1
Zwei Monate nach dem Überfall
Einen Menschen sterben zu sehen, hat mich verändert. Früher beispielsweise hatte ich kein Problem mit großen Menschenmengen. Jetzt ängstigen sie mich. Wenn ich zuvor furchtlos war, bin ich inzwischen ein nervliches Wrack. Selbst der Besuch des Colleges ist zu einem gefährlichen Drahtseilakt geworden. Dabei bin ich im letzten Semester gern hergekommen.
Ich schlucke und presse meinen Rucksack fester gegen meine Brust. Die vorbeieilenden Gesichter sind mir zwar vertraut, doch zugleich so fremd, als hätte ich sie in einem anderen Leben gesehen.
In einem Leben davor.
Vor dem erschütternden Ereignis, das ich seit knapp zwei Monaten nicht beim Namen nenne.
Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, als ein junger Mann etwas zu nah an mir vorbeigeht und seine Hand in die Jackentasche steckt.
Mein Herz bleibt stehen.
Alle Alarmglocken schrillen. Hat er etwas darin versteckt? Holt er gleich eine Waffe raus? Beginnt er, um sich zu schießen?
Nein, er zieht lediglich eine Packung Kaugummi hervor, schiebt sich eins in den Mund und wirft das Papier achtlos auf den Boden. Früher hätte ich ihn angeschnauzt und verlangt, dass er seinen Müll richtig entsorgt und damit nicht unsere Umwelt verschmutzt. Heute scheue ich die Konfrontation. Stattdessen werden mir vor Erleichterung die Knie weich. Ich muss dringend aufhören, direkt vom Schlimmsten auszugehen. Nicht jeder Mensch auf der Welt plant böse Dinge.
Nachdem ich tief durchgeatmet habe, fühle ich mich endlich bereit, die Aula zu betreten. Mit gestrafften Schultern mache ich einen Schritt nach vorn und werde prompt angerempelt. Augenblicklich zucke ich zusammen. Mir fällt der Rucksack aus der Hand, dessen gesamter Inhalt sich auf dem Boden verteilt.
»Hervorragend«, seufze ich und hocke mich hin, um alles einzusammeln.
»Warte, ich helfe dir.« Eine männliche Hand schiebt sich in mein Blickfeld und beginnt damit, einige Kleinigkeiten aufzusammeln. Unter anderem auch einen herausgerollten Tampon.
Hitze schießt mir in die Wangen.
Bitte, bitte, bitte lass ihn nicht süß sein, sonst versinke ich im Boden.
Langsam schaue ich auf und verfluche den Herrn da oben dafür, dass er mein Gebet nicht erhört hat. Denn vor mir kniet der anbetungswürdigste Mann, den ich je gesehen habe.
Sein dunkles Haar ist leicht gewellt, als wäre es an der Luft getrocknet. Ein Hauch von Lavendel steigt mir in die Nase und beruhigt meine aufgekratzten Nerven.
»Ähm … danke«, stammle ich und weiß plötzlich, wie sich Eliza gefühlt hat, als sie Connor zum ersten Mal gegenüberstand.
»Kein Problem. Einer Frau in Nöten eile ich immer gern zu Hilfe.« Er zwinkert mir zu, wobei seine grünen Augen belustigt funkeln. Sie erinnern mich an verwitterte Glasscherben, die zu lange mit Meerwasser in Berührung gekommen sind.
Ungeschickt nehme ich ihm die Bücher ab und stopfe sie achtlos zurück in den Rucksack. Für Ordnung ist später noch Zeit.
»Musst du da rein?«
Irritiert schaue ich ihn an und bin von der tiefen Klangfarbe seiner Stimme so abgelenkt, dass ich seine Worte nicht richtig wahrnehme. »Wo rein?«
Seine Mundwinkel zucken.
Die Hitze in meinen Wangen nimmt zu. Inzwischen bin ich sicher rot wie eine Tomate. Gott, wie katastrophal kann eine erste Begegnung ablaufen?
»In die Aula«, ergänzt er schmunzelnd.
Der Hörsaal. Die Vorlesung. Natürlich.
»Ja«, entgegne ich wenig einfallsreich, woraufhin er mir die Tür öffnet und mir mit einer lockeren Handbewegung bedeutet, voranzugehen. Als ich mich an ihm vorbeischiebe, steigt mir erneut Lavendel in die Nase. Normalerweise kann ich diesen Geruch nicht ausstehen, aber an ihm ist er überraschend betörend.
Es sind erst wenige Kommilitonen anwesend und so, wie es aussieht, scheint auch unser Dozent Neal noch nicht da zu sein. Für einige Sekunden schweift mein Blick über die anwesenden Studierenden, bis ich die zwei Menschen erkenne, die ich gesucht habe. Beflügelt davon, meine Freunde endlich wiederzusehen, hüpfe ich die Stufen zur Bühne hinunter. Wohl wissend, dass der attraktive Fremde weiterhin hinter mir ist.
»Maddie!« Elizas Stimme überschlägt sich beinahe, als sie mich entdeckt. Auch Keith’ Kopf schnellt nach oben. Seine Lippen verziehen sich zu einem erfreuten Lächeln, als er mich sieht. Von meinem Bauch aus verteilt sich eine wohlige Wärme in meinem gesamten Körper. Zwei Monate habe ich meine engsten Freunde nur via Facetime gesehen. Jetzt wieder vor ihnen zu stehen, fühlt sich verdammt gut an.
»Hey, Leute!«
Eliza reißt mich in eine stürmische Umarmung, weshalb mein Rucksack ein zweites Mal innerhalb weniger Minuten auf dem Boden landet.
»Du hast gar nicht gesagt, dass du heute schon zur Vorlesung kommst. Ich hätte dich vom Wohnheim abgeholt.« Eliza schiebt mich von sich und wirft mir einen tadelnden Blick zu.
»Es war eine spontane Entscheidung. Ursprünglich wollte ich erst morgen wieder anfangen«, erkläre ich und umarme Keith, der mich fest an sich drückt.
»Ich freue mich so, dich zu sehen«, murmelt er.
Mir schießen Tränen in die Augen. Ich bin ebenfalls froh wieder in Silveroaks zu sein. Auch wenn die Auszeit bei meinen Eltern in New Orleans notwendig gewesen ist, merke ich, dass die Kleinstadt zu meinem Zuhause geworden ist. Mit allen Menschen, die ich hier kennenlernen durfte.
Ich löse mich von Keith, der einen interessierten Blick über meine Schulter wirft.
»Wen hast du denn da mitgebracht?« Auf Keiths Frage hin, schaut Eliza ebenfalls auf. Binnen eines Sekundenbruchteils schnellen ihre Augenbrauen nach oben, während sie zwischen ihm und mir hin- und hersieht.
»Das ist …« Ich halte inne und drehe mich zu dem hilfsbereiten Unbekannten um. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtet uns neugierig.
»Aiden«, beendet er den Satz für mich und zwinkert mir zu. »Wir haben uns vor dem Hörsaal kennengelernt.«
Ich nicke, um seine Antwort zu bestätigen, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre. Warum sollten meine Freunde ihm nicht glauben?
»Ich bin Maddie«, entgegne ich, als mir klar wird, dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe.
Seine Mundwinkel zucken erneut. Lacht er über mich? Oder findet er lediglich meine Unbeholfenheit amüsant?
»Habe ich mir schon gedacht.« Innerlich klatsche ich mir die Hand gegen die Stirn. Natürlich. Eliza hat eben meinen Namen gerufen und er wird eins und eins zusammengezählt haben. Wann genau habe ich meine Fähigkeit verloren, mit Männern zu sprechen? Oder liegt es nur speziell an ihm?
»Bist du neu an der Silveroaks Park?« Keith beäugt Aiden neugierig. In der Zwischenzeit sammle ich mal wieder den Inhalt meines Rucksackes auf. Nebenbei warte ich gespannt auf Aidens Antwort. Im vergangenen Semester habe ich ihn nicht bemerkt. Weder im Murphy’s, dem Stammtreffpunkt aller Studierenden, noch im Polly’s Pastries, der besten Bäckerei der Stadt. Und ich bin mir sicher, er wäre mir aufgefallen. Aiden hat eine gewisse Ausstrahlung, die niemand ignorieren kann. Es ist schwierig zu erklären, aber ich fühle mich von ihm angezogen, wie eine Motte vom Licht.
»Ja. Ich habe vorher gearbeitet und mich jetzt erst für ein Studium entschlossen«, erklärt er.
Ich richte mich auf und ziehe diesmal den Reißverschluss meines Rucksacks zu, damit der sich nicht zum dritten Mal irgendwo verteilt.
»Was hast du denn …«, beginne ich, als die Türen des Hörsaals aufgerissen werden und gegen die Wand knallen.
Ich zucke zusammen. Meine Muskeln spannen sich an. Unruhig zucken meine Augen von links nach rechts. Mein Herz schlägt schneller, während ich versuche, den Grund für den Lärm ausfindig zu machen.
Aiden hat sich aufgerichtet. Er wirkt angespannter als zuvor. Ähnlich wie ich scannt er den Raum nach der Ursache des Krachs ab. Es wirkt fast so, als wäre er auf derartige Situation spezialisiert, aber wahrscheinlich rede ich mir das nur ein, um mich selbst sicherer zu fühlen.
»Willkommen zurück, meine Lieben!« Unser Dozent Neal steht mit ausgebreiteten Armen am oberen Ende der Treppe und blickt auf uns herunter.
Erleichtert atme ich aus. Meine Schultern sacken hinab und ich wechsle einen amüsierten Blick mit Eliza. Keine Gefahr in Sicht. Nur Neal, der seinen gewohnt dramatischen Auftritt zu Semesterbeginn hinlegt.
Langsam stolziert er die Stufen hinunter.
Wir nehmen auf den Stühlen Platz und warten geduldig, bis er sich auf dem Rand der imposanten Bühne niedergelassen hat.
»Es freut mich, in altbekannte und vor allem neue Gesichter zu blicken. Miss Campbell! Schön, dass Sie ebenfalls zurück sind. Dieser Kurs hat Sie sehr vermisst. Das Theater hat Sie vermisst!« Er zwinkert mir zu und ich werde erneut rot.
Normalerweise macht mir Aufmerksamkeit nichts aus. Ganz im Gegenteil: Ich liebe sie. Schon als Kind wollte ich immer im Mittelpunkt stehen. Habe bei jeder Gelegenheit die Bühne gesucht und mich so irgendwann dazu entschlossen, Schauspielerin zu werden. Während andere jedoch von der großen Karriere in Hollywood träumen, hat mich die Aussicht darauf, über die Fernsehbildschirme zu flimmern, nie gereizt. Ich wollte zum Ursprung. Ins Theater. Eine Bekanntheit des Broadways werden, und darauf arbeite ich hin.
»Ich bin auch glücklich darüber, wieder hier zu sein«, erwidere ich und lächle. Dabei spüre ich Aidens Blick deutlich. Er sitzt schräg hinter mir und sofort frage ich mich, ob er der Grund für meine heutige Zurückhaltung ist. Unsere erste Begegnung hängt mir noch nach. Ich habe seinen Duft weiterhin in der Nase, erinnere mich an seine meerglasgrünen Augen und nehme die Reaktionen meines Körpers darauf überdeutlich wahr.
Dieses Zusammentreffen liegt längst zurück. Auch wenn es nur einige Minuten sind, hätte ich früher keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Aber heute ist das anders. Ich bin anders. Es ist für mich normal geworden, Situationen, die ich vor einigen Monaten noch als belanglos eingestuft habe, viel intensiver zu überdenken. Und ich habe das Gefühl, dass Aiden mir einiges an Stoff zum Grübeln gibt.
»Dieses Semester widmen wir uns einer großen Produktion. Einem Projekt, das sich über die nächsten vier Monate erstreckt. Diejenigen von euch, die bereits länger dabei sind, werden für die Hauptrollen vorsprechen. Alle Neuen bekommen kleinere Parts. Abgesehen von den Männern. Weil ihr in der Unterzahl seid, werden die großen männlichen Rollen auch mit Anfängern besetzt.« Neal macht eine bedeutungsschwere Pause und sieht uns der Reihe nach an.
Mein Herz flattert aufgeregt. Eine große Produktion! Darauf freue ich mich schon, seit ich mit dem Studium begonnen habe. Im ersten Semester war eine Aufführung der Kurzversion von Jean Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft geplant, in der ich ursprünglich die Rolle der Estelle Rigault übernehmen sollte. Ich wollte dieses unbeschreibliche Gefühl wieder spüren, das meinen Körper flutet, sobald ich auf der Bühne bin. So, wie ich es von Aufführungen aus der High School kannte. Die Gefühle und Gedanken der Rolle zu verkörpern und mich am Ende im Applaus des Publikums zu sonnen. Durch die Auszeit, die ich mir nach dem Zwischenfall in Covington genommen habe, konnte ich leider nicht an der Aufführung teilnehmen. Deshalb kann ich es kaum erwarten, diese süchtig machende Empfindung endlich wieder zu erleben.
Neben mir hebt Eliza die Hand.
Neal schürzt die Lippen und seufzt, bevor er sich durchs Haar fährt. »Ja, Eliza, jeder aus dem zweiten Semester muss für eine Hauptrolle vorsprechen. Und ja, ich ziehe trotzdem in Erwägung, ob Sie einen Baum spielen können.«
Ihre Hand sinkt wieder und sie atmet erleichtert auf. Es ist kein Geheimnis, dass meine Freundin diesen Kurs nur belegt hat, weil sie damals keine andere Wahl hatte. Als sie anfing, an der Silveroaks Park zu studieren, waren ihre einzigen Möglichkeiten Schauspiel und englische Literatur. Inzwischen hat sie Letzteres durch Gesundheit und Fitness ausgetauscht, um ihren Bachelor in Kinesiologie zu machen.
»Was führen wir denn nun auf?« Keith schaut zu Neal, der aussieht, als müsste er sich daran erinnern, wo er aufgehört hat.
»Wir spielen den Sommernachtstraum von Shakespeare. Romeo und Julia ist in meinen Augen total ausgelutscht. Deshalb befassen wir uns mit einem anderen Stück, aber auch dabei greifen wir nicht auf die Originalfassung zurück.« Ein geheimnisvolles Lächeln umspielt seine Lippen.
»Was hat er nur wieder vor?«, wispere ich in Keiths Richtung, der ahnungslos mit den Schultern zuckt. Wenn ich im letzten halben Jahr eins gelernt habe, dann, dass Neal voller Überraschungen steckt.
»Während Sie Ihre Semesterferien genossen haben, habe ich das Stück umgeschrieben. Es moderner gemacht. In die heutige Zeit verlagert.« Neal steht auf und drückt jedem Anwesenden einen dicken Stapel Papier in die Hand. »Ich nenne es: A Midsummer Nights Dream – Neal’s Version.«
Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht laut loszulachen. Auch Eliza und Keith sind stark damit beschäftigt, nicht in die Richtung des jeweils anderen zu schauen, denn sonst wären sämtliche Dämme gebrochen und es gäbe kein Halten mehr. Der Taylor Swift Hype ist also selbst an unserem Dozenten nicht vorbeigegangen.
»Das wird großartig. Ich sehe die vielen begeisterten Zeitungsartikel bereits vor mir. Nächste Woche beginnen die Vorsprechen. Suchen Sie sich eine Rolle aus, üben Sie den Text. Ein paar Tage später werde ich die finalen Rollen bekanntgeben und dann beginnen wir mit den Proben. Aber zunächst fangen wir mit unseren traditionellen Kennenlernspielen an!« Er klatscht auffordernd in die Hände und wir betreten die Bühne.
Während Neal das Evolutionsspiel erklärt, zuckt mein Blick zu Aiden. Er steht mir gegenüber und beobachtet mich, statt unserem Dozenten zuzuhören. Als er meinen Blick bemerkt, zupft die Andeutung eines Lächelns an seinen Mundwinkeln. Meine Wangen werden direkt wieder heiß und ich hoffe, dass ich auf niedliche Weise erröte und nicht der Tomate von vorhin ähnle.
Aiden macht mich nervös.
Normalerweise wühlen mich Männer nicht mit einem einzigen Blick auf. Deshalb schiebe ich es auf die Situation. Auf meine Rückkehr nach Silveroaks und mein ohnehin sehr dünnes Nervenkostüm. Ich darf mich nicht ablenken lassen. Nicht, wenn ich eine Hauptrolle im Sommernachtstraum ergattern könnte. Wer weiß, welche Freunde Neal am Broadway oder in anderen renommierten Theatern hat. Wenn er die zur Premiere einlädt und sie mich spielen sehen, öffnet mir das womöglich eine Tür in die große Welt des Schauspiels.
»Hey, Maddie Mango.« Eliza stupst mich an. Mit dem Namen nimmt sie Bezug auf das zweite Kennenlernspiel, das folgt. »Hör auf, Aiden anzustarren, und beweg dich.«
Ich schüttle den Kopf, um aus meiner Trance zu erwachen. Alle anderen schwimmen bereits als Amöben über die Bühne oder duellieren sich durch Schere-Stein-Papier, um die Entwicklung zur nächsten Evolutionsstufe zu erreichen. Unbewusst haben meine Augen Aiden verfolgt, während ich meinen Gedanken nachhing. Sofort mische ich mich unter meine Kommilitonen und suche mir eine andere Amöbe, um gegen sie anzutreten.
Ich muss Aiden dringend aus meinem System bekommen. Im Moment ist es wichtig, mich auf mich selbst und darauf zu konzentrieren, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Darin haben grünäugige und nach Lavendel duftende Männer nichts verloren. Ganz gleich, wie viel Eindruck sie hinterlassen haben.
2
Ich begleite Eliza ins Murphy’s, wo direkt nach Ende der Vorlesungen ihre Schicht beginnt. Ruby erwartet uns bereits.
»Maddie! Es ist so schön, dass du wieder da bist!« Sie drückt mich so fest an sich, dass ich Angst habe, zerquetscht zu werden.
»Keine … Luft«, japse ich und grinse meine Mitbewohnerin an, nachdem sie mich losgelassen hat. Ruby hat mir sehr gefehlt. Sich mit ihr eine Wohnung zu teilen, ist tausendmal angenehmer, als ein großes Haus mit meinen Eltern zu bewohnen.
»Entschuldige. Ich freue mich nur so.« Ihr Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen. »Du hättest sagen können, dass du zurückkommst. Dann hätte ich zu Hause auf dich gewartet und wir wären zusammen zur Uni gegangen.«
Lässig winke ich ab. »Dad hat mich gebracht. Außerdem war das Überraschungsmoment doch genauso schön, oder?«
Meine Freundinnen nicken. Kristen, Elizas Kollegin, stellt eine braune Papiertüte auf den Tresen. Ruby drückt ihr einige Scheine in die Hand und wendet sich dann wieder mir zu.
»Ich habe alles bestellt, was du gern isst. Das verdrücken wir zu Hause und du erzählst, wie es bei deinen Eltern war.«
Ich lächle, greife nach Rubys Hand und drücke sie. Es rührt mich sehr, wie viel Mühe sie sich gibt. Am liebsten würde ich ihr um den Hals fallen und sie nie mehr loslassen.
»Ich wünschte ich könnte auch dabei sein.« Eliza seufzt. Inzwischen steht sie hinter dem Tresen und arbeitet Getränkebestellungen ab. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, sind fast alle Tische im ortseigenen Restaurant besetzt.
»Wir machen bald einen Mädelsabend, um uns über alles auszutauschen, was ich verpasst habe.« Ich lächle Eliza aufmunternd an. Wir haben zwar oft miteinander telefoniert, aber es ist gar nicht möglich, alle wichtigen Informationen innerhalb einer halben Stunde auszudiskutieren. Mein Herz hat schon immer für Klatsch und Trasch geschlagen und in den zwei Monaten, die ich weg war, ist sicherlich eine Menge passiert.
»Klingt gut. Vielleicht schaue ich nach der Schicht noch im Wohnheim vorbei. Kommt drauf an, wie anstrengend es wird.« Sie zieht eine Grimasse. Es ist kein gutes Omen, wenn es jetzt schon so voll ist.
Ruby und ich verabschieden uns und schlendern durch die Straßen von Silveroaks Richtung Wohnheim. Obwohl es Januar ist, herrschen bereits angenehme fünfzehn Grad. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach unten und genieße den Spaziergang in vollen Zügen. Während meiner Zeit in New Orleans habe ich die Ruhe in Silveroaks vermisst. Da unser Familienanwesen direkt neben unserer Destillerie liegt, war ständig Betrieb um mich herum. Das Arbeiten der Maschinen. Das Lachen der Mitarbeiter. Meine Mom, die dauernd um mich herumgeschlichen ist. Richtig für mich sein konnte ich nur nachts beim Schlafen. Das war anstrengender als gedacht.
»Geht es dir besser?«, fragt Ruby schließlich, als wir in die Straße einbiegen, wo unser Appartement liegt.
Nachdenklich fahre ich mir durchs Haar. Diese Frage habe ich mir selbst schon einige Male gestellt und bin nie zu einer zufriedenstellenden Antwort gelangt.
»Besser, ja, aber noch nicht gut. Ich merke, dass … dieser Vorfall etwas verändert hat.«
Ruby nickt mitfühlend. Diesmal ist sie es, die nach meiner Hand greift und sie sanft drückt. »Ich würde mir Sorgen machen, wenn es dich kalt gelassen hätte.«
Jeden, der so ein Erlebnis nicht berührt, muss ein Psychopath sein.
Wir passieren die Tür zum Wohnheim und ich bleibe unschlüssig stehen. »Ist dir schon mal aufgefallen, wie schlecht geschützt dieser Eingang ist? Jeder kann beliebig kommen und gehen.«
Ruby hält ebenfalls an, betrachtet mich und dann die Tür. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob die nachts abgeschlossen wird.« Sie legt die Stirn in Falten und neigt den Kopf zur Seite. Ein unangenehmer Schauder rieselt meinen Rücken hinab. Die Vorstellung, dass es niemanden gibt, der kontrolliert, wer das Gebäude betritt, bereitet mir Bauchschmerzen. Früher war mir das egal. Da hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wer hier ein- und ausgeht. Jetzt ist das anders. Vielleicht sollte ich mich bei der Wohnheimleitung erkundigen, ob sie bereit wären, diesbezüglich etwas zu ändern.
Gemeinsam mit Ruby erklimme ich die Treppen in den zweiten Stock, wo wir direkt links in unser kleines Appartement abbiegen. Vorhin habe ich nur kurz meine Sachen ins Wohnzimmer gestellt und bin dann direkt zur Vorlesung, weshalb ich mich nicht genauer umschauen konnte. Aber jetzt, wo die Tür hinter mir ins Schloss gefallen ist und ich mehr Zeit habe, merke ich, dass sich nichts verändert hat. Alles ist noch genauso, wie ich es vor zwei Monaten hinterlassen habe.
Ich schmunzle und nehme ein T-Shirt von der Sofalehne, dass weder Ruby noch mir gehört. Der Geruch von Karamell und Moschus steigt mir in die Nase und ich werfe es grinsend nach Ruby, die unser Essen auf dem Couchtisch ausbreitet.
»Dein Freund hat was vergessen.«
Sie wird rot und kratzt sich verlegen am Kopf. Ich sinke aufs Sofa und beobachte sie dabei, wie sie das Shirt ins Schlafzimmer bringt. Es freut mich, dass es zwischen ihr und Dex so gut läuft. Nach seiner ersten Liebeserklärung, bei der ich live am Telefon dabei war, wusste ich, dass die beiden füreinander bestimmt sind. Wobei … wenn ich es mir recht überlege, ist mir das schon vorher klar gewesen. Jeder konnte die Spannungen zwischen ihnen spüren und hat die Blicke bemerkt, die sie einander heimlich zugeworfen haben. Jeder, außer ihnen selbst.
»Entschuldige. Dex hat ein paar Mal hier übernachtet. Du findest sicher noch mehr Klamotten von ihm. Er ist ein richtiger Chaot. Noch schlimmer als du.«
Ich lache, als Ruby die Augen verdreht und neben mich aufs Sofa fällt.
»Mich übertrifft niemand«, erwidere ich inbrünstig und greife nach einem der Burger, der so gut duftet, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Seit dem Frühstück heute Morgen habe ich nichts mehr gegessen. Herzhaft beiße ich hinein und ignoriere, dass die hausgemachte Soße dabei auf meine Jeans tropft. Genüsslich schließe ich die Augen und lehne mich auf dem Sofa zurück. Ich habe Eds Essen vermisst. In New Orleans gibt es kein Restaurant, das seinen Gerichten das Wasser reicht.
»Jetzt erzähl mal. Wie war es mit deinen Eltern?« Ruby schiebt sich zwei Pommes in den Mund und macht es sich auf dem Sofa bequemer, während ich einen weiteren Bissen nehme und mir einen Moment Zeit für die Antwort nehme.
»Anstrengend. Mom war ständig in meiner Nähe. Ich verstehe, dass sie sich Sorgen macht, aber sie hat mir beinahe die Luft zum Atmen genommen. Ich war nur allein, wenn ich abends im Bett lag.« Beim Gedanken daran wird meine Brust wieder eng. »Dad hat mir mehr Freiraum gelassen. Allerdings war er derjenige, der ständig darauf gepocht hat, dass ich einen Therapeuten aufsuche. Beide haben mich so sehr bedrängt, dass ich irgendwann dicht gemacht und jeden weiteren Vorschlag abgelehnt habe.«
Seufzend greife ich nach dem Milchshake, ziehe den Deckel ab und tunke meine Pommes darin ein.
Ruby kaut auf ihrer Unterlippe. Ihr Burger liegt noch unberührt auf unserem Tisch. »Wieso bist du nicht früher zurückgekommen, wenn es bei deinen Eltern so furchtbar war?«, fragt sie vorsichtig. Ihr Gesicht hat einen mitfühlenden Ausdruck angenommen. Ich weiß, dass sie mein Handeln lediglich nachvollziehen will und keine bösen Absichten hinter ihrer Frage hat. Trotzdem trifft sie mich damit eiskalt.
Ich lege den angebissenen Burger neben ihren und lege meine Hände in den Schoß. Nervös spiele ich mit meinen Fingern.
»Ich weiß es nicht. Es war auch nicht so furchtbar, wie es jetzt vielleicht klingt. Der Abstand war notwendig. Auch wenn … es nicht hier passiert ist. Ist schwer zu erklären.«
New Orleans und Silveroaks sind etwa gleichweit von Covington entfernt. Trotzdem verbinde ich diese Stadt mehr mit meiner Studienzeit als mit meinem Leben zu Hause. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich nicht zurückgekommen bin, als mir dort die Decke auf den Kopf gefallen ist. Vielleicht war ich auch noch nicht bereit. Aber jetzt bin ich es. Vor allem deshalb, weil ich mich nicht länger verstecken wollte. The Show must go on, wie es am Theater heißt, und ich muss dringend weiterziehen. Die Vergangenheit verarbeiten und ruhen lassen, um einer normalen Zukunft entgegenzublicken.
»Hast du dir inzwischen einen Therapeuten gesucht?« Ruby klingt immer noch so, als befürchte sie, dass ich jeden Moment ausrasten könnte. Bei meinen Eltern war dieses Thema gefährliches Terrain, weil sie mich täglich damit konfrontiert haben. Teilweise bei jedem gemeinsamen Familienessen. Bei Ruby ist das etwas anderes. Seit sie mir gestanden hat, dass neben ihrer Mom auch noch ihr Dad und ihr Bruder verstorben sind und sie diese Verluste durch eine Therapie aufarbeiten konnte, sehe ich diesen Vorschlag mit anderen Augen.
»In den letzten Wochen habe ich mich online ein wenig umgeschaut. In New Orleans gibt es eine vielversprechende Praxis. Die Rückmeldungen sind sehr positiv. Ich überlege, eine E-Mail zu schreiben, um mich nach einem Termin zu erkundigen.«
Ein flüchtiges Lächeln huscht über Rubys Gesicht und ich spüre selbst, dass es die richtige Entscheidung ist. Inzwischen wehrt sich mein Innerstes nicht mehr gegen den Gedanken, meine Probleme und Gefühle vor einem fremden Menschen auszubreiten. Mittlerweile bin ich sogar der Meinung, dass es mir tatsächlich helfen würde, damit abzuschließen.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, wispert Ruby und zieht mich in eine feste Umarmung.
Tränen brennen in meinen Augen, während ich sie erwidere. Womöglich war es doch ein Fehler, nicht schon früher zurückzukehren. Denn die kurze Zeit mit Ruby zeigt bereits, wie geerdet und ruhig ich mich in der Gegenwart meiner Freunde fühle. Mit ihnen an meiner Seite schaffe ich diesen Heilungsprozess sicher.
»Also, was habe ich sonst verpasst? Erzähl mir alles! Du weißt, wie wichtig es mir ist, in Silveroaks auf dem Laufenden zu bleiben.« Ich schlürfe meinen Milchshake, während sich Ruby nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn tippt.
»So viel Aufregendes ist gar nicht passiert. Bob hat sich das Bein gebrochen und schmeißt sein B&B jetzt auf Krücken. Anstatt die Verantwortung mal für ein paar Wochen abzugeben, aber nein. Ausruhen gehört anscheinend nicht zu seinem Wortschatz.«
»Ruby, wer würde denn freiwillig Bob’s B&B leiten? Die Person müsste mindestens genauso auf Marihuana sein wie er.« Meine Mundwinkel zucken. Ich will nicht ausschließen, dass einige seiner Stammgäste durchaus mit seinem Konsum mithalten können, aber Bob war schon immer speziell. Und das Bed and Breakfast ist sein Baby.
»Ach ja, Dex und Ryan haben einen neuen Mitbewohner.« Ruby beißt in ihren Burger, während ich mich an meinem Shake verschlucke.
»Wie? Einen Mitbewohner? Ich dachte, die beiden mögen es allein in der Wohnung.« Diese Information ist schon deutlich interessanter als Bobs gebrochenes Bein.
»Es gefällt ihnen schon. Preislich wird es nur langsam knapp. Sie hatten früher wohl schon mal einen Mitbewohner, der dann bei den Boston Bats unterschrieben und das College verlassen hat. Zu dritt wohnen kennen sie also schon.« Ruby zuckt mit den Schultern, während ich mich unwillkürlich frage, ob Aiden womöglich der Neue ist. Allerdings haben noch weitere Leute ihr Studium zum Frühjahrssemester begonnen. Wieso sollte ausgerechnet er Dex’ neuer Mitbewohner sein? Der Zufall wäre schon gewaltig.
»Hast du ihn schon kennengelernt? Ist es überhaupt ein Mann oder haben sie nachgezogen und sich eine Frau ins Haus geholt?« Neugierig sehe ich meine beste Freundin an, die zu meiner Enttäuschung den Kopf schüttelt.
»Ich weiß nur, dass er männlich und gestern eingezogen ist. Dex und ich haben uns bisher noch nicht gesehen, deshalb kann ich leider auch mit keinem Namen dienen.« Entschuldigend erwidert sie meinen Blick. Grübelnd rühre ich mit dem Strohhalm im Rest meines Shakes.
»Im Theaterkurs ist auch jemand Neues«, murmle ich gedankenverloren, woraufhin sich Ruby aufrechter hinsetzt.
»Das verrätst du mir erst jetzt? Sonst fällst du mit solchen Neuigkeiten immer direkt ins Haus. Wie heißt er denn?«
»Wer hat gesagt, dass die Person ein er ist?«
»Maddie, ich bitte dich. Dein Gesicht hat so einen merkwürdig verträumten Ausdruck angenommen. Also kann er nur männlich sein.«
Ertappt schaue ich sie an und leere schlürfend meinen Milchshake.
Ruby klopft derweil ungeduldig mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel herum.
»Sein Name ist Aiden«, antworte ich schließlich und habe direkt wieder seinen Lavendelduft in der Nase. Seine besonderen grünen Augen schieben sich in den Vordergrund meiner Gedanken. Mein Herz gerät ins Stolpern, woraufhin ich irritiert den Kopf schüttle. Mein Körper sollte nicht so auf ihn reagieren. Schon gar nicht, wenn er lediglich eine Erinnerung und nicht mal in persona anwesend ist.
»Aiden …«, wiederholt Ruby nachdenklich. »Ne, Dex hat keinen Namen in der Richtung erwähnt.«
Ich winke ab und schenke ihr ein kurzes Lächeln. Wie bereits erwähnt, der Zufall wäre zu groß. Außerdem werde ich Aiden von nun an dreimal die Woche im Schauspielkurs sehen. Das reicht vollkommen. Falls er der Nachbar meines Bruders wäre, würden sich unsere Begegnungen sicherlich häufen und das wäre nicht gut. Immerhin verfolgen mich seine meerglasgrünen Augen schon jetzt und dabei haben wir uns bisher erst einmal gesehen. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist. Oder ein gutes. Je nachdem, wie man den Wink des Universums deutet.
3
In den folgenden Tagen schlafe ich schlecht. Jedes noch so kleine Geräusch lässt mich aufschrecken und verhindert, dass ich danach wieder ins Land der Träume zurücksinke.
Die anderen Bewohner des Wohnheims lachen zu laut auf dem Flur.
Mein Herz setzt jedes Mal aus, wenn jemand aus Versehen gegen unsere Tür stolpert. Ich wechsle mehrmals meine Bettbezüge, weil ich sie nachts durchschwitze.
Der fehlende Schlaf macht sich auch körperlich bemerkbar. In den Vorlesungen nicke ich öfter ein. Dunkle Ringe zeichnen sich unter meinen Augen ab. Der Ausdruck in meinem Gesicht wirkt abgekämpft. Meine blauen Augen strahlen nicht wie sonst, sondern blicken mir stumpf und erschöpft entgegen, sobald ich an einer spiegelnden Oberfläche vorbeikomme. So kann das nicht weitergehen.
»Wie war dein Gespräch mit der Wohnheimleitung?«, fragt Ruby, als wir uns an diesem Abend auf den Weg zu Dex’ und Ryans Wohnung machen. Es ist fast schon Tradition an der Silveroaks Park, dass die beiden zum Start des Semesters eine Party schmeißen. Alle Studierenden freuen sich darauf, mich eingeschlossen. Ich hoffe so endlich auf andere Gedanken zu kommen und zurück zu meinem alten Selbst zu finden. Zu der Frau, die gern unter Menschen gewesen ist. Gern gefeiert und sich nicht über jede Kleinigkeit den Kopf zerbrochen hat. Ich will wieder die alte Maddie sein, auch wenn eine leise Stimme in meinem Kopf stetig flüstert, dass das kaum möglich sein wird.
»Ernüchternd«, seufze ich und fahre mir durchs Haar. »Das Gebäude ist uralt, auch wenn die Appartements supermodern sind. Ms. Dixon meinte, dass es ein zu hoher Kostenaufwand wäre, die Eingangstür mit einem neuen Alarmsystem auszustatten.«
Ich schnaube, während mich Ruby ungläubig ansieht. »Ist denen die Sicherheit ihrer Studierenden tatsächlich so wenig wert? Ich meine, du bist doch sicher nicht die Erste, die sich darüber beschwert. Beziehungsweise anregt, etwas zu ändern.«
»Sie hat erklärt, dass es zu aufwendig wäre, jedem Bewohner einen Schlüssel oder einen Chip auszuhändigen, womit sie das Wohnheim betreten könnten. Falls mal einer verloren ginge, müsste die komplette Anlage getauscht werden, und wir wissen ja, wie schusselig Studierende manchmal sind.« Schulterzuckend biege ich um die Ecke und bemerke von Weitem schon die Menschenmassen, die sich vor Dex’ und Ryans Gebäudekomplex tummeln.
Prinzipiell verstehe ich die Einwände unserer Wohnheimleiterin. Wie oft habe ich schon Dinge auf dem Campus oder in der Stadt verloren und nie wiedergefunden? Nur der ängstliche Teil in mir weiß nicht mit der Situation umzugehen. Früher war er klein. Saß zusammengekauert in einer Ecke und kam nur in absoluten Ausnahmesituationen zum Vorschein. Ich war schon immer furchtlos. Mich konnte nichts so schnell aus der Ruhe bringen oder erschrecken. Aber seit diesem verhängnisvollen Samstag in Covington hat sich das geändert. Seitdem ist die Angst mein täglicher Begleiter. Wie ein dunkler Schatten, der mich auf Schritt und Tritt verfolgt.
»Vielleicht sollten wir eine Petition starten. Es gibt bestimmt noch andere im Haus, die mit den Sicherheitsvorkehrungen nicht einverstanden sind. Wenn wir genug Leute finden, bringt sie das womöglich in Zugzwang«, überlegt Ruby und klopft sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn.
Ich sehe meine Freundin an. Mein Herz füllt sich mit Wärme und auf einmal habe ich einen so großen Kloß im Hals, dass ich ein paar Mal schlucken muss, um sprechen zu können. Es rührt mich, dass sie sich so viele Gedanken darüber macht.
»Immerhin hat sie eingewilligt, darüber nachzudenken, einen Nachtwächter zu engagieren. Also jemanden, der vorn im Büro sitzt und aufpasst, dass sich niemand Unbefugtes Zutritt verschafft.«
Diese Einlenkung ist zwar nicht optimal, aber ein Anfang.
»Würde dir das die Sicherheit geben, die du brauchst?« Rubys Stimme klingt zaghaft.
Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung, ob mir das helfen würde. Am besten wäre es wohl, wenn ich in ein Haus mit der besten Alarmanlage ziehen würde, die es auf dem Markt gibt. Das scheint mir das Einzige zu sein, was meine Angst schmälert.
»Ich meine, versteh mich nicht falsch, aber … ich sehe wie abgekämpft du morgens aussiehst und ich höre dich nachts herumtigern, wenn du nicht schlafen kannst.«
Mir war nicht klar, wie laut ich anscheinend bin. Schuldbewusst werfe ich ihr einen Blick zu. »Tut mir leid. Es reicht, wenn einer von uns wie ein Zombie rumläuft. Da solltest du nicht auch noch wachgehalten werden«, entgegne ich zähneknirschend.
Ruby schiebt meine Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite. »Mir macht das nichts aus. Ich komme mit wenig Schlaf klar. Aber es ist mir wichtig, dass wir eine Lösung für dich finden, mit der du zufrieden bist.«
Lächelnd greife ich nach Rubys Hand und drücke sie kurz. Mein Herz zerspringt beinahe in meiner Brust bei so viel Fürsorge. Es ist anders als mit Mom, die mich damit erdrückt hat. Ruby schafft es auf subtilere Weise, ihre Sorge diesbezüglich auszudrücken und mir Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Dadurch ist es viel leichter, sich damit auseinanderzusetzen. Ich mache nicht direkt dicht, sondern bin offener dafür, Hilfe anzunehmen.
Laute Musik unterbricht unsere Unterhaltung. Sie dröhnt aus den offenen Fenstern des dritten Stocks. Das Vibrieren der dumpfen Bässe hallt in meiner Brust wider. Ich lasse Rubys Hand nicht los, als wir uns den Weg nach oben erkämpfen.
Überall stehen Menschen. Unterhalten sich, lachen, duellieren sich in Trinkspielen, verschlingen sich gegenseitig im Flur. Es ist ein Szenario, das ich schon oft erlebt habe. Ich bin ein Teil davon, weiß, wie ich mich am besten einfüge, doch heute fällt es mir schwer. So schwer wie noch nie.
Meine Handinnenfläche wird immer feuchter. Rubys Finger drohen mir zu entgleiten. Ich darf sie nicht verlieren. Sie dienen mir als Anker. Helfen mir, unter diesen vielen Menschen nicht in Panik zu geraten.
Jemand rempelt mich an.
Ich zucke zusammen und mache einen Satz nach vorn, weshalb ich gegen Ruby stoße, die überrascht von meiner heftigen Reaktion ins Stolpern gerät. Beinahe wäre sie über ihre eigenen Füße gefallen, wenn sie nicht jemand aufgefangen hätte. Ihre Hand entgleitet mir. Für einen Moment fühle ich mich vollkommen verloren.
Die Musik ist zu laut.
Die Temperatur im Raum zu hoch.
Die Menschen zu übermächtig. Zu viel. Zu nah.
Hektisch zuckt mein Blick durchs Zimmer. Ich sehe Ruby, die in Dex’ Armen liegt und ihn anlächelt. Hinter ihnen sitzen unsere Freunde auf ihrem Stammplatz, bestehend aus den beiden Sofagarnituren, die bei jeder Party zusammengeschoben werden. Das Gewicht auf meiner Brust verschwindet. Sofort fällt mir das Atmen leichter.
Ich entdecke Aiden bei ihnen. Er sitzt neben Keith auf dem Sofa und sieht mich direkt an. Mein Herz bleibt kurz stehen, bevor es in einem normalen Rhythmus weiterschlägt. Die Geräuschkulisse um mich herum wird leiser. Obwohl noch einige Meter zwischen uns liegen, habe ich das Gefühl, seinen Lavendelduft zu riechen. Balsam für meine Seele, denn plötzlich kommt mir die Situation nicht mehr so schlimm vor wie noch vor wenigen Augenblicken.
»Maddie!« Keith winkt hektisch und ich setze mich in Bewegung, um zu meinen Freunden zu gelangen. Sobald ich angekommen bin, rutscht er etwas zur Seite, um mir Platz zu machen.
Ich lächle ihn dankbar an und sinke aufs Sofa. Direkt neben Aiden. Unsere Oberschenkel berühren sich. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Ich schlucke und bemerke Elizas Blick. Ihre Lippen sind zu einem wissenden Lächeln verzogen.
Unauffällig rutsche ich näher zu Keith, allerdings ist es unmöglich, genug Abstand zwischen Aiden und mich zu bringen. Zu dritt ist es schon eng auf dem Sofa, aber als sich mein lieber Bruder zusätzlich neben Keith fallen lässt, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Aiden erneut zu nähern. Mein Oberarm streift seinen Ellenbogen und ich merke, wie er sich versteift. Na, super. Jetzt ist es ihm auch noch unangenehm, neben mir zu sitzen.
»Okay, Leute. Seid ihr bereit für eine Runde Truth or Dare extrem?« Ethan klatscht erwartungsvoll in die Hände. Ruby springt direkt auf und verschwindet in der Küche, um die Shots vorzubereiten. Mit etwas Verzögerung folgt ihr Dex und ich weiß instinktiv, dass sie dort nicht nur den Alkohol mischen.
»Muss ich Angst vor dem Zusatz extrem haben?«, wispert Aiden in meine Richtung. Sein warmer Atem trifft auf meine Haut. Ich rieche Bier und Zitrone und bin im ersten Moment verwirrt, weshalb er ausgerechnet mich anspricht.
Seine Haltung ist inzwischen wieder vollkommen entspannt. Er hat den Arm lässig hinter mir auf der Sofalehne abgelegt und wenn er seine Finger nur ein bisschen bewegen würde, könnte er mich mit den Spitzen berühren.
In meinem Bauch lodert ein Feuer. Ich schlucke ein paar Mal, kann allerdings nichts gegen die Sahara tun, die sich in meinem Mund ausbreitet. Ohne nachzudenken, schnappe ich mir das Bier aus seiner Hand und trinke davon. Die kühle Flüssigkeit ist eine Wohltat und setzt meine Stimmbänder wieder in Betrieb.
»Extrem bedeutet einfach, dass du einen Ekelshot trinken musst, falls du eine Pflicht nicht erfüllen oder eine Wahrheit nicht erzählen willst«, erkläre ich und stocke, als ich seinen Blick bemerke. Die Farbe seiner Augen ist dunkler geworden. Es ist kein Meerglas mehr, sondern erinnert mich jetzt an den tiefen grünen Ton einer Flasche.
Mir wird heiß. Mein Herzschlag nimmt wieder an Geschwindigkeit zu und ich bin mir der Nähe unserer Körper plötzlich überdeutlich bewusst.
»Trinkst du immer das Bier von anderen Leuten?« Aidens Stimme klingt heiser. Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Schaue erst auf die Flasche in meiner Hand und dann wieder in sein Gesicht. Mit der Zunge befeuchte ich mir die Lippen. Wenn möglich, wird sein Blick noch dunkler und mir noch heißer.
»Sorry. Bei meinen Freunden mache ich das ständig.« Ich spüre, wie mir die Hitze in die Wangen schießt. Der Gedanke, dass ich gerade aus der Flasche getrunken habe, die sein verboten hinreißender Mund ebenfalls berührt hat, drängt sich in den Vordergrund.
»So schnell haben wir uns also angefreundet? Dabei weiß ich doch gar nichts über dich.« Die tiefe Klangfarbe seiner Stimme geht mir durch Mark und Bein. Sie löst ein Kribbeln in meiner Magengegend aus, das sich bis zwischen meine Beine ausbreitet. Sein Blick ist so intensiv, dass ich nicht wegschauen kann. Egal, wie sehr ich mich dazu zwinge.
»Das ändert sich durch dieses Spiel, vertrau mir. Danach kannst du entscheiden, ob du mein Freund sein willst oder nicht«, entgegne ich und habe das Gefühl, viel zu leise zu sprechen. Sein schiefes Grinsen zeigt mir allerdings, dass er mich gut genug verstanden hat.
»Maddie!«, ruft Ethan plötzlich. Ich zucke zurück und bemerke erst jetzt, wie nah Aiden und ich uns gekommen sind.
Hastig lenke ich den Blick nach vorn und bemerke Ethans spitzbübisches Funkeln in den Augen. »Truth or Dare?«
Normalerweise wähle ich immer Pflicht. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, mal Wahrheit auszuprobieren. Immerhin habe ich Aiden doch gesagt, dass er mich nach diesem Spiel besser kennt.
»Truth«, entgegne ich und weiß genau, dass Ethan ewig braucht, um sich eine Frage zu überlegen. So ist es immer, wenn jemand diesen Teil des Spiels aussucht. Heute ist er allerdings erschreckend schnell.
»Wann hattest du zum letzten Mal Sex?« Er grinst und ich beiße so fest die Zähne aufeinander, dass es knirscht. Dieser miese kleine …
»Das sind Dinge, die ein großer Bruder nicht hören will!«, ruft Nate und presst sich die Hände auf die Ohren, bevor er laut »Lalala« singt.
Ich verdrehe die Augen und werfe erst ihm und dann Ethan ein Kissen an den Kopf.
»Ihr seid unmöglich, wisst ihr das?«, murre ich und fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Eliza und Ruby wissen, dass auf diesem Gebiet schon eine Weile Flaute herrscht. Ich habe bisher niemanden gefunden, mit dem ich mir vorstellen könnte, eine Nacht zu verbringen. Natürlich muss dafür keine spezielle Verbindung bestehen. Es gibt genug Leute, die einfach so mit anderen in die Kiste hüpfen. Aber ich gehöre nicht dazu. Für mich muss selbst bei einem One-Night-Stand die Chemie stimmen.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich, dass Aiden mich aufmerksam betrachtet. Unschlüssig knabbere ich auf meiner Unterlippe.
»Wissen wir. Trotzdem kannst du dich nicht vor der Frage drücken.« Ethan zwinkert mir zu und ich seufze, bevor ich meine Hand ausstrecke und nach einem Shot greife, der verdächtig nach Spinat aussieht. Mit gerümpfter Nase schnuppere ich daran und hätte mich beinahe auf der Stelle übergeben. Das riecht furchtbar!
»Runter damit!«, grölt Ryan und ich leere das kleine Glas in einem Zug. Mit geschlossenen Augen kämpfe ich gegen die Übelkeit an. Spinat und Wodka. Mit dieser Kombination hat sich Ruby selbst übertroffen.
Angewidert öffne ich die Augen und stelle das Glas zurück auf das Tablett. Meine Freunde amüsieren sich derweil köstlich über meine Miene. Normalerweise habe ich keine Probleme die Ekelshots runterzukippen, aber bei Spinat ist selbst meine Toleranzgrenze erreicht.
»Hey, Maddie! Du weißt, dass wir jederzeit in meinem Zimmer verschwinden können, wenn du mal Dampf ablassen willst.« Ryan zwinkert mir verschwörerisch zu und ich unterdrücke mit aller Kraft ein Lachen.
»In deinen Träumen vielleicht, Jenkins«, erwidere ich und lehne mich auf dem Sofa zurück.
»Du verpasst was. Aber ich kann dir auch jemandem aus dem Footballteam suchen, wenn dir das lieber ist.« Plötzlich fliegt ein Kissen quer über den Tisch und trifft Ryan im Gesicht.
»Hör auf, meine Schwester mit einem Footballer verkuppeln zu wollen. Das ist ja widerlich.« Nates entrüsteter Tonfall entlockt mir dann doch ein Lachen.
Seit ich in das Alter gekommen bin, wo ich Jungs mit nach Hause gebracht habe, wehrt sich Nate gegen den Gedanken, dass ich Sex habe. Keine Ahnung, ob das Beschützerinstinkt ist oder ihn die Vorstellung tatsächlich graust, aber es ist immer wieder witzig, ihn damit aufzuziehen.
»Gibt bestimmt auch jemandem aus deinem Team, der sich bereit erklären würde«, grummelt Ryan und umarmt das Kissen auf seinem Schoß. Nate setzt bereits zu einer Antwort an, doch ich unterbreche ihr Geplänkel, indem ich das Wort ergreife.
»Polly, Truth or Dare?«
»Truth«, entgegnet sie, ohne zu zögern.
»Was gefällt dir bisher am wenigsten an deiner Schwangerschaft?« Interessiert sehe ich meine Freundin an, die daraufhin gequält das Gesicht verzieht.
»Eindeutig die Tatsache, dass ich so oft pinkeln muss.« Ächzend erhebt sie sich vom Sofa und wirft ihrem Freund Flynn einen liebevollen Blick zu. »Übernimm mal für mich. Unser Baby malträtiert schon wieder meine Blase.«
Wir lachen und sehen Polly hinterher, die sich durchs Gedränge schiebt und Richtung Badezimmer verschwindet.
»Keith, Truth or Dare?«, fragt Flynn, kaum dass seine Freundin in der Menge verschwunden ist.
»Dare.« Einige Sekunden lang sieht Flynn ihn nachdenklich an, bevor sich ein spitzbübisches Grinsen auf seine Lippen legt.
»Finde in zwei Minuten einen schmucken Sportler, der dir seine Nummer gibt!«
Es ist kein Geheimnis, dass Keith homosexuell ist, genauso wenig, wie die Tatsache, dass er gern flirtet. Dennoch errötet er und rutscht unruhig neben mir hin und her.
Flynn zückt sein Handy, um einen Timer zu stellen.
»Ich weiß nicht … bisher ist mir noch nicht zu Ohren gekommen, dass einer von den Eishockey- oder Footballspielern schwul ist.« Irritierenderweise zuckt Keiths Blick zu meinem Bruder, der intensiv die Sofalehne betrachtet.
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, entgegnet Eliza zwinkernd. »Außerdem sollst du doch nur seine Nummer besorgen und ihn nicht direkt heiraten.«
Seine Wangen fangen weiter Feuer und ich merke, dass ihm die Situation eindeutig unangenehm ist. Ruby sagt immer, ich könnte kein Geheimnis für mich behalten. Würde die Grenzen meiner Freunde nicht akzeptieren und sie einfach überschreiten. Dabei spüre ich sehr wohl, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Und jetzt gerade habe ich das Gefühl, dass Keith genau weiß, welchen Sportler er ansprechen will, es sich vor uns anderen nur nicht traut.
»Du musst das nicht machen. Trink einfach einen Shot«, wispere ich und lächle ihn beruhigend an. Immerhin habe ich mich auch geweigert, zu erzählen, wann ich zum letzten Mal Sex hatte. Da ist nichts dabei. Er wirft noch einen schnellen Seitenblick zu Nate, der immer noch damit beschäftigt ist, die Sofalehne zu streicheln.
Die Falten auf meiner Stirn werden tiefer.
»Nein, schon gut. Ich … ich mach das schon.« Er lächelt mich an, doch es erreicht seine Augen nicht. Der Kopf meines Bruders schnellt nach oben. Ungläubig sieht er Keith an.
Mein Blick zuckt zwischen den beiden hin und her. Als Nate das bemerkt, schaut er demonstrativ in die andere Richtung. Gibt es da etwas, dass ich in den letzten zwei Monaten nicht mitbekommen habe?
Keith steht auf und lässt den Blick über den Raum schweifen.
»Hey, Mann!« Ich spüre eine Bewegung rechts von mir und sehe überrascht zu Aiden. Er ist näher an mich herangerutscht und lehnt sich über mich, um Keith etwas in die Hand zu drücken. »Aber lass mich nicht zu lange warten. Wenn nach drei Tagen kein Anruf kommt, verliere ich das Interesse.« Er zwinkert ihm zu, während Flynn den Timer stoppt und sein Handy zurück in die Tasche schiebt.
Keith sieht Aiden mit großen Augen an. »Aber du bist kein Sportler.« Sein Blick zuckt zu mir, dann zu dem kleinen Zettel in seiner Hand und zurück zu Aiden.
»Ich habe in der High School Football gespielt, also zählt das«, erklärt er beiläufig, während ich erneut ins Grübeln gerate. Er hat ihm seine Nummer gegeben.
Bei Keith habe ich beispielsweise direkt geahnt, dass er schwul ist. Ist es möglich, dass ich Aidens Freundlichkeit derart missinterpretieren konnte? Am liebsten würde ich mir die Hände vors Gesicht schlagen und laut schreien. Seit ich zurück in Silveroaks bin, scheinen meine Sensoren in jeglicher Hinsicht nicht mehr richtig zu funktionieren.