Kapitel eins
Es regnete noch immer, als der Zug in den Bahnhof von Norwich einfuhr. Callie Parker blieb sitzen, während die anderen Pendler umherwuselten, sich ihre Taschen schnappten und sich in den Gang drängelten, um den Zug so schnell wie möglich zu verlassen.
Das einzige Gepäckstück, das sie dabeihatte, war eine Tragetasche, die sie fest an ihre Brust drückte. Ihr gesamter Besitz war darin verstaut und bestand exakt aus einer Flasche Wasser, einem unangetasteten Eiersalat-Sandwich, das sie in London erstanden hatte, aber wegen ihres nervösen Magens noch nicht hatte essen können, einem billigen Prepaid-Handy, einem silbernen Bilderrahmen, dem einzigen Gegenstand von emotionaler Bedeutung, von dem sie sich nicht trennen konnte, sowie einer schwarzen gewebten Tasche voller Bargeld.
Alle anderen Habseligkeiten, ihre Kreditkarten und Schlüssel, die Kleidung, das Make-up und ihren Schmuck, hatte sie in Devon zurückgelassen. Callie war vierunddreißig und ihr ganzes Leben passte in eine Tragetasche, aber nun wollte sie einen Neuanfang wagen, auch wenn sie dafür alle Verbindungen zu dem, wovor sie floh, kappen musste.
Als der Zug sich schließlich geleert hatte, machte sich auch Callie auf den Weg zum Ausgang. Ihr leerer Magen flatterte vor Aufregung, als sie ihr Handy am Drehkreuz scannte und ihren Blick ängstlich über die Menge schweifen ließ.
War er da? Würde sie ihn nach all den Jahren wiedererkennen?
Das ungeheuerliche Ausmaß ihres Handelns traf sie mit voller Wucht. Ihre Nerven waren von Kopf bis zu den Zehen bis zum Zerreißen angespannt. Callie hatte alles aufgegeben, war quer durch das Land in eine fremde Stadt gereist, um einen Mann zu treffen, an den sie sich kaum noch erinnern konnte und den sie seit fast einem Jahrzehnt nicht gesehen hatte. War sie verrückt geworden?
Möglicherweise schon, aber ihr blieb keine Wahl.
»Callie?«
Jemand berührte sie am Ellbogen. Sie zuckte zusammen und stolperte rückwärts.
Der Mann, der sie erschreckt hatte, hob entschuldigend die Hand. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
Während er sprach, hielt er ihren Blick mit seinen vertraut wirkenden, olivgrünen Augen fest. Sie bemühte sich, wieder ruhig zu atmen, um ihn nicht merken zu lassen, wie erschüttert sie war. Es war vermutlich albern, dass sie sich befangen fühlte. Ihnen beiden war klar, wovor sie flüchtete, und sie hatte von dem Mann, der vor ihr stand, nichts zu befürchten. Zwar hatten sie sich seit Jahren nicht gesehen, aber sie war sich sicher, dass sie ihm vertrauen konnte.
Nico Adams.
Seine Augen hatten sich nicht verändert, auch wenn die feinen Fältchen um sie früher nicht dagewesen waren. Inzwischen musste er etwa sechsunddreißig sein. Ein oder zwei Jahre älter als sie. Und er hatte sich gut gehalten. Sein von Natur aus gelocktes, goldbraunes Haar war noch immer dicht und wirkte leicht widerspenstig. Die Bartstoppeln, die sein Kinn bedeckten, nahmen ihm die Weichheit der Jugend. Es war erst Februar und trotz der winterlichen Kälte war sein Gesicht braun gebrannt.
»Wie ist es gelaufen? Gab es Schwierigkeiten?«
Callies Stimme schien sie im Stich gelassen zu haben, also schüttelte sie einfach den Kopf.
»Hast du kein weiteres Gepäck dabei?«
Um Himmels willen, sag etwas.
Sie schüttelte erneut den Kopf und presste diesmal ein »Ähm, nein« heraus.
War ihm das Zittern in ihrer Stimme aufgefallen? Wenn dem so war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er war schon immer still, nachdenklich und wortkarg gewesen. Kein Mann vieler Worte.
Laurel, Nicos Schwester, meinte, dass es an seiner Erziehung liegen könnte. Einst hatte sie ihr verraten, dass niemand so genau wusste, was er hatte durchmachen müssen, bevor ihre Eltern ihn adoptiert hatten.
»Komm, mein Auto steht draußen.«
Er hatte ein wenig ungeduldig geklungen und Hitze blühte auf Callies Wangen auf, weil sie wusste, dass er sich extra von der Arbeit losgerissen hatte, um sie abzuholen. Sie war schon jetzt ein Störfaktor, den er in seinem Leben nicht gebrauchen konnte, und wenn sie einen anderen Ausweg gesehen hätte, wäre sie ihn gegangen.
Callie umklammerte ihre Tragetasche und huschte wie eine Maus hinter ihm her. Sie war erleichtert, dass er sie weder berührte noch ein Gespräch mit ihr beginnen wollte. Stattdessen ging er ihr voraus. Das verschaffte ihr ein paar kostbare Sekunden, um sich zu sammeln, bevor er sie zu sich nach Hause bringen würde.
Um ehrlich zu sein, war sie absolut überwältigt. Obwohl sie den Plan bis ins kleinste Detail einstudiert hatte, war es doch etwas vollkommen anderes, ihn tatsächlich in die Tat umzusetzen.
Sie war mit allen Annehmlichkeiten aufgewacht, die ein Mensch sich wünschen konnte, und würde den Tag mit leeren Händen beenden. Und sie verließ sich auf die Güte eines Fremden, denn genau das war Nico für sie geworden: ein Fremder, der ihr etwas zu essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf bot, bis sie ihren ganz persönlichen Albtraum überwunden hätte.
Eine eisige Brise schlug ihnen entgegen, als sie den Bahnhof verließen. Es regnete noch immer und er beschleunigte den Schritt, als sie den Parkplatz überquerten und er mit seinem Autoschlüssel einen schwarzen Jeep entsperrte.
Callie huschte hinter ihm her, wohl wissend, dass sie klatschnass werden würde und nichts zum Wechseln dabeihatte. Während er an der offenen Beifahrertür wartete, kletterte sie schnell hinein. Aus Respekt vor seinem Eigentum war sie penibel darauf bedacht, außer dem Sicherheitsgurt nichts anzufassen.
Sein Jeep unterschied sich von den Autos, in denen sie gewöhnlich mitgefahren war. Nichts an ihm wirkte so, als käme er direkt aus einem Showroom – auf Hochglanz poliert und makellos. Nicos Auto war sauber, keine Frage, aber man sah dem Fahrzeug trotzdem an, dass es seit einigen Jahren in Benutzung war. Vom Rückspiegel baumelten braune buddhistische Gebetsperlen herunter und auf der Mittelkonsole war eine Sonnenbrille abgelegt worden, die Nico bei dem Regen nicht aufzusetzen brauchte. Der Duft nach altem Leder und Sandelholz erfüllte den Innenraum.
Während Nico das Fahrzeug umrundete, atmete sie langsam ein und wieder aus, um ihre verspannten Schultern zu lockern.
Es würde schon alles schiefgehen. Der schlimmste Teil war vorüber.
Allerdings würde sie die Fahrt noch überstehen müssen.
Laurel hatte erwähnt, dass Nicos Haus etwa fünfzehn Minuten vom Stadtzentrum entfernt lag.
Das wiederum bedeutete, dass sie mit einem Mann, mit dem sie kaum noch eine Erinnerung verband, fünfzehn Minuten lang würde plaudern müssen.
Allein der Gedanke zerrte an ihren Nerven.
Es ist sicherer als das, wovor du wegrennst, ermahnte Callie sich, als Nico neben ihr einstieg.
Er warf einen Blick in ihre Richtung. »Alles okay?« Durch den Regen wirkten seine Locken noch dunkler. Er strich sie sich aus dem Gesicht.
Nein, es war nicht alles okay. »Ich glaube schon«, log sie.
Er nickte, startete den Motor und schaltete zu ihrer Erleichterung das Radio ein. So wären sie wenigstens nicht gezwungen, ein Gespräch zu führen. In den letzten Jahren hatte Musik kaum noch eine Rolle in ihrem Leben gespielt, aber erst jetzt begriff sie, wie sehr sie ihr gefehlt hatte.
Callie hatte den Tag, an dem sie ihren Plan endlich in die Tat umsetzen konnte, mit einer peinlichen Spannung herbeigesehnt. Trotz ihrer Befürchtung, dass etwas schiefgehen könnte, war alles glatt verlaufen, aber ihre Gefühle spielten dennoch verrückt und sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte.
War die Flucht ein Fehler gewesen?
Hätte sie bleiben sollen?
Hatte es einen anderen Ausweg gegeben?
Nein war die klare Antwort auf jede dieser Fragen, aber das machte es nicht einfacher.
Sie hatte ihr Zuhause, ihren Hund und auch ihre Identität aufgegeben. Aber daran hatte kein Weg vorbeigeführt.
Ihr Hund. Um ihn kreisten ihre Gedanken gerade. Chester aufzugeben, war die schwerste Entscheidung gewesen, die sie hatte treffen müssen, und selbst noch nach Monaten tat es ihr in der Seele leid. Allerdings hatte sie keine Wahl gehabt.
Callie konnte kaum stillsitzen und kämpfte gegen den Drang an, mit ihrem blonden Bob zu spielen.
Sie vertraute Laurel und Laurel vertraute Nico.
Also sollte sie fest daran glauben, dass sie das Richtige tat. Mit ihrem Bauchgefühl hatte sie oft richtig gelegen, aber in letzter Zeit führte es sie zu vielen falschen Entscheidungen, sodass sie den Glauben an sich selbst verloren hatte.
Für einen kurzen Moment gestattete sie es ihren Gedanken, in die Vergangenheit zu schweifen, und dachte über die Risiken nach, die sie bei ihrer Flucht auf sich genommen hatte. Niemand durfte herausfinden, dass sie bei Nico war. Wenn die Wahrheit ans Licht käme, wären weder sie noch er sicher.
Erneut spürte sie die Furcht in sich aufsteigen, als sie sich bewusst machte, wie gefährlich die Situation war, und dass jeder noch so kleine Fehltritt sie das Leben kosten konnte. Sie erschauderte.
Callie verstand die Bedeutung des Wortes »Hölle«. Sie war dort gewesen und hatte dem Teufel in die Augen geblickt. Und sie würde alles tun, um niemals dorthin zurückzukehren.
Kapitel zwei
Nachdem sie Norwich hinter sich gelassen hatten, hörte der Regen auf und die Sonne brach durch die Wolken. Nico drosselte das Tempo und bog von der Landstraße in eine Auffahrt ein, die mit »Willow Brook Farm« beschildert war.
Callies Blick war nach vorn gerichtet. Neugierig betrachtete sie die tunnelartige Formation an Bäumen, deren Äste sich vom kalten Winter noch nicht erholt hatten und kahl waren. Das war also sein Zuhause.
Laurel hatte ihr erzählt, dass Nico das Anwesen von seinem ehemaligen Arbeitgeber Teddy Bishop, der wie ein Vater für ihn gewesen war, geerbt hatte.
Als sie die Allee hinter sich gelassen hatten, breitete sich die Landschaft vor ihnen aus. Zu ihrer Rechten machte sie ein halbes Dutzend Koppeln aus, die durch weiße Zäune voneinander getrennt waren. Dahinter lagen die Stallungen. In der Mitte einer der Koppeln entdeckte sie eine Frau mit einem Pferdeschwanz, um die herum ein schwarzes Pferd an einer Longe trabte.
Zu ihrer Linken erstreckte sich eine weitläufige und raue Landschaft. Die Bäume standen dichter beieinander und in der Ferne verdichteten sie sich zu einem Wald. Am Rande des Dickichts befand sich ein kleines Gebäude, das Callie an das Hexenhäuschen aus Hänsel und Gretel erinnerte. Würde sie dort unterkommen? Laurel hatte von einem separaten Cottage gesprochen.
Nicos Haus lag direkt vor ihnen. Zumindest nahm sie an, dass er es bewohnte. Abgesehen von dem Haus, dem Cottage und den Stallungen konnte sie keine anderen Gebäude ausmachen.
Weder konnte Callie etwas über den Ort noch über den Mann, zu dem Nico geworden war, sagen und wusste über beides nur das, was Laurel ihr erzählt hatte. Sie wusste, dass er Pferdetrainer war, mehr aber auch nicht. Rückblickend hätte sie mehr Fragen stellen sollen, als Laurel angeboten hatte, ihr zu helfen. Aber sie war so sehr darauf fixiert gewesen, zu entkommen, dass sie gar nicht in Betracht gezogen hatte, in was sie sich hineinmanövrieren könnte.
Sie näherten sich dem Haus. Nun konnte Callie die gesamte Vorderseite des zweistöckigen Gebäudes, das im Tudorstil erbaut und eine schwarz-weiß gestreifte Fassade besaß, überblicken. Es war ein hübsches und gepflegtes Haus, aber überhaupt nicht protzig, was Callie ein wenig beruhigte.
»Wir müssen nur einen kurzen Zwischenstopp einlegen«, sagte Nico und stellte den Jeep vor dem Haus ab. »Danach bringe ich dich zum Cottage.«
Es waren die ersten Worte, die er an sie gerichtet hatte, seit sie vom Bahnhof abgefahren waren. Trotzdem hatte Callie nicht eine Sekunde lang das Gefühl gehabt, dass zwischen ihnen eine peinliche Stille entstanden wäre, so wie sie es zunächst befürchtete. Natürlich war das Radio hilfreich gewesen, um das Schweigen zu überbrücken, aber Nico schien auch kein Mann vieler Worte zu sein. Also hatte Callie die Fahrt dazu genutzt, ihre wirren Gedanken zu sortieren. Nun war sie neugierig, warum sie angehalten hatten, und fragte sich, ob er von ihr erwartete, dass sie ihm folgte, als er aus dem Auto kletterte.
Sie wollte nicht überheblich wirken, denn sie war sich sehr wohl bewusst, dass dies eine ihrer negativen Eigenschaften war. Also blieb sie auf dem Beifahrersitz sitzen und umklammerte nervös ihre Tragetasche.
Nico blieb vor dem Haus stehen und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Als er feststellte, dass sie ihm nicht gefolgt war, weiteten sich seine Augen kaum merklich. »Komm mit«, forderte er Callie auf.
Röte breitete sich auf ihren Wangen aus und auf einmal kam sie sich ziemlich töricht vor, weil sie einfach sitzen geblieben war.
Während er die Haustür aufschloss, löste sie den Sicherheitsgurt, aber die gewohnte Entschuldigung, die ihr über die Lippen schlüpfen wollte und die ihr bei jedem Patzer zur Gewohnheit geworden war, blieb diesmal aus. Es verschlug ihr schlichtweg die Sprache, als sie die Hunde aus dem Haus stürmen sah, nachdem Nico die Tür aufgestoßen hatte.
Zunächst zogen die ersten beiden Vierbeiner – ein hellbrauner Boxer und ein schwarz-weißer Spaniel – ihre Aufmerksamkeit auf sich, aber dann jagte ein Golden Retriever mit Grinse-Gesicht hinter ihnen her. Callie stutzte kurz und schaute noch einmal hin. Unsicherheit und Verwirrung spiegelten sich auf ihrem Gesicht wider, als sie nach Luft schnappte.
Das war er nicht. Das konnte er unmöglich sein.
»Chester?«
Zum ersten Mal seit langer Zeit handelte sie, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Sie plumpste beinahe aus dem Auto heraus, als der Hund seinen Namen hörte und die Ohren spitzte, bevor er in ihre Richtung schaute. Da war sie sich sicher, dass er es doch sein musste.
Chester stürmte auf sie zu. Callie sank auf die Knie und brach in Tränen aus, während das goldene Fellknäuel in ihre Arme sprang und sie begeistert abschleckte.
Sekunden vergingen, die sich anfühlten, als gäbe es nur diesen Hund und sie auf der Welt. Callie war über seine Anwesenheit schockiert und überrumpelt zugleich. Während sie ihm also ihre ganze Liebe angedeihen ließ, die sie ihm über Monate hinweg vorenthalten hatte, verschwamm ihre Sicht und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Chester hatte zu einem Wendepunkt in ihrem Leben geführt. Sie hatte ihn gerettet, indem sie ihn wegschickte, aber ihr Herz war dabei trotzdem gebrochen worden. Allerdings hatte seine Abwesenheit auch etwas Gutes gehabt, denn sie machte ihr deutlich, dass sie für sich selbst einstehen musste.
Irgendwie war es ihr dann doch gelungen, die Flucht zu ergreifen. Auch wenn sie kaum begreifen konnte, dass ihr Albtraum endlich vorbei sein sollte, tröstete es sie, ihren Hund wieder bei sich zu haben.
Während sie Chester fest an sich drückte, schaute sie zu Nico auf. Sein Blick ruhte auf ihnen beiden und die anderen Hunde nutzten den Moment, um sich gegenseitig in der Einfahrt zu jagen. Mit den Lippen formte Callie das Wort Danke.
Wie sollte sie wiedergutmachen, dass er ihr Chester zurückgebracht hatte?
Aber Nico nickte nur. Seine grünen Augen wirkten dunkel und der Ausdruck auf seinem Gesicht war schwer zu deuten, abgesehen von dem knappen Lächeln, das an seinen Lippen zupfte.
Nico war eher ein grüblerischer Mensch und damit niemand, der oft lächelte. Diese Charaktereigenschaft kannte sie von ihm noch von früher und sie fiel ihr jetzt wieder ein.
Er war vorsichtig und, gemessen an seinen zurückhaltenden Antworten, oft in Gedanken versunken. Callie wusste noch, dass er nicht zu emotionalen Ausbrüchen neigte. Aufregung und Begeisterung standen bei ihm nicht auf dem Programm, genauso wenig wie Wut oder Eifersucht.
Während ihrer Studienzeit war sie mal über Ostern bei seinen und Laurels Eltern zu Besuch gewesen und hatte zufällig gehört, wie seine Mutter Janice erzählte, dass Nico eine schwere Zeit durchmachen musste, bevor sie ihn adoptieren konnten. Seine leibliche Mutter hatte ihn unnötig leiden lassen.
Callie wollte damals niemanden belauschen, aber Janices Worte waren ihr im Gedächtnis geblieben und die Neugier, was damals vorgefallen war, nagte bis heute an ihr.
Sie spürte eine nasse Schnauze an ihrer Wange, die sie aus ihren Gedanken riss. Der Spaniel schnupperte neugierig an ihr. »Das ist Dash«, sagte Nico, während Callie den Hund streichelte. Dann nickte er zum Boxer, der sie interessiert beäugte. »Und das ist Shyla.«
»Gehören die beiden dir?«
Nicos Mundwinkel zuckten erneut. »Als Buße für meine Sünden.«
Scherzend bückte er sich, um Shyla zu streicheln, als sie an seine Seite zurückkehrte. Es war offensichtlich, dass er sie vergötterte. Dash machte währenddessen seinem Namen alle Ehre und rannte um Callie und Chester herum, weil er spielen wollte.
Es gab noch so viele Fragen, die Callie stellen wollte, und sie stand noch immer etwas unter Schock. Als sie Laurel gebeten hatte, Chester mitzunehmen, konnte sie nicht ahnen, dass er bei Nico landen würde. Es war ihr wichtig gewesen, dass er ein liebevolles Zuhause fand, worum sie Laurel auch gebeten hatte, aber sie hätte nie damit gerechnet, ihn wiederzusehen.
»Laurel hat mir nicht verraten, dass du ihn aufgenommen hast«, sagte sie, sobald sie wieder im Jeep saßen und zum Cottage fuhren. Obwohl das Gebäude in fußläufiger Nähe lag, hatte der Regen tiefe Pfützen hinterlassen und der Weg war voller Schlamm. Callie sah sich nach Chester um, der auf dem Rücksitz saß und wie wild mit dem Schwanz wedelte.
»Das sollte eine Überraschung für dich werden.« Nico zögerte. »Laurel weiß, was du aufgeben musstest und wie schwer das alles für dich war, und sie fand, dass du etwas Vertrautes haben solltest, wenn du hier ankommst.«
Einmal mehr hatte sich ihre Freundin für sie eingesetzt. Callie würde ihre Schuld für das, was Laurel für sie getan hatte, niemals begleichen können.
Nico stellte den Jeep vor ihrem neuen Zuhause ab. Auf den ersten Blick wirkte das Cottage ziemlich heruntergekommen. Aus grauem Stein errichtet, verfügte es nur über ein Stockwerk mit einem dunklen Dach und weißen Fensterläden, die geschlossen waren. Ein Schild neben der Tür verriet ihr, dass es Stable Cottage hieß.
»Ich weiß, dass es von außen nicht besonders viel hermacht, aber die Bausubstanz ist solide und es ist gut gedämmt«, versicherte Nico ihr. »Ich habe eine Weile hier drin gewohnt. Es gibt einen Kachelofen mit einem Kochfeld und einen Holzofen. Es ist gemütlich da drin.«
Obwohl es gut klang, stürmte das ungeheure Ausmaß von allem auf sie ein und machte sie nervös. Ihre Kehle zog sich zusammen und ihre Beine fühlten sich bleischwer an.
Das passierte gerade wirklich. Sie war entkommen.
Dennoch fehlte ihr das Gefühl der Sicherheit und sie verspürte das Bedürfnis, ständig einen Blick über die Schulter zu werfen.
Was, wenn ihr Versteck aufflog?
Nein! So durfte sie nicht denken. Sie musste dem Drang widerstehen, sich vorzustellen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Es war wichtig, dass sie sich darauf konzentrierte, einen Schritt nach dem anderen zu machen.
Das erleichterte und verängstigte sie gleichermaßen.
Nico schien zu spüren, dass sie eine Sekunde für sich brauchte, stieg zusammen mit Chester aus dem Jeep aus und ließ den Hund eine Weile herumschnüffeln. Dann ging er zum Cottage, um die Haustür aufzuschließen.
Callie atmete einmal tief ein und langsam wieder aus, um ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen, und zwang sich dann, auszusteigen. Sie würde alles meistern.
Sie musste es meistern, denn sie war zu weit gegangen, um jetzt noch umkehren zu können.
Nico war im Inneren verschwunden und sie folgte ihm hinein, auch wenn ihre gesamte Aufmerksamkeit Chester galt, der den Weg zurückgerannt kam, um nach ihr zu suchen. Offenbar hatte er befürchtet, sie könnte ihn erneut alleingelassen haben. Als das goldene Fellknäuel in sie hineinrannte, bückte Callie sich, um sich an seinem Halsband festzuhalten. Sie brauchte ihn als Anker mindestens genauso sehr, wie er sie brauchte.
»Es wirkt zwar ziemlich klein«, sagte Nico und zeigte auf das Wohnzimmer, in dem sie standen. »Aber es ist alles da, was man braucht. Der Fernseher läuft digital und bietet Zugang zu ein paar Sendern. Natürlich gibt es auch WLAN. Den Code findest du auf der Küchentheke, falls du ihn in dein Handy eingeben willst. Vorhin habe ich noch den Holzofen angeworfen, damit du es schön warm hast.«
Callie sah sich im Zimmer um. Vor dem Fernseher stand ein kleines Sofa. In einer der Ecken gab es einen winzigen Tisch und zwei Stühle, die darunter geschoben worden waren. Die Wände waren kahl. Trotz des Mangels an Farben und Bildern sollte Nico recht behalten, denn es verströmte eine heimelige Atmosphäre. Im Kamin knisterte das Feuer und bot eine Zuflucht vor der Kälte des Februartages.
Callies Blick flog zum Fenster, das zur Einfahrt führte, und sie stellte erleichtert fest, dass ein Rollo vorhanden war. Obwohl sie hier in einer ländlichen Gegend waren, war das Cottage von Wald umgeben, und ihr gefiel nicht, dass jeder hereinschauen konnte.
»Zur Küche geht es hier entlang.«
Er führte sie in einen noch kleineren Raum. Die Einrichtung war in die Jahre gekommen, aber sauber. Ein glänzender, moderner Wasserkocher und eine Mikrowelle, die auf der Arbeitsfläche standen, wirkten leicht fehl am Platz.
»Es gibt den AGA-Herd und einen Kühlschrank mit Gefrierfach«, erklärte er und zeigte auf die Geräte. »Für eine Waschmaschine reicht der Platz nicht aus, aber du kannst gerne die Maschine im Haupthaus benutzen. Ich besorge dir einen Schlüssel.«
»Danke.«
Callie unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass sie nur die Kleidung hatte, die sie am Leib trug.
Irgendwann würde sie sich die Zeit nehmen, einen Secondhand-Laden aufzusuchen, und dort einen Teil ihrer kostbaren Ersparnisse auf den Kopf hauen. Es erschreckte sie, wenn sie daran dachte, wie schnell diese schwinden würden. Noch hatte sie sich keinen Plan zurechtgelegt, was sie tun würde, sobald ihr Geld zu Neige gegangen ist.
Laurel hatte ihr versichert, dass Nico sie auch finanziell unterstützen wollte. »Er kann es sich leisten«, hatte sie betont. »Und er möchte dir helfen.«
Das war zwar großzügig von ihm, aber die ganze Sache war Callie äußerst unangenehm. Sie wusste nur zu gut, dass es in diesem Leben nichts umsonst gab. Was, wenn er irgendwann beschließen sollte, die Schulden doch noch einzutreiben?
Nico überraschte sie, indem er den Kühlschrank öffnete, und sie sah, dass er gut gefüllt war. Milch, Gemüse, Eier, Saft und Käse – alles war vorhanden.
»Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich von allem etwas besorgt.« Er zuckte mit den Schultern und wirkte verlegen. »Damit solltest du dich für eine Weile über Wasser halten können. Der Gefrierschrank ist auch gut gefüllt. Außerdem findest du im Schrank unter der Spüle einen Vorrat an Hundefutter.«
Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen und ihre Kehle zog sich zusammen, weil er so viel Rücksichtnahme zeigte. Callie blinzelte sie weg und räusperte sich, bevor sie ihre Dankbarkeit noch einmal durch ein einfaches »Danke« zum Ausdruck brachte. Allerdings machte sie die ganze Sache noch nervöser, da es ihr vor Augen führte, wie hoch sie in seiner Schuld stand.
Einen Moment lang herrschte Stille und Callie spürte seinen Blick, der schwer auf ihr lastete. Nachdem Nico seinen Blick länger als nötig auf ihr verweilen ließ, schien er sich zu fangen und fuhr abrupt fort.
»Das Schlafzimmer liegt dort entlang.« Er deutete die Richtung an, machte aber keine Anstalten, es ihr zu zeigen. »Da wirst du ein paar Sachen finden, die Laurel für dich bereitgelegt hat.«
Das hatte sie getan?
»Und das Badezimmer ist direkt nebenan. Dort ist alles, was du an Hygieneartikeln brauchen könntest.«
Callie klang wie eine kaputte Schallplatte, als sie sich zum dritten Mal bedankte. Es ärgerte sie, dass ihr keine bessere Antwort einfallen wollte. Um ehrlich zu sein, war sie erschöpft, und das Ausmaß ihres Handelns lastete schwer auf ihr.
»Ich muss wieder an die Arbeit, also lasse ich dich jetzt allein.«
Natürlich musste er arbeiten. Sie hatte seinen Tagesablauf schon ausreichend durcheinandergebracht.
Sie nickte ihm zerknirscht zu, während Enttäuschung und Erleichterung sich in ihr vereinten. Dann begleitete sie ihn zurück ins Wohnzimmer und dann zur Haustür.
»Ruf mich an, wenn du etwas brauchst, okay?«
Nico hatte seine Nummer, neben einer weiteren Nummer, die Laurel gehörte, in dem billigen Handy eingespeichert, auch wenn die Freundinnen sich einig waren, den Kontakt auf ein Minimum zu beschränken. So war es sicherer. Nicht nur für Callie, sondern auch für Laurel.
»Das werde ich«, versicherte sie ihm, obwohl sie tief in ihrem Inneren wusste, dass sie ihn nur im äußersten Notfall anrufen würde. Sie wollte sich mit dem Essen, das er für sie dagelassen hatte, begnügen, indem sie es rationierte und dafür sorgte, dass es ihr so lange wie möglich reichte. Und wenn sie etwas anderes brauchen sollte, würde sie einen Weg finden, es zu besorgen, ohne ihn damit zu belästigen.
Sie sah ihm nach, als er ging, und war dankbar, Chester an ihrer Seite zu haben. Obwohl sie sich in Nicos Gegenwart leicht unbehaglich gefühlt hatte, war es jetzt, wo sie allein war, irgendwie noch schlimmer. Das Knarren und Ächzen des Cottages, das erklang, nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, hob die Grabesruhe nur noch stärker hervor.
Das Haus atmet, was vollkommen normal ist, redete sie sich ein. Hier drin war sie sicher. So musste es sein.
Callie nahm sich einen Moment für ihren Hund, ließ sich auf dem abgenutzten Sofa nieder und zog Chester an sich. Überwältigt von den Gefühlen, weil sie ihn wiederhatte, musste sie seinen Duft einfach tief einatmen. Er wedelte wie verrückt mit seinem Schwanz, während er sie überall abschleckte. Ihn bei sich zu wissen, gab ihr die Kraft, die sie brauchte.
Eine Weile blieb sie so sitzen, bis sie sich bereit fühlte, den Rest des Cottages zu erkunden. Als sie dann die Schlafzimmertür aufstieß und hineintrat, fand sie sich in einem Raum wieder, der von einem Doppelbett mit einem geschnitzten Kopfteil aus Holz und weißer Bettwäsche dominiert wurde. Außerdem gab es einen Nachttisch, einen Kleiderschrank und eine Kommode, auf der ein Spiegel positioniert worden war.
Callie musterte ihr Spiegelbild und den blonden Bob, der ihr blasses Gesicht umrahmte. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, in denen sich ein gehetzter Ausdruck spiegelte. Sie wirkten wie versteinert, dabei gab sie ihr Bestes, ihre Furcht zu verbergen, um Nico nicht zu verschrecken. Aber an seiner Miene hatte sie ablesen können, dass es ihr nicht besonders gut gelungen war.
Ihre Kopfhaut brannte und juckte, dennoch hatte sie sich den gesamten Tag über nicht getraut, sie anzufassen, aus Angst, dass etwas verrutschte und ihre wahre Identität preisgab. Aber hier konnte sie niemand sehen, also setzte sie die Perücke vorsichtig ab, bevor sie sie zusammen mit ihrer Tragetasche, die ihre Habseligkeiten enthielt, auf der Kommode ablegte. Dann schüttelte Callie ihr echtes Haar aus, entwirrte mit den Fingern die dicken rotbraunen Locken und ging ins winzige Badezimmer nebenan, um nach einer Bürste zu suchen. Kurz darauf stellte sie fest, dass Laurel und Nico wirklich an alles gedacht hatten: Kleidung, Hygieneartikel und Nahrung. Keines der Produkte war Markenware, die sie sonst gewohnt war, aber das war irgendwie befreiend. Der Tee, den sie sich aufbrühte, und das Duschgel mit Apfelduft, mit dem sie sich den Staub und den Schweiß ihrer Reise abspülte, hatten etwas Beruhigendes an sich. Die Eigenmarken aus dem Supermarkt erinnerten sie an ihre Kindheit. Ebenso wie der weiche, leicht verwaschene Pyjama, in den sie nach dem Abtrocknen schlüpfte.
Als sich die Dunkelheit herabsenkte, zog sie alle Rollos herunter und die Vorhänge zu, bevor sie noch einmal überprüfte, ob die Haustür verschlossen war. Es wurmte sie, dass die Angst sie noch immer fest im Griff hatte.
Das Stable Cottage lag ziemlich abgelegen und zunächst hatte dies ein Gefühl der Sicherheit in ihr erzeugt, doch jetzt, bei Dunkelheit, gruselte sie sich vor der Umgebung. Als Chester pinkeln musste, fiel Callie der Nebel auf, der tief über den Boden waberte. Ein Rascheln drang zwischen den Bäumen des umliegenden Waldes hervor.
Es gab einen Bewegungsmelder, der eine Lampe aktivierte. Sie warf ihr Licht auf den Steinweg und eine kleine Fläche direkt vor dem Haus. Callie blieb im Türrahmen stehen und schlang die Arme um sich, um sich gegen die Kälte zu schützen, während Chester sein Geschäft verrichtete. Und als er sich ein Stück weiter entfernte, rief sie ihn zurück, um die Sicherheit des Cottages nicht verlassen zu müssen.
In der Ferne konnte sie die Lichter des Haupthauses ausmachen, was beruhigend wirkte, denn es erinnerte sie daran, dass Nico ganz in der Nähe war.
Zurück im Haus verriegelte sie die Tür und gab Chester etwas zu fressen. Während er das Futter verschlang, entsorgte sie das Sandwich, das sie sich für ihre Reise gekauft hatte, warf einen Blick in den Kühlschrank und stellte fest, dass sie keinen Hunger verspürte.
Stattdessen beschloss sie, einfach schlafen zu gehen.
***
Callie wachte abrupt auf. Es war nur ein Traum.
Sie hatte geträumt, dass sie in einem vollen Zug saß und mit gesenktem Kopf ihre Route studierte: von Totnes nach Paddington, von Paddington zur Liverpool Street, von der Liverpool Street nach Norwich, aber als sie aufschaute, waren alle Reisenden verschwunden. Unruhe breitete sich in ihr aus, kurz bevor ein lautes Klopfen an der Tür am Ende des Zugwagens erklang.
Da entdeckte sie ihn, wie er sie durch die Glasscheibe hindurch anstarrte, und wachte schreiend auf.
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie in einem fremden Bett lag. Sie strich sich die schweißnassen Haare aus dem Gesicht und erkannte, dass sie nur schlecht geträumt hatte. Jetzt war sie in Norfolk. Sie war ihm entkommen.
Neben ihr stieß Chester ein Winseln aus, aber als sie die Hand ausstreckte, um ihn zu streicheln, wurde es zu einem tiefen, bedrohlichen Knurren. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt.
Ihr Hund spürte etwas, das ihn in Aufregung versetzte.
Hielt sich draußen jemand auf?
Sie drückte Chester fester an sich. Das leise Grollen, das durch ihn hindurch vibrierte, verunsicherte sie. Und dann hörte sie es.
Klopf, klopf, klopf.
Zunächst war es ihr wie ein Traum vorgekommen, doch nun musste sie sich eingestehen, dass es real war.
Bei dem unverkennbaren Knarren des Türgriffs stellten sich ihr die Nackenhaare auf.
Jemand versuchte in das Cottage einzudringen.
Kapitel drei
Zwanzig Monate zuvor
Das Problem mit Elternteilen, die eine erfolgreiche Karriere vorweisen können, besteht darin, dass sie oft hohe Erwartungen haben.
Nehmen wir etwa meinen Vater.
Michael Parker ist ein angesehener Chirurg für Orthopädie, spielt Golf mit einstelligem Handicap und ist ein Mann, der grundsätzlich das Beste von seinen Mitmenschen erwartet. Er wollte, nein, er bestand darauf, dass meine Schwester Phoebe und ich in seine Fußstapfen treten und Medizin studieren sollten. Aber das führte zu einem Problem, zumindest in meinem Fall.
Auf Blut reagiere ich sehr empfindlich.
Und wenn ich empfindlich sage, dann meine ich, dass ich kein Blut sehen kann. Punkt.
Als Kind hat sich Phoebe mal das Bein an einer Glasscherbe aufgeschlitzt und es besser weggesteckt als ich. Schon die Erinnerung daran, wie ihr das Blut aus der Wunde spritzte, reichte aus, um meine Beine in Watte zu verwandeln und mir den Magen umzudrehen. Nichts hätte mich dazu bewegen können, in einem Krankenhaus zu arbeiten.
Stattdessen machte ich einen Universitätsabschluss in Medienwissenschaften.
In den Augen meines Dads war das der erste Fehler.
Nach meinem Abschluss habe ich einen Job bei der Lemon Source Agency angenommen, wo ich mich um die Social-Media-Kanäle gekümmert habe.
Fehler Nummer zwei.
Mein Dad ist noch von der alten Schule und hält nichts von Facebook und Instagram. Es war schon schwer genug, ihn aus dem tiefsten Mittelalter abzuholen, indem ich eine Familien-WhatsApp-Gruppe erstellte. Als Teilnehmer lud ich Pheebs, ihren Freund Ed, Dad und unsere Stiefmutter April ein. Niemand war überrascht, dass Dad als Letzter beigetreten ist.
Auf eine gewisse Art war es ein Segen, als er vor ein paar Jahren beschloss, mit April in die USA zu ziehen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe ihn, aber er steckt seine Nase überall rein und missbilligt so ziemlich jede Entscheidung, die ich treffe. Phoebe war sein erstes Kind und ist damit drei Jahre älter als ich, weshalb die beiden eine viel engere Bindung haben. Ich werde es nie mit ihr aufnehmen können, also versuche ich es erst gar nicht.
Kommen wir zu April. Sie ist schon ganz okay, denke ich, allerdings waren wir nie besonders eng miteinander. Ich habe immer das Gefühl, dass sie sich stets genötigt sieht, etwas mit Pheebs und mir zu unternehmen, weil es von ihr erwartet wird – nicht, weil sie es selbst gern möchte. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass wir Schwestern schon fast erwachsen waren, als sie in unser Leben trat.
Dad kommt ursprünglich aus Amerika, während unsere Mutter aus Großbritannien stammt. Ihnen haben Phoebe und ich die doppelte Staatsbürgerschaft zu verdanken. Als ich neun war, sind wir nach England gezogen und leben seitdem hier. Traurigerweise starb meine Mutter nur fünf Jahre später an Krebs und nach zwei Jahren tauchte April auf der Bildfläche auf. Das war echt viel auf einmal.
Ich denke, auch für April wird es nicht einfach gewesen sein, dabei hat sie uns nie unfreundlich behandelt. Manchmal ist die Stimmung einfach ein wenig komisch.
Da uns aber inzwischen ein Ozean trennt und der meiste Kontakt über WhatsApp und das Telefon stattfindet – von seltenen Besuchen abgesehen –, läuft es besser.
Obwohl Phoebe und ich nur noch uns haben, sehen wir uns nicht oft. Phoebe und Ed leben in Bath und sind beide im Royal United Hospital angestellt, während ich nach Watford gezogen bin, das in der Nähe meines Büros und nicht weit von Berkhamsted – und damit unserem ehemaligen Elternhaus – entfernt liegt. Mir gefällt es hier, und obwohl ich allein bin, fühle ich mich nie einsam.
Dad mag meine Berufswahl missfallen haben, aber ich liebe meinen Job und die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Zwar habe ich keine Familie in der Nähe, dafür aber einen großen Freundeskreis und meinen Rettungshund Chester, der mich auf Trab hält. Vielleicht störe ich mich am Single-Dasein deshalb nicht so sehr. Für eine Beziehung fehlt mir einfach die Zeit.
Natürlich hält mich das nicht davon ab, mich gelegentlich nach einem Partner zu sehnen. Genauso wie jetzt, als ich den attraktivsten Mann der Welt in unserem Empfangsbereich erblicke.
Als die Tür geöffnet wurde, hob ich den Blick und musste blinzeln. Jetzt gebe ich mir Mühe, ihn nicht ganz so offensichtlich anzustarren.
Meine Wangen fangen Feuer, als er in meine Richtung schaut und sich unsere Blicke begegnen. Daraufhin schenkt er mir ein strahlendes Lächeln und zwinkert mir zu. Mein Magen zieht sich zusammen, meine Knie bestehen nur noch aus Wackelpudding, und ich laufe Gefahr, von meinem Stuhl in die Sabberpfütze unter mir zu rutschen.
Sein Blick bleibt an mir hängen und ich bemerke kaum, wie Tara, meine Vorgesetzte, auf ihn zustürmt, um ihn zu begrüßen. Ich könnte schwören, dass mir der Mund noch immer offen steht, als sie mit ihm in ihrem Büro verschwindet und sich die Tür hinter ihnen schließt.
In diesem Moment darf sich Tara Lemon als die glücklichste Frau auf dem Planeten bezeichnen.
Obwohl wir uns nicht vorgestellt wurden, weiß ich genau, wer der Mann ist.
Duncan Stone.
Er ist eine verdammte Film-Ikone.
Okay, na ja, eher ein Filmstar im Ruhestand. Vor ein paar Jahren hat er der Filmindustrie den Rücken gekehrt, um sich sozialen Projekten zuzuwenden. Stone hat eine Vielzahl von Projekten finanziert, die ihm laut seiner eigenen Aussage sehr am Herzen liegen. Vor allem waren es aber solche, die benachteiligten Kindern zugutekommen. Obwohl er in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, hat er es bis ganz nach oben geschafft, und nun will er denen eine Chance geben, die es seiner Meinung nach am meisten brauchen.
Auf der Leinwand spielte er sowohl in schonungslosen Dramen als auch in hochkarätig besetzten Blockbustern oft den Antihelden. Es schien, als hätte er in diesen Rollen sich selbst verkörpert, denn er kam etwas rau und ungeschliffen rüber. Zwar wirkte er nicht ganz so makellos, aber man konnte Stone eindeutig als einen Star beschreiben, der sich selbst treu geblieben war. Ein Held fürs Volk.
»Er hat ein Auge auf dich geworfen.« Der Kopf meiner Arbeitskollegin und Komplizin Juliette Bellamy taucht neben ihrem Monitor auf. Sie schaut mich aus großen Augen an und fährt aufgeregt fort: »Hast du gesehen, wie er dir zugezwinkert hat?«
Ich bemühe mich, locker zu bleiben und die Schmetterlinge in meinem Bauch zu ignorieren. »Das ist Duncan Stone, verdammt noch mal. Du kennst ihn sicher aus dem Fernsehen. Wahrscheinlich zwinkert er jeder zu.«
»Nein, er konnte den Blick nicht von dir abwenden«, beharrt Juliette mit ihrem herrischen französischen Akzent. »Zwischen euch hat es eindeutig geknistert.«
Ich ignoriere sie und nehme mir fest vor, nichts hineinzuinterpretieren, wo nichts ist. Ich bin nicht naiv und Duncan Stone ist ein erfahrener Herzensbrecher. Er könnte einfach jede haben. Zwar bin ich selbstbewusst genug, um von mir behaupten zu können, dass ich eine attraktive Frau bin, aber ich bin auch klug genug, um zu verstehen, dass ein Mann seines Kalibers kein romantisches Interesse an mir haben dürfte.
In meinen Augen war er schon immer attraktiv, aber ich muss gestehen, dass er in natura noch besser aussieht als auf der Leinwand. Perfekt symmetrische Gesichtszüge, strahlende eisblaue Augen und ein markantes Kinn. Das dunkle Haar ist kurz geschnitten, was sein hübsches Gesicht nur noch unterstreicht. Genau das Gesicht, das ich angestarrt habe, während er mir zugezwinkert hat.
Ich rede mir selbst gut zu, dass ich mich zusammenreißen und auf dem Boden bleiben sollte, aber das hindert mich nicht daran, Tara auf den Zahn zu fühlen, sobald das Meeting vorüber ist. Und ich schaffe es gerade so, nicht auszuflippen, als ich erfahre, dass er ein Neukunde ist und nächste Woche eine Party in London veranstaltet, zu der das ganze Team von Lemon Source eingeladen ist.
»Du musst uns mit den Outfits helfen«, quiekt Tracy Novak aus der Finanzbuchhaltung.
Ihr Blick ruht hoffnungsvoll auf Juliette, die eindeutig als Modepüppchen unter der Belegschaft gilt. Juliette kann dank ihrer nigerianischen und französischen Wurzeln, ihrer endlos langen Beine und ihrem umwerfenden Äußeren aber auch wirklich alles tragen. Sie ist die Anlaufstelle, wenn es um Modedinge geht.
»Wir sollten uns lieber auf Callie konzentrieren.« Juliettes nüchterner Tonfall bringt Tracys Seifenblase zum Platzen. »Sie ist ihm ins Auge gefallen.«
Das stimmt, aber es war nur ganz kurz und ich gebe mich keinen Illusionen hin. Duncan Stone zwinkert wahrscheinlich vielen Frauen zu.
Trotzdem steigt mit jedem Tag, an dem die Party näher rückt, mehr Vorfreude in mir auf.
***
Dank Juliettes Unterstützung habe ich mich für ein atemberaubendes Kleid in der Farbe von rosa Korallen entschieden. Das kastanienbraune Haar fällt mir in dichten Locken über die Schultern.
Ich rechne nicht damit, dass Duncan sich an mich erinnert, deshalb bin ich dermaßen aufgeregt, als er meinen Blick über den Raum hinweg auffängt, mir zulächelt und zustimmend nickt, dass mir ganz übel wird. Später bittet er Tara, uns vorzustellen, und ich ringe mit mir, um cool zu bleiben, denn ich fürchte mich davor, mich vor ihm zu blamieren.
Er will bloß freundlich sein, deshalb rechne ich damit, dass er sich anderen Gästen zuwendet, und werde überrascht, als er bei mir verweilt, als Tara anderweitig gebraucht wird.
»Also, Callie, dann erzähl mal etwas über dich.«
Das ist eine entscheidende Frage, die mich in Panik versetzt.
Was gibt es über mich zu erzählen?
Ich schätze, er will die Kurzfassung und meint damit meinen beruflichen Hintergrund. Warum zum Teufel sollte er an meiner Person interessiert sein? Die Frage ist nicht mehr als eine höfliche Floskel.
Wie soll ich es nur schaffen, sein Interesse mit der Geschichte über mein Leben zu wecken? Besonders im Vergleich zu dem, was er schon alles erlebt hat?
Um kein Risiko einzugehen, bleibe ich beim Thema Arbeit. »Ich unterstütze unsere Kunden mit den Social-Media-Accounts.« Unsicher halte ich inne, als sein Lächeln zu einem breiten Grinsen wechselt. War es etwa nicht das, was er hören wollte?
»Ja, das weiß ich. Tara hat es mir erzählt.«
Hat sie das? Duncan hatte den Anschein erweckt, nichts über mich zu wissen, als Tara uns einander vorgestellt hat.
»Ich wollte damit sagen, dass ich gern mehr über dich erfahren würde«, fährt er fort.
Hitze kriecht über meine Haut, als seine stechend blauen Augen amüsiert funkeln. Er ist mir so nahe, dass ich den dunklen Außenrand seiner blauen Iris unter dem gedämmten Licht erkennen kann. Der frische Kiefernduft seines Aftershaves sorgt dafür, dass mein Gehirn kurz aussetzt, während ich kaum glauben kann, dass er vor mir steht und wir uns unterhalten.
Wären wir uns in einem Pub oder einem Club begegnet, könnte ich geneigt sein, seine Annäherung als Flirtversuch zu deuten. Aber es ist Duncan Stone, der mir gegenübersteht. Ehemaliger Schauspieler, Philanthrop und einer der begehrtesten Junggesellen des Landes, denn trotz seiner öffentlichen Beziehungen hat er nie geheiratet. Und dann bin da ich – Callie Parker. Wir spielen nicht in der gleichen Liga und haben absolut nichts gemeinsam, also kann er gar nicht an mir als Person interessiert sein.
Eine Bedienung kommt mit einem Tablett an uns vorbei. Duncan schnappt sich zwei Champagnerflöten und reicht mir eine davon.
Ich nehme den Champagner entgegen, trinke einen Schluck und nutze den Moment, um mich zur Ruhe zu rufen.
»Das ist eine komplexe Frage«, würge ich heraus und hoffe, dass das cool rüberkommt und meine Nervosität nicht verrät.
»Das ist wohl wahr.« Er mustert mich für eine Weile und ich winde mich unter seinem Blick. »Okay. Sollten wir lieber mit einfacheren Fragen einsteigen?«
Ich nicke ihm zu, während ich noch einmal an meinem Drink nippe. Mit einfachen Fragen kann ich umgehen.
»Kommst du aus Watford?«
Ich nicke erneut. »Ich wohne dort«, erzähle ich ihm. »Aber aufgewachsen bin ich in Berkhamsted.«
»Hast du dort noch Familie?«
»Nicht mehr. Meine Schwester Phoebe lebt in Bath und mein Dad ist wieder in die USA gezogen.«
»Wieder? Hast du nicht gesagt, du seist in Berkhamsted aufgewachsen?« Verwirrung spiegelt sich auf Duncans Gesicht.
»So war es auch. Zumindest habe ich einen Großteil meiner Kindheit dort verbracht. Mein Dad ist Amerikaner. Ich wurde in Maine geboren, aber als ich neun war, sind wir nach England gezogen.«
»Verstehe.«
Während er über seine nächste Frage grübelt, winken mir Juliette und Tracy, die direkt hinter ihm stehen, zu. Juliette hält beide Daumen nach oben. Ich ignoriere sie, doch meine Wangen beginnen sofort zu glühen.
»Nächste Frage?«, frage ich ihn kühn.
Er überlegt und runzelt die Stirn. »Okay. Hobbys. Was machst du gerne, wenn du nicht arbeitest?«
Das ist einfach. »Mit Freunden abhängen. Festivals besuchen. Mit meinem Hund Gassi gehen …«
»Du hast einen Hund?«
Meine Gedanken wandern zu meinem großen Golden-Retriever-Baby Chester, auf den meine Nachbarin Gina zu Hause aufpasst. Genau genommen ist er kein reinrassiger Retriever. Minimale Wesenszüge von einem Labrador und einem Spaniel lassen sich in ihm durchaus erkennen. Außerdem ist er nicht wirklich ein Baby. Chester war schon sieben, als ich ihn zu mir geholt habe.
Ursprünglich hatte ich nicht vor, einen Hund zu halten. Ich war mit einer Freundin im Tierheim, um ein paar alte Decken zu spenden.
Natürlich wollten wir den Tieren »Hallo« sagen, wenn wir schon da waren.
Ein großer Fehler.
Chesters trübseliger Blick hat mir in dem Moment das Herz gebrochen, in dem ich ihm begegnet bin. Außerdem hat mich seine traurige Vergangenheit gerührt, denn sein geliebter Besitzer war verstorben. Nach ein paar schlaflosen Nächten, in denen ich mir Sorgen um ihn machte, kehrte ich ins Tierheim zurück und kümmerte mich um die Papiere.
Allerdings wäre das alles ohne die Hilfe von Gina, die bereits im Ruhestand war und sich angeboten hatte, während meiner Arbeitszeit auf Chester aufzupassen, gar nicht gegangen. Gina und ihr Mann hatten im vergangenen Jahr ihren kleinen Terrier verloren, und sie behauptete steif und fest, dass ich ihnen damit einen Gefallen erwies.
»Chester war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.« Wehmut schwingt in meiner Stimme mit. »Zwar war es nicht geplant, aber ich konnte ihn nicht im Tierheim zurücklassen. Ich liebe ihn sehr.«
Duncan nickt, stellt aber keine weiteren Fragen über Chester, sondern wechselt schnell das Thema. »Okay, Ananas auf Pizza? Ja oder nein?«
Vielleicht mag er Tiere einfach nicht besonders.
Ich schiebe den Gedanken beiseite, denn im Grunde spielt es keine Rolle.
Ich erkenne an dem Funkeln in seinen Augen, dass er mit mir flirtet, und bis zu dem Moment, in dem meine Champagnerflöte leer ist, rückt Chester in den Hintergrund, während mein Selbstvertrauen wächst. »Nicht unbedingt meine erste Wahl, aber es ist okay. Was ist mit dir?«
»Teufelszeug.«
»Du bist also ein Ananas-Snob?«, frage ich grinsend.
»Ja. Ja, so könnte man es sagen«, stimmt er zu. Meine Bemerkung scheint ihn zu amüsieren. Er trinkt seinen Champagner aus, winkt einen Kellner herbei und lässt die leeren Flöten durch volle ersetzen. Lächelnd stößt er mit mir an. »Okay. Eine letzte Frage habe ich noch.«
»Nur zu.«
»Callie. Ist das dein richtiger Name oder eine Kurzform für irgendetwas?«
Das wurde ich früher oft gefragt, mittlerweile hat sich das etwas gelegt, da Callie inzwischen ein Name für sich zu sein scheint. Trotzdem ist es nicht der Name, der in meiner Geburtsurkunde steht.
»Es ist die Kurzform für Micaela«, sage ich und rümpfe die Nase. »Aber außer meinem Dad nennt mich niemand so. Er selbst heißt Michael. Wahrscheinlich hat er sich einen Sohn gewünscht, stattdessen wurde ich geboren, also müsste es wohl ein Kompromiss sein.«
»Ich mag Micaela«, sagt Duncan sanft. »Das ist ein hübscher Name und er passt zu dir. Du solltest ihn gebrauchen.«
Zum ersten Mal an diesem Abend nimmt das Gespräch eine Wendung, die mir nicht behagt.
»Ich bevorzuge Callie«, erwidere ich etwas steif.
Es ist albern, aber damit trifft er einen wunden Punkt, und ich mag es nicht, wenn man mir vorschreiben will, wie ich mich ansprechen lassen soll. Den Spitznamen »Callie« habe ich von Mum. Nach ihrem Tod wollte ich ihn beibehalten. Ich stand Mom schon immer näher als meinem Dad. Es mag albern klingen, aber es hilft mir etwas, über ihren Verlust hinwegzukommen, weil es mir das Gefühl gibt, als wäre Mom noch in der Nähe.
Natürlich weiß Duncan nichts davon und ich werde ihn nicht damit belasten. Wir lernen uns gerade erst kennen und es ist doch recht persönlich. Außerdem bezweifle ich, dass es ihn überhaupt interessieren würde.
Möglich, dass er es an meinem Gesichtsausdruck erkennt, oder aber es liegt an dem Schweigen, das sich daraufhin ausdehnt, aber er scheint zu realisieren, dass er ein heikles Thema angeschnitten hat. »Ich weiß, ich habe versprochen, dass es die letzte Frage sein würde. Aber ich würde gern noch eine Sache wissen.«
Ich entspanne mich ein wenig und fühle mich albern. Ich habe überreagiert. »Nur zu«, presse ich hervor und spiele mit.
»Welche Eissorte magst du am liebsten?«
Die Frage ist witzig, und obwohl ich einen Moment brauche, um darüber nachzudenken, gibt es einen klaren Favoriten. »Chocolate-Fudge.«
Duncan sieht mir tief in die Augen und ich erkenne das Feuer, das darin lodert. »Was hältst du davon, wenn wir uns heimlich davonschleichen?«
Vor Überraschung reiße ich die Augen auf. Meint er wirklich das, was ich denke, das er meint?
»Du willst die Party verlassen?« Er hat mich überrumpelt und ich bringe die Frage nur stotternd heraus.
»Bist du dabei?« Sein Lächeln vertieft sich, als er mir die Champagnerflöte abnimmt und sie zusammen mit seiner auf dem nächstbesten Tablett abstellt. »Na los, ich möchte dir etwas zeigen.«
***
Anscheinend ist nichts dabei, seine eigene Party zu verlassen, während sie in vollem Gange ist. Zumindest wenn es nach Duncan geht. Wir sitzen uns in einem kleinen Café gegenüber, in das er mich mitgenommen hat, und löffeln das beste Eis, das ich je gegessen habe.
Vielleicht schmeckt es so gut, weil Duncan Stone mir gegenübersitzt. Oder es ist einfach ein fantastisches Eis.
Offensichtlich ist er in dem Laden gut bekannt, denn der Mann, der uns bedient, begrüßt ihn wie einen längst verschollenen Verwandten. Duncan hat sogar einen Stammplatz.
Die Sitznischen mit den hohen Rückenlehnen bieten einen gewissen Grad an Privatsphäre vor den anderen Gästen. Nur einem Paar sind wir aufgefallen, und ich merke, wie ihre Blicke immer wieder zu uns wandern. Schließlich nimmt die Frau ihren ganzen Mut zusammen, kommt an unseren Tisch und fragt schüchtern nach einem Selfie.
Duncan reagiert höflich und geduldig und bittet mich, das Foto zu schießen. Er unterhält sich mit der Frau namens Susie und wirkt wirklich interessiert an dem, was sie zu sagen hat, während ich ein halbes Dutzend Fotos knipse.
»Vielen herzlichen Dank.« Susie strahlt uns beide an, dann geht sie zu dem Mann, der auf sie gewartet hat.
»Ich schätze, das kommt ziemlich oft vor.« Ich konzentriere mich wieder auf mein Eis, das bereits zu einer cremigen Masse auf dem Boden des Eisbechers geschmolzen ist. Während ich auf seine Antwort warte, schaufle ich einen Löffel voll davon und lasse mir den Schoko-Fudge-Geschmack auf der Zunge zergehen.
Er zuckt mit den Achseln. »Das ist Teil meines Jobs. Ich schätze, inzwischen habe ich mich wohl dran gewöhnt. Ohne meine Fans wäre ich nicht da, wo ich heute stehe. Und es kostet mich nichts, ihnen etwas davon zurückzugeben.«
Seine Haltung über seinen Ruhm beeindruckt mich, denn er kommt überhaupt nicht aufgeblasen rüber. Susie gegenüber war er freundlich und respektvoll und nicht im Geringsten arrogant.
Meine Gedanken schweifen ab und unwillkürlich frage ich mich, was als Nächstes geschieht. Würde er mich küssen wollen? Ich stelle mir das Gefühl seiner Lippen auf meinen vor. Wie es wäre, seine Hände auf meiner Haut zu spüren. Ihn zu berühren. Ihn zu schmecken.
»Callie?«
Ich bemerke, dass er mich ansieht und mir eine Frage gestellt hat. Hitze schießt mir in die Wangen, als ich in seine wunderschönen blauen Augen schaue. »Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Du warst mit den Gedanken ganz woanders. Worüber hast du nachgedacht?«
»Ähm, über gar nichts. Nur daran, wie schön es hier ist.«
Er wirkt amüsiert und für einen schrecklichen Moment befürchte ich, dass er sich zusammengereimt hat, wohin meine Gedanken gewandert waren. »Ich habe dir doch gesagt, dass es hier das beste Eis gibt.«
»Dem kann ich nur zustimmen.«
»Wollen wir dann langsam los? Ich weiß, wir haben uns davongeschlichen, aber ich sollte nicht zu lang fortbleiben.«
Er will schon zurück?
Meine Seifenblase zerplatzt.
Natürlich muss er zur Party zurück. Er schmeißt sie für eine seiner Wohltätigkeitsorganisationen. Obwohl er zu Beginn des Abends eine Rede gehalten hat, werden die Gäste von ihm erwarten, dass er sich unter die Leute mischt. Es würde auffallen, wenn er zu lange fortbleibt.
»Ja, natürlich.« Mit einem lässigen Tonfall überspiele ich meine Enttäuschung.
»Danke für die spontane Flucht. Ich habe die Zeit genossen.«
»Ich fand es auch schön. Danke, dass du mir das Café gezeigt hast.«
Okay, zwar muss ich auf meinen Kuss verzichten, aber wie viele Frauen können schon von sich behaupten, dass sie sich zu einem Eis-Date mit Duncan Stone getroffen haben?
***
Zurück auf der Party sehe ich Duncan für den Rest des Abends kaum noch. Gelegentlich erhasche ich einen kurzen Blick auf ihn, während er seine Gäste unterhält. Nur einmal begegnen unsere Blicke sich, woraufhin er mir zuzwinkert und mir ein heißes Lächeln schenkt.
»Wo bist du gewesen?«, will Juliette wissen, die wie aus dem Nichts neben mir auftaucht. Sie zieht mich zu den Toiletten, wo Tracy und unsere andere Freundin Aarna Kapoor bereits auf uns warten. »Ich weiß, dass du dich davongeschlichen hast, und ein gewisser Mr Stone war auch verschollen.«
Ich erzähle ihnen von unserem Ausflug ins Eiscafé, nachdem sie mir versprochen haben, Stillschweigen zu bewahren.
Tracy quiekt freudig auf. »Ich wusste es! Ich habe dir doch gesagt, dass er dich mag.«
Tut er das? Zumindest hat er mich nicht um meine Nummer gebeten.
Als wir beschließen, die Party zu verlassen, kann ich Duncan nirgendwo entdecken, um ihm Tschüss zu sagen. Stattdessen gehe ich widerwillig mit den anderen nach Hause.
Das Wochenende verbringe ich damit, mir über unsere Begegnung den Kopf zu zerbrechen, und als ich am Montagmorgen das Büro betrete, brodelt die Gerüchteküche bereits. Juliette hat mein Geheimnis nicht verraten, aber das hält sie nicht davon ab, mir den ganzen Morgen über vielsagende Blicke zuzuwerfen. Als die Blumen geliefert werden, nimmt sie den Strauß entgegen und schlendert mit einem breiten Grinsen zu meinem Schreibtisch herüber. Der Strauß aus Rosen, Lilien und Margeriten ist gigantisch.
Alle starren mich an und Hitze schießt mir in die Wangen.
»Lies, was auf der Karte steht«, fordert Juliette mich auf, während sie den Umschlag aus dem Strauß pult, bevor sie ihn mir in die Hand drückt.
Verlegenheit und Aufregung ringen in mir, als ich ihn aufreiße und die Zeilen überfliege.
Ich habe deine Gesellschaft am Freitagabend sehr genossen. Jetzt, da ich mich als Eis-Guru bewiesen habe, kann ich dich von einem Abendessen überzeugen? Duncan.
Unter der Nachricht hat er seine Handynummer notiert.
»O mein Gott, Callie!« Juliette späht mir über die Schulter. »Du hast ein Date mit Duncan Stone.«
»Was?«, kommt es von Ross, dem Designer, dessen Schreibtisch in der Ecke steht. Wie praktisch für ihn, dass er gerade seine Ohrhörer herausgenommen hat.
»Juliette!«, zische ich.
»Was?« Sie zuckt mit den Achseln. »Er hat dir Blumen geschickt. Das ist kein Geheimnis. Den Strauß haben alle gesehen.«
Ich nehme an, sie hat recht, und ein kleiner Teil von mir möchte in die Welt hinausschreien, dass Duncan Stone Interesse an mir zeigt.
Dennoch liegt mir seine Privatsphäre am Herzen.
»Ich wünsche mir eine Führung durch sein Haus. Das schicke Landhaus, das ich in der HELLO! gesehen habe. Kennst du das? Es ist mehr ein Schloss, denn ein Haus«, sagt Juliette. »Wenn du seine Freundin wirst, versteht sich.«
»Nein, ich kenne es nicht. Aber ich stalke ihn auch nicht online.«
Lügnerin!
Sobald ich nach der Party zu Hause angekommen war, kuschelte ich mich an Chester und las jeden Artikel, den ich über Duncan finden konnte. Besonders solche, die seine Exfreundinnen erwähnten.
Ich wollte herausfinden, ob er ein gewisses Beuteschema hat.
Es schien, als wäre dies nicht der Fall. Die Frauen, mit denen er ausgegangen war, wiesen diverse Merkmale auf und unterschieden sich durch ihre Haarfarbe, Größe und Statur. Nur eins hatten sie immer gemeinsam: Sie waren auffällig hübsch.
Dank meiner Recherche weiß ich inzwischen, dass er dreiundvierzig und Sternzeichen Schütze ist. Er wohnt in Mile End, das zum Stadtteil Tower Hamlets im Londoner East End gehört. Duncans Mutter war alleinerziehend und er wuchs als Einzelkind in einer schmuddeligen Zweizimmer-Sozialwohnung ohne Garten auf. Von seinem ersten Gehalt kaufte er ihr ein wunderschönes neues Heim – bei diesem Teil schlägt mein Herz höher –, das sie bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr bewohnte. Und, selbstverständlich habe auch ich die Bilder von seinem Landhaus gesehen, von dem Juliette spricht. Es hat sogar kleine Türmchen.
Alle lieben Duncan. Angefangen bei seinen Schauspielerfreunden, gefolgt von anderen Philanthropen bis hin zu Menschen, die ihn persönlich kennenlernen durften. Er gibt nicht vor, perfekt zu sein, und genau das lieben sie an ihm am meisten. Duncan hat sich praktisch aus dem Nichts emporgekämpft und dabei einige Fehler in seinem Leben gemacht. Als Teenager hatte er sich mit den falschen Leuten eingelassen und sah sich mit Vorwürfen von Vandalismus und Bagatelldelikten konfrontiert. Selbst nachdem er sich geändert und seine Karriere an Schwung gewonnen hatte, gab es den einen oder anderen Rückfall. So hatte er sich am Set betrunken, einen Regisseur geschlagen und während seiner berühmt-berüchtigten Zeiten seine Kumpane zu drogenexzessiven Orgien mit hochklassigen Callgirls in einem der Top-Hotels Londons eingeladen.
Allerdings hatte er das alles weit hinter sich gelassen, seine Fehler eingesehen und sich öffentlich entschuldigt. Noch immer kursiert das eine oder andere Gerücht um seine Verbindungen zu zwielichtigen Gestalten, die er aus seiner Jugend kennt, doch heutzutage sorgt er nur noch für positive Schlagzeilen. Er ist ein rechtschaffener Mann, der nicht davor zurückschreckt, sich für seine Unzulänglichkeiten zu entschuldigen. Duncan trägt sein Herz auf der Zunge und hat keine Geheimnisse.
Und sollte er doch Geheimnisse haben, so hält er sie zumindest gut versteckt.
Kapitel vier
Heute
Es war das Bellen des Hundes, das Nicos Aufmerksamkeit erregte.
Er hatte die Hunde zum Pinkeln herausgelassen und sofort den Lärm gehört, der aus dem Cottage drang.
War mit Callie alles in Ordnung?
Er konnte keine Lichter erkennen, aber das Bellen wollte gar nicht mehr aufhören. Chester klang eher frustriert als aufgeregt. Und natürlich sprangen seine beiden Hunde darauf an. Shyla hob alarmiert den Kopf, während Dash nervös herumtänzelte.
Es war schon spät, sicher längst nach elf. Um die Uhrzeit würde sie keinen Besuch empfangen.
Aber wenn sie in Schwierigkeiten steckte …
Nico war klar, dass er keine Ruhe finden würde, bis er nachgesehen und sich vergewissert hätte.
***
Es war Laurels Idee, Callie vorzuschlagen, auf der Willow Brook Farm unterzukommen. Ursprünglich war Nico dagegen gewesen.
Er erinnerte sich an die Freundin seiner Schwester und hatte prinzipiell nichts gegen sie, aber sie war nicht sein Problem. Teddy, sein ehemaliger Boss, war vor beinahe vier Jahren gestorben und Nico hatte mit den Stallungen alle Hände voll zu tun. Er konnte kein weiteres Projekt gebrauchen.
Aber Laurel war hartnäckig geblieben, und als er mehr über Callies Hintergrund erfuhr, hatte er allmählich nachgegeben.
Sie konnte sonst nirgendwo hin. Und er hatte genügend Platz. Nach seinem Einzug ins Haupthaus stand das Stable Cottage leer. Gern hätte er es dem einen oder anderen Stallburschen angeboten, die für ihn arbeiteten, aber sie lebten alle in der Nähe und brauchten keine Unterkunft. Obwohl er mit dem Gedanken gespielt hatte, es zu vermieten, war es nie dazu gekommen. Wenn Callie einen Ort zum Wohnen brauchte, tat es niemandem weh.
Und heute war ihm bewusst geworden, wie dringend sie das Cottage brauchte.
Laurel und Callie waren seit der Studienzeit befreundet. An der Universität hatten sie sich ein Zimmer geteilt und Callie war öfters zu ihnen zu Besuch gekommen. Er kannte sie als selbstbewusst und quirlig. Die Frau, die Nico heute vom Bahnhof in Norwich abgeholt hatte, war hingegen schüchtern und verängstigt.
Nur halbherzig hatte er eingewilligt, herunterzufahren und sie abzuholen – noch so eine Idee von Laurel –, aber Callie hatte abgelehnt. Seit er sie heute gesehen hatte, bedauerte er es, nicht darauf bestanden zu haben. Bei der Erinnerung an den gequälten Ausdruck in ihren Augen, als sie aus dem Zug stieg, beschleunigte er seine Schritte.
Hier war sie sicher. Sein Haus lag mitten im Nirgendwo, und auf der Fahrt hatte er den Rückspiegel bis Strumpshaw sorgfältig im Auge behalten. Wenn sie verfolgt worden wären, hätte er es bemerkt. Für Chesters Bellen gab es wahrscheinlich eine völlig harmlose Erklärung. Trotzdem würde er sich besser fühlen, wenn er Gewissheit hätte.
Er folgte dem Weg zum Cottage, legte die Entfernung mit langen, hastigen Schritten zurück, dann klopfte er laut an die Haustür und wartete, bis sie ihm öffnete.
Im Inneren bellte der Hund weiter.
Vielleicht hätte er sie vorwarnen müssen, bevor er die Tür aufschloss, aber er sorgte sich um Callie. Als er das Wohnzimmer betrat, sah er selbst durch die Dunkelheit hindurch, dass alles so war, wie es sein sollte.
Chester war sofort bei Nico und rannte sichtlich bekümmert um ihn herum. Als der Retriever auf der Farm ankam, war er zunächst ängstlich und leicht schreckhaft gewesen, aber er hatte schnell eine Bindung zu den anderen Hunden aufgebaut, besonders zu Dash, und letztendlich auf diese Weise gelernt, Nico zu vertrauen. Der Hund war in einem betagten Alter und langsamer in seinen Reaktionen, aber das heutige Aufeinandertreffen mit Callie gab ihm neue Lebenskraft und er wedelte ununterbrochen mit dem Schwanz. Was hatte ihn also jetzt so sehr in Aufregung versetzt?
»Callie?«
Nico sprach leise, um sie nicht zu erschrecken, obwohl sie das Bellen des Hundes unmöglich überhören konnte.
Hatte sie sich verletzt?
Seine Sorge vertiefte sich, als sie ihm nicht antwortete. Er ging durch das kleine Cottage und zögerte, als er sah, dass die Schlafzimmertür offen stand. Seine Augen hatten sich an das Dämmerlicht so weit gewöhnt, um zu erkennen, dass die Laken zerwühlt waren, Callie aber nicht im Bett lag.
Wo zum Teufel steckte sie?
Einerseits wollte er ihre Privatsphäre nicht stören, andererseits machte er sich Sorgen um sie. Besonders, als Chester an ihm vorbei ins Zimmer und zu der anderen Seite des Bettes schoss.
Nico folgte ihm und da fand er sie. Mit hochgezogenen Knien, das Gesicht darin vergraben und die Hände auf die Ohren gedrückt, saß sie in Fötusstellung auf dem Boden zwischen der Wand und dem Bett eingeklemmt.
»Callie?« Er hatte etwas lauter gesprochen, und als sie zusammenzuckte, ging er schnell vor ihr in die Hocke. War sie verletzt? Was war geschehen? Er konnte sehen, dass sie zitterte, und er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu berühren, bevor er darüber nachdenken konnte.
»Callie.« Er versuchte es erneut, diesmal in einem sanfteren Tonfall. »Ich bin’s, Nico.«
Chester versuchte sich zwischen sie zu schieben, und als er sie mit seiner nassen Zunge im Gesicht abschleckte, hob sie langsam den Kopf und schaute ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
Einige Sekunden erwiderte Nico ihren Blick.
Die blonde Perücke war verschwunden.
Obwohl er von ihrem Plan wusste, sich zu verkleiden, und sich daran erinnerte, dass sie kastanienbraunes Haar hatte, überraschte es ihn doch, sie mit den dunkleren Locken zu sehen, die ihr blasses Gesicht umrahmten.
»Was ist passiert?«, wollte er wissen. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sie hatte ihn zu Tode erschreckt.
Sie blinzelte zweimal. »Nico?«
»Alles okay bei dir? Was ist passiert?«
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an. »Jemand hat angeklopft.«
»Was? Wo?«
»Jemand hat versucht, hier reinzukommen.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe gehört, wie sie versucht haben, die Tür aufzubrechen.«
Nicos erste Reaktion bestand aus Wut, aber sie verrauchte schnell in Anbetracht der Glaubwürdigkeit der Frau, die vor ihm saß. Niemand hatte einen Grund, das Cottage mitten in der Nacht betreten zu wollen, und er würde seinen Hintern darauf verwetten, dass ihnen niemand vom Bahnhof hierher gefolgt war. Dafür war er zu vorsichtig gewesen.
War es nur ein Albtraum von ihr?
Hatte sie sich nur eingebildet, dass jemand einbrechen wollte?
Er war sensibel genug, um seine Gedanken nicht laut auszusprechen. Was immer es gewesen war – ob real oder nicht –, sie war verängstigt und er wollte es nicht riskieren, sie noch mehr zu verstören. Stattdessen schlug er einen Tonfall an, den er auch bei der Arbeit mit einem nervösen Pferd nutzen würde, und nickte langsam. Es war wichtig, ihr Vertrauen zu gewinnen. »Sollen wir zusammen nachsehen?«
Ihre Stimme klang schrill, beinahe kindlich und ein wenig unsicher. »Okay.«
Er widerstand der Versuchung, ihr seine Hand zu reichen, um ihr aufzuhelfen, weil er wusste, dass sie es nicht gutheißen würde. Also wartete er darauf, dass sie ihm folgte, während Chester nicht von ihrer Seite wich.
War der Hund so aufgewühlt gewesen, weil jemand versucht hatte, ins Cottage einzubrechen, oder war seine Reaktion auf Callies Verhalten zurückzuführen? Zu diesem Zeitpunkt war Nico sich nicht sicher.
Ein kurzer Blick auf die Haustür und das Schloss verriet ihm, dass es keine Spuren von gewaltsamem Eindringen gab, was ihn auf die Variante mit dem Albtraum schließen ließ.
Es war nachvollziehbar. Sie war durch die Hölle gegangen. War es da ein Wunder, dass ihr ihre Vorstellung Streiche spielte?
Obwohl er überzeugt war, dass niemand hatte einbrechen wollen, würde es nicht schaden, die Sicherheitsvorkehrungen am Cottage zu verschärfen. Selbst, wenn es nur aus dem Grund geschähe, sie zu beruhigen. Das Grundstück war bereits mit einem Lichtsensor ausgestattet, aber ein paar Kameras und eine Alarmanlage würden dafür sorgen, dass sie ruhig schlafen konnte.
Er beschloss, sich damit gleich morgen auseinanderzusetzen.
»Komm doch mit rüber und schlaf heute Nacht im Haupthaus«, schlug er vor. Obwohl ihr keine Gefahr drohte, würde sie sich dort sicherer fühlen.
Er verspürte nicht wirklich den Wunsch, einen Hausgast zu beherbergen, aber eine Nacht würde er schon überstehen und es war ihm unangenehm, sie hier zurückzulassen.
»Ich komme schon klar, aber danke.«
Er hätte gedacht, sie würde die Gelegenheit ergreifen, deshalb überraschte ihn ihre Antwort.
»Bist du dir sicher? Es würde mir nichts ausmachen.«
»Ich komme schon klar, wirklich.« Ihr Lächeln wirkte gezwungen und feine Fältchen umrahmten ihre Augenwinkel. »Wer auch immer das war, er ist verschwunden.«
Sie trug einen Flanellpyjama, der ihr viel zu groß war, sodass der Stoff von ihren Schultern herunterrutschte, und auch die Hose war ihr viel zu lang. Es machte ihn betroffen, wie verletzlich sie aussah.
Nico traf eine Entscheidung. »Okay, warum bleibe ich nicht einfach hier? Auf dem Sofa«, ergänzte er schnell, für den Fall, dass sie etwas anderes gedacht hatte. »Nur, um ganz sicher zu sein.«
In ihren blauen Augen blitzte Entrüstung auf, aber ihr Ton blieb ausdruckslos. »Ich sagte doch, ich komme klar.«
In diesem Moment fiel ihm die Röte auf ihren Wangen auf.
Sie war peinlich berührt. Jetzt, einen Moment später, konnte er sehen, dass es ihr total unangenehm war, ihn aus dem Bett gezerrt zu haben.
Also ließ er es dabei bewenden.
»Nun, du hast ja meine Handynummer, falls du mich brauchst. Okay?«
Sie begegnete seinem Blick und reckte leicht das Kinn. »Okay.« Dann, als wäre sie sich ihrer guten Manieren bewusst geworden, ergänzte sie: »Vielen Dank. Es tut mir leid, dass du wegen Nichts hier rauskommen musstest.«
Er würde es nicht als »Nichts« bezeichnen, aber das behielt er für sich. Es hatte ihm geholfen, die Frau besser zu verstehen, mit der er nun zurechtkommen musste.
Nico hatte angenommen, dass er ihr Stable Cottage zur Verfügung stellen und sie dann ihrer Wege gehen lassen konnte. Nun wurde ihm bewusst, dass es ein größeres Engagement von ihm erforderte, als er bereit war, einzugehen.
Verdammt, Laurel!
Sie hatte ihn nicht vorgewarnt, worauf er sich einließ. Er kannte Callies Vergangenheit und wovor sie floh, aber ihm war nicht bewusst gewesen, wie tief verstört sie war.
Natürlich würde sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Es war ein Versäumnis seinerseits, dass er das nicht bedacht hatte.
Aber nun war sie hier und er trug die Verantwortung. Ob es ihnen beiden gefiel oder nicht.
Kapitel fünf
Nach Norwich fahren, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und niemandem im Weg sein.
So lautete der Plan, aber Callie war bereits in ihrer ersten Nacht kläglich gescheitert, und es beschämte sie, Nico gestört zu haben.
Er war sehr freundlich, aber sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er ihr nicht glaubte.
Wen auch immer sie draußen gehört haben mochte, es war real, und viele schreckliche Minuten lang war sie sich sicher, dass sie gefunden worden war. Jetzt, da sie die Dinge rational betrachtete, war ihr klar, dass sie sie unmöglich so schnell gefunden haben konnten, aber vergangene Nacht war sie blind vor Panik gewesen.
Sie hatte sich selbst das Versprechen abgerungen, um ihr Leben zu laufen, und nicht stehen zu bleiben, bis sie Sicherheit gefunden hätte. Nun wurde ihr klar, dass sie einen besseren Plan brauchte.
Anstatt wegzulaufen, war sie wie erstarrt, zog sich in sich selbst zurück und ließ das Ruder von der Angst übernehmen. Wenn sie es gewesen wären, wäre sie jetzt tot oder noch schlimmer.
Das war der Beweis, dass sie es unmöglich sein konnten. Denn sie würden nicht aufhören, bis sie sie in die Finger bekommen hätten.
Trotzdem war jemand an der Tür gewesen und ist dann über das Grundstück gelaufen. Callie hatte das Knirschen von Schritten auf dem Schotter gehört. Aber die Tatsache, dass sie an der Tür gerüttelt hatten, beunruhigte sie am meisten.
Nachdem Nico gegangen war, stellte sie einen der Stühle direkt vor die Tür und positionierte ihn so, dass die lange Rückenlehne sich unmittelbar unter der Klinke befand, sodass diese nicht heruntergedrückt werden konnte. Dennoch war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen und am darauffolgenden Tag fühlte sie sich müde und überfordert, als sie sich der Tragweite der Geschehnisse bewusst wurde. Sie hatte sich im Cottage verkrochen und war nur rausgegangen, um Chester sein Geschäft erledigen zu lassen. Den Rest des Tages nutzte sie dazu, um in Büchern und Zeitschriften zu blättern, die sie im Wohnzimmer gefunden hatte. Gern hätte sie den Fernseher angestellt oder wäre im Internet gesurft, aber aus Sorge, welche Schlagzeilen ihr dort begegnen könnten, ließ sie es bleiben.
War ihr Plan aufgegangen? Glaubten sie, dass sie gestorben war?
Nico würde für sie die Nachrichten im Auge behalten. Sollte es Entwicklungen geben, über die sie Bescheid wissen musste, würde er sie in Kenntnis setzen.
Er hatte sich bei ihr gemeldet, sich aber kurzgehalten. Seine Nachrichten ähnelten seiner Art zu reden. Er vermied zu viele Buchstaben, sofern sie nicht unbedingt nötig waren.
Alles okay?
Immer noch beschämt, entschuldigte sie sich bei ihm und sicherte ihm zu, dass ihr nichts fehlte.
Seine Antwort bestand aus sechs Wörtern:
Melde dich, wenn du etwas brauchst.
Sie würde ihr Bestes geben, um es zu vermeiden.
Stattdessen nahm sie die Dinge, wie sie kamen, Stunde für Stunde. Als sie keine Lust mehr hatte, weiterzulesen, erkundete sie das kleine Cottage genauer. Dann überprüfte sie die Fenster und stellte sicher, dass sie geschlossen waren, bevor sie nach Stellen Ausschau hielt, die sich im Falle des Falles auch gut als Versteck eigneten. Es gab keine.
Wenn sie das Haus schnell verlassen müsste, wäre das Badezimmerfenster ihre beste Chance. Zwar war das Schlafzimmerfenster etwas größer, aber es ließ sich nur kippen. Das Fenster über der Toilette ließ sich nach außen aufdrücken. Es war klein, sodass Callie gerade so hindurchpassen würde, aber wenn sie einmal draußen wäre, könnte sie sich zwischen den Bäumen verstecken.
In ihrer zweiten Nacht auf der Farm schlief sie schon etwas besser und blieb größtenteils von Albträumen verschont. Am Morgen wachte sie erholt und voller Hoffnung auf, doch dann setzte die vertraute Nervosität wieder ein.
Nicht heute. Sie weigerte sich, sich ihr hinzugeben.
Gestern war eine Ausnahme gewesen, um sich einzuleben und ihre Gedanken zu sortieren. Da heute aber Samstag war und die Sonne schien, wollte sie die Gegend erkunden. Ja, sie musste vorsichtig sein, aber solange sie sich an die Landstraßen hielt, würde ihr nichts passieren.
Eine ausgedehnte Gassi-Runde mit Chester würde sie beschäftigen und hoffentlich ermüden.
Die Jeans, die sie gefunden hatte, war etwas zu weit und der Pullover saß zu locker, aber die Gummistiefel passten perfekt. Der Anorak, die Handschuhe und die Wollmütze würden zumindest dafür sorgen, dass sie nicht fror.
Callie leinte Chester an, schloss das Cottage ab und steckte den Schlüssel ein. Sie ignorierte den Wald und folgte stattdessen dem Weg, den Nico gestern genommen hatte. Jetzt, da sie zu Fuß unterwegs war, konnte sie einen kleinen Bach erkennen, der an der Grundstücksgrenze verlief.
Daher musste die Farm ihren Namen haben, dachte sie, als sie die Weidenbäume entdeckte, die über die Stelle ragten, an der der Bach breiter wurde.
Als sie das Haupthaus passierte, war von Nicos Jeep nichts zu sehen und auch Shyla und Dash waren nicht da. Auf einer der Koppeln, die an die lange Auffahrt angrenzte, sattelte eine Frau mit einem dunklen Zopf ein kleines Palomino. Sie sah auf, als Callie näher kam, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht zeugte von Neugier – dennoch machte sie sich nicht die Mühe, sie zu grüßen.
Callie wollte kein Gespräch beginnen, aber auch nicht unhöflich wirken. »Hallo«, sagte sie nur, als sie vorbeigingen, während Chester wild mit dem Schwanz wedelte.
Aus der Nähe betrachtet, musste die Frau jünger sein, als sie zunächst angenommen hatte. Spätes Teenageralter, vielleicht Anfang zwanzig. Sie nickte Callie zu und der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Lippen, während ihr Blick flüchtig zum Stable Cottage wanderte.
Kurz sah es so aus, als würde sie etwas sagen wollen, doch dann schien es, als hätte sie es sich anders überlegt, und sie konzentrierte sich wieder auf das Pferd.
Callie beließ es dabei und setzte ihren Weg fort. Als sie die Einfahrt erreichte und sich bewusst wurde, dass sie den sicheren Hafen des Grundstücks hinter sich ließ, spürte sie die vertraute Angst in sich aufsteigen.
Sie betrat die schmale Landstraße, und da es keinen Gehweg gab, hielt sie sich an den Straßenrand, falls Verkehr aufkommen sollte. Chesters Leine lag fest in ihrer Hand, als er bei der Fülle an unbekannten Gerüchen nach vorn preschte. Für sein betagtes Alter war er noch immer sehr lebhaft.
Nicht eine Wolke hob sich von dem strahlend blauen Himmel ab. Die Luft war frisch und kalt, und Callie war froh, dass sie sich so warm eingemummelt hatte. Da sie die Gegend nicht kannte und befürchtete, sich zu verlaufen, blieb sie auf der Straße und genoss den Spaziergang mit ihrem Hund.
Chester war ihr kaum von der Seite gewichen, seit sie sich wiedergefunden hatten, und Callie war ihrerseits nicht geneigt, ihn aus den Augen zu lassen. Die sechs Monate ohne ihn waren die härtesten ihres Lebens gewesen, und sie konnte immer noch kaum glauben, dass sie wieder vereint waren.
Bevor sie zu Duncan nach Devon gezogen waren, hatten sie die Sonntagnachmittage oft genauso verbracht. Gemeinsam hatten sie die Landschaft erkundet. Er war ihr bester Freund und sie hatte ihn schmerzlich vermisst.
Die Straße nahm ein paar Windungen, aber das Landschaftsbild änderte sich nicht. Felder, Hecken und dichte Baumgruppen, die sich gelegentlich mit rar gesäten Häusern entlang der Straße abwechselten. Meistens handelte es sich um Immobilien im alten Stil. Einige von ihnen waren bereits saniert worden und bei mehreren standen noch die Bauwagen im Garten herum.
Callie war ungefähr fünfzehn Minuten gelaufen, als sie das Geräusch eines sich nahenden Autos hinter sich hörte, und da die Straße sehr schmal war, zog sie Chesters Leine an, um mit ihm auf die Böschung zu treten, sodass es an ihnen vorbefahren konnte.
Es war das erste Fahrzeug, das ihr auf dieser Straße begegnete, was noch einmal davon zeugte, wie abgelegen Nicos Grundstück lag. Als es mit ihr gleichzog, drehte sie sich um, um den Fahrer zu begrüßen, musste aber feststellen, dass das Fenster des Range Rovers getönt war, weshalb sie keinen Blick ins Innere erhaschen konnte.
Ihre Kehle zog sich sofort zusammen und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper erstarrte, bevor sie zu zittern begann. Leute wie Duncan und Rob bevorzugten Autos mit verdunkelten Fenstern. Das Fahrzeug wirkte auf der ruhigen Landstraße völlig deplatziert.
Das waren sie nicht. Das konnte nicht sein …
Aber dann rauschte es an ihr vorbei, verschwand in der Ferne und ließ Callie zurück. Sie bemühte sich, sich zusammenzureißen, während Chester winselte und an der Leine zerrte. Ihre Beine zitterten, und als sie die Böschung verließ, um wieder auf die Straße zu treten, hätte sie beinahe den Halt verloren.
Ein Teil von ihr war versucht, zurückzulaufen und sich in die Sicherheit der Farm zu begeben, aber sie wusste, dass sie ihre Angst nicht die Oberhand gewinnen lassen durfte. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.
Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag wieder. Nur wenige Minuten später – gerade, als sie das Erlebte fast vergessen hatte – öffnete sich hinter der nächsten Biegung die Sicht auf die Landschaft und sie erspähte wieder den Range Rover. Das Fahrzeug stand einige Meter von ihr entfernt in einer Haltebucht, die einer Einfahrt zu einem Feld ähnelte.
Warum hatte der Fahrer angehalten?
Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit und Callie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.
Die Fahrbahn war frei und auf diesem Streckenabschnitt standen keine Häuser. Zu ihrer Rechten gab es nur Bäume und auf der Seite, auf der das Auto geparkt war, befand sich eine Hecke, die an ein Feld angrenzte. Damit blieben Callie genau zwei Möglichkeiten: Entweder weiterzulaufen oder umzudrehen. Aber selbst, wenn sie sich für Letzteres entscheiden sollte, lag Nicos Haus gut einige Kilometer entfernt.
Sie ließ ihre behandschuhte Hand in die Tasche des Anoraks gleiten und tastete nach ihrem Handy.
Sollte sie ihn anrufen?
Er schien nicht zu Hause zu sein, als sie zu dem Spaziergang aufgebrochen war, also wäre es gut möglich, dass er gar nicht in der Nähe war. Selbst, wenn doch, würde er mindestens fünf Minuten brauchen, um herzukommen.
Sie hatte sich schon einmal vor ihm blamiert. Was würde er denken, wenn sie ihn schon wieder wegen eines falschen Alarms anrief?
Andererseits würde sie sich lieber blamieren, statt sterben zu müssen.
Callie ignorierte Chester, der auf dem Asphalt saß und winselte, weil sie zum zweiten Mal angehalten hatte, zog das Handy aus ihrer Tasche und wollte gerade Nicos Nummer wählen, als sie sah, dass sie keinen Empfang hatte.
Panik schnürte ihr die Kehle zu, während sie zum Range Rover hinüberstarrte. Aus welchem Grund hatte das Auto angehalten? Sie stellte sich vor, dass Duncan oder Rob hinter dem Steuer saßen und auf den richtigen Moment warteten, um zuzuschlagen, weil sie wussten, dass sie verletzlich und allein war.
Callie zerrte Chester wieder auf die Beine und ging langsam rückwärts, ohne das Auto aus den Augen zu lassen, weil sie damit rechnete, dass es plötzlich anfuhr.
Sie mussten sie sehen können. Wie weit würde sie kommen, bevor sie reagierten?
Es war an der Zeit, das herauszufinden.
Also machte Callie sich bereit, drehte sich um und rannte los.
Kapitel sechs
Callies Herz schlug ihr bis zum Hals, und auch wenn es kalt war, schwitzte sie unter dem Pullover. Während sie Chesters Leine fest umklammerte, hoffte sie, dass der betagte Retriever mit ihr Schritt halten konnte.
Anfangs ging es problemlos, vielleicht, weil er Spaß an dem neuen Spiel hatte. Aber langsam wurde er müde, und als sie merkte, dass ihm das Laufen zunehmend schwerer fiel, musste sie ihr Tempo unwillkürlich verlangsamen.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich irgendwo verstecken zu können, sah sie sich um, entdeckte aber nichts.
Warum zum Teufel war sie nicht auf der Farm geblieben?
In der Ferne tauchte das letzte Haus auf, an dem sie vorbeigekommen waren. Es war ein rosafarbenes Cottage, vor dem mehrere alte Autos parkten. Würde sie von dort aus Hilfe holen können?
Hinter ihr ertönte das Geräusch eines Motors, das immer weiter anschwoll, je näher das Auto kam.
Diesmal hielt sie nicht am Straßenrand an. Stattdessen beschleunigte sie ihre Schritte, während sie sich darüber ärgerte, dass Chester Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Callie konzentrierte sich auf das Haus vor ihr, das plötzlich so weit entfernt zu sein schien.
»Entschuldigen Sie?«
Die Stimme brachte sie aus dem Konzept, denn sie war ihr unbekannt.
»Entschuldigen Sie? Miss?«
Callie wurde langsamer und drehte sich um.
Der Range Rover hielt an und der Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster. Er hatte seine Brille bis hinauf zu seiner Glatze hochgeschoben. Der Mann hinter dem Steuer war schon älter. Callie blinzelte, unsicher, ob ihre Augen sie nicht täuschten. Sie kannte diesen Mann nicht.
»Können Sie mir helfen? Ich habe mich verfahren.«
Er hatte sich verfahren? War er deshalb in der Haltebucht stehen geblieben, um dann umzudrehen und zurückzufahren? Hatte sie überreagiert und gleich das Schlimmste angenommen?
Vorsichtig näherte sie sich dem Wagen. Der Mann erweckte einen harmlosen Eindruck und musste mindestens siebzig sein, aber sie kannte ihn nicht und hier draußen waren sie allein.
»Ich glaube, ich bin zu früh von der Umgehungsstraße abgefahren. Ich wollte nach Lingwood.«
Er klang ernsthaft durcheinander, aber bedauerlicherweise konnte Callie ihm nicht helfen.
»Es tut mir leid, aber ich bin nicht von hier.« Sie zeigte auf das rosafarbene Cottage. »Vielleicht können Ihnen die Leute in dem Haus dort drüben weiterhelfen.«
Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu, als würde er überlegen, ob sie die Wahrheit sagte. »Okay, danke.«
Sie und Chester traten zurück, als er wieder anfuhr. Callie sah ihm nach, wie er neben dem Cottage anhielt. Jetzt ärgerte sie sich über ihre Reaktion.
Trotzdem war es eine ernüchternde Ermahnung daran, dass sie sich besser nicht zu weit von der Farm entfernen sollte.
Das letzte Stück zurück war anstrengend und dauerte länger als der restliche Spaziergang. Sobald sie wieder zu Hause wären, würde Chester eines der Leckerlis bekommen, die er sich redlich verdient und die sie in einem der Küchenschränke gefunden hatte. Callie wollte duschen und in der Zeit konnte er ein Nickerchen machen. Aber als sie die Einfahrt hinaufgingen, sah sie Nicos Jeep neben einem unbekannten Auto stehen. Dann erblickte sie ihn vor dem Haus, wie er sich mit einem Mann und einer Frau unterhielt. Shyla wartete geduldig neben ihm.
Callies Weg führte direkt an ihnen vorbei und die Furcht zeigte erneut ihr hässliches Haupt, als sie sich vorstellte, mit den Neuankömmlingen interagieren zu müssen. Warum waren sie hier? Kannte Nico sie?
Nico und Laurel hatten sich eine Verschleierungsgeschichte überlegt, mit der sich Callies Aufenthalt in Norfolk erklären ließe. Während der Zugfahrt hierher war Callie sie immer wieder durchgegangen, aber nun krampfte sich ihr Magen doch zusammen und ihr Verstand war wie benebelt.
Sie zog es sogar in Betracht, quer über das Feld zu laufen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber dann tauchte Dash wie aus dem Nichts auf, rannte die Einfahrt hinunter und bellte fröhlich, als er sie entdeckte. Und Chester, der wieder äußerst lebhaft wurde, kugelte Callie fast den Arm aus, um ihm entgegenzulaufen.
Bei dem Tumult drehten sich die Neuankömmlinge und Nico um, und Callie begriff, dass es kein Entkommen gab.
Nervös schloss sie sich den dreien vor dem Haus an und spürte Nicos bedeutungsschweren Blick auf sich ruhen. »Alles okay?«, fragte er leise.
Callie nickte, während sie den Fremden dabei beobachtete, wie er sich bückte, um ihren Hund zu begrüßen. »Chester, alter Knabe, wie geht es dir?«
Sie musterte ihn, während er Chester hinter den Ohren kraulte und mit ihm redete, während das Tier sich offensichtlich freute. Er hatte dunkles lockiges Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war, und dunkle Augen, mit denen er sie neugierig musterte.
»Sie haben ihn ja ganz schön geschlaucht.« Sein Blick wanderte zu Nico, der es nicht eilig zu haben schien, sie vorzustellen.
»Hallo, ich bin Faith«, sagte die Frau nach einer Weile und unterbrach damit die peinliche Stille. Sie schenkte Callie ein freundliches Lächeln. »Du musst neu hier sein.«
»Hallo, ich …« Callie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre gut einstudierte Verschleierungsgeschichte war ihr prompt entfallen, weshalb sie dankbar war, als Nico endlich einschritt.
»Das ist Callie, eine weitere Angehörige des Adams-Clans. Sie ist meine und Laurels Cousine und bleibt für eine Weile hier.«
»Sehr erfreut, Callie.« Faith deutete mit einem gutmütigen Augenrollen auf den Mann neben ihr. »Der Hundeflüsterer hier ist Ethan, Nicos bester Freund, sein Buchhalter und – in guten wie in schlechten Zeiten – mein Mann.«
Ethan richtete sich auf und schüttelte Callie die Hand. »Du verdienst mein Mitgefühl, wenn du bei Nico wohnen musst«, witzelte er. »Ich wette, unser Mr Griesgram ist nicht gerade der angenehmste Mitbewohner.«
Nicos Lippen zuckten bei der Bemerkung, auch wenn er nicht darauf konterte.
»Ich wohne im Stable Cottage«, berichtigte sie ihn.
»Wirklich?« Ethan schien überrascht zu sein. »Das hast du mir verschwiegen, Kumpel«, wandte er sich an Nico. »Ich hoffe, du hast da vorher aufgeräumt.«
»Es ist eine schnuckelige Hütte«, betonte Faith.
»Das schon, aber sie stand seit Jahren leer.«
»Das ist nicht schlimm«, versicherte Callie ihm. »Mir gefällt es dort.«
Sie wollte sich gerade verabschieden, als Faith an ihr vorbei schaute und lächelte. »Da ist sie ja.«
Callie drehte sich um, als ein junges Mädchen von etwa neun oder zehn Jahren auf sie zulief. War das ihre Tochter? Die junge Frau, die sie zuvor mit dem Palomino auf einer der Koppeln gesehen hatte, folgte gleich dahinter.
»Pass auf, dass du auf dem Schlamm nicht ausrutschst, Olive!«, rief sie ihr zu.
Das Kind ignorierte sie und verlor fast den Halt, als es zu der Gruppe stieß.
»Anya hat dich doch gebeten, vorsichtig zu sein«, schalt Faith verhalten und hielt Olive fest. »Hat dir die Reitstunde gefallen?«
Olive nickte, als Anya sie einholte. »Sie ist ein echter Profi, Mrs Stuart.«
»Nun, das hat sie nicht von mir.« Faith lachte. »Ich kann mich auf dem Pferderücken kaum aufrecht halten. Ethan ist früher manchmal geritten.«
»Das ist aber schon eine Ewigkeit her und ich war nie besonders gut.« Ethan fischte einen Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und klickte damit in Richtung seines Autos. »Wir müssen los.«
»Vielleicht sollten Sie sich auch eine Reitstunde gönnen, Mr Stuart«, schlug Anya vor, zwinkerte Faith zu und erntete von ihr ein belustigtes Schnauben, während Ethan bei der Idee geradezu bestürzt wirkte.
Vorhin schien die junge Frau etwas distanziert zu sein, aber jetzt war sie überraschend gesprächig.
Wahrscheinlich wollte sie sich ihrem Boss gegenüber von ihrer besten Seite zeigen, nahm Callie an, als ihr der Blick auffiel, den Anya Nico zuwarf, der sich endlich ein Grinsen abzuringen schien. Es veränderte sein Gesicht, auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen und seine grünen Augen strahlten eine Leichtigkeit aus, die ihr noch nie zuvor bei ihm aufgefallen war. Für einen Moment war seine finster-grüblerische Miene verschwunden.
»Ich habe ihn reiten sehen. Er braucht mehr als nur eine Reitstunde«, scherzte er.
»Und das war das Wort zum Abschied. Wir müssen jetzt wirklich los.« Ethan ergriff die freie Hand seiner Tochter und schob seine Familie sanft zum SUV. »Ich rufe dich nächste Woche an, Nico. War nett, dich kennenzulernen, Callie.«
»Ja, ich hoffe, du lebst dich gut ein. Wir sehen uns bestimmt wieder«, sagte Faith.
»Auf Wiedersehen, Mr Stuart, auf Wiedersehen Mrs Stuart«, rief Anya ihnen hinterher. Bisher hatte sie keine Notiz von Callie genommen, aber jetzt fixierte sie sie mit einem düsteren, neugierigen Blick. Nico musste das bemerkt haben, denn prompt stellte er die beiden einander vor. »Anya, das ist Callie. Sie wohnt im Cottage. Callie, das ist Anya. Sie hilft mir im Stall aus, du wirst sie hier also noch öfter sehen.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.« Callie schenkte ihr ein Lächeln, das nicht erwidert wurde. Anyas Gesichtsausdruck blieb kühl.
»Hallo, Callie.« Sie wandte sich wieder Nico zu. »Ich fange schon mal mit dem Ausmisten an«, sagte sie, nickte knapp und ging zurück zu den Ställen.
Dash fand wohl, dass er etwas verpasste, und ließ Chester stehen, um ihr hinterher zu rennen.
Callie sah ihr nach. »Sie scheint noch sehr jung zu sein. Arbeitet sie schon lange für dich?«
»Sie ist achtzehn. Und ja, seit einer ganzen Weile. Sie hatte ein paar Probleme. Die Arbeit mit den Pferden hat ihr geholfen, runterzukommen.« Er ging nicht näher auf die Sache ein und Callie wollte ihn auch nicht weiter drängen.
Als Stille zwischen ihnen eintrat, gab Chester einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Gähnen und einem Wimmern lag.
»Ich sollte zurück gehen.«
»Callie?«
»Ja?«
»Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Er klang besorgt und sie hielt inne. Ihr Körper spannte sich an. Verfügte er über einen sechsten Sinn oder so was? Sie spielte mit dem Gedanken, ihm von den Ereignissen des heutigen Tages zu berichten. Sie könnte die Begegnung scherzhaft in den Raum werfen, auch wenn es sie geängstigt hatte. Aber nach allem, was in ihrer ersten Nacht vorgefallen war, musste Nico glauben, dass sie ihn anlog, und sie wollte sein Vertrauen nicht aufs Spiel setzen.
Es war besser, es für sich zu behalten.
»Alles bestens«, erwiderte sie schwach.
»Brauchst du irgendetwas?«
»Nein, ich bin versorgt.«
»Ich habe heute früh Sicherheitskameras für das Cottage besorgt. Kann ich später vorbeikommen und sie installieren?«
Das hatte er getan?
»Ähm, ja, okay. Danke.«
Callie hatte nicht erwartet, dass er so etwas tun würde. Nico setzte sich bereits für sie ein.
Vielleicht nahm er ihre Bedenken doch ernst, grübelte sie auf dem Weg in ihr neues Zuhause. Entweder das oder er wollte sie einfach beruhigen.
Was auch immer der Grund dafür war, sie wusste die Geste zu schätzen. Noch mehr, als sie die Haustür aufschloss, das kleine Wohnzimmer betrat und sofort spürte, dass jemand in der Hütte gewesen sein musste.
Sie hatte gelernt, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen, und wenn etwas nicht stimmte, spürte sie das meist sofort. Genauso wie Chester, dessen Nase umgehend neue Gerüche wahrnahm.
Im Wohnzimmer und in der Küche war alles an seinem Platz, doch als sie sich im Schlafzimmer umsah, fielen ihr die Anzeichen auf.
Als sie heute Morgen ihr Bett machte, hatte sie die Bettdecke sorgfältig glattgezogen. Es war eine Gewohnheit, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, aber nun sah es aus, als hätte jemand auf ihrer Seite des Bettes gesessen, denn die Laken waren zerknittert.
Und dann entdeckte sie das Foto ihrer Mutter. Der Bilderrahmen auf dem Nachttisch stand etwas schief, als hätte ihn jemand in die Hand genommen, um sich das Bild anzusehen, und ihn dann wieder an die falsche Stelle gestellt.
Callie klebte die Zunge am Gaumen fest. Wer war im Cottage gewesen?
Mein Geld.
Als ihr der Gedanke kam, riss sie panisch die oberste Schublade ihrer Kommode auf und atmete erleichtert durch, als sie die schwarze Tasche erblickte. Mit zitternden Fingern zählte sie die Scheine nach. Die Summe war vollständig. Callie stieß den Atem aus und die Anspannung fiel von ihren Schultern.
Trotzdem war jemand im Cottage gewesen. Sie war nicht paranoid. Aber wenn sie es Nico erzählte, würde er ihr glauben?
Er hatte als Einziger einen Schlüssel, denn sie wusste, dass er einen Satz Ersatzschlüssel besaß, weil er die Haustür letzte Nacht selbst aufgeschlossen hatte.
Aber das war etwas anderes. Nichts rechtfertigte seine Anwesenheit, während Callie abwesend war. Und wenn er doch einen Grund gehabt hatte, so hätte er es ihr gegenüber mit Sicherheit erwähnt.
Es sei denn, er wollte nicht, dass sie es wusste.
Der hässliche Gedanke kroch aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche.
Nein, er unterstützte sie. Nico war Laurels Bruder. Sie konnte ihm vertrauen.
Ihr Adoptivbruder, ermahnte sie sich selbst, nachdem ihr die Gesprächsfetzen, die sie von Laurels Mum aufgeschnappt hatte, wieder in den Sinn kamen.
Er hat eine Menge durchgemacht.
Niemand weiß, was dieser arme Junge durchleben musste und welche Narben dies auf seiner Seele hinterlassen hat.
Es war gemein vor ihr, besonders nach allem, was er für sie getan hatte.
Nico Adams hatte nur ihr Bestes im Sinn. Oder?