Leseprobe Fionas kleiner Laden in Crescent Bay | Ein romantischer Wohlfühlroman

Kapitel 1

Crescent Bay war für Fiona Freeman immer ein magischer Ort gewesen. Ihren Namen verdankte die Bucht in der südwestlichen Ecke von England der Tatsache, dass sie einen nahezu perfekten Halbkreis bildete. Der fast weiße Strand lief an beiden Enden spitz zu, und aus der Vogelperspektive betrachtet sah das Ganze wie eine Mondsichel aus.

Wenn ihre Eltern mit ihr einen Teil der Sommerferien hier verbrachten, war das für sie die schönste Zeit im Jahr gewesen. So schön, dass ihre Freundinnen ihr kaum gefehlt hatten, was auch dadurch begünstigt wurde, dass sie in Crescent Bay ebenfalls eine Freundin gewonnen hatte, die gleichaltrige Leslie Robinson.

Bis sie fünfzehn war, hatte sie von klein auf jedes Jahr drei Wochen dort verbracht. Von Seiten ihrer Eltern war es weniger die Begeisterung für Crescent Bay im Besonderen oder das Meer im Allgemeinen gewesen als vielmehr die praktische Erwägung, dass Fionas Tante Beverly – die ältere Schwester ihrer Mutter – in Crescent Bay lebte und ihr Haus fast direkt am Strand lag. Und dass der Urlaub so zum Spottpreis zu haben war, da ihre Tante von der eigenen Verwandtschaft kein Geld für das kleine Gästezimmer nehmen wollte, das sie hin und wieder an Touristen vermietete. Es war immer schwierig gewesen, sie in diesen drei Wochen dazu zu überreden, sich von Fionas Eltern ab und zu zum Essen einladen zu lassen, die sich so für die Gastfreundschaft erkenntlich zeigen wollten. Genauso hatte es intensiver Überredungskünste bedurft, sie davon abzuhalten, Fionas Eltern Geld für die Einkäufe im Supermarkt zu geben – dabei waren es genau die drei Köpfe mehr in ihrem Haus gewesen, die jeden Tag über die Vorräte in der Speisekammer und über den Inhalt des Kühlschranks hergefallen waren und für die gähnende Leere gesorgt hatten, die schnellstens wieder gefüllt werden musste.

Und dann, nachdem Fiona gerade sechzehn geworden war, sprach auf einmal niemand mehr von Crescent Bay – und auch nicht von ihrer Tante Beverly. Es musste irgendeinen Streit gegeben haben, der dazu geführt hatte, dass ihre Mutter nicht mehr mit ihrer Schwester redete und dass Beverly zu einem Tabuthema in der Familie wurde. Genauso wurde nicht mehr über Crescent Bay gesprochen, und wenn es sehr selten doch einmal zur Sprache kam, dann war es „dieses Dorf“, und ihre Tante war bestenfalls noch „diese Frau“. Ein paar Mal hatte Fiona damals noch nachgefragt, was denn vorgefallen war, aber nie eine Antwort erhalten.

Seitdem hatte Fiona jedes Jahr mit dem Gedanken gespielt, auf eigene Faust zu ihrer Tante zu fahren, Urlaub am Meer zu machen und ihre Freundin wiederzusehen. Mit dem Zug und dem Überlandbus und später mit dem eigenen Auto wäre das kein Problem gewesen, aber es war ihr gutes Verhältnis zu ihren Eltern gewesen, das sie letztlich immer wieder davon abgehalten hatte. Sie wollte einfach nicht zwischen die Fronten geraten, solange sie nicht wusste, was der Grund für das Zerwürfnis war. Wäre sie nach Crescent Bay gefahren, hätte es für ihre Eltern so ausgesehen, als würde sie Partei für ihre Tante ergreifen. Diesen Eindruck wollte sie vermeiden, denn es reichte schon, dass zwischen ihren Eltern und ihrer Tante böses Blut herrschte. Da musste sie nicht auch noch ins Visier geraten.

Ziemlich genau zehn Jahre waren verstrichen, bis Fiona jetzt schließlich doch wieder in den Südwesten des Landes nach Crescent Bay gereist war. Der Anlass war alles andere als erfreulich, auch wenn die Geräuschkulisse aus Meeresrauschen und dem Kreischen der Möwen einen ganzen Schwall an schönen Erinnerungen in ihr wach werden ließ.

Viel hatte sich in diesen zehn Jahren im Dorf am Meer nicht verändert, wie sie erfreut feststellte, als sie ihren alten Vauxhall in der Einfahrt gleich neben dem Haus ihrer Tante abgestellt hatte und ein paar Schritte Richtung Strand gegangen war. Während anderswo ganze Straßenzüge abgerissen worden waren, um modernen, luxuriösen Beton- und Glasklötzen zu weichen, mit denen die Landschaft rücksichtslos verschandelt wurde, war der alte Charme des Strandbads noch zu spüren. Zwar hätten die Häuser entlang der Promenade einen frischen Anstrich gebrauchen können, da die Fassaden inzwischen ein wenig blass wirkten. Aber es änderte nichts an der Gemütlichkeit und Behaglichkeit, die diese kleinen Gebäude ausstrahlten, die nur aus Erdgeschoss mit Ladenlokal und erstem Stock bestanden. Die Flachdächer sorgten dafür, dass man auch in der Häuserzeile dahinter, die entlang der ziemlich steil ansteigenden Straße stand, freie Sicht auf die See hatte. Gewöhnungsbedürftig war noch immer der Anblick des Hotels auf der Spitze der nördlichen Landzunge, das bezeichnenderweise den Namen Hotel On The Rocks trug und immer schon wie ein Fremdkörper gewirkt hatte.

Die deutlichste Veränderung betraf die Straße, die zwischen der vordersten Häuserzeile und dem tiefer gelegenen Strand verlief. Die war in eine Fußgängerzone umgewandelt worden. Lediglich die Hauseigentümer, die einen Stellplatz oder eine Garage auf ihrem Grundstück besaßen, durften diesen Bereich jederzeit befahren, während die Lieferanten spätestens um zehn Uhr morgens das Feld räumen mussten … oder zumindest sollten, denn so genau ließ sich das Entladen nicht im Voraus planen.

Hinter dieser Promenade führte eine einzige Straße in einem steilen Zickzackkurs aus der Bucht hinaus, was Crescent Bay so aussehen ließ, als hätte ein Riese die Häuserzeilen säuberlich übereinandergestapelt. Da diese eine Straße schmal war und zudem der große Parkplatz links vom Strand durch die Einrichtung der Fußgängerzone nicht mehr angefahren werden konnte, war das Parken im Dorf nur noch den Anwohnern erlaubt. Touristen mussten oberhalb der Klippe parken und konnten von dort mit einem kleinen Shuttlebus zum Strand gelangen, sofern sie nicht zu Fuß gehen wollten. Tatsächlich war es möglich, relativ schnell von der Klippe ans Meer zu gelangen, da es zwischen zahlreichen Häusern unterschiedlich breite, mal steilere, mal flachere Treppen gab, die die Straßenabschnitte miteinander verbanden.

Die beiden breiten Treppen, die von der Promenade hinunter zum Strand führten, waren jetzt robuste Stahlkonstruktionen, die zwar im Verhältnis zu allem anderen etwas zu modern erschienen, aber wohl die einzig sinnvolle Lösung waren. Schon als ihre Eltern mit ihr das erste Mal hier Urlaub gemacht hatten, waren die Holztreppen durch Wind und Wetter und Salzwasser in einem nicht sehr vertrauenswürdigen Zustand gewesen, der sich mit der Zeit immer weiter verschlechtert hatte. Von Jahr zu Jahr hatte sie mitverfolgen können, wie hier und da Ausbesserungen vorgenommen wurden, aber wahrscheinlich war irgendwann das Holz so marode geworden, dass man nur noch alles hatte abreißen und neu bauen müssen.

Von der See wehte wie fast immer ein kühler Wind an Land, der im Sommer normalerweise angenehm erfrischend war. Jetzt aber bewirkte er das Gegenteil, da es bislang ein kalter und verregneter Sommer gewesen war. Nach Ansicht der Meteorologen sollte es auch noch eine Weile so bleiben, was Fiona sogar ganz recht war, wenn sie darüber nachdachte, wie viel Arbeit in den nächsten zwei oder drei Wochen vor ihr lag.

Sie drehte sich vom Strand weg und betrachtete das Haus ihrer Tante mit dem Ladenlokal, an dessen Schaufenster fast schon großspurig der Schriftzug Antiquitäten prangte. Antik war in dem Laden nichts gewesen, allerhöchstens die klobige Registrierkasse mit den eingeprägten verschnörkelten Blumenmustern. Beverly hatte mehr oder weniger einen Secondhandladen betrieben, in den sich auch schon mal die eine oder andere Jugendstil-Lampe verirrt hatte – ohne je wieder den Weg nach draußen zu finden, da kein Kunde den Weg in das Geschäft fand, der daran Interesse hatte. Überhaupt hätte ihre Tante von den Einnahmen nie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, doch das hatte sie auch nie gemusst. Dank einer beachtlichen Summe aus der Lebensversicherung, die ihr nach dem Tod ihres Mannes ausgezahlt worden war, hatte sie das Geschäft als Hobby betreiben können.

Im Schaufenster, das mit allem möglichen Krimskrams vollgestopft war, hing ein Schild mit den Öffnungszeiten, das über die Jahre hinweg so verblasst war, dass nicht mehr erkennbar war, von wann bis wann man das Geschäft hätte besuchen können. An der Glasscheibe der Eingangstür klebte ein Zettel mit der Aufschrift „Bin um 14 Uhr zurück“, vermutlich die letzte Amtshandlung ihrer Tante an jenem Tag vor drei Monaten, als sie auf dem Weg zum Mittagessen mit einer Bekannten nach wenigen Schritten tot zusammengebrochen war.

Unwillkürlich sah Fiona auf ihre Armbanduhr. Viertel nach zwölf. Sie war zu früh dran. Leslie würde erst gegen ein Uhr von einem Termin irgendwo außerhalb nach Hause kommen, und bei ihr lag der Schlüsselbund für Beverlys Haus. Sie würde sich also noch gedulden müssen, und um die Zeit zu überbrücken, würde sie keine Abkürzungen über eine der Treppen nehmen, sondern dem Straßenverlauf folgen, um bis fast ganz nach oben zu gelangen, wo Leslie wohnte.

Sie freute sich schon auf das Wiedersehen, auch wenn sie in den letzten zehn Jahren immer in Kontakt geblieben waren – anfangs per Mail, Telefon und Facebook, später dann per Skype auf dem Notebook und dem Smartphone. Es war also nicht so, als würde eine der anderen nach all den Jahren zum ersten Mal wieder in die Augen schauen können. Aber es war doch ein großer Unterschied, ob man sich auf dem Display seines Handys sah oder ob man sich gegenüberstand, sich die Hand reichen und sich um den Hals fallen konnte.

Auf dem Weg nach oben kamen ihr ab und zu ein paar Touristen entgegen, von denen manche einen leicht erschöpften Eindruck machten, weil sie wohl unterschätzt hatten, wie weit der Weg war, wenn man der einzigen Straße folgte – und anscheinend auch nichts von den Abkürzungen wussten, die zugegebenermaßen mehr etwas für Eingeweihte waren, da es keinen Hinweis gab, wohin diese Treppen führten und ob sie überhaupt jeder benutzen durfte.

Sie sah auch den einen oder anderen Einheimischen, manche sahen aus dem Fenster, andere verließen gerade ihr Haus oder trugen Einkaufstaschen aus dem Kofferraum ihres Autos nach drinnen. Hin und wieder glaubte sie, jemanden von früher wiederzuerkennen, aber sie war sich nicht absolut sicher. Dass keiner von ihnen Fiona wiedererkannte, war nur zu verständlich. Erstens waren hier viele Monate im Jahr Touristen unterwegs, zweitens war sie damals zuletzt erst fünfzehn gewesen. Wer würde da schon sagen: „Hi, bist du nicht die Dings von damals?“

Hin und wieder blieb sie stehen und genoss an einer freien Stelle den Blick auf die Bucht und das Meer dahinter. Ja, sie konnte sich gut vorstellen, hier zu leben, auch wenn sie damit nicht nur räumlich Welten von ihrem jetzigen Zuhause in Canterbury entfernt sein würde. Daheim musste sie nur bis zur nächsten Querstraße gehen und fand alles vor, was eine gute Einkaufsstraße bieten musste, wenn sie ein komplettes Stadtviertel versorgen wollte: zwei Supermärkte, ein Postamt, Imbissbuden, Restaurants, einen Pub, zwei Cafés, mehrere Bäcker und einmal in der Woche einen Markt.

In Crescent Bay gab es das alles nicht, weil jeder versuchte, an den Touristen zu verdienen, während die Dorfbewohner keine Rolle zu spielen schienen. Wenn man hier etwas Alltägliches wie eine Druckerpatrone oder einen Kopfsalat brauchte, musste man ein paar Meilen ins Landesinnere zu einem vergleichsweise großen und gut sortierten Einkaufscenter fahren. Es war aber ein Preis, den sie zu zahlen bereit gewesen wäre, wenn sie in Crescent Bay oder in der näheren Umgebung eine Arbeitsstelle hätte finden können, die sie genauso forderte und die angemessen bezahlt wurde. Die Chancen dafür standen allerdings erdenklich schlecht.

Vor dem Haus angekommen, in dem Leslie wohnte, beschloss sie, sich einfach auf die kurze Treppe vor der Haustür zu setzen und zu warten. Sie war froh, in Leslie wenigstens einen Menschen zu kennen, der hier lebte. Leslies Eltern waren vor ein paar Jahren nach Glasgow gezogen, nachdem Leslies Mutter nach einem langen Rechtsstreit jener Landsitz zugesprochen worden war, den ihr älterer Bruder sich nach dem Tod ihrer Eltern unter den Nagel gerissen hatte. Leslie wollte nicht auf einem Landsitz leben, wo noch weniger los war als in Crescent Bay. Hier war ihr Zuhause, und hier hatte sie einen gut bezahlten Job als Kellnerin im extrem gut besuchten Restaurant His Master’s Sauce. Das Lokal lockte das ganze Jahr hindurch Gäste aus nah und fern an, seit es sich vor einer Weile in einer mehrteiligen Fernsehshow gegen rund zwanzig Mitbewerber durchgesetzt und seitdem so etwas wie Kultstatus erlangt hatte.

Ein kompakter schwarzer Audi hielt an und rangierte in die Lücke vor dem Haus. Dann stieg eine Frau mit rotem Lockenkopf aus und ging um den Wagen herum.

„Hi, Leslie“, sagte Fiona, die inzwischen aufgestanden war.

Die andere Frau blieb stehen und stutzte, dann musterte sie Fiona von Kopf bis Fuß. „Wer sind Sie denn?“

Fiona erschrak und beteuerte: „Ich bin’s, Leslie. Fiona. Fiona Freeman.“

Leslie schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Fiona hat lange blonde Haare. Die trägt nicht so ein Gestrüpp da auf dem Kopf.“

Fiona gab ihr lachend einen Klaps auf den Arm, dann fielen sich die beiden um den Hals. „Verflucht, jetzt habe ich doch tatsächlich für einen Moment wirklich geglaubt, du hättest mich nicht wiedererkannt.“

„Gut zu wissen, dass ich dich immer noch reinlegen kann“, meinte Leslie und strahlte über das ganze Gesicht. „Und jetzt erklär mir endlich deine Haare“, drängte Leslie sie.

„Ach, weißt du, ich habe mich auf einmal daran erinnert, wie sehr es mich früher immer genervt hat, wenn der Wind am Strand mir ständig die Haare zerzaust hat, und irgendwie hielt ich das für eine passende Gelegenheit, mal einen neuen Look zu testen.“

„Steht dir gut“, fand Leslie. „Nur schade, dass der Anlass für die neue Frisur und für deinen Besuch kein fröhlicher ist. Ich kann es noch immer nicht so richtig glauben, dass Beverly jetzt schon seit drei Monaten tot ist.“

„Mir kommt es so vor, als wäre es erst gestern gewesen“, murmelte Fiona. „Ich war vorhin unten vor ihrem Haus, und irgendwie kam es mir so unwirklich vor.“

„Das kann ich dir gut nachfühlen. Vor allem mit dem Zettel in der Tür, dass sie um zwei wieder da sein wird.“ Leslie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Hausschlüssel. „Übrigens hatte ich eigentlich damit gerechnet, dass deine Mum und dein Dad herkommen und sich um alles kümmern. Immerhin war sie die Schwester deiner Mum.“

„Vermutlich hätte sie das trotz allem auch gemacht, wenn es nötig gewesen wäre“, antwortete Fiona und ging einen Schritt zur Seite, damit ihre Freundin zur Haustür gehen konnte. „Aber wie sich dann herausgestellt hat, muss sie das nicht machen.“

„Sie muss das nicht machen?“, wiederholte Leslie verwundert. „Und stattdessen musst du es machen? Du musst das Haus entrümpeln und einen Käufer finden?“

„Das muss ich nicht. Das kann ich machen, wenn ich das will“, sagte sie lächelnd. „Ich habe es nämlich geerbt.“

Kapitel 2

„Was?“, rief Leslie. „Du hast das Haus deiner Tante geerbt? Da unten am Strand?“

„Davon gehe ich aus, dass es das Haus ist“, antwortete Fiona und fügte augenzwinkernd hinzu: „Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass meine Tante noch andere Häuser besessen hat. Wenn der Schlüssel, den du verwahrt hast, auf diese Haustür passt, dann ist es jedenfalls das richtige.“

Leslie reagierte mit einem breiten Grinsen. „Vielleicht ist es ja ein Generalschlüssel für das und die anderen vier Häuser, von denen sie euch nichts gesagt hat.“

„Danke, aber mir wird es schon reichen, mich mit einem einzigen Haus zu befassen“, sagte Fiona und folgte ihrer Freundin nach drinnen.

Nichts erinnerte mehr an das Haus, in dem Leslies Eltern mit ihrer jungen Tochter gelebt hatten. Die alten, klobigen Schränke und die sperrige Polstergarnitur waren weg. An ihrer Stelle fanden sich eine große Regalwand und eine Sitzgruppe, die wesentlich weniger Raum einnahm, aber nicht weniger bequem aussah. Alles war in hellen, frischen Farben gehalten, während die Einrichtung ihrer Eltern von dunklen Farbtönen beherrscht gewesen war.

„Willst du sofort hingehen, oder kann ich dir erst noch einen heißen Tee anbieten?“, fragte Leslie. „Passend zum herbstlichen Wetter natürlich.“

„Wenn es nicht gerade ein heißer Tee sein muss“, sagte Fiona, „würde ich gern etwas trinken. Aber bitte etwas Kaltes.“

„Mit oder ohne?“

„Mit oder ohne was?“

„Alkohol.“

„Oh, das meinst du.“ Fiona hob abwehrend eine Hand. „Nicht am helllichten Tag. Gegen ein Glas Rotwein am Abend habe ich nichts einzuwenden, weil mich das richtig müde macht. Aber ich will nicht im Halbschlaf durch Tante Beverlys Haus tapsen und nur die Hälfte von allem wahrnehmen.“

„Eistee? Zitrone? Pfirsich?“

„Zitrone klingt verlockend“, entschied sie, zog ihre dünne Jacke aus und hängte sie an ein seltsames Gebilde aus gut einem Dutzend langen Holzstangen, das sich erst auf den zweiten oder dritten Blick als Garderobe zu erkennen gegeben hatte.

Dann ging sie ins Wohnzimmer und setzte sich in einen der beiden lilafarbenen Sessel, gerade als Leslie mit einem Glas Zitronentee und einer silbrig schimmernden Dose zurückkam, die nach einem Energydrink aussah. Als hätte Fiona danach gefragt, erklärte ihre Freundin: „Mittags brauche ich meistens so was, damit ich in Schwung bleibe. Sonst komme ich auf die Idee, mich für eine halbe Stunde aufs Ohr zu legen, und wenn ich dann aufwache, sind auf einmal drei Stunden vergangen.“

„Das kenne ich doch irgendwoher“, gab Fiona ironisch zurück.

„Und? Hast du dir schon überlegt, was du mit dem Haus deiner Tante machen willst? Verkaufen? Vermieten?“

Fiona trank einen Schluck Eistee, dann seufzte sie wehmütig. „Ehrlich gesagt würde ich ja am liebsten da einziehen. Aber da ist ja auch noch mein Job in Canterbury, und drei bis vier Stunden morgens hin und abends das Gleiche für den Rückweg, wäre der pure Irrsinn. Ich könnte ja auf halber Strecke kehrtmachen, um am nächsten Morgen früh genug im Büro zu sein.“

„Kannst du dich nicht in eine Zweigstelle versetzen lassen?“

„Ja, aber dann müsste ich jeden Tag mit der Fähre nach Dublin übersetzen“, antwortete Fiona, „und das wäre wohl noch ein bisschen zeitraubender als der Weg nach Canterbury. Oder ich lasse mich in unsere Außenstelle in Calais versetzen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die Gehälter für alle Filialen hier auf der Insel laufen nun mal zentral über Canterbury.“

„Und andere Firmen?“, wollte Leslie wissen. „Jeder größere Betrieb braucht doch einen Personaler.“

„Die wenigen, die ich gefunden habe, bezahlen alle deutlich schlechter, und da wird es schwer, über die Runden zu kommen“, erklärte sie. „Du würdest dich auch nicht mit weniger zufriedengeben wollen, oder? Ich meine, wenn du aus dem His Master’s Sauce zu einer Imbissbude oder zu einem der Cafés unten am Strand gehst, bekommst du auch erheblich weniger. Das würde dir doch auch nicht gefallen, oder?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte ihre Freundin und sah nebenbei den Stapel Briefe durch, den sie beim Hereinkommen aus dem Briefkasten an der Haustür geholt hatte. „Allerdings habe ich inzwischen den Eindruck, dass das Trinkgeld umso geringer ausfällt, je wohlhabender die Gäste sind.“

„Das läuft doch eigentlich immer nach ein und demselben Prinzip“, erwiderte Fiona. „Je mehr Geld jemand hat, desto geiziger ist er. Ich glaube, irgendjemand hat das mal das Dagobert-Duck-Syndrom genannt.“

Leslie nickte. „Der Vergleich passt. Ich hatte dir ja davon erzählt, dass ich vor ein paar Jahren einen ganzen Sommer lang in einem der Strandcafés gekellnert habe. Was ich da an Trinkgeldern kassiert habe! Das bekomme ich heute nicht mal im ganzen Jahr zusammen.“

„Was rein gar nichts mit deinem ziemlich knappen Bikini-Oberteil zu tun hatte, das du damals beim Bedienen getragen hast“, sagte Fiona grinsend und musste an die Fotos denken, die ihre Freundin auf Facebook gepostet hatte, um Werbung für das Café zu machen. Die Kommentarfunktion zu den Fotos hatte Leslie in weiser Voraussicht ausgeschaltet, aber die Anzahl der Likes unter den Posts sprachen auch ohne Kommentare für sich.

Leslie zuckte mit den Schultern und meinte amüsiert: „Wenn die Typen großzügiger aufrunden als üblich, nur weil ihnen die Aussicht gefällt, dann habe ich damit kein Problem. Das hatte ich damals nicht, und ich hätte es heute auch nicht. Aber ich hätte keine Lust mehr, bei brütender Hitze und bis spät in die Nacht mit einem Tablett nach dem anderen durch den Sand zu stapfen, während die Gäste mit jedem weiteren Bier immer noch ein bisschen unverschämter werden. Im His Master’s Sauce geht es ruhig zu, da genießen die Gäste ein Glas Wein, das so viel kostet wie zwei Lokalrunden Bier am Strand. Es wäre nur halt nett, wenn sie die Arbeit der Bedienungen etwas mehr würdigen könnten.“ Wieder zuckte sie mit den Schultern. „Aber man kann nicht alles haben.“

„Ja, und das merke ich auch gerade“, meinte Fiona und presste die Lippen zusammen. „Meine Tante hat mir das Haus sicher nicht vererbt, damit ich es gleich wieder verkaufe. Im Testament war zwar keine Rede davon, aber ich glaube, sie wollte mir ihr Haus anvertrauen, weil Mum bestimmt sofort einen Makler beauftragt hätte, ohne es sich noch ein letztes Mal anzusehen.“

Leslie trank einen Schluck von ihrem Energydrink. „Hat deine Mum eigentlich inzwischen mal erzählt, warum sie mit deiner Tante nie wieder ein Wort gewechselt hat?“

Betrübt schüttelte Fiona den Kopf. „Nein. Dabei hatte ich gehofft, dass sie Beverlys Tod zum Anlass nehmen würde, um ihr Schweigen zu brechen.“

„Na ja, es wäre zwar ein passender Anlass“, hielt ihre Freundin dagegen. „Aber wenn sie damit wartet, bis ihre Schwester tot ist, könnte das auch so rüberkommen, als hätte sie mit ihrer Version der Geschichte gewartet, bis niemand mehr da ist, der ihr widersprechen kann. Je nachdem, was sie erzählen würde, würdest du vielleicht denken: ‚Das kann doch gar nicht stimmen.‘ Aber du kannst deine Tante nicht mehr fragen und musst deiner Mum glauben. Oder du glaubst ihr nicht, und dann hältst du sie bis zum jüngsten Tag für eine Lügnerin.“

„Da hast du auch wieder recht, Leslie“, murmelte sie. „Vermutlich ist es besser, wenn ich mich weiterhin komplett raushalte.“

„Das ist oft der beste Weg, den man gehen kann, wenn man nicht zwischen die Fronten geraten will“, stimmte Leslie ihr zu, trank ihre Dose aus und zeigte auf Fionas Glas, das sie inzwischen ausgetrunken hatte. „Willst du noch was?“

„Nein, danke. Ich möchte mir jetzt lieber das Haus ansehen“, sagte sie und stand auf, um das Glas in die Küche zu bringen. Den Raum hatte sie kleiner in Erinnerung, aber das musste daran liegen, dass die neue Einbauküche den vorhandenen Platz besser nutzte als zuvor mit Herd, Kühlschrank, Tiefkühltruhe und Küchenschrank, die alle für sich gestanden hatten.

Leslie kam dazu, spülte die Dose aus und stellte sie zum Trocknen zur Seite. Dann zog sie eine Schublade auf und holte ein Schlüsselmäppchen heraus, das sie Fiona hinhielt. „Der Notar meinte, ich sollte mir von dir quittieren lassen, dass du den Schlüssel bekommen hast. Aber das halte ich für sehr überflüssig.“

„Ich auch“, sagte Fiona. „Trotzdem sollten wir es so machen. Stell dir vor, mir passiert irgendwas, der Schlüssel kommt abhanden, und dann bist du offiziell diejenige, die ihn zuletzt hatte.“

Ihre Freundin zog die Augenbrauen zusammen. „Ich habe zwar keine Ahnung, was dir passieren sollte, dass ich am Ende für den Schlüssel verantwortlich sein könnte. Aber wenn du meinst …“

„Leslie, das geht nicht gegen dich“, beteuerte Fiona mit ernster Miene. „Aber Mum und Beverly waren ihr Leben lang ein Herz und eine Seele, und auf einmal herrschte Funkstille. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Mum, wenn sie bei ihrem letzten Besuch ihren Wecker bei meiner Tante vergessen hätte, lieber einen Anwalt beauftragt hätte, anstatt bei ihr anzurufen, damit sie den Wecker einpackt und ihr schickt. So viele Dinge können durch irgendwelche Kleinigkeiten aus dem Ruder laufen, und ich will einfach nicht, dass irgendwer dich auf einmal für etwas zur Verantwortung zieht, womit du eigentlich nichts zu tun hast.“

Ihre Freundin dachte einen Moment lang über Fionas Worte nach, schließlich nickte sie. „Ja, in gewisser Weise hast du ja recht. Wenn du – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr bestätigen kannst, dass du den Schlüsselbund erhalten hast, bin ich tatsächlich die, die ihn als Letzte in der Hand hatte.“ Sie nahm einen kleinen Briefumschlag aus der Schublade und zog einen Zettel heraus. „Das ist der Wisch, den mir der Notar gegeben hat und den du unterschreiben sollst.“

Fiona nahm den Kugelschreiber, der auf dem Tresen neben dem Notizblock für die Einkäufe lag, las den Text durch, der exakt auflistete, welche Schlüssel sich alle an dem Bund befanden, und unterschrieb. „Heute ist der Elfte, richtig?“

„Ja.“

„Okay“, sagte sie und setzte das Datum dazu. Sie gab Leslie den Zettel und betrachtete den Schlüsselbund. „Na, dann wollen wir mal.“

„Hm, der Schlüssel passt“, sagte Fiona erfreut und schloss auf. „Jetzt kann ja nichts mehr schiefgehen.“ Als sie die Tür öffnete, schlug ihr stickige Luft entgegen, die nach altem Zeitungspapier roch. „Stimmt, jetzt erinnere ich mich daran, warum ich Trödelläden noch nie so richtig leiden konnte. Dieser Geruch.“

Leslie folgte ihr nach drinnen in das vollgestellte Ladenlokal. „Ja, so ein Hauch von Keller. Aber ich schätze, wenn du zwei Tage lang die Tür offen lässt und die Fenster zum Hinterhof aufmachst, wird der Wind vom Meer den größten Teil davon schon mal wegwehen.“

„Vermutlich ja“, stimmte Fiona ihr zu. „Und wenn ich dann noch die alte Tapete entfernt und diesen löchrigen Teppich rausgeschmissen habe, wird der restliche Mief auch noch verschwinden.“

Sie blieb stehen und sah sich um, hatte aber das Gefühl, ein riesiges Durcheinander zu betrachten. Ringsum hingen Regale in allen möglichen Größen an den Wänden, dazwischen waren mehr oder weniger gelungene Landschaftsgemälde – oft mit einem großen Hirsch am Rand – in klobigen Goldrahmen aufgehängt worden. Eine lange Vitrine diente als Theke und als Lager oder Auslage für militärische Orden aus längst vergessenen Zeiten oder für Silberbestecke, die so groß erschienen, dass Fiona sich fragte, ob man solche Messer oder Gabeln überhaupt noch mit einer Hand hochheben konnte. Auf einer Ecke der Vitrine alias Theke lag ein Stapel Taschenbücher, die, den altmodischen Titelbildern nach zu urteilen, aus den Sechzigerjahren stammen mussten und seit ihrem ersten Erscheinen sehr, sehr oft gelesen worden sein mussten. In einem abschließbaren Bereich lagen Dutzende Silbermünzen, deren Silbergehalt ebenso zweifelhaft war wie ihre Echtheit.

Auf fast jedem Tisch – von denen sich in dem kleinen Ladenlokal ein halbes Dutzend fand – stand mindestens eine Etagere, die mit Kleinkram aller Art vollgepackt war. Modellautos, Schnapsgläser, Kaffeelöffelsets, Spielzeugfiguren, Puppenköpfe, kleine Messingbecher und unzählige Dinge mehr drängten sich auf jeder der Ebenen. Was nicht auf die Etageren passte, belegte den Platz ringsherum: Vasen, Kerzenhalter aus Messing, Schreibtischlampen aus allen Epochen. Dazwischen standen verstreut Plastikkörbe mit Kugelschreibern, Bleistiften oder kleineren Werkzeugen. Auf dem Boden darunter hatten monströse Kerzen mit religiösen Motiven, Hocker aller Art und Zeitungsständer einen Platz gefunden. In der Ecke neben der Tür zum Hinterzimmer lag ein gut ein Meter fünfzig hoher Zeitungsstapel, der sich bedenklich nach links neigte.

„Ich möchte wissen, ob meine Tante überhaupt noch einen Überblick hatte, was sie hier alles angesammelt hatte“, fragte sich Fiona.

„Mich wundert vielmehr, wie hier ein Kunde irgendetwas finden kann“, sagte Leslie.

„Na ja, ich schätze, so einen Laden betreten die wenigsten in der Absicht, etwas ganz Bestimmtes kaufen zu wollen. Das ist doch eigentlich so wie auf dem Flohmarkt. Du kommst her, siehst dich um, was es gibt, und dann entdeckst du auf einmal eine Vase, die dir gefällt.“ Sie ging weiter ins Hinterzimmer und rief gleich darauf: „Ah, hier kommt der Geruch her.“ Stabile Metallregale waren mit alten Zeitungen und Illustrierten vollgestopft, aber ein Blick auf den erstbesten Stapel machte ihr schnell klar, dass hier nichts sortiert war, weder nach Titel noch nach Jahrgang. „Scheint so, als hätte Tante Beverly einfach alles wahllos in die Regale gelegt.“

Leslie folgte ihr nach nebenan. „Bestimmt hatte sie ursprünglich mal vorgehabt, die Zeitungen zu sortieren, und dann kamen immer mehr und mehr dazu, bis sie nicht mehr wusste, wo sie anfangen sollte.“

„Gut möglich“, erwiderte Fiona. „Die Frage ist nur, was ich mit diesen Sachen machen soll. Ich meine, ich bringe es irgendwie nicht übers Herz, das alles einfach in einen großen Müllcontainer zu werfen, damit es auf der Müllkippe landet. Vor allem bei den Zeitungen kann ich mir vorstellen, dass es da Sammler gibt, die sich um solche Exemplare reißen würden.“

„Ich glaube, da kann ich dir sogar behilflich sein“, sagte Leslie, die eine alte Filmzeitung aus den Siebzigerjahren von einem der Stapel im Regal gleich neben sich genommen hatte und darin blätterte. „Ist das eigenartig.“

„Was ist eigenartig?“ Fiona sah sie irritiert an.

„Dieses Heft hier. Vom Februar 1979. Ich glaube, ich habe noch nie ein Heft aus einer Zeit in der Hand gehalten, als ich noch nicht auf der Welt war.“ Sie blickte von der Zeitschrift hoch. „Meine Eltern haben die Zeitung gelesen und danach ins Altpapier geworfen. Wir hatten nie alte Zeitungen zu Hause herumliegen, und erst recht keine, die schon drei Monate oder sogar fünf Jahre alt waren. Aber fünfundvierzig Jahre … das ist irgendwie …“

„Eigenartig?“, half Fiona ihr amüsiert auf die Sprünge.

„Genau. Es ist eigenartig. Das ist ein Gefühl, das ich gar nicht richtig beschreiben kann.“

„Du hast eben gesagt, du könntest mir behilflich sein“, kehrte Fiona zu dem Thema zurück, das für sie interessanter klang als Leslies Empfindungen beim Anblick einer nicht ganz fünfzig Jahre alten Zeitung. Was würde sie wohl erst sagen, wenn sie ein dreitausend Jahre altes Stück Papyrus mit ägyptischen Hieroglyphen vor sich hätte?

„Oh, ach ja, richtig. Meine Eltern hatten beim Umzug einen ganzen Stapel alte Schallplatten und Bücher zurückgelassen, die sie nicht mehr haben wollten“, berichtete Leslie. „Ich habe dann im Internet nach jemandem gesucht, der einfach alles zu einem Pauschalpreis ankauft, weil ich keine Lust hatte, eine LP nach der anderen bei Ebay anzubieten. Am Ende hätte ich vielleicht nur fünfzig Pence pro LP bekommen, hätte aber hundertmal zur Post laufen und mich anstellen müssen, weil ich alles nur einzeln losgeworden wäre. Dabei bin ich auf einen Händler gestoßen, der erst mal die komplette Sammlung katalogisiert und mitnimmt. Dann stellt er sie ins Internet zum Verkauf und gibt dir zwanzig Prozent vom Verkaufspreis. Du siehst die Originalabrechnung und kannst alles nachvollziehen. Da ist bislang vor allem bei den Schallplatten meiner Eltern eine nette Summe zusammengekommen.“

„Bislang? Wie lange bietet er die Sachen an?“, wollte Fiona wissen.

„Das kannst du alles mit ihm bereden, wenn du ihn anrufst“, sagte Leslie. „Er hat da unterschiedliche Fristen, bis wann etwas verkauft sein muss, ehe er den Preis senkt, aber das kann er dir genauer erklären als ich.“ Sie zog das Smartphone aus der Tasche und begann zu tippen. „Ich schicke dir die Nummer rüber. Er nennt seinen Laden ‚Der Aufräumer‘. Je eher du ihn anrufst, desto eher hast du ein leeres Ladenlokal.“

„Gute Sache“, sagte Fiona, verzog dann aber den Mund. „Allerdings weiß ich dann noch immer nicht, was ich mit diesen Räumen anfangen soll. Am liebsten würde ich ja hier einziehen, aber … ich habe keine Ahnung, wie ich diese Fläche nutzen könnte.“

„Dagegen spricht aber doch, dass dein Arbeitsplatz nicht nur einen Katzensprung weit entfernt ist.“ Leslie überlegte kurz. „Was wäre denn, wenn du von Montag bis Freitag in Canterbury arbeitest und weiter in deiner Wohnung wohnst, und am Freitagabend kommst du her und verbringst das Wochenende in deinem Zweitwohnsitz am Meer.“

Seufzend ließ sich Fiona auf dem Hocker nieder, der zwischen zwei Regalreihen stand. „Wenn ich nicht im Feierabendverkehr feststecken will, muss ich in der Nacht von Freitag auf Samstag herkommen. Nachts bin ich aber nicht gern unterwegs, erst recht nicht auf diesen Landstraßen mit ihren tausend Kurven, hinter denen immer jemand lauern könnte, der ein wehrloses Opfer sucht, das er verschleppen und foltern kann. Und um den Stau am Montagmorgen zu vermeiden, der mich zwei Stunden mindestens kosten würde, müsste ich am Sonntagnachmittag abfahren. Damit würde ich am Samstag frühmorgens vor Sonnenaufgang hier ankommen, den halben Tag verschlafen, und am Sonntag würde ich mich je nach Jahreszeit schon um drei Uhr auf den Weg machen, damit ich auch noch sicher im Hellen zu Hause eintreffe.“

„Na ja, du könntest ja alle zwei Wochen herkommen“, schlug Leslie vor. „Oder du nimmst mal den Freitag oder den Montag frei oder verbrätst ein paar Überstunden, um einen Tag mehr rauszuholen.“

„Hört sich zwar gut an, aber auf Dauer ist das für mich nicht bezahlbar. Allein die zusätzlichen Tankfüllungen im Monat würden mein Budget übersteigen. Davon abgesehen weiß ich nicht, ob mein Wagen in seinem Alter noch solche Strapazen mitmachen will.“

Leslie legte die Zeitung zurück ins Regal. „Du könntest den Laden vermieten, damit jemand ein Geschäft aufmachen kann.“

Fiona schüttelte den Kopf. „Da hinten stehen schon zwei Geschäfte leer“, wandte sie ein. „Und die haben beide eine etwas bessere Lage als das hier. Wenn die schon keiner haben will, dann müsste ich hier mit der Miete so weit runtergehen, dass sich das alles nicht mehr lohnt.“

„Und wenn du selbst ein Geschäft eröffnest? Ein Bistro oder … keine Ahnung.“

„Ein Lokal darf ich hier nicht eröffnen, weil die Voraussetzungen für einen Gastronomiebetrieb nicht erfüllt sind“, erwiderte sie. „Da muss ich tausend Vorschriften beachten und alle möglichen Umbauten vornehmen, ehe ich da grünes Licht bekomme. Das würde mich so viel kosten, dass ich jahrelang den Kredit zurückzahlen müsste. Außerdem wäre ein Lokal nichts für mich. Ich bin froh, wenn ich mein eigenes Essen nach vier Minuten fertig aus der Mikrowelle holen kann.“

„Oh, dann kann ich dich nicht ins His Master’s Sauce einladen?“

„Was? O doch, natürlich. Liebend gern. Ich lasse mich gern verwöhnen, was leckeres Essen angeht, aber ich habe keine Geduld, es selbst zuzubereiten. Wenn ich nicht mal Lust habe, für mich selbst ein paar Kartoffeln zu kochen, weil das so endlos lange dauert, wie soll ich dann meinen Gästen Gerichte zubereiten, bei denen ich tausenderlei Kleinigkeiten stundenlang vorbereiten muss?“

„Ah, verstehe“, sagte Leslie. „Wäre ein Café auch zu viel Arbeit?“

„Geht ja wie gesagt alles nicht. Nichts mit Gastronomie. Nicht mal nur zum Mitnehmen. Außerdem gibt es doch sicher schon ein Café in Crescent Bay, oder?“

„Nein, das ist immer noch eine klaffende Lücke, die geschlossen werden will.“

„Aber nicht von mir“, gab Fiona mit einem Schulterzucken zurück. „Ein kleiner Buchladen wäre schön, aber ich schätze, Mr Billings und Miss Shearer würde es nicht freuen, wenn ich versuchen würde, ihnen beiden Kunden abzunehmen.“

„Und Maggie Underwood auch nicht.“

Fiona stutzte. „Wer ist Maggie Underwood?“

„Die dritte Buchhändlerin“, sagte Leslie. „Ihr haben wir es zu verdanken, dass Crescent Bay im ganzen Land die meisten Buchhandlungen pro tausend Einwohner hat. Wobei wir ja nicht mal auf tausend kommen, wenn wir nur Crescent Bay nehmen.“

„Wie können die drei denn alle genug verdienen, um zu existieren?“

„Können sie eigentlich nicht. Aber Maggie ist die Tochter des Unternehmers Brian Underwood …“

„Redest du von diesem Logistikunternehmen?“, warf Fiona ein.

„Genau. Töchterchen Maggie hatte nur einen großen Wunsch: Sie wollte in Crescent Bay einen Buchladen aufmachen, und Daddy hat ihn ihr eingerichtet. Von Büchern hat diese Frau eigentlich so gut wie keine Ahnung, und sie verkauft die Bücher vorzugsweise nach dem Prinzip, dass der Rücken zur Wohnzimmereinrichtung des jeweiligen Kunden passt.“

„Also ist sie keine Konkurrenz?“

Leslie schüttelte den Kopf. „Sie kommt nicht mal auf die Idee, die Bücher ins Schaufenster zu legen, die verfilmt worden sind und auf Netflix wie irre gestreamt werden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie nicht mal weiß, dass man ein Buch aufschlagen und darin lesen kann. Und das gilt zum großen Teil auch für ihre Kunden, die in den beiden anderen Buchhandlungen komplett aufgeschmissen wären, weil ihnen kein Buch gezeigt wird, das in Sachen Covergestaltung und Farbe mit der Designerbluse harmoniert.“ Sie gestikulierte flüchtig. „Ihr kann es aber auch völlig egal sein, wie viel sie verkauft, weil Daddy sie permanent subventioniert, wenn sie wieder mal ihr Geld verpulvert hat. Sie hat ihren Spaß, Daddy hat seine Ruhe.“

Fiona seufzte frustriert. „Also gut, aber selbst wenn wir Maggie Underwood mal außer Acht lassen, wäre es trotzdem verrückt, einen Buchladen aufzumachen.“

„Richtig. Denn Billings und Shearer würden dir das Leben zur Hölle machen.“ Leslie stand gegen das Regal gelehnt da und ging im Geiste die Geschäfte durch, die an der Promenade vertreten waren. „Tja, ein reiner Souvenirladen taugt auch nichts, weil es beim Zeitungshändler, im Zigarettenladen, im Spielzeugladen und in jeder Boutique eine Ecke mit Souvenirs gibt.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und eine weitere Boutique braucht hier auch keiner. Du könntest höchstens Mode von irgendeinem edlen Designer anbieten, aber hier kommt nicht das Publikum hin, das sich solche Preise leisten kann.“

Fiona winkte sofort ab. „Oh, ich könnte auch nicht guten Gewissens teure Designermode verkaufen, wenn ich weiß, dass die Sachen einen Materialwert von ein paar Pfund haben.“

„Ist das wahr?“

„Ja, ich habe vor Kurzem zufällig eine Dokumentation zu dem Thema mitbekommen. Da ging es um diese Edelmarken, die Handtaschen für zweitausend Pfund verkaufen, obwohl die einen Materialwert von nur dreißig Pfund haben. Und da sind die neunzig Pence, die die Fabrikarbeiterin in Bangladesch pro Handtasche gezahlt bekommt, schon drin.“

„Wow, das hätte ich nicht gedacht“, sagte Leslie. „Das moralische Dilemma bleibt dir hier sowieso erspart. Wer in Crescent Bay Urlaub macht, der kann sich entweder nichts Teureres leisten oder er ist einer von den Touristen, die keinen Luxus brauchen, um sich zu erholen.“

„Hmpf“, machte Fiona mürrisch. „So habe ich Crescent Bay früher auch schon wahrgenommen, als wir noch jedes Jahr hergekommen sind. Aber leider bringt mich das auf keine Idee, was ich hier anbieten könnte, das sich von allen anderen Geschäften unterscheidet und trotzdem so interessant ist, dass die Leute mir nach Möglichkeit den Laden einmal in der Woche leer kaufen.“

„Vielleicht wäre es doch besser, den Laden zu vermieten“, überlegte ihre Freundin. „Ich habe von diesen Pop-up-Stores gelesen, die immer nur für kurze Zeit eröffnet werden. Die locken ja meistens ganze Heerscharen an und sind innerhalb einer Woche leer.“

Nachdenklich kniff Fiona die Augen zusammen. „An sich keine schlechte Idee, aber das Problem ist, dass Crescent Bay so weit ab vom Schuss liegt. Die Pop-up-Stores sind in vielen Fällen was für Fans von Bands oder Filmen oder Serien oder so. Die Leute stehen tatsächlich Schlange vor diesen Geschäften, allerdings habe ich so meine Zweifel, dass diese Leute sich auf den Weg nach Crescent Bay machen werden, um eine exklusive Wiederveröffentlichung des ersten Albums von … pff … mir fällt nicht mal ein Name ein …“

„Ed Sheeran?“, warf Leslie ein.

„Ja, zum Beispiel er. Ich weiß nicht, ob die Leute diesen weiten Weg zurücklegen wollen“, sagte sie.

„Die Leute würden das schon machen, davon bin ich sogar überzeugt“, beteuerte Leslie. „Die reisen für ihren Star auch um die halbe Welt, nur um ihn in Tokio live zu erleben, obwohl er dieselben Songs spielt wie in der Arena in London. Ich glaube, die größere Schwierigkeit dürfte die sein, die Betreiber davon zu überzeugen, dass sie die begehrten Produkte in einem Kaff am Meer anbieten sollen.“

„Kann gut sein“, meinte Fiona. „Aber wir sollten diese Idee auf jeden Fall im Hinterkopf behalten, falls uns gar nichts anderes einfällt.“ Sie sah sich um. „Gut, dann werde ich gleich auf jeden Fall noch diesen Händler anrufen, damit der herkommt und sich ansieht, was er mitnehmen soll.“ Sie warf Leslie einen fragenden Blick zu. „Hast du noch Zeit? Oder willst du nach Hause?“

„Nur wenn du mich loswerden willst“, gab die amüsiert zurück. „Natürlich habe ich Zeit. Sonst wäre ich ja nicht mitgekommen. Hast du irgendwas Bestimmtes vor?“

„Ich will mir nur den Rest des Hauses ansehen und herausfinden, zu welchen Türen all die anderen Schlüssel gehören.“

„Nur zu“, forderte Leslie sie auf.

Der nächste Schlüssel führte durch die Hintertür auf einen kleinen gepflasterten Hof, der zu allen Seiten von einer Mauer umgeben war. „Der schreit ja förmlich danach, dass alle Pflastersteine rausgerissen werden, um einen Garten anzulegen“, fand Fiona. „Da muss Grün hin, ganz viel Grün.“

Durch die Tür in der Mauer rechts von ihnen gelangten sie zum Stellplatz neben dem Haus, auf dem ihr Wagen parkte. „Wieder ein Schlüssel zugeordnet“, sagte sie mehr zu sich selbst und schloss die alte Metalltür wieder ab, damit niemand unbemerkt auf den Hof und von dort durch die Hintertür ins Haus eindringen konnte.

Sie kehrten nach drinnen zurück und wechselten durch die rückwärtige Tür vom Lagerraum ins Wohnzimmer, das in einem krassen Gegensatz zum Ladenlokal stand. Während dort ein ziemliches Durcheinander herrschte, präsentierte sich das Wohnzimmer nahezu mustergültig.

„Wow, hier erkenne ich ja gar nichts mehr wieder“, sagte Fiona leise. „Tante Beverly hat sich ja tatsächlich von all den alten Möbeln trennen können und sich was Neues zugelegt. Scheint nur nicht so, als hätte sie lange was davon gehabt. Das sieht alles noch fast neu aus.“

Eine moderne Polstergarnitur bildete zusammen mit dem Glastisch den Mittelpunkt des großzügigen Zimmers, an der Wand gleich gegenüber hing über dem schon damals stillgelegten Kamin ein großer Flachbildfernseher. Ein einzelner Sessel war zum Fernseher ausgerichtet. Das Stromkabel, das zur nächsten Steckdose verlief, und eine Fernbedienung mit zahlreichen Tasten mit Pfeilen und anderen Symbolen machten klar, dass es sich um einen elektrisch verstellbaren Fernsehsessel handelte, der wahrscheinlich auch eine Massagefunktion besaß. Fiona kannte die Marke und wusste, wie teuer die war.

An der Wand rechts von ihnen fand sich ein über die ganze Breite reichender Schrank mit Vitrinenelementen und Bücherregalen. Die Regale waren gut gefüllt, aber sie quollen nicht über, und hinter Glas standen mehrere kleine Bleikristallfiguren, die alle Wildtiere darstellten – vom Nilpferd über das Erdmännchen bis hin zur Giraffe.

„So in etwa könnte ich es mir bei Dr. Jekyll und Mr Hyde zu Hause vorstellen“, sagte Leslie. Fiona verstand nicht sofort, woraufhin sie anfügte: „Wenn er Dr. Jekyll ist, dann lebt er hier in dieser schön eingerichteten Wohnung. Und kaum ist er Mr Hyde, zieht es ihn nach nebenan in den vollgestopften Laden.“

Fiona musste leise lachen, als sie begriff, wie Leslie ihre Anspielung gemeint hatte. „Tante Beverly und Miss Hyde wären noch etwas passender. Aber du hast recht. Man könnte meinen, man hätte es mit zwei verschiedenen Leuten zu tun.“

„Vielleicht hat sie ja auch im Lauf der Jahre die Lust an ihrem Laden verloren“, gab Leslie zu bedenken. „Wenn sie ohnehin nicht auf das Geld angewiesen war, gab es ja auch keinen Ansporn, das alles mal zu sichten und zu sortieren. Wenn ich die Wahl hätte, nebenan den Trödel aufzuräumen oder hier in diesem grandiosen Sessel vor dem riesigen Fernseher zu sitzen und die Tatsache zu genießen, dass ich mich um nichts kümmern muss, dann wüsste ich auch, wo man mich finden würde.“

„Tante Beverly ist ja auch für ihr Leben gern am Strand spazieren gegangen“, ergänzte Fiona. „Und sie konnte bei so gut wie jedem Wetter stundenlang im Sand sitzen und aufs Meer hinaussehen. Da würde ich wahrscheinlich auch den Trödel links liegen lassen, zumal es nach einer Aufgabe für die Ewigkeit aussieht, da erst mal Ordnung reinzubringen.“

Durch die Tür am anderen Ende des Wohnzimmers gelangten sie in die Küche, und wieder konnte Fiona nur staunen. Auch dieses Zimmer war nicht wiederzuerkennen, denn diese in Grau und Weinrot gehaltene Einbauküche war ebenfalls noch so gut wie neu.

„Das alles hat aber ein kleines Vermögen gekostet“, meinte Leslie, die hinter ihr stand und sich umsah. „Meine neue Küche war schon verdammt teuer, aber die hier wirkt ja richtig luxuriös.“

„Vielleicht hatte meine Tante ja im Lotto gewonnen, und sie wollte sich von dem Geld was gönnen“, überlegte Fiona. „Schließlich war sie durch ihre Rente versorgt und musste das Geld nicht zurücklegen. Jetzt bin ich nur gespannt, ob sich im ersten Stock auch was getan hat.“ Gerade wollte sie die Küche verlassen, da fiel ihr etwas ein. Sie ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Vorsorglich hatte sie sich die Nase zugehalten, da sie nicht wusste, welche Gerüche ihr entgegenschlagen würden, nachdem alles Gekühlte seit drei Monaten nicht mehr gekühlt wurde. Aber dann kam ihr ein erstauntes „Huch“ über die Lippen, als sie sah, dass sich nichts Verderbliches mehr im Kühlschrank befand. „Na, da hat wenigstens jemand mitgedacht, als der Strom abgestellt wurde.“ Ihre Worte ließen sie stutzen. Sie ging nach rechts zur Tür, die ins Treppenhaus führte, und öffnete den Sicherungskasten, der sich unterhalb der Treppe befand. Sie legte den Hauptschalter um und rief: „Leslie, kannst du in der Küche mal das Licht anmachen?“

„Geht.“

„Perfekt.“ Sie schloss den Sicherungskasten und kam nach vorn. „Dann habe ich wenigstens nicht vergebens eine halbe Stunde in der Warteschleife beim E-Werk verbracht.“

„Das können nur wenige Menschen in diesem Land von sich behaupten“, erwiderte Leslie ironisch und folgte ihr nach oben.

Fiona zeigte auf die erste Tür, als sie oben angekommen waren. „Da haben meine Eltern geschlafen, wenn wir hier Urlaub gemacht haben. Und hier gegenüber war mein Zimmer.“ Sie öffnete die erste Tür und fühlte sich mit einem Mal in ihre Kindheit und Jugend zurückversetzt. „Alles noch so wie damals“, flüsterte sie fast ehrfurchtsvoll und ging weiter. „Und da auch“, fügte sie an, als sie in das zweite Gästezimmer schaute. Sie blieb gegen den Türrahmen gelehnt stehen und ließ ihren Blick durch das schlicht eingerichtete Zimmer wandern, in dem sich in den letzten zehn Jahren nichts verändert hatte.

„Na, fühlst du dich jetzt so, als wärst du wieder vierzehn oder fünfzehn?“, fragte Leslie und legte eine Hand auf Fionas Schulter.

„O ja. Und als wäre ich wieder dreizehn oder zwölf oder elf …“, ergänzte sie und ließ den Satz unvollendet. „Als hätte ich erst gestern in diesem Bett geschlafen.“

„Vielleicht hat deine Tante die beiden Zimmer nie verändert, weil sie alles so in Erinnerung behalten wollte, wie es ausgesehen hatte, als sie sich noch blendend mit deiner Mum verstanden hatte“, überlegte Leslie. „Sozusagen ein Denkmal für die Zeit, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.“

„Gut möglich“, flüsterte Fiona und musste einen Moment lang mit den Tränen kämpfen. Dann atmete sie tief durch und stieß sich vom Türrahmen ab. Beim Anblick des komplett modernisierten Badezimmers und des praktisch neuen Schlafzimmers ihrer Tante klang Leslies Gedanke noch viel plausibler.

Sie blieb an der Tür zum Schlafzimmer stehen, weil sie sich noch nicht so ganz bereit fühlte, diese Räume zu betreten. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Verstand noch nicht richtig akzeptiert hatte, dass dies alles jetzt ihr gehörte. In ihrem Kopf war dies immer noch das Schlafzimmer ihrer Tante und damit ihr persönlichster Ort, den niemand sonst unaufgefordert betreten sollte.

„Willst du dich nicht umsehen, ob irgendwo noch etwas Wichtiges herumliegt?“, fragte Leslie, als sie Fionas Zögern bemerkte.

„Nein, das kann ich später immer noch machen“, sagte sie ausweichend und drehte sich um. Sie musterte den Flur und das Treppenhaus, dann ging sie wieder nach unten, dicht gefolgt von Leslie.

Unten angekommen sah sie sich weiter um, bis Leslie schließlich fragte: „Wonach suchst du? Und streite nicht ab, dass du etwas suchst.“

„Oh, ich hatte nicht vor, irgendwas abzustreiten“, versicherte ihr Fiona. „Ich frage mich nur, wo ich eine Tür übersehen haben könnte. Ich kenne das Haus noch von früher, und wir haben jetzt jedes Zimmer gesehen, aber eine Tür, von der ich bislang nichts wusste, habe ich nicht entdecken können. Trotzdem ist ein Schlüssel übrig.“

„Vielleicht ist das ja ein Tresorschlüssel“, meinte ihre Freundin. „Vielleicht hinter einem Bild oder im Schlafzimmerschrank. Lass mal sehen.“ Sie nahm den Schlüssel und hielt ihn ins Licht. „Was steht denn da drauf? Oh! StoreAway! Da kannst du lange suchen.“ Fiona musste kurz auflachen.

StoreAway? Muss mir das was sagen?“

„Das ist eine Firma, die leer stehende Hallen umbaut und darin Lagerräume in allen Größen vermietet“, erklärte sie. „Dieser Schlüssel ist für den Lagerraum 1502.“

„Und … wo finde ich den?“

„Sehr wahrscheinlich drüben in Camelford. Meine Eltern hatten da für drei oder vier Monate ein paar von ihren Sachen zwischengelagert, ehe sie weggezogen sind. Das ist von hier aus das nächste Lagerhaus, und ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Tante noch dreißig Meilen weiter gefahren ist, um da einzulagern, was immer sie einlagern wollte.“

„Wie weit ist es bis nach Camelford?“, wollte Fiona wissen.

„Eine Viertelstunde, würde ich sagen.“

Fiona sah auf die Uhr. „Das passt ja dann noch.“

Aber ihre Freundin schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Das passt leider gar nicht, Fiona. Du brauchst jetzt den Zugangscode, um überhaupt ins Gebäude zu gelangen, weil nur vormittags ein Mitarbeiter der Firma da ist, der dir weiterhelfen könnte.“

„Könnte oder wird?“, fragte Fiona prompt, da ihr Leslies Wortwahl aufgefallen war.

„Könnte. Ich habe nämlich keine Ahnung, welche Vorschriften die haben, wenn es um Erbschaften geht“, entgegnete Leslie. „Falls du natürlich noch irgendwo hier im Haus auf den Zugangscode stoßen solltest, können wir später immer noch gemeinsam hinfahren und nachsehen, was sich in diesem Lagerraum befindet.“

„Nein, ich möchte lieber jemanden von dieser Firma mit dabei haben“, überlegte Fiona. „Ich weiß ja nicht, wen oder was meine Tante in diesem Lagerraum versteckt hat. Aber wenn da irgendwas Illegales rumsteht oder rumliegt, möchte ich den Mitarbeiter dabeihaben, damit er direkt bestätigen kann, dass ich damit nichts zu tun habe.“

„So schlimm wird’s schon nicht sein“, beschwichtigte Leslie ihre Freundin, die sich gerade in etwas hineinzusteigern schien. „Und selbst wenn deine Tante im Nebenberuf Serienmörderin war, die ihre Opfer in den Lagerraum geschafft und da in Folie eingeschweißt hatte, fällt das nicht auf dich zurück. Die haben ganz sicher ein Überwachungssystem, auf dem zu sehen ist, wer zuletzt welchen Raum betreten hat. Und das warst ganz sicher nicht du. Nimm die Papiere vom Notar mit, damit es gar nicht erst zu Missverständnissen kommt.“

„Ja, vermutlich hast du recht“, stimmte Fiona ihr zu. „Dann also morgen früh. Du hast nicht zufällig Zeit, oder?“

„Um dich zu begleiten?“

Fiona nickte.

„Ich dachte schon, du fragst mich überhaupt nicht“, entgegnete Leslie grinsend. „Ich muss erst um halb zwölf zur Arbeit gehen. Das reicht locker für einen ersten Blick in die Kiste mit den fünfzig Goldbarren.“

„Pass lieber auf“, konterte Fiona ironisch. „Nachher liegen da tatsächlich fünfzig Goldbarren in einer Kiste, und dann hast du mir so einiges zu erklären.“

Leslie lächelte nur flüchtig. „Verrat mir lieber mal, wo du heute Nacht schlafen wirst.“

„In meinem alten Zimmer. Wieso?“

„Weil ich dir mein Gästezimmer zur Verfügung stellen wollte.“

Fiona winkte ab. „Das ist lieb von dir, aber ich habe kein Problem damit, hier zu schlafen. An Geister glaube ich sowieso nicht, und es ist ja auch nicht so, als wäre Tante Beverly in ihrem Haus ermordet worden.“

„Okay, aber falls du doch einen Geist siehst, dann weißt du ja, wo ich wohne“, gab ihre Freundin augenzwinkernd zurück.