Leseprobe Eine verwegene Lady

Kapitel 1

Es gibt immer noch Leute, die die Richtigkeit des parlamentarischen Wahlrechts für Frauen in Frage stellen. Man muss sich fragen, warum sie die Ungerechtigkeit aufrechterhalten wollen. Wir dürfen nicht aufhören zu kämpfen, bis uns die gleichen Privilegien wie den Männern gewährt werden, wie es nur fair und richtig ist.

– Aus Lady’s Suffrage Society Times

London, 1885

Sie würde nicht kommen.

Mindestens zum zehnten Mal seit seiner Ankunft schaute Huntingdon auf seine Taschenuhr. Erleichterung durchströmte ihn. Eine Viertelstunde war seit der vereinbarten Uhrzeit der Verabredung vergangen. Lady Helena musste den Fehler ihrer leichtsinnigen Entscheidung eingesehen haben. Dem Himmel sei Dank. Sein Herz, das in schmerzlicher Erwartung pochte, seit er die unscheinbaren Räume betreten hatte, in denen sie sich mit Lord Algernon Forsyte hatte treffen – und ihre Tugend verlieren – wollen, beruhigte sich endlich und nahm wieder einen normalen Rhythmus auf. Die Vorstellung, dass die unschuldige Schwester seines besten Freundes sich so besudeln würde, war beängstigend gewesen. Ja geradezu entsetzlich. Er hatte es kaum glauben können, als Lord Algernon ihm am Abend zuvor von dem Rendezvous erzählt hatte.

Bei einem Kartenspiel.

Das Schwein hatte gelacht.

Und dann hatte er es gewagt, Lady Helenas Jungfräulichkeit in seine Wette einzubeziehen. Als wäre sie ein Flittchen, das derart daran gewöhnt ist, missbraucht zu werden, dass es egal war, welcher Hurensohn sie bestieg. Huntingdon war angewidert und entrüstet gewesen. Er hatte auch sichergestellt, dass er das Spiel gewann und Lord Algernon Lady Helenas Namen nie wieder erwähnen würde, ohne Angst zu haben, seine Zähne zu verlieren.

Huntingdons Ehrgefühl hinderte ihn daran, direkt zu Lady Helenas Vater zu gehen. Der Marquess of Northampton war ein unversöhnlicher, drakonischer Trottel und Gabe bezweifelte nicht, dass die Folgen für Lady Helena drastisch gewesen wären. Es war sein verfluchtes Mitgefühl und seine jahrzehntelange Freundschaft mit Shelbourne gewesen, Lady Helenas Bruder, die ihn heute Morgen hierhergeführt hatten, um sie persönlich vor dem Ruin zu bewahren.

Huntingdon schritt auf den fleckigen Teppichen auf und ab und versuchte, seine Ungeduld zu zügeln. Er würde eine volle halbe Stunde warten, nur um sicherzugehen, dass man ihr nicht irgendwie auflauerte. So unangenehm es ihm auch war, in Lord Algernons entsetzlich ungepflegten Räumen warten zu müssen, so blieben ihm doch nur – er schaute noch einmal auf die Uhr – zehn Minuten, bis er fliehen und diese schreckliche Unterbrechung seines Tages vergessen konnte.

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn innehalten.

Ein Klopfen?

Er lauschte, und da war es wieder. Ein zögerliches Anklopfen – einmal, zweimal, dreimal.

Sein Herz begann erneut zu hämmern, und der Schrecken senkte sich wie ein Gewicht auf seinen Magen.

Sie war doch gekommen.

Er riss die Tür auf. Auf der Schwelle stand eine Dame, deren Gesicht von einem Schleier verdeckt wurde, aber an ihrer Identität gab es keinen Zweifel. Huntingdon ergriff ihren Unterarm und zog sie in den Raum, bevor jemand auf sie aufmerksam wurde. Ob der Plötzlichkeit seines Handelns stolperte sie vorwärts, verfing sich im Saum ihrer Röcke und fiel in seine Arme. Huntingdon blieb kaum Zeit, die Tür in ihrem Rücken zuzuschlagen, bevor sich warme weibliche Kurven an ihn pressten. Der Duft von Bergamotte und Zitronenöl, der in diesen schäbigen Räumen, die dringend geputzt und entstaubt werden mussten, unbestreitbar willkommen war, stieg ihm in die Nase. Der Hut rutschte ihr vom Kopf und enthüllte ihr Gesicht. Er blickte in die staunenden smaragdfarbenen Augen von Lady Helena Davenport.

Er spürte, wie sich ihre Brüste groß und voll an ihn drückten. Ihre Lippen waren breiter, als er sie in Erinnerung hatte, da waren verblüffende Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken und seidene Strähnen ihres blassblonden Haares lösten sich aus ihrer Frisur.

Sie sah aus wie eine Madonna der Renaissance.

Und dennoch war sie in dieses Rattenloch gekommen, um sich gründlich ruinieren zu lassen. Der Teil von ihm, der sich nie ganz Vernunft und Ehre unterwarf, schwoll plötzlich in seiner Hose zu unhöflicher Prominenz an. Er wurde von dem erdrückenden Drang ergriffen, ihre Lippen zu kosten.

Würde sie den Kuss erwidern?

Wäre sie empört?

Schockiert über sich selbst holte er tief Luft. Diese verfluchte Schwäche schien einfach unüberwindbar, egal wie sehr er sich bemühte. Das ist falsch! Er atmete aus. Denk an Lady Beatrice. Er atmete wieder ein. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Alles, was er wahrnahm, war Helenas Duft.

Sie klammerte sich an seine Schultern, als wäre er ein Rettungsanker. „Huntingdon! Was tun Sie hier?“

Er stellte sie auf die Füße, ließ sie los, trat zurück und erinnerte sich daran, wie empört er war. Sie war die Schwester seines Freundes. Shelbourne wäre am Boden zerstört, wenn er von ihren Absichten wüsste. Und als Shelbournes Freund war er verpflichtet, ebenfalls wie ein Bruder zu handeln.

„Ich bewahre Sie vor dem größten Fehler Ihres Lebens, Mylady“, sagte er grimmig und versuchte zu vergessen, wie sich ihr Körper an seinen geschmiegt hatte. „Was um Himmels willen haben Sie sich dabei gedacht, sich mit einem widerlichen Schurken wie Lord Algernon Forsyte zu verabreden?“

„Ich hatte vor, meinen Ruf zu zerstören.“ Jetzt, da sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, klang sie gereizt. Erstaunt stellte er fest, dass sie wütend auf ihn war. Eigentlich hätte sie vor Dankbarkeit übersprudeln und ihm für seine Voraussicht huldigen müssen. Stattdessen verzogen sich ihre Lippen und ihr Kiefer spannte sich an. Ihre leuchtend grünen Augen funkelten vor Verärgerung.

Er blinzelte. „Sie wollten ruiniert werden?“

Sicherlich hatte er sie missverstanden. Er hatte erwartet, zu hören, dass Lord Algernon sie mit hübschem Liebesgeflüster umworben und zu einem Treffen an diesen Ort gelockt hatte. Er hatte sich vorgestellt, dass sie ihm unter Tränen danken und dann versprechen würde, nie wieder etwas so Unüberlegtes und Gefährliches zu tun.

„Natürlich“, sagte sie. „Warum hätte ich mich sonst mit ihm in seinen Privaträumen verabreden sollen?“

Was zum Teufel?

Huntingdon hatte Mühe, sich einen Reim auf diesen verdammten Schlamassel zu machen. „Sie glauben also nicht, dass Sie in ihn verliebt sind?“

„Nein.“

„Sie wissen, dass ein Mann wie er Sie niemals heiraten würde“, drängte er.

„Ich würde ihn genauso wenig heiraten.“

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Dann verstehe ich den Grund für diese furchtbare Torheit nicht, Lady Helena.“

„Der Grund ist Freiheit.“ Trotzig reckte Lady Helena das Kinn in die Höhe. „Meine.“

Freiheit. Das Wort klang seltsam verlockend, der Gedanke jedoch war ihm fremd. Die Pflicht hatte Huntingdon gefangengenommen, seit er ein Knabe gewesen war.

„Freiheit“, wiederholte er, als schmecke das Wort bitter auf seiner Zunge.

Denn das tat es.

Er war in eine Verbindung hineingeboren worden, die von erbitterter Selbstsucht und gegenseitiger Feindschaft geprägt gewesen war. Was einst als Liebesheirat begonnen hatte, war zu einem Zustand ständigen Hasses und Elends für alle Beteiligten geworden. Huntingdon und seine Schwester hatten den ultimativen Preis für die vielen Sünden ihrer Eltern bezahlt. Schon früh hatte ihm sein Großvater eingebläut, dass er seine Ehre und seine Pflicht aufrechterhalten müsse. Großvater war nicht mehr da, aber die schwere Bürde der Verpflichtung, die ihm der frühere Earl wie einen Grabstein auferlegt hatte, war seiner sterblichen Seele nicht ins Jenseits gefolgt.

„Ja, Freiheit“, sagten diese vollen, verruchten Lippen.

Lippen, von denen er schon früher bemerkt hatte, dass sie recht einladend waren. Lippen, die er sich gezwungen hatte, sofort zu vergessen. Lady Beatrice war die Braut, für die sich Großvater entschieden hatte. Der Ehevertrag war kurz vor seinem Tod geschlossen worden. Huntingdon hatte versprochen, sich daran zu halten. Außerdem verbot ihm sein strenger Ehrenkodex, der Schwester seines Freundes den Hof zu machen.

„Sie wissen nicht, was Sie da sagen“, beschwichtigte er sowohl sich selbst als auch Lady Helena.

Verflucht, selbst die kleine Lücke zwischen ihren Vorderzähnen war verführerisch. Ihr Duft umhüllte ihn wie ein Hexenzauber. Er musste sie zur Vernunft bringen und dann nach Hause schicken.

Hier würde nur Strenge helfen.

Huntingdon machte sich auf einen Kampf gefasst.

***

Für gewöhnlich betete Helena jeden Abend vor dem Schlafengehen und jeden Morgen, wenn sie aufstand.

Als sie jedoch dem Mann gegenüberstand, den sie schon immer geliebt hatte – und der für sie verloren war –, sprach sie ihre Gebete erneut.

Danke, Herr, dass du mir Hungtingdon geschickt hast anstelle des abscheulichen Lord Algernon.

Hmm, das war nicht sehr geschickt von ihr, nicht wahr?

Man sollte den Charakter anderer nicht im Gebet verunglimpfen.

Eilig änderte sie den Wortlaut.

Danke, Herr, dass du mir Hungtingdon anstelle von Lord Algernon geschickt hast.

Selbst wenn seine Anwesenheit ihren Plan durchkreuzte – was durchaus der Fall war, denn Inbegriffe der Tugend ruinierten Damen nicht zum Vergnügen –, konnte sie nicht umhin, Erleichterung darüber zu verspüren, dass Lord Algernon nicht erschienen war.

Und dass Huntingdon stattdessen hier stand.

Hier, wo sie geplant hatte, zu sein. An genau dem Ort, den sie – wenn auch verzweifelt – gewählt hatte, um der abscheulichen Ehe zu entkommen, in die ihr Vater sie zwingen wollte. Einer mittellosen Frau blieben nur wenige Möglichkeiten. Helena hatte sich dafür entschieden, sich um ihrer Freiheit willen kompromittieren zu lassen, da ihr Vater sich weigerte, zur Vernunft zu kommen.

Sie würde alles tun, jede Sünde begehen, nur um einer düsteren Zukunft als Ehefrau von Lord Hamish White zu entgehen. Ihr lief die Zeit davon. Ihr Vater hatte angekündigt, dass die offizielle Bekanntgabe der Verlobung innerhalb der nächsten vierzehn Tagen erfolgen würde. Sie war verzweifelt.

„Sie wissen nicht, wovon Sie da sprechen“, unterbrach Huntingdon ihre wirbelnden Gedanken.

Sie verfluchte ihn für sein hübsches Gesicht. Für das lässige Gebaren eines Gentlemans. Für sein dunkles Haar und seine funkelnden blauen Augen. Verfluchte ihn dafür, weil er sich weigerte, in ihr mehr zu sehen als die Schwester seines Freundes. Dafür, dass er nie auch nur einen Hauch von Interesse an ihr gezeigt hatte, denn ihr Vater hätte sie sicher eher einem Earl zur Frau gegeben, anstatt sie in die Ehe mit seinem politischen Compagnon Lord Hamish zu zwingen.

Verflucht, verflucht, verflucht sei er!

„Ich weiß, wovon ich spreche“, korrigierte sie den arroganten, schönen Earl, dem ihr Herz gehörte.

Der mit der irritierend perfekten Lady Beatrice Knightbridge verlobt war.

Verflucht sei auch Lady Beatrice!

„Nein“, konterte Huntingdon, „das können Sie nicht. Das ist Wahnsinn, Lady Helena. Reiner und völliger Wahnsinn. Das Risiko, dem Sie sich ausgesetzt haben … Freiheit erwächst nicht aus einer solch törichten Handlung. Das kann ich Ihnen versichern.“

Wie sicher er sich war.

Wie überzeugt er war, dass er es besser wusste als sie.

Verbitterung überkam sie. „Wie können Sie annehmen, dass Sie es besser wissen als ich, Mylord? Halten Sie mich für schwachsinnig?“

Sie liebte ihn, aber Huntingdon war nun mal Huntingdon. Korrekt und kühl verströmte er eine Aura der Unberührbarkeit, die sie sowohl anziehend als auch abstoßend fand. Sie sehnte sich danach, sein Kinn zu küssen und sein Haar zu zerzausen, wann immer sie ihn sah. Seine Krawatte zu öffnen und ihre Hände unter sein Hemd gleiten zu lassen. Seine eisigen Mauern zu durchbrechen.

Aber in diesem Moment konnte Helena dem Drang nicht widerstehen, ihn anderweitig herauszufordern. Ein Teil von ihr freute sich darüber, dass er sie vor einem unhaltbaren Schicksal bewahrt hatte. Doch der andere Teil wetterte gegen seine Selbstherrlichkeit. Mehr noch, er hatte gerade ihre Pläne zunichte gemacht.

Wie konnte er es wagen?

Sein Gesichtsausdruck – fast zu schön, um einem Mann zu gehören – spiegelte seinen Schock über ihre Empörung wider. „Ich habe Ihren Intellekt immer geschätzt, Lady Helena. Es gibt jedoch nur eine Schlussfolgerung, die ich aus dem Mangel an gesundem Menschenverstand ziehen kann, die Sie bei diesem katastrophalen Versuch, Ihren eigenen Untergang zu planen, an den Tag legen.“

Huntingdon hätte ein Redner sein können.

Seine Stimme war tief, sanft und melodiös – wie Seide für die Sinne. Und auch seine Ausdrucksweise war tadellos. Wortgewandt, ohne blumig zu wirken, sein charismatischer Charme unaussprechlich überzeugend. Schade, dass das im Moment alles vergeblich war.

„Werden Sie in eine abscheuliche Ehe gezwungen?“, fragte sie.

Seine Lippen verzogen sich, zweifellos aus Überraschung über ihre Verbitterung.

Vergiss, wie köstlich sein Mund ist, Helena. Du wirst nie die Gelegenheit haben, ihn zu küssen.

Sehr zu ihrer ewigen Enttäuschung.

Sie fuhr fort, ohne auf seine Antwort zu warten.

„Natürlich nicht. Sie sind ein Mann. Wie könnten Sie auch verstehen, wie es sich anfühlt, unter Druck gesetzt und genötigt zu werden, einer Ehe zuzustimmen, die die eigene Seele auslaugt? Einer Verbindung, die so abstoßend ist, dass Sie ihre Unschuld lieber dem nächstbesten Schurken überlassen würden, als sich diesem Joch zu unterwerfen. Ganz zu schweigen von den Gesetzen, die ihn begünstigen, sodass er mich unter seiner verhassten Fuchtel halten kann.“

Auch wenn Gesetze verabschiedet worden waren, die die Lage der Frauen in der Ehe verbessern sollten, boten sie keinen vollständigen Schutz. In Wahrheit gab es nicht genügend Gesetze, um eine Ehe mit Lord Hamish zu regeln.

„Ich bin nicht hierhergekommen, um über die Gesetze des Landes zu streiten“, sagte Huntingdon und seine Stimme nahm einen schroffen Ton an.

„Warum sind Sie dann hierhergekommen, Lord Huntingdon?“, erwiderte sie und stellte ihm damit die Frage, die sie beschäftigte, seitdem sie über die Schwelle getreten war und ihn hier vorgefunden hatte.

Der Earl strahlte eine unbestreitbar angenehme Stärke aus. Er war ein hervorragender Athlet und das sah man ihm auch an. Er ruderte, schwamm und hatte die breiten Schultern und die Muskulatur eines Mannes, der sich nicht auf Tanzflächen herumtrieb oder ziellos durch seine Clubs zog.

Natürlich war er der Inbegriff der Männlichkeit.

Der Earl of Huntingdon war die Perfektion schlechthin.

Punktum.

Und genau das war das Problem mit ihm. Wahrscheinlich auch das Problem mit Helena. Sie war weit entfernt von Perfektion. Unentschuldbar unvollkommen, so war sie nun mal. Zu laut, zu frech, zu eigensinnig. Das Haar zu hell, das Lachen zu schrill, die Zähne zu ungleichmäßig. Ihr Vater hatte auf eine ergebene Tochter gehofft, die sich seinen Launen unterwarf und sich von ihm in Sachen Ehe leiten ließ. Aber sie tat alles in ihrer Macht Stehende, um ihn davon abzubringen.

„Warum ich hierhergekommen bin?“, wiederholte er ungläubig ihre Frage. „Bei Gott, Mylady, wie können Sie mir eine solche Frage überhaupt stellen? Es ist so klar wie das Licht der Sonne, dass man Männern wie Lord Algernon Forsyte nicht trauen kann. Der Schurke ließ jeden in Hörweite wissen, was er mit der unvergleichlichen Lady Helena Davenport zu tun gedachte. Was hätte ich sonst tun sollen, hmm? Meinen ältesten Freund aufsuchen und ihm mitteilen, dass seine Schwester im Begriff war, ihre Unschuld an einen Schurken wie Forsyte zu verschleudern?“

Unbehagen überkam sie.

„Offensichtlich war Lord Algernon der falsche Mann für diese Aufgabe“, sagte sie. „Nächstes Mal werde ich besser wählen.“

Er ergriff ihren Arm – ihren Ellenbogen, um genau zu sein, und seine Berührung brannte wie Feuer – und zog sie näher zu sich. Fast unmerklich. Ein sanftes Ziehen, nichts weiter. Der Earl of Huntingdon würde sich niemals herablassen, eine Lady zu bedrängen. Ganz gleich, wie verärgert er war.

Während sie so seine Miene betrachtete, war Helena bereit, ihre gesamte Mitgift darauf zu verwetten, dass Huntingdon in der Tat sehr verärgert war.

Vielleicht wäre außer sich sogar eine bessere Beschreibung.

„Was zum …“ Huntingdon hielt inne. Er schien sich zu sammeln, bevor er fortfuhr. „Nein, Mylady, welchen Unsinn Sie auch immer im Kopf haben, ich flehe Sie an, lenken Sie Ihr Vorhaben in eine vorteilhaftere Richtung.“

Wobei er mit vorteilhafterer Richtung die Ehe meinte.

Mit Lord Hamish.

Herzlichen Dank auch, Mylord.

Sie zog ihren Ellenbogen aus dem Griff des Earls. Widerstrebend natürlich, weil sie nicht leugnen konnte, wie sehr sie seine Berührung genoss. Aber er benahm sich ihr gegenüber wie ein älterer Bruder und tat so, als wüsste er mehr über ihre Zukunft, als sie überhaupt jemals begreifen könnte.

Kein Mann seiner Gattung – ein Earl, dem seit seiner Geburt alle Türen offen gestanden hatten – würde überhaupt jemals etwas verstehen.

„Ich werde mich selbst in die Richtung lenken, die ich wähle“, teilte sie ihm kühl mit. „In die Richtung, die für mich die beste ist. Lord Hamish ist nicht meine Zukunft. Eher würde ich mich von einem Dach stürzen.“

„Ihre Melodramatik ist ermüdend, Mylady.“ Er bot ihr seinen Arm. „Kommen Sie, ich werde Sie sicher nach Hause bringen.“

Von allen Männern, an die sie ihr dummes Herz hätte verlieren können, warum musste ausgerechnet er es sein? Es war zum Verrücktwerden.

Helena ignorierte seinen Arm, ihre Frustration und Verzweiflung verdrängten alle anderen Gefühle. „Ich werde mich selbst nach Hause bringen, Lord Huntingdon.“

Er runzelte die Stirn. „Natürlich werden Sie das nicht. Shelbourne würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich zuließe, dass Ihnen etwas zustößt.“

Die Erwähnung ihres Bruders ließ Helena erstarren. Die Erinnerung daran, dass Huntingdon nur aus falschem Pflichtgefühl seinem Freund gegenüber hier war, traf sie wie ein scharf geschliffener Dolch. Nicht, weil er sich um Helena sorgte. Er hatte Lady Beatrice.

„Wenn Shelbourne etwas an mir läge, würde er sich meinem Vater gegenüber behaupten und darauf bestehen, dass er aufhört, mich zu einer ungewollten Heirat zu drängen“, konterte sie.

Ihr Bruder hatte versucht, Vater umzustimmen, hatte ihm dann jedoch recht gegeben und ihr gesagt, sie müsse die Wünsche ihres Vaters respektieren. Ihre Einwände, sie wolle aus Liebe heiraten, waren auf Missbilligung gestoßen. Liebe, so hatte er ihr schneidend gesagt, habe nichts mit dem eigenen Glück oder der Zukunft zu tun.

„Shelbourne tut gut daran, Sie zu ermutigen, Ihre Pflicht zu erfüllen“, sagte Huntingdon.

Pflicht.

Ein verhasstes Wort, besonders im Zusammenhang mit Lord Hamish.

Helena war es leid, sich zu streiten. Jetzt, da Huntingdon ihre Chancen auf den Ruin zunichte gemacht hatte, musste sie ihren nächsten Schritt planen.

Sie bückte sich, um den heruntergefallenen Hut aufzuheben, setzte ihn sich auf den Kopf und ordnete ihren Schleier neu. „Ich habe keine Lust, mich weiter mit Ihnen zu streiten, Mylord. Ich muss nach Hause gehen, bevor meine Abwesenheit bemerkt wird.“

Es war zwingend erforderlich, dass ihr Vater nichts von ihren Absichten erfuhr. Sie konnte nicht riskieren, dass er ihre Heirat mit Lord Hamish beschleunigte, aus Furcht, dass sie die Hochzeit gefährdete. Sie brauchte alle Zeit, die sie bekommen konnte, um für einen Skandal zu sorgen.

„Lady Helena“, sagte Huntingdon warnend.

Sie ignorierte ihn und fegte an ihm vorbei. „Guten Tag, Mylord.“

Und schon war sie zur Tür hinaus.

Sie war mit einer Mietdroschke gekommen und würde auf demselben Weg heimfahren. Sollte er nur versuchen, sie aufzuhalten.

Kapitel 2

Damit eine Frau wirklich frei ist, muss man ihr die Rechte zusprechen, die ihr zustehen.

– Aus Lady’s Suffrage Society Times

Diese sture Göre weigerte sich, auf die Vernunft zu hören.

Huntingdon hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Er konnte nicht mit gutem Gewissen zulassen, dass sie in einer Mietdroschke verschwand. Gott allein wusste, wie sie es hierher geschafft hatte. Er stürmte aus Lord Algernons schäbigen Räumen und folgte dem Wirbel seidener Röcke. Zum Glück besaß er lange Beine. Er erreichte sie auf der Straße. Durch eine glückliche Fügung stand sie in der Nähe seiner eigenen wartenden Kutsche.

Sein tüchtiger Pferdeknecht sah ihn und öffnete die Kutschentür.

Eilig schlug Huntingdon zu, legte einen Arm um Lady Helenas Taille und zog sie zur Kutsche. Wie erwartet leistete sie Widerstand.

„Was um Himmels willen tun Sie da?“, rief sie und versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien. „Huntingdon, ich bestehe darauf, dass Sie mich loslassen!“

Sie konnte darauf bestehen, so viel sie wollte. Die verfluchte Frau hatte ihm heute schon genug Ärger bereitet und er hatte nicht vor, ihr zu gestatten, noch mehr zu verursachen.

„Ich bringe Sie sicher nach Hause, Mylady, und damit basta“, erklärte er ruhig, während er sie und ihre Röcke in seine Kutsche stopfte.

„Hören Sie auf, mich zu misshandeln, Sie Unhold“, rief sie empört. „Das ist Entführung!“

Sein Pferdeknecht hielt seine Miene ausdruckslos, als wäre es etwas Alltägliches, dass Huntingdon ein kreischendes Weibsbild in seine Kutsche schob. Zum Glück kamen solche Dinge selten vor. Dies war das erste Mal, dass er Shelbournes Schwester vor dem klaffenden Schlund des Verderbens retten musste.

Aber er hatte das düstere Gefühl, dass es nicht das letzte sein würde.

„Planänderung“, sagte Huntingdon zu seinem Kutscher. „Meine Begleiterin muss diskret in die Curzon Street gebracht werden.“

Er kletterte in die Kutsche, gesellte sich zu seinem unwilligen Fahrgast und verhinderte jeden weiteren Fluchtversuch, indem er sie erneut an der Taille packte und auf die Lederbank presste. Als sich die Kutschentür schloss, wurde ihr der Hut erneut vom Kopf geschlagen. Selbst durch die Seide ihres Kleides hindurch schien die Wärme ihrer Kurven seine Hände zu verbrennen, und er wünschte, er hätte die charmante Röte nicht bemerkt, die als Ergebnis ihrer Anstrengung in ihre eleganten Wangen kroch.

Lady Helena war schön und wild und alles, was er nicht zu begehren wagte. Er verstand den Wunsch ihres Vaters, sie anständig verheiratet zu sehen.

„Hören Sie auf zu zappeln, Mylady“, sagte er und war irritiert, wie heiser seine Stimme klang.

Er sollte sie loslassen. Das würde er auch, sobald sich die Kutsche in Bewegung setzte und er sicher sein konnte, dass sie nicht die Tür aufriss und sich auf die Straße stürzte.

Bei Gott, er spürte überhaupt keine Stäbe! Trug sie kein Korsett? Wenn er seine Hände höher gleiten ließe, könnte er …

Nein, daran durfte er nicht denken.

„Sie sind ein überfürsorglicher Trampel!“, warf sie ihm vor und klang dabei so empört wie ein Bienenstock, den man gerade umgeworfen hatte.

Wieder erfüllte ihr Duft seine Nase. Er atmete durch den Mund, damit Bergamotte, frische Zitronen und sie nicht seine Sinne berauschten. „Für Ihre Widerspenstigkeit spiele ich gerne den überfürsorglichen Trampel.“

Er war von sich selbst genauso irritiert wie von Lady Helena.

Als sich die Kutsche ruckartig in Bewegung setzte, ließ er sie los, als stünde sie in Flammen. Erleichtert setzte er sich auf die Bank ihr gegenüber. Was zum Teufel war nur los mit ihm? Er hatte schon viele schöne Frauen gesehen, mit ihnen gesprochen und getanzt. Warum trieb ihn diese lästige Frau zur Verzweiflung?

Er kniff sich in den Nasenrücken und rief sich die Schönheit von Lady Beatrice ins Gedächtnis.

„Ich hätte eine Droschke genommen“, schnaubte Lady Helena.

Sie war hinreißend in ihrem Groll.

Am liebsten hätte er ihren Schmollmund geküsst. Aus diesem Grund hielt er höflichen Abstand zu ihr. Es war auch der Grund, warum er kein einziges Mal mit ihr auf einem Ball getanzt und sie bis heute niemals berührt hatte. Vielleicht lag darin ja das Problem.

Die geschmeidige Weichheit ihres Busens, die sich an seine Brust gepresst hatte, war der erste Hinweis darauf, dass sie keine angemessene Unterwäsche trug. Er fragte sich, ob sie auch auf Unterhosen verzichtet hatte.

Selbstverachtung peitschte ihn wie ein Sturm.

„Ich bringe Sie sicher nach Hause“, grollte er. „Es ist meine …“

„Wenn Sie Pflicht sagen, werde ich Ihnen auf den Fuß treten“, unterbrach sie ihn recht unhöflich.

Er wusste, dass Lady Helena ein Wildfang war. Das hatte ihm ihr Bruder erzählt. Wenn er mehr Beweise benötigt hätte, nun, hier waren sie. Sie präsentierte sie ihm auf einem Silbertablett.

Das war ein Gedanke, Lady Helena nackt auf …

Nein, Gabe, hör auf damit!

„Verpflichtung“, sagte er schlicht und erinnerte sie beide an das, was er gerade hatte sagen wollen. „Genauso wie ich Ihnen das Versprechen abnehme, dass Sie so eine Dummheit nicht noch einmal begehen.“

„Dieses Wort ist kaum besser.“ Ihre Augen waren so verdammt grün, ihr Blick brannte sich in seinen und versengte ihn. „Und ich werde Ihnen nichts dergleichen versprechen, Lord Huntingdon.“

Stures Geschöpf. Aber wie auch immer, er war aus härterem Holz geschnitzt.

„Doch, das werden Sie.“

Ihr Kinn hob sich wieder mit diesem Trotz, den er inzwischen kannte. „Nein, das werde ich ganz sicher nicht. Ich schulde Ihnen nichts.“

„Sie schulden mir Dankbarkeit dafür, dass ich Sie vor einem elenden Schicksal bewahrt habe“, entgegnete er und fühlte, wie ihn die Frustration erneut überkam. „Forsyte ist ein Schuft. Sie haben keine Ahnung, was Sie in diesen dreckigen Räumen erwartet hätte.“

Der bloße Gedanke, dass sie sich so rücksichtslos über ihr Wohlergehen hinwegsetzte, machte ihn wütend. Wie konnte sie nur glauben, dass es besser sei, sich mit einem Schurken wie Lord Algernon einzulassen, als zu heiraten? Lord Hamish White war ein ziemlich abscheulicher Kerl, das ließ sich nicht leugnen. Aber als Lord Hamishs Frau würde es ihr an nichts fehlen und sie könnte ihren Anstand wahren. Andererseits erfüllte die Vorstellung, dass sie Lord Hamish heiratete, auch ihn mit unfassbarem Unbehagen.

„Ich werde Ihnen ganz sicher nicht für Ihre ungewollte Einmischung danken“, sagte Lady Helena so erhaben wie eine Prinzessin. „Auch nicht dafür, dass Sie mich mit Gewalt in Ihre Kutsche zwangen. Wie soll ich unbemerkt nach Hause zurückkehren, wenn ich in der Kutsche des Earl of Huntingdon ankomme?“

„Ja genau, wie?“, forderte er sie heraus. „Vielleicht liefere ich Sie direkt an der Haustür ab und habe eine kleine Unterredung mit Lord Northampton.“

Die Farbe wich aus ihren Wangen. „Sie würden es nicht wagen, so etwas Grausames zu tun“, hauchte sie.

„Es ist das Ehrenhafteste, was ich mir vorstellen kann“, stichelte er. „Sie können nicht so leichtsinnig weitermachen, Lady Helena. Wäre ich nicht da gewesen, um Sie davon abzuhalten, den größten Fehler Ihres Lebens zu begehen, wären Sie auf dem Weg in ein Leben voller Armut und Herzschmerz.“

Das stimmte. Sie konnte unmöglich erwarten, dass ihr Vater ihren Ruin einfach so hinnahm und sich plötzlich ihren Launen beugte. Er würde ihr nicht gestatten, zu heiraten, wen sie wollte, oder sich wie ein wildes Mädchen auszutoben. Die Gesellschaft würde sich kollektiv von ihr abwenden. Kein Mann wöllte sie haben. Und Northampton … er wäre zweifellos wütend über ihr Verhalten.

„Ich kann und werde so weitermachen, wie ich muss“, beharrte sie, stur bis zum Schluss. „Ich weigere mich, einen Mann zu heiraten, der glaubt, dass Frauen kein Mitspracherecht bei der Regierung Englands haben sollten. Lord Hamish ist überzeugt, dass Frauen den Männern intellektuell unterlegen sind. Ist das zu fassen?“

Nein, das war es nicht.

Er konnte die Meinung eines solchen Mannes nicht ändern. Er hatte jedoch die Chance, Lady Helena zur Vernunft zu bringen und ihr das Versprechen abzuringen, nie wieder so drastische Maßnahmen zu ergreifen, um sich aus ihrer ungewollten Verlobung zu befreien.

„Ich bin nicht hier, um Lord Hamishs politische Überzeugungen und hoffnungslos falsche Vorstellungen zu diskutieren“, sagte er. „Ich bin hier, um Sie davor zu bewahren, Ihren Ruf zu zerstören. Haben Sie daran gedacht, was mit Ihnen geschieht, wenn man Sie kompromittiert? Was, wenn Ihre Liaison herauskäme? Wohin würden Sie gehen, wenn Ihr Vater Sie des Hauses verweist?“

Gedanken an Lisbeth, die ihm immer wieder durch den Kopf gingen, kehrten zurück und er ballte die Fäuste. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt einen seiner Anfälle zu erleiden. Stattdessen konzentrierte er sich auf Lady Helena. Sie verzog die Lippen und eine kleine Furche erschien auf ihrer Stirn. Beides deutete darauf hin, dass sie die Folgen ihres Handelns nicht so gründlich bedacht hatte. „Ich habe viel über dieses Thema gelesen. Ich bin nicht so dumm, wie Sie glauben, Mylord.“

„Gelesen?“, wiederholte er und war sich sicher, dass er sie missverstanden hatte. „Über dieses Thema?“

„Es gibt Zeitschriften, in denen der Liebesakt in allen Einzelheiten beschrieben wird“, wagte das Luder zu antworten. Das Wort Liebesakt, das sie in ihrer angenehmen Altstimme ausgesprochen hatte, erzeugte noch mehr unerwünschte Wirkungen auf ihn. Sein verdammter Schwanz erwachte zum Leben. Warum war es in dieser Kutsche so verflixt heiß? Wann zum Teufel war sie so kühn geworden?

„Wie um Himmels willen kommt eine Lady in den Besitz von solchem Schmutz?“, fragte er, empört über seine Reaktion.

Empört auch über sie.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie in Shelbournes Bibliothek gefunden. Sie sehen also, Huntingdon, ich habe viel recherchiert, bevor ich mich für meine Vorgehensweise entschied.“

Recherche.

Er schluckte die Lust hinunter, die ihn überkam. Niedere, abscheuliche, ungebührliche Lust. Auf die unschuldige Schwester seines Freundes. Andererseits, wie unschuldig war sie eigentlich?

Du hast eine Verlobte, Gabe.

Und doch hätte Lady Beatrice im Moment nicht weiter von seinen Gedanken entfernt sein können.

„Das Lesen unzüchtiger Bücher ist kaum eine ausreichende Vorbereitung, um den Rest Ihres Lebens zu zerstören, Lady Helena.“ Er freute sich über die Gelassenheit, die er irgendwie aufbrachte.

Man würde kaum vermuten, dass seine Hose in diesem Moment so eng war wie die eines Dandys aus der Zeit König Georges.

Er ekelte sich vor sich selbst.

Offensichtlich verärgert, zupfte sie an ihren Röcken und enthüllte dabei einen Teil ihres Fußgelenks. „Darin unterscheiden wir uns, Mylord. Ich versuche nicht, den Rest meines Lebens zu zerstören, sondern es zu retten.“

Der Anblick ihres Knöchels war nicht gerade hilfreich.

Gabe kniff sich wieder in die Nase und fragte sich, warum es so lange dauerte, bis sie in der Curzon Street ankamen.

***

Dies war die längste Kutschfahrt ihres Lebens.

Zumindest kam es Helena so vor, die schon viel zu lange mit Huntingdon in der Equipage festsaß. Zugfahrten aufs Land vergingen schneller als diese kleine Reise von Lord Algernons Räumlichkeiten bis nach Hause.

Seit er sie kurzerhand in seine Kutsche geschoben hatte, war sie hin– und hergerissen zwischen dem Drang, den Earl um den Verstand zu küssen oder einen ihrer Stiefel nach ihm zu werfen.

Er kniff sich in den Nasenrücken und starrte sie an, als fände er sie furchtbar anstößig. Und doch liebte ihr dummes Herz ihn.

Ihr Leben war eine Studie des Elends. „Ich nehme an, wir müssen akzeptieren, dass wir uns in einer Pattsituation befinden“, sagte er.

War sein Blick gerade zu ihren Lippen geglitten?

Sie zerstörte die aufkeimende Hoffnung.

Auch dumm. Unendlich viel dümmer als bloße Dummheit. Völlig lächerlich.

„Ja, das werden wir wohl“, stimmte sie zu, nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit.

„Schluss mit dieser Torheit!“, befahl er, als hätte er das Recht, Forderungen an sie zu stellen. „Sie werden in Zukunft alle Versuche unterlassen, sich selbst zu erniedrigen.“

„Sie können mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe, Huntingdon“, erwiderte sie mit einer gewissen Kälte in der Stimme.

Seine Miene wurde grimmig. „Doch, das kann ich.“ Selbst wenn er eine Miene zog, als wohne er einer Beerdigung bei, war er schön. Warum hatte sich ihr Bruder während seiner Schulzeit mit dem Earl of Huntingdon angefreundet? Warum konnte er sich nicht jemanden aussuchen, der kahlköpfig war und eine übermäßige Vorliebe für Kuchen hatte?

„Nein“, sagte sie, „das können Sie nicht.“

Huntingdon war herrisch und streng, aber er musste doch einsehen, dass er keine wirkliche Herrschaft über sie besaß. Er war weder ihr Bruder noch ihr Vater. Und er war ganz sicher nicht ihr Verlobter.

Wäre er es gewesen, würde sie nicht alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Verstrickung zu entkommen. Stattdessen würde sie ihre Aussteuer vorbereiten und um eine schnelle Hochzeit bitten.

Seine Nasenflügel blähten sich vor Unmut. Das war eine Angewohnheit, die sie schon lange bemerkt hatte. Helena studierte ihn bei Dinnerpartys und Bällen und bei jeder Gelegenheit. Eine ganze Saison lang hatte sie gehofft, er würde seine langjährige Verlobung mit Lady Beatrice auflösen, und sie hatte jede Gelegenheit genutzt, um zufällige Begegnungen mit ihm zu arrangieren. Aber der Earl war immer vor ihr geflohen und hatte sich um alle gekümmert, nur nicht um sie.

„Wenn Sie mir nicht versprechen, sich diese unsinnige Idee aus dem Kopf zu schlagen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit meiner Entdeckung an Shelbourne und Lord Northampton zu wenden“, sagte er. „Es würde mich in der Tat nicht wundern, wenn sie bereits von einem anderen darauf aufmerksam gemacht worden wären. Lord Algernon hat aus seinen Absichten keinen Hehl gemacht.“

Seine Behauptung ließ sie innehalten. Wie dumm von ihr, dass sie nicht erkannt hatte, dass Lord Algernon keine Gelegenheit ausließ, schamlos über sich selbst zu prahlen. Natürlich würde er auch sie erwähnen. Am liebsten hätte sie ihm die Ohren dafür langgezogen, dass er ihren ausgezeichneten Plan zunichte gemacht hatte.

„Sie können sich genauso gut damit abfinden, dass Sie nicht mein Retter sein werden“, sagte sie zu Huntingdon. „Ich werde tun, was ich will, ohne dass Sie sich weiter einmischen.“

Er knirschte mit den Zähnen. „Das werden Sie ganz sicher nicht.“

Ihre Geduld schwand. „Und wie wollen Sie mich aufhalten, Mylord? Wenn Sie meinem Vater und meinem Bruder Geschichten erzählen, werde ich keine andere Wahl haben, als ihnen zu sagen, dass Sie derjenige sind, der mich ruiniert hat. Dass ich in der Erwartung, Lord Algernon zu treffen, in seine Räumlichkeiten ging, stattdessen aber Sie vorfand. Ich werde ihnen sagen, dass Sie mich in Ihre Arme genommen und leidenschaftlich geküsst haben, und dann haben Sie meine Röcke hochgehoben, den Verschluss Ihrer Hose geöffnet und Ihren …“

An dieser Stelle suchte sie nach dem anzüglichen Wort für seine Männlichkeit, das sie in einem der unanständigen Bücher ihres Bruders gelesen hatte. Sie ließ zu, dass ihre Worte ins Stocken gerieten, während ihr Verstand krampfhaft nach dem richtigen Begriff fahndete.

„Verdammt, Helena“, stieß Huntingdon hervor. „Es ist mehr als genug.“

Mit ihrer ungeheuerlichen Behauptung – nur ein Bluff, der sich lose aus Shelbournes verruchter Literatur zusammensetzte – hatte sie ihn ausreichend schockiert. Aber weil sich das Wort in diesem Moment wieder in ihre Gedanken schlich, sprach sie es laut aus.

„Schwanz“, sagte sie und Röte überzog ihre Wangen. Sogar ihre Ohren wurden heiß, aber sie machte weiter. Zum Teufel mit ihm! „Ich werde schwören, dass Sie Ihren Schwanz genommen haben und …“

„Kein verdammtes Wort mehr!“

Sein wütender Aufschrei schallte durch die Kutsche wie der Knall einer Pistole im Morgengrauen. Helena blinzelte. All die schmutzigen Dinge, die sie hatte sagen wollen, verschwanden angesichts seiner unbändigen Wut aus ihrem Kopf. Nun, vielleicht war sie zu weit gegangen. An einem gewöhnlichen Tag würde sie nicht einmal im Traum daran denken, die Unzüchtigkeiten, von denen sie gelesen hatte, laut auszusprechen. Aber dies war kein gewöhnlicher Tag, und jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde, die verstrich, brachte sie dem Tag, an dem sie Lord Hamish heiraten und ihre Freiheit für immer verlieren würde, gnadenlos näher.

Sie bezweifelte nicht, dass Huntingdon sie für verrückt hielt, nachdem er sie bei ihrem Versuch, sich selbst zu ruinieren, erwischt hatte, und sie dann ihr Möglichstes tat, um ihn zu schockieren. Aber ein perverser Teil von ihr genoss den Ausdruck auf seinem Gesicht in diesem Moment.

Endlich kam die Kutsche zum Stehen.

„Ich hoffe, ich habe Sie mit meiner Offenheit nicht schockiert, Mylord“, sagte sie leichthin, als wäre dies ein gewöhnlicher Besuch.

Als hätte sie ihm nicht gerade grob mitgeteilt, dass sie ihrem Bruder und Vater sagen würde, dass er selbst ihre Unschuld genommen hatte. Und das auf die vulgärste Art und Weise, die ihr möglich gewesen war.

„Woher haben Sie diese Ausdrücke?“, fragte er.

Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war zu gleichen Teilen bedauernd und aufrichtig. „Ich lese darüber.“

Sie schaute aus dem Kutschenfenster und stellte erfreut fest, dass sie auf der falschen Straßenseite, einige Häuser weiter, angehalten hatten. Dem Himmel sei Dank, dass diese endlose Kutschfahrt endlich vorbei war. Sie setzte ihren Hut wieder auf, ordnete ihren Schleier, stand auf und öffnete selbst die Kutschentür. „Genießen Sie den Rest des Tages, Mylord.“

Mit diesen Worten packte sie ihre Röcke und sprang auf die Straße.

Ihre Landung war mühelos und elegant. Nicht einmal ein seitlicher Ausfallschritt. Da hatte er es. All seine guten Vorsätze konnte er direkt zum Teufel schicken, wo sie hingehörten. Sie würde Lord Hamish nicht heiraten, und sie würde sich nicht von dem Weg abbringen lassen, den sie gewählt hatte.

Sie würde sich ruinieren. Und danach die Freiheit genießen. „Sie haben mir noch immer kein Versprechen gegeben, Mylady“, rief Huntingdon ihr verärgert hinterher.

Sie drehte sich um und gönnte sich einen letzten Moment, um seinen Anblick in sich aufzusaugen. „Sie werden kein Versprechen von mir bekommen. Es wäre gelogen.“

Er warf ihr einen finsteren Blick zu. Sie tat so, als ob es sie nicht interessierte und machte sich auf den Weg.

Erst später, als sie nach Hause kam, bemerkte sie, dass ihre Lieblingskette – Perlenstränge mit einem Smaragdanhänger – fehlte. Sie musste sie irgendwo auf dem Weg zu Lord Algernons Räumen verloren haben.

Ihre Halskette mochte sie verloren haben, aber sie hatte immer noch ihre Ambitionen auf Freiheit. Die konnte man nicht verlieren oder stehlen. In der Tat war das alles, was sie noch hatte.