter kümmere ich mich selbst.«
Ricarda verschwindet im Nebenraum. »Du hast wirklich alles perfekt geplant«, ruft sie.
Das Mahlwerk des Kaffeevollautomaten rattert.
»Das Geld, das ich noch auf der Seite habe, reicht zum Glück für die kommenden Monate. Doch mit der Eröffnung kann ich nicht ewig warten. Wenn die Saison beginnt, muss die Kasse klingeln, sonst bin ich pleite.«
Ricarda kommt mit einer Tasse dampfenden Kaffee zurück und stellt ihn auf dem Beistelltisch ab.
»Danke.« Ich gebe einen Schuss Milch in das Getränk und trinke einen Schluck.
Eine halbe Stunde und einen weiteren Kaffee später, rauscht das warme Wasser beruhigend über meinen Kopf. Ricarda wäscht die dunkle Farbe heraus.
Mit geschlossenen Augen genieße ich die anschließende Kopfmassage, bevor sie mir ein Handtuch überstülpt.
Im Anschluss spreizt sie die Schere zwischen Ringfinger und Daumen und schneidet mein nasses Haar geschickt in einen klaren, kantigen Bob.
Als ich später die geföhnte Frisur im Spiegel betrachte, halte ich die Luft an. Es ist, als würde der Anblick mich in meine Jugend zurückkatapultieren. Ich sehe aus, wie damals, nur um ein paar Jahre älter. Für einen Augenblick bin ich wieder sechzehn – wild, verliebt und voller Träume, die ich mit Moritz verwirklichen wollte. Ein bittersüßes Ziehen fährt mir durch die Brust und meine Augen glänzen.
Schluss jetzt! Moritz gehört der Vergangenheit an. Wieso besitzt er die Frechheit und schleicht sich ohne Vorwarnung wieder in meine Gedanken? Es ist an der Zeit, nach vorn und nicht zurückzusehen.
Ich räuspere mich, setze ein Lächeln auf und streiche eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Danke, Ricarda! Es sieht perfekt aus.«
Kapitel 3
Warnemünde
Völlig übermüdet schnappe ich meine beiden Koffer und schlurfe am Ende der fast zehnstündigen Reise den Gang der S-Bahn entlang. Sie ruckelt in jeder Kurve, dass ich ständig gegen die Sitzreihen links und rechts von mir remple.
Ich schiebe mich weiter durch den Gang und komme an der Wagentür zum Stehen. Mit mir warten eine Handvoll Reisende mit genervten Gesichtsausdrücken auf das Ziel: den Bahnhof von Warnemünde.
Gerade will ich mir mit den Fingern durch meine lange Mähne fahren, da halte ich inne. Beinahe hätte ich vergessen, dass sie ab ist. Mein Gesicht spiegelt sich im Waggonfenster. Die Frisur steht mir, dennoch muss ich mich erst daran gewöhnen. Ich sehe aus wie eine Fremde. Kraftvoll und willensstark, aber fremd.
»Wir erreichen in wenigen Minuten den Bahnhof von Warnemünde«, ertönt es aus dem Lautsprecher an der Decke. »Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung rechts.«
Gähnend halte ich mir die Hand vor den Mund. Mein Magen knurrt. Die Fahrt war lang, beinahe so, als hätte sie mich ans Ende der Welt gebracht.
Als der Zug in den Bahnhof einfährt, presse ich die Nasenspitze gegen die Scheibe. Nun beginnt es also – mein neues Leben.
Die Wagentüren öffnen sich und ich schiebe mich mit den anderen drängelnden Fahrgästen nach draußen. Das Verlassen des Zuges hat etwas symbolisches für mich. Damit mache ich den ersten Schritt in meine aufregende Zukunft. Der Boden unter mir fühlt sich bei dieser Vorstellung fast heilig an, und ich schmunzle.
Es ist bereits stockfinster. Schließlich haben wir erst Februar. Außer dem beleuchteten Bahnhofsgebäude mit seinen hellen Ziegeln erkenne ich kaum etwas von der Umgebung.
Auf dem Bahnsteig atme ich den ersten kräftigen Atemzug Warnemünder Luft ein. Lächelnd beiße ich mir auf die Unterlippe. Aus der Ferne vernehme ich das Rauschen des Meeres.
»Gehen Sie doch weiter, junge Frau«, motzt jemand hinter mir.
Mit schnellen Schritten verlasse ich das Getümmel auf dem Bahnsteig. Ein eisiger Ostwind weht mir entgegen. Fröstelnd schnüre ich die Kapuze der Winterjacke enger und ziehe die Koffer über den Bahnhofsvorplatz. Weiße Buchstaben prangen an dem Erkerfenster des Bahnhofsgebäudes und nennen den Ortsnamen: Warnemünde.
Ich suche nach Flora, die versprochen hat, mich abzuholen. Doch von ihr fehlt jede Spur. Ich tippe eine WhatsApp-Nachricht in mein Smartphone. Nachdem ich kein Lebenszeichen von ihr erhalte, rufe ich bei ihr an. Sie geht nicht ran. Bibbernd vor Kälte stehe ich am Bahnsteig. Was mache ich jetzt? Zielstrebig steuere ich auf ein Taxi zu.
»Wo solls denn hingehen?«
»In die Alexandrinenstraße, bitte.«
Der hagere Taxifahrer, der nach Zigarettenrauch riecht, hievt das erste Gepäckstück in den Kofferraum.
Ein mehrfaches Hupen lässt mich zusammenzucken. »Stopp! Halt!«, höre ich eine bekannte Stimme. Flora hat die Fensterscheibe ihres alten, rot-weißen Bullis hinuntergelassen und brüllt aus Leibeskräften aus dem Auto. Die Reifen quietschen und das Fahrzeug kommt wenige Zentimeter neben dem Taxi zum Stehen.
Erschrocken springe ich zur Seite. »Flora! Da bist du ja. Wo warst du?«
Anstatt mir zu antworten, wendet sie sich an den Taxifahrer. »Vielen Dank, aber meine Freundin braucht kein Taxi«, keucht sie.
Er verdreht die Augen und hebt mein Gepäck wieder aus dem Kofferraum.
»Entschuldige bitte, Melissa. Ich wurde aufgehalten«, sagt sie, als sie vor mir steht. Ein Strahlen erhellt ihr Gesicht. Ihre dunklen Locken wehen im Wind, und sie sieht so zerzaust aus, als hätte sie sich heute noch nicht gekämmt. Sie nimmt meine Hände in ihre. »Willkommen, in Warnemünde«, sagt sie so feierlich, als wäre ich eine Königin auf Staatsbesuch. Sie schließt mich in die Arme. Ihre Umarmung ist so fest, als hätte sie Angst, ich würde sofort wieder in den Zug steigen und in Richtung Bayern abdüsen.
»Flora, wie schön, dass du doch noch aufgekreuzt bist. Damit habe ich fast nicht mehr gerechnet«, sage ich mit einem beleidigten Unterton in der Stimme, aber muss postwendend kichern. Ich schlinge ebenfalls die Arme um sie und umklammere meine Freundin so fest, als wäre sie mein Rettungsanker in der tiefen Ostsee.
»Wie gesagt, tut mir leid, dass ich nicht ganz pünktlich war, aber ich hab total die Zeit übersehen.« Sie schiebt mich eine Armlänge von sich und mustert mich eingehend. »Gut siehst du aus. Hast du diese scheußlichen Tussi-Haare endlich abgeschnitten?«
»Ja, und stell dir vor: Ricarda wollte mich davon abhalten.«
»Verstehe ich nicht. Ich fürchte, ich muss dich in meinem Keller verstecken. So scharf wie du jetzt aussiehst, schnappt dich bestimmt gleich der nächstbeste Kerl weg, den du hier kennenlernst.« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Aber das will ich nicht. Ich will unsere verlorenen Jahre erst mal ausgiebig nachholen«, sagt sie und grinst breit. »Danach teile ich dich möglicherweise mit einem Traumtyp, der es gut mit dir meint.«
Ich lache laut auf. Gemeinsam hieven wir die Koffer in den Laderaum des Bullis.
»Keine Sorge, ich habe nicht vor, mein Herz in nächster Zeit wieder zu verschenken. Die kommenden Monate will ich mich nur um mich und um mein Projekt kümmern.« Ich steige auf der Beifahrerseite ein.
Flora knallt die Autotür zu und gibt Vollgas.
Ich reibe meine Hände aneinander, die von der langen Fahrt schwitzig sind. Vielleicht ist es auch die Aufregung. Denn ein bisschen mulmig ist mir jetzt doch zumute.
Unterwegs erhasche ich erste Blicke auf die liebevoll renovierten Kapitänshäuschen, die vom Schein der Straßenlaternen in warmes Licht gehüllt werden. Bunte Fischkutter liegen am Alten Strom vor Anker. Mein Herz macht einen Sprung, als ich an die Urlaube mit meinen Eltern zurückdenke, die wir auf diesem zauberhaften Stückchen Erde verbracht haben. Wirklich witzig, dass es Flora genau hierhin verschlagen hat, und wir uns genau hier wiedertreffen.
Flora macht eine Vollbremsung. Smartphone, Geldbörse und das Schminktäschchen purzeln aus meiner Handtasche und landen im Fußraum.
»Sorry«, sagt sie schulterzuckend, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und biegt in die Alexandrinenstraße ab.
»Willst du mich umbringen?«, frage ich gespielt empört und fische meinen Tascheninhalt zwischen den Füßen hervor.
Der Wagen holpert über das Kopfsteinpflaster; Flora bremst erneut abrupt.
Ich schnelle nach vorn und stütze meinen Arm am Armaturenbrett ab. »Meine Güte, Flora! Dein Fahrstil ist echt mies.« Ich lache auf.
»Sorry! Aber wir sind da.« Sie springt vom Autositz und öffnet die Fahrertür.
»O Flora, ich bin so aufgeregt.« Ich sehe die bezaubernde Straße hinunter, die im Schein der Straßenlaternen märchenhaft aussieht. Sie liegt direkt hinter dem Alten Strom und zählt in meinen Augen zu den schönsten in Warnemünde. Während sich am Alten Strom die Ausflugsschiffe und der Großteil der Touristen tummeln, ist es in der Achterreeg, wie die Straße seit Jahrhunderten von Einheimischen genannt wird, deutlich ruhiger. Allerdings entdecken immer mehr Urlauber diese traumhafte Flaniermeile. Was sicher nicht zu meinem Nachteil sein wird, wenn das Eiscafé eröffnet ist.
»Diese Straße beherbergt eindeutig die hübschesten Fischerhäuschen, die ich je in meinem Leben gesehen habe«, bestätigt Flora.
Ich muss ihr recht geben. Weiße Holzfassaden, Fachwerk und bunt gestrichene Fensterrahmen machen sie einzigartig. In den Erdgeschossen finden sich in manchen der Häuser kleine Läden wieder, während direkt darüber oft großzügige Balkone platziert sind. In den Sommermonaten blühen dort bunte Blumen und vervollständigen das zauberhafte Bild dieser Straße. Das Gebäude gegenüber beeindruckt mich mit seinem Fachwerk im Obergeschoss und den breiten Tontöpfen vor der Haustür, aus denen winterharte Pflanzen herausragen. Ostseetraum, lese ich auf dem Schild der Ferienwohnung.
Ich ziehe den ersten Koffer vor die Ladentür des Eiscafés und atme tief durch. »Mein Laden«, hauche ich. Es auszusprechen fühlt sich auf der Zunge wie zart schmelzendes Vanilleeis an.
»Ja, dein Laden.« Flora folgt mir mit dem zweiten Koffer.
Die Scheiben des Ladengeschäfts sind mit breiten Papierstreifen zugeklebt. Spinnenweben hängen in den Ecken der Fenster. An der gläsernen Eingangstür, die vermutlich Jahre nicht geputzt wurde, hängt ein Schild mit der Aufschrift: Geschlossen. Ich blicke an der Holzfassade nach oben. Die Farbe blättert an vielen Stellen ab. Im Gegensatz zu den anderen hübschen Häuschen dieser Straße hat dieses deutlich weniger Charme. Doch ich werde es wieder in das verwandeln, was es vermutlich einmal war. Noch besser: Ich werde daraus eine Wohlfühloase zaubern.
Voller Vorfreude stecke ich den Schlüssel ins Schloss, der seit der Unterzeichnung des Kaufvertrags an meinem Schlüsselbund baumelt. Verheißungsvoll sehe ich Flora an.
»Hey! Was machen Sie da?«, raunt hinter uns eine kräftige Stimme.
Flora und ich zucken zusammen und drehen uns um.
Ein älterer Herr, der unter seinem offenen Parka eine Hose mit Hosenträgern trägt, kommt mit behäbigen Schritten näher und mustert uns eingehend von Kopf bis Fuß. »Da drinnen ist nichts zu holen«, klärt er uns mit nüchternem Tonfall auf. »Alles leer.«
Denkt dieser Mann etwa, wir seien Einbrecherinnen, die die Gunst der Dunkelheit nutzen wollen? Ich ziehe den Schlüssel aus dem Schloss und halte ihn hoch. »Das ist mein Haus. Ich bin Melissa Sturm.«
Flora verschränkt die Arme vor der Brust und nickt.
Nun kommt der Alte mit erhobenen Augenbrauen näher.
Ich verkneife mir ein Schmunzeln. Dieser Mann passt perfekt ins Klischee eines typischen Fischers. Er würde sich ziemlich gut auf einem ramponierten Fischerboot auf hoher See machen. Ich sehe förmlich vor mir, wie er mit seinen schwieligen Händen die Netze einholt und seinen Fang begutachtet.
Er mustert mich eingehend, als könnte er damit meine handwerklichen Fähigkeiten abschätzen. Sein folgendes breites Grinsen gibt den Blick auf eine Zahnlücke frei. »Tschuldigung! Ich habe mich anscheinend vertan.« Er wirkt jetzt deutlich kleinlauter. »Ich wollte nur nachsehen, ob hier alles in Ordnung ist.« Er streckt die Hand nach mir aus. »Ich bin Ole. Ole Winterkorn. Willkommen in unserer Straße.« Er macht eine ausladende Handbewegung, als gehöre die Alexandrinenstraße wirklich ihm.
Ich schlage in seine faltige Hand ein. »Schön, Sie kennenzulernen, Herr Winterkorn.«
»Nennen Sie mich Ole.« Er reicht auch Flora die Hand.
Ich drehe mich erneut zur Ladentür und halte kurz inne, bevor ich mich ihm noch einmal zuwende. »Na dann … auf gute Nachbarschaft, Ole.« Mit diesen Worten stecke ich den Schlüssel ein zweites Mal ins Schloss. Erst als der Alte winkend in seinem Haus verschwunden ist, trete ich durch die knarzende Tür, deren Scharniere dringend geölt werden müssen. Ein Glöckchen ertönt.
Es weht mir ein modriger Geruch entgegen. Kurz halte ich die Luft an.
Flora schließt die Tür hinter uns und schiebt die Koffer zur Seite.
»Meine Güte, bin ich aufgeregt«, sage ich.
Hier drinnen ist es dunkel und kalt. Meinem Empfinden nach sogar kälter als draußen. Nachdem ich den Lichtschalter neben der Eingangstür ertastet habe, stelle ich meine Handtasche auf der Holzbank vor dem bodentiefen Fenster ab.
Flora fährt mit dem Finger über den Fensterrahmen und streckt ihn mir entgegen. »Hier war der Schmutzfink am Werk«, sagt sie und zieht die Augenbrauen in Richtung Stirn.
»In den kommenden Wochen muss ich definitiv die Ärmel hochkrempeln.« Mein Blick schweift durch den Raum und bleibt an der riesigen Schiefertafel hängen, die an der Backsteinwand hängt. In verwaschener Kreideschrift lese ich einige Eissorten. Die Farbe der Holzstühle, die in einer Ecke aufeinandergestapelt sind, ist abgeblättert. Der Boden ist von einer dicken Staubschicht überzogen. »Als Erstes muss ich den Laden einer Grundreinigung unterziehen. So viel steht fest.«
»Wann legst du los?«
»Am Montag. Heute möchte ich in Ruhe ankommen und mir alles genau ansehen. Auch wenn ich bei der Besichtigung und mit Kevin jeden Winkel inspiziert habe, fühlt es sich gerade an, als sähe ich dieses Haus zum ersten Mal. All das gehört jetzt mir – die Verantwortung liegt ab sofort in meinen Händen. Wahnsinn, oder?«
»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Ich weiß noch genau, wie es war, als ich den Mietvertrag für den Souvenirladen unterschrieben hab …«
»Ah!«, kreische ich und springe mit einem Satz zur Seite.
»Was ist?« Flora legt den Kopf schief.
Ich starre auf den Boden, als würde dort ein Geist liegen. »Ich glaube, ich bin auf eine halbverweste Maus gestiegen. Meine Güte, ist das eklig.«
Flora verzieht das Gesicht dermaßen kurios, dass ich lache. Doch Sekunden später fahre ich ruckartig zurück und kräusle die Nase.
»Was ist?«, fragt Flora. »Du guckst, als hätte dir jemand einen faulen Fisch unter die Nase gehalten.«
Ich strecke den Arm aus und zeige mit spitzen Fingern auf den Boden vor dem Fenster. »Da liegen rund zwei Dutzend leblose Fliegen.« Meine Stimme kippt in ein empörtes Quietschen, und ich wedle mit der Hand, als könnte ich den Anblick aus der Luft wedeln. »Ich könnte schwören, dass sie bei meinem letzten Besuch noch nicht da waren.« Ein unangenehmer Schauer fährt mir über den Rücken. »O Mann. Hier wartet viel Arbeit auf mich.« Himmel! Habe ich den Kaufvertrag wirklich unterschrieben? »War es klug, sich auf dieses Abenteuer einzulassen?«
»Du wirst das alles hinbekommen. Glaub mir, du hast die beste Entscheidung deines Lebens getroffen«, sagt Flora und kickt die tote Maus mit dem Fuß zur Seite.