Kapitel eins
Miss Harriet Thompson war sicher, dass es nichts Schlimmeres gab, als in einen Gentleman verliebt zu sein, der nicht die leiseste Notiz von ihr nahm. Sie schürzte verärgert die Lippen und sah Viscount Anthony Chayton finster an. Er tanzte gerade mit Lady Madeline Hunter, der Tochter eines Marquess, die als „Rose ohne Dornen“ der Saison gefeiert wurde. Lady Madeline war hinreißend in ihrem zartlila Kleid. Sie strahlte eine zeitlose Eleganz aus. Lord Chayton wirbelte seine Partnerin mit anmutiger Sicherheit über die Tanzfläche.
„Was muss ich tun, damit Ihr mich seht, Mylord?“, flüsterte Harriet und biss sich auf die Unterlippe.
Ihr Herz hämmerte so sehr, dass es wehtat. Keiner Lady, die Augen im Kopf hatte, konnte entgehen, wie gut der Viscount aussah. Mit seinem hellbraunen, von hellblonden Strähnen durchgezogenen Haar, dem wohlgeformten Kiefer und den meerblauen Augen musste er jeder jungen Frau als Märchenprinz ihrer Träume erscheinen. Mit seinem Titel war er keine königliche Hoheit, doch das spielte keine Rolle, und sein Vermögen war auch beträchtlich. Harriet fand, dass Lord Chayton heute Abend ein perfektes Aushängeschild für seinen Schneider war, und für seine Tanzkünste hätte er Applaus verdient. Aber all das war kein Trost für Harriet, als sie am Rand stand und zusehen musste, wie Lady Madeline mit dem Helden ihrer schlaflosen Nächte tanzte.
Harriet trug heute Abend eines ihrer schönsten Kleider. Es war aus hellem Taft mit einem Überkleid aus silberner Gaze, das Mieder und der Saum mit silbernen Rüschen besetzt. Harriet fand, dass sie einfach bezaubernd aussah, und hatte schon viele Komplimente bekommen. Doch Lady Madeline war diejenige, um die die Gentlemen sich scharten, weil sie auf einen Tanz mit ihr hofften. Der Viscount hatte Harriet angelächelt, aber keine Anstalten gemacht, sie zum Tanzen aufzufordern.
Auch kein anderer Gentleman hatte es getan. An solchen Abenden kam es vor, dass Harriet und einige ihrer Begleiterinnen „Mauerblümchen“ genannt wurden.
Sie seufzte und warf einen Seitenblick auf eine ihrer besten Freundinnen. „Warum scheint Lord Chayton so vernarrt in Lady Madeline zu sein? Glaubst du, dass er in sie verliebt ist, Evie? Deute ich seine Miene richtig?“
„Männern sind ihre Gefühle nicht immer ins Gesicht geschrieben“, sagte Evie und musterte das Tanzpaar. „Er lächelt Lady Madeline oft an, und sie errötet, was ihr sehr gut steht. Ich weiß nicht, ob das heißt, dass zwischen ihnen etwas ist. Interessierst du dich wirklich für den Viscount?“
„Ja. Ich habe eine Weile gebraucht, um es mir einzugestehen, aber es ist so. Ich interessiere mich sehr für ihn.“
Ihre Freundin nickte und runzelte nachdenklich die Stirn. „Es wird gemunkelt, Lord Chayton wolle in dieser Saison auf Brautschau gehen. Seine Mutter ist sehr froh darüber, denn bisher hat er sich davor gedrückt, und das schon fünf Saisons lang!“
Es versetzte Harriet einen Stich, als sie Lord Chaytons zärtlichen Blick sah, während er Lady Madeline von der Tanzfläche führte.
„Ich habe schon drei Saisons hinter mir, Evie, und das ist meine vierte. Meine Mutter ist verzweifelt und fürchtet, dass ich nie einen Verehrer finde. Und ich selbst bin auch verzweifelt. Alle meine Freundinnen finden das große Glück, aber ich …“ Harriet atmete tief durch. „Ich wünschte beinahe, ich hätte Mama überreden können, mich diese Saison in Hampshire verbringen zu lassen.“
„Sag doch so etwas nicht!“ Evie schnappte theatralisch nach Luft. „Ich hätte dich schrecklich vermisst. Agatha, Pippa und Drusilla sind glücklich verheiratet und haben keine Zeit, uns oft im Klub zu besuchen. Aber vergiss nie, dass unsere Freundinnen ihr Glück gefunden haben, weil sie sich auf Mutproben eingelassen haben.“ Ihre Augen funkelten schelmisch. „Muss ich dich herausfordern, damit du deinen Gefühlen für den Viscount folgen kannst?“
„Nein“, sagte Harriet schnell. Mutproben waren in dem geheimen Klub am Berkeley Square 48, dem Harriet seit drei Jahren angehörte, heilige Handlungen. Sie hatte sich an einigen Wetten und harmlosem Schabernack beteiligt, sich aber nie auf so nervenaufreibende, gefährliche Abenteuer eingelassen wie die meisten ihrer Freundinnen. Diese vielen Streiche hatten zu wunderbaren Liebesehen geführt, aber Harriet glaubte irgendwie nicht, dass sie auch solches Glück haben würde. Oder vielleicht scheute sie nur das Risiko, eine Enttäuschung zu erleben. Schließlich schien der Gentleman, zu dem sie sich schon seit Jahren hingezogen fühlte, nichts von ihrer Neigung zu bemerken.
„Warum nicht?“, fragte Evie frech. „Hast du Angst?“
„Vielleicht“, gestand Harriet. „Aber ich fühle mich nicht mutig, wenn ich es zugebe.“
Ihre Freundinnen sagten ihr ständig, wie liebenswürdig und gutmütig sie sei – und zwar zu liebenswürdig und gutmütig. Harriet fürchtete, dass sie nicht das Format für allzu große Wagnisse hatte. Bei dem Gedanken, sich so zu verhalten, wie ihre Freundinnen es im Laufe der Jahre getan hatten, fing ihr Herz an zu rasen, und ihre Hände wurden feucht.
Prue, die Countess of Wycliffe, war dazu herausgefordert worden, ihren eigenen Mann zu verführen, Lady Charity, jetzt Countess of Ralston, war sogar in ein Haus eingebrochen. Agatha hatte sich erdreistet, eine Katze zu entführen, und war vom Duke of Ranford erwischt worden. Sogar Drusilla hatte es gewagt, sich als Mann zu verkleiden und drei Wochen ohne Aufsicht auf dem Schloss eines Gentlemans zu verbringen!
Harriet stöhnte lautlos. Ich bin einfach nicht mutig genug. Doch ihre Freundinnen wussten nichts von dem geheimen Hunger in Harriets Herzen. Sie verstand ihre Gefühle ja selbst kaum und konnte sie erst recht nicht in Worte fassen.
Ein junger Lord kam auf sie zu, verbeugte sich und bat Evie um den nächsten Tanz. Sie machte einen Knicks und ließ sich von ihm zu einer Quadrille auf die Tanzfläche führen. Harriet glättete ihr Kleid und ihre Haare mit ihren behandschuhten Händen. Niemand hatte sie aufgefordert, und so trippelte sie mit den Füßen und summte vergnügt mit. Sie beobachtete den Viscount genau, und nur deshalb fiel ihr auf, dass er irgendeine Verabredung mit Lady Madeline traf. Lord Chayton schlüpfte aus dem Saal, Lady Madeline wartete ein paar Minuten und ging ihm dann nach.
Es war vielleicht nicht richtig, aber Harriet folgte ihnen. Sie verließ unauffällig den überfüllten Ballsaal und trat auf die Terrasse hinaus. Ein paar Leute waren draußen, und sie ging die steinernen Stufen hinunter. Ihre Tanzschuhe klapperten, als sie auf den Gartenpfad zuschritt. Der war gut beleuchtet, die Laternen hingen in gleichmäßigen Abständen, doch dann verschwanden sie. Harriet ging im Dunkeln den Pfad zwischen zwei hohen Hecken entlang, bis sie eine Bank fand. Sie runzelte die Stirn, denn sie sah weder den Viscount noch Lady Madeline.
Sie schloss die Augen. Oh, was mache ich hier? Warum bin ich ihnen nachgegangen? Das ist eine Riesendummheit!
Harriet wollte gerade wieder ins Haus gehen, als ein helles Lachen an ihr Ohr drang. Es war Lady Madeline, und sie rannte auf Harriet zu und zog den Viscount hinter sich her. Verflixt! Harriet zog sich in die Dunkelheit zurück. Sie wollte nicht von den beiden gesehen werden, denn wie sollte sie ihre Anwesenheit erklären? Zum Glück blieben sie stehen, und Lady Madeline blickte zu ihm auf.
„Es ist sehr gefährlich für mich, mit Euch allein zu sein, Mylord.“
Ein schelmisches Lächeln umspielte Lord Chaytons Mund. „Aber das gibt dem Leben Würze, nicht wahr?“
Sie klimperte kokett mit den Wimpern. „Nicht, wenn mein Ruf ruiniert wird.“
„Das würde ich nie zulassen“, murmelte er vielsagend. „Dafür seid Ihr zu kostbar.“
Die Lady fächelte sich Luft zu. „Ist das ein Heiratsantrag, Lord Chayton?“
Er erstarrte. Auf seiner Stirn erschienen Falten, die sich aber gleich wieder glätteten. „Würdet Ihr ihn annehmen?“
Lady Madelines Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln, und ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde. „Vielleicht, wenn ich nur für einen Moment glauben könnte, dass Ihr in mich verliebt seid. Seid Ihr das?“
„Ihr wisst, dass ich Euch sehr bewundere.“
„Bewunderung und Zuneigung sind nicht dasselbe, Mylord.“
Zwischen den beiden knisterte es buchstäblich. Harriet presste sich die Hand auf den Bauch. Die Unruhe in ihr wuchs. Die offensichtliche Zuneigung zwischen den beiden blühte seit Beginn der Saison wie eine Rose, und Harriets geheime Hoffnung, dass der Viscount um sie anhalten würde, schwand immer mehr.
„Ich muss wieder hineingehen“, sagte Lady Madeline und legte dem Viscount die Hand auf den Arm. „Ihr könnt mich morgen in den Hyde Park begleiten, Mylord. Vielleicht können wir das Gespräch dann fortsetzen, wenn ich Euch nicht abgeschreckt habe.“
„Sehr gern, Mylady. Ich bin nicht schreckhaft.“ Er hob ihre behandschuhte Hand und küsste sie.
Sie kicherte ansteckend und eilte davon, warf aber noch einen sehnsuchtsvollen Blick zurück. Der Viscount sah ihr nach und lächelte wie ein verliebter Schuljunge. Er wartete einen Moment, dann folgte er ihr.
„Warum sieht er Lady Madeline, aber mich nicht?“, flüsterte Harriet. „Warum?“
„Vielleicht verhalten Sie sich einfach nicht kokett genug.“
Sie schrie vor Schreck auf, als sie das dumpfe Grollen einer Stimme dicht an ihrem Ohr hörte, fuhr herum und schlug mit der geballten Faust in die Richtung, aus der die spöttischen Worte gekommen waren. Schmerz durchfuhr ihre Hand, und ein heftiger Fluch ertönte.
„Sie haben mich geschlagen“, knurrte der Besitzer der Stimme. „Verdammt noch mal!“
Harriet wich hastig zurück, hielt sich die Hand, und ihr Herz schlug heftig. „Ihr habt mich erschreckt, Sir!“ Wie war es möglich, dass sie ihn nicht bemerkt hatte? „Ihr seid ein Schurke und habt es verdient!“
„Wo haben Sie gelernt, einen Fausthieb so gezielt zu platzieren, Nymphe?“
Harriet erstarrte. Nur ein Mann hatte je gesagt, dass sie ihn an eine schelmische Waldnymphe erinnerte. Ein Freund ihres Bruders. Noah Darlington, der Earl of Warwick.
„Lord Warwick?“
Ein leises Geräusch ertönte. „Wer sonst, Miss Thompson?“
Ja, wer sonst? Ihr Herz geriet beängstigend ins Stolpern, und Hitze überzog ihren ganzen Körper. Nur er konnte diese seltsame Reaktion auslösen. Der Earl war einer der teuflischsten Kumpane ihres Bruders und der einzige von ihnen, dessentwegen Jonas zusammenbrechen würde, wenn er wüsste, dass sie mit ihm allein gewesen war, und sei es nur für eine Minute.
„Ich habe nicht geahnt, dass ich nicht allein war“, murmelte sie. „Es tut mir leid, dass ich Euch … geschlagen habe. Ich war nur erschrocken.“
„Es war ein guter Schlag“, sagte er. „In meinem Kinn hämmert es immer noch, und wenn ich ein Schwächling wäre, wäre ich auf dem Hintern gelandet.“
„Höre ich aus Eurem Selbstlob etwa Bewunderung heraus?“
„Allerdings.“
Jetzt klang er ein wenig belustigt. Seltsamerweise war sein Blick im Dunkeln fast ebenso spürbar wie eine Berührung.
Sie atmete tief durch. „Mylord, ich …“
„Ich sehe, dass Sie immer noch Anthony anschmachten, Miss Thompson.“
Ihr schoss das Blut ins Gesicht, und sie fauchte: „Ich schmachte niemanden an, Lord Warwick!“
„Kommen Sie schon“, sagte er. „Sie sind doch schon seit Jahren in Anthony verliebt.“
Harriet starrte finster in die Richtung, aus der seine Stimme kam. „Es gehört sich nicht für einen Gentleman …“
„Das Kind beim Namen zu nennen?“, zog er sie auf.
Sie erstarrte. „Ja, ich bewundere Anthonys … Lord Chaytons liebenswerten Charme und seine vornehme Art wirklich schon seit Jahren. Aber das ist auch alles, Mylord. Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“ Harriet machte einen Knicks, fuhr herum und wollte wieder ins Haus fliehen.
„Ich kann Ihnen helfen.“
Sie hielt inne und warf einen Blick über die Schulter. „Mir helfen?“
„Chaytons Aufmerksamkeit zu wecken … und einen Heiratsantrag zu bekommen, bevor die Saison zu Ende ist.“
Sie griff sich ans Herz. „Wie bitte, Mylord?“
Der Kies knirschte unter festen Schritten, und Lord Warwick kam aus dem Schatten zum Vorschein. Er war ganz in Schwarz gekleidet, abgesehen von dem dunkelblauen Wams, und nicht ganz so elegant wie Lord Chayton. Harriet hegte den Verdacht, dass sein Kammerdiener verzweifelt war, weil sein Jackett so locker saß. Auch sein Halstuch war nicht so tadellos gebunden wie das von Lord Chayton, sondern so nachlässig, dass kein Dandy es gewagt hätte, sich damit in London sehen zu lassen – seine Freunde hätten ihn geschnitten. Doch Lord Warwick scherte sich keinen Deut darum, was seine Freunde von ihm dachten.
Warum tuschelten Witwen und verheiratete Frauen hinter ihren Fächern und hofften, Lord Warwicks Aufmerksamkeit zu erregen? Harriet war nicht sicher, glaubte aber, dass es etwas mit seinen angeblichen nächtlichen Fähigkeiten zu tun hatte. Harriet konnte das nicht verstehen, denn für sie war er ein Freund ihres Bruders, den sie seit früher Kindheit kannte. Als kleines Mädchen war sie den beiden nachgelaufen und im Weg gewesen, wenn ihr Bruder seine Schulkameraden mit nach Hause gebracht hatte.
Harriets Herz raste, als die dunkelgrauen Augen des Earls sie musterten. Zu ihrem Entsetzen fühlte es sich an, als würde er sie körperlich berühren.
Oh, warum bin ich immer noch mit ihm hier draußen?
Warwicks Spitzname war „Teufel“. Woher diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung kam, wusste Harriet nicht, aber sogar ihr Bruder nannte ihn so. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie sofort den Rückzug antreten sollte, aber die Hoffnungen, die er ihr machte, ließen sie bleiben.
„Ihr starrt mich an“, sagte sie und reckte das Kinn.
„Sie starren mich auch an. Ich erwidere nur die gegenseitige Bewunderung.“
Ihr wurde der Mund trocken, und sie konnte ihn nur finster ansehen. „Ihr seid noch genauso unerträglich wie eh und je.“
„Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Thompson.“ Seine Mundwinkel verzogen sich nach oben, und er machte eine knappe Verbeugung. „Wie lange ist es her? Ein Jahr? Starren Sie mich deshalb so neugierig an?“ Oder gibt es noch einen anderen Grund? Die Frage stellte er nicht, aber sie hörte sie trotzdem.
Harriet errötete. Sein langsames Lächeln hatte eine Wirkung auf ihr Herz und ihre Fassung, die ihr völlig neu war. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf, und sie ging einen wohlüberlegten Schritt rückwärts.
„Was meint Ihr damit, dass Ihr mir helfen könnt, Lord Chayton zu einem Heiratsantrag zu bewegen?“, fragte sie. Sie schob alle Bedenken beiseite und steuerte das einzige Thema an, das wichtig war.
Warwicks Augen funkelten. „Genau das, was ich sage, Miss Thompson. Chayton und ich sind gute Freunde. Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass er sich in dieser Saison eine Viscountess suchen will.“
Sie schluckte. „Ja … und diese Frau ist offenbar Lady Madeline.“
Lord Warwick blickte einen Moment finster drein, doch dann zeigte er gleich wieder die gewohnte gelangweilte Miene, die er der Gesellschaft zu präsentieren pflegte.
„Ah, da liegen Sie falsch. Während unseres Ausritts im Hyde Park heute Morgen erwähnte er, dass er noch nicht sicher sei, wen er umwerben wolle. Er war aber immerhin so einfallsreich, eine Liste zu machen.“
Gemischte Gefühle stiegen in ihr auf. „Eine Liste mit Heiratskandidatinnen?“
„Ja.“
„Seid Ihr sicher?“
„Er hat mindestens vier Damen im Auge. Sie, Miss Thompson, sind auch dabei.“
Ihr Herz fing an zu hämmern, und sie biss sich auf die Unterlippe. Ihr Bruder, Lord Chayton und Lord Warwick waren wirklich gute Freunde. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander, und der Earl hatte keinen Grund, ihr etwas vorzumachen. „Ihr seid ganz sicher, dass ich eine der Damen bin, die der Viscount als Zukünftige in Betracht zieht?“
„Ja … allerdings standen Sie ganz unten auf der Liste, Miss Thompson.“
Das versetzte ihr einen Stich; trotzdem überwog die freudige Überraschung.
Der Earl kam langsam näher, als spüre er ihr Interesse. „Ich weiß, was Chayton von einer Ehefrau erwartet. Deshalb kann ich Ihnen helfen, auf den ersten Platz der Liste zu kommen.“
Harriet schaute zu ihm auf, doch seine Miene war unergründlich. „Warum wollen Sie das tun, Mylord?“
Er starrte sie lange an. Sein Blick war nachdenklich … und gerissen.
Ihr Magen schlug einen Purzelbaum, und ihr Herz zog sich zusammen. Es kam ihr gefährlich vor, mit ihm im dunklen Garten zu sein. Auch wenn er ihre Familie schon seit Jahren kannte.
Der Earl lächelte, als könne er ihre Gedanken lesen. „Sind wir keine Freunde, Miss Thompson?“
Harriet entfuhr ein höchst undamenhaftes Schnauben. „Ihr seid Jonas’ Freund, Mylord, nicht meiner.“
„Das kränkt mich“, sagte er mit einem spöttischen Funkeln in den Augen. „Ich dachte, Sie würden die alte Verbundenheit wertschätzen. Haben Sie vergessen, dass ich Sie vor dem Ertrinken gerettet und viele Tage in Ihrer charmanten Gesellschaft verbracht habe?“
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Harriet Jonas gefolgt war wie sein Schatten. Er und seine Freunde waren in dem See auf ihrem Landsitz geschwommen, und sie hatte tollkühn versucht, ihnen zu folgen. Damals war sie erst zehn gewesen und hatte sich in einer Baumkrone versteckt, um ihren Bruder und seine Freunde zu beobachten, die in den Ferien aus Eton gekommen waren. Der Ast, auf dem sie gesessen hatte, war durchgebrochen, und sie war in den See gefallen, genau dahin, wo es tief war. Nicht etwa ihr Bruder hatte sie herausgefischt, sondern der Mann, der vor ihr stand. Plötzlich erinnerte Harriet sich daran, wie er sie in den Armen gehalten und sie beruhigt hatte, während sie geschluchzt hatte.
„Wollen Sie Chayton?“, fragte er und sah sie eindringlich an. „Bitte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, Nymphe.“
Die Antwort entfuhr ihr, bevor sie sich besinnen konnte. „Ja.“
Er sah zufrieden aus. „Gut.“
„Warum wollt Ihr mir helfen?“
„Meine Gründe gehen nur mich etwas an“, murmelte er rätselhaft. „Das müssen Sie akzeptieren, wenn wir weiterkommen wollen.“
Sie war verwirrt. „Ihr wollt mir helfen und verlangt keine Gegenleistung, Mylord?“
„Ich bin die Großzügigkeit in Person, vor allem Freunden gegenüber.“
In seiner Stimme schwang ein Zynismus mit, aus dem sie nicht klug wurde. Aber sein Angebot war verlockend. Der Earl machte noch einen Schritt, bei dem er ihr so nahe kam, dass der Saum ihres Kleides seine blank geputzten Schuhe streifte. Harriet bekam eine Gänsehaut. Lord Warwick stand jetzt so dicht vor ihr, dass ihr sein vertrauter würziger Duft in die Nase stieg. In diesen Duft mischte sich ein Hauch Schweißgeruch nach einem durchtanzten Abend in einem überfüllten Ballsaal. Sie wollte sich vorbeugen und tief einatmen, als wäre er eine Rose. Das Bedürfnis, ihm näher zu kommen und ihn zu berühren, kam Harriet seltsam vor.
Sie hatte ihn noch nie attraktiv gefunden, doch jetzt musste sie sich eingestehen, dass er einen gewissen Charme hatte und sehr charmant sein konnte, wenn er wollte.
Vielleicht habe ich zu viel Champagner getrunken? Es waren vier Gläser gewesen. Ja, das musste es sein. Harriet fragte sich, ob sie den Mut hatte, mit einem Mann gemeinsame Sache zu machen, der als „Teufel“ bekannt war.
„Ich glaube nicht …“
„Chayton mag Ladys, die mutig sind und keine Bedenken haben, ihre Ziele direkt anzustreben. Das ist einer der Gründe dafür, warum Lady Madeline sein Interesse wecken konnte. Sanftheit und Unschuld schrecken ihn ab, und Sie, meine kleine Nymphe, strahlen viel zu viel davon aus.“
Ihr Protest erstarb. Liebenswert … gutmütig … fröhlich … sanft. Mit diesen Worten beschrieben Harriets Freunde und Verwandte sie. Niemand hatte je behauptet, sie sei mutig, kühn oder lebhaft.
„Aber ich weiß etwas, das Chayton nicht weiß, Miss Thompson.“
„Ich nehme an, Ihr werdet mir sagen, was es ist“, sagte sie schnippisch.
„Hinter der liebenswürdigen Fassade schlägt das Herz einer abenteuerlustigen Amazone, und er muss nur die Chance bekommen, es zu sehen.“
Harriet atmete tief durch. „Ihr irrt Euch, und …“
„Sind Sie nicht Mitglied in einem geheimen Klub für Ladys … wo Sie gelernt haben zu fechten, zu boxen und zu spielen – und Risiken einzugehen?“
Sie konnte ihn nur entsetzt anstarren. Woher wusste der Earl of Warwick vom Berkeley Square 48? Ihre Finger schlossen sich um den Griff ihres Fächers, und das Holz grub sich beinahe schmerzhaft in ihre Haut, obwohl sie Handschuhe trug. Harriet wollte weder Ja noch Nein sagen.
„Was schlagt Ihr vor, Mylord?“, fragte sie und legte den Kopf schief. Sie versuchte zu verstehen, warum er ihr helfen wollte.
Das listige Funkeln in seinen silbergrauen Augen war nicht zu übersehen.
„Sind Sie bereit, wagemutig zu sein und für das zu kämpfen, was Sie wollen, Miss Thompson?“
Ja, rief sie stumm. Vielleicht würde das, was er verlangte, nicht schlimmer sein als eine Mutprobe am Berkeley Square. Der Gedanke stimmte sie etwas zuversichtlicher, und sie reckte das Kinn und gestand: „Ja … ich kann wagemutig sein.“
Er streckte die Hand aus und berührte ihr Kinn. „Gut. Sie werden bald von mir hören, Nymphe … und wenn Sie meine Anweisungen befolgen, verspreche ich Ihnen, dass Sie Ende des Jahres Viscountess Chayton sein werden.“
Sie lachte zittrig. „Es ist verrückt, dass Ihr so etwas versprecht. Ende des Jahres?“
Er legte den Kopf schief. „Ganz recht, Nymphe. Ende des Jahres.“
Ihr Herz hämmerte, sie starrte zu ihm auf und wagte kaum zu hoffen.
„Abgemacht, Miss Thompson?“
„Lasst uns klare Vereinbarungen treffen, Mylord“, sagte sie mit nicht ganz fester Stimme. „Ich habe genug warnende Beispiele über Pakte mit dem Teufel gehört.“
Er sah belustigt aus. „Vertrauen Sie sich meiner Obhut an, und Sie werden bekommen, was Ihr Herz begehrt.“
„Warum macht mich das misstrauisch statt zuversichtlich?“
Er tippte ihr auf die Nasenspitze und beugte sich so weit vor, dass ihre Münder nur noch ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. „Wagen Sie es, sich mit mir einzulassen, Miss Thompson?“
Er ist unmöglich! Und trotzdem ergriff sie nicht die Flucht, obwohl ihr gesunder Menschenverstand ihr dazu riet. Ihr Hunger war zu groß … und ihre Hoffnung auch. Harriet hob den Blick, sah Warwick in die Augen und murmelte: „Ja.“
Kapitel zwei
Noah, Earl of Warwick, atmete tief durch und sah Miss Thompson nach, als sie von ihrem ungeplanten Rendezvous davoneilte. Er folgte ihr unauffällig, um sicherzugehen, dass sie unbehelligt den Ballsaal erreichte. Noah wartete im Schatten an den Fenstern der Terrasse und beobachtete, wie sie ungesehen wieder in den Saal schlüpfte.
War Chayton blind? Harriet war schon als junges Mädchen bildhübsch und liebenswert gewesen. Jetzt war sie eine junge Dame, und Noah fand sie hinreißend. Sie war zu voller Sinnlichkeit aufgeblüht. Sie hatte immer noch das gleiche spitze Kinn, die Stupsnase, rosige Wangen und hellgraue Augen, die immer fröhlich funkelten. Doch es war noch mehr. Es war subtil … es zeigte sich in ihrer Art zu gehen. Aus ihrem Gang sprachen ein beinahe sinnliches Selbstvertrauen und eine Sicherheit, die Noah vor ein paar Jahren noch nicht an ihr bemerkt hatte.
Welche Erfahrungen haben Sie in den letzten Jahren gemacht, Miss Thompson?, fragte er sich im Stillen. Sein Mund zuckte belustigt, als er daran dachte, was er über ihren geheimen Klub erfahren hatte. Es bestätigte ihm, dass sie ein eigensinniges, rebellisches Herz hatte, und genau das brauchte sie auch, wenn sie Chayton erobern wollte.
Sie ging auf zwei junge Ladys zu, und sie fingen an zu plaudern. Chayton schaute in ihre Richtung, sein Blick ruhte auf Miss Thompsons Gesicht, doch er kam nicht auf die Idee, sie zum Tanzen aufzufordern.
Was für ein Dummkopf!
Offenbar bemerkte Chayton Miss Thompson, aber ihm war nicht danach, sie stürmisch zu umwerben. Er fand sie zu naiv, zu unerfahren, zu weltfremd – das hatte er unumwunden gesagt. Es war ein Jammer, dass Chayton ihre wahre Natur nicht erkannte, die Noah im Laufe der Jahre gründlich studiert hatte. Doch die Dame hatte ihr inneres Feuer im Zaum gehalten. Das taten die meisten Ladys guter Herkunft aus Anstandsgründen. Noah würde das Feuer anfachen und sie und Chayton zusammenbringen, und schließlich würden die beiden ihm dankbar sein.
Wieder lächelte Noah, obwohl er weder guter Laune noch glücklich war. Anfangs hatte er keine Lust gehabt, heute Abend auf einen Ball zu gehen, doch dann war ihm Miss Thompson über den Weg gelaufen, was genau zu seinem Plan passte.
Noah verließ die Terrasse und schlug den Seitenpfad um das Gebäude herum ein. Vor dem Stadthaus blieb er stehen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er die kleine Harriet Thompson für seine eigenen Zwecke ausnutzte. Sie war immer ein bezauberndes Mädchen gewesen, und er hatte zugesehen, wie sie zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen war. Anthony Chayton musste Tomaten auf den Augen haben, weil er es nicht sah. Ihre Schönheit war nicht so auffällig wie die von Lady Madeline, für einen Kenner weiblichen Charmes jedoch nicht zu übersehen. Noah kamen Zweifel, ob Chayton es überhaupt verdient hatte, von ihr begehrt zu werden.
Noah schob seine Bedenken beiseite. Wenn Harriet Chayton wollte, würde er ihr helfen, ihr Ziel zu erreichen. Dass es auch noch seinen eigenen Plänen zugutekam, war nicht unehrenhaft. Schließlich war im Krieg und in der Liebe alles erlaubt.
Lachen und Musik erfüllten die Luft, und er atmete tief durch. Die Nacht war kühl.
„Noah?“
Er warf einen Blick über die Schulter. „Was machst du hier draußen, Caroline?“
Seine Schwester zog die Nase kraus und eilte auf ihn zu. „Ich hatte Kopfschmerzen und brauchte frische Luft. Drinnen ist es einfach zu voll und stickig.“
Noah war besorgt, denn sie litt unter Migräne. „Möchtest du nach Hause?“
Ihre hellgrünen Augen funkelten. „Spielst du eine Partie Schach mit mir, bevor ich ins Bett gehe?“
Seine Schwester war vielleicht die einzige junge Lady von neunzehn Jahren, die einen Ball vor Mitternacht verließ, weil sie ein Kartenspiel oder eine Partie Schach oder Lesen interessanter fand. Er wusste, dass sie nur auf Drängen ihrer Mutter mitgekommen war, denn die wollte ihre drei Kinder unter die Haube bringen, egal, für wen ihre Herzen schlugen.
„Ja.“
Sie lächelte. „Willst du nicht lieber bleiben und eine der vielen Schönheiten der Saison umwerben? Mama wird sehr enttäuscht von uns beiden sein. Olivia hat Glück, weil sie noch zu jung für Bälle ist.“
„Ich brauche niemandem den Hof zu machen. Ich weiß schon, wen ich heiraten muss.“
Neugier blitzte in ihren Augen auf. „Sag nicht, dass du endlich bereit bist, zu heiraten! Mama wird begeistert sein!“
Noah war nicht versessen darauf, zu heiraten. Seit Jahren kannte er nur ein Ziel – für seine Familie das zurückzugewinnen, was sein Vater egoistisch und leichtsinnig verspielt hatte. Jetzt hatte er beschlossen, zu heiraten, doch nur aus einem Grund – einen wertvollen Familienbesitz zurückzubekommen, den sein Vater vor Jahren beim Würfelspiel verloren hatte.
Noah ging mit Caroline wieder ins Haus. Sie nahmen ihre Mäntel, seinen Hut und seinen Stock, in dem ein Degen verborgen war, dann schritten sie Arm in Arm zu ihrer Kutsche, die in einer langen Reihe am Straßenrand stand. Er half ihr hinein und trug dem Kutscher auf, sie beide zu seinem Stadthaus zu fahren.
Seine Schwester sah ihn forschend an. „Hast du heute Abend erreicht, was du wolltest?“
„Ja, sogar mehr“, sagte er und dachte daran, wie er Miss Harriet Thompson dafür nutzen würde, ans Ziel zu kommen.
Die Lady war zu einer üppigen Schönheit erblüht, die nichts von ihrem eigenen Charme wusste. Er musste nur dafür sorgen, dass sie diesen Charme auch zeigte, um Chayton für sich zu gewinnen. Dann konnte Noah zum nächsten Teil seines Plans übergehen. Seine Ehre verbot es ihm, allzu rücksichtslos nach dem zu streben, was er wollte – und dabei zu missachten, was Chayton wollte, was immer das auch sein mochte. Noah balancierte schon jetzt auf dem schmalen Grat zwischen Ehre und Niedertracht.
Caroline beugte sich vor. Sie bebte vor Aufregung. „Heute Abend habe ich mit Lady Victoria und Lady Evie gesprochen. Ich bin fast sicher, dass es diesen Geheimklub wirklich gibt, Noah. O bitte, du musst mir helfen, Mitglied zu werden! Ich sterbe, wenn sie mich nicht aufnehmen!“
„Dann muss Mutter wohl demnächst eine Beerdigung organisieren“, sagte er trocken.
Seine Schwester lachte und zog den Vorhang zur Seite, um nach draußen zu schauen. Ihr entschlüpfte ein Seufzer. „Sie wurden sehr wortkarg, als ich nachgebohrt habe, aber an den Gerüchten ist sicher etwas dran. Wenn nicht, warum tun sie dann so geheimnisvoll?“
„Ich habe Beweise.“
Sie schnappte nach Luft. „Wirklich?“
„Als du gesagt hast, dass du einem Geheimklub für Ladys beitreten willst, habe ich noch am gleichen Tag mit Nachforschungen begonnen.“
„Hast du dich deswegen mit diesem Detektiv getroffen?“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Du hast mir nachspioniert?“
„Ich bekomme einfach nur viel mit. Wenn die Tür nur angelehnt ist, kann man mir nichts vorwerfen. Bitte sag mir, was du herausgefunden hast.“
Noah lächelte. „Um in diesen Klub aufgenommen zu werden, braucht man eine Empfehlung eines Mitglieds, und dann führt man ein Gespräch mit der Duchess of Hartford oder der Countess of Chisholm. Wenn man Gnade vor ihren Augen findet, wird man in ihren erlauchten Kreis aufgenommen.“
Carolines Augen weiteten sich. „Eine Duchess oder Countess!“
„Ja.“
Seine Schwester ließ sich matt zurücksinken. „Ich kann nicht glauben, dass Ladys von so hohem Rang die Drahtzieherinnen eines Geheimklubs sind. Ich habe gehört, dass er ebenso großartig, luxuriös und exklusiv ist wie White’s. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ich ehrlich gesagt nicht.“ Carolines Stimme war nur noch ein Flüstern. „Oh, es wäre so wunderbar, wenn ich Mitglied werden könnte!“ Seine Schwester seufzte bekümmert und starrte in die Ferne.
Noah lehnte sich zurück. „Hat dir der Ball gefallen?“
Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte. „Er war … ereignislos. Fast so langweilig wie Almack’s. Ich verstehe nicht, was an der Saison so großartig ist. Ich denke, wer auf einem Ball war, kennt sie alle.“
Er gab keine Antwort auf diese Bemerkung. Ihre Mutter bestand darauf, dass Caroline an einer Saison teilnahm und sich so bald wie möglich einen Ehemann angelte. Seltsamerweise hatte seine Mutter nicht mitbekommen, dass die Familie nur dank Noahs unermüdlichem Streben in den letzten acht Jahren nicht ganz in der Pleite versunken war, in die sein Vater sie mit seiner Unfähigkeit getrieben hatte. Nicht nur die Spielsucht seines Vaters hatte die Familie ruiniert, sondern auch ein unehrlicher, bestechlicher Verwalter. Sein Vater hatte alles, wofür Noah so schwer gearbeitet hatte, zunichtegemacht. Noah hatte um ihn getrauert, doch sein Tod vor drei Jahren hatte auch bedeutet, dass der alte Earl sich keinen Unsinn mehr in den Kopf setzen und alles zerstören konnte.
Caroline verstummte, und er spürte ihre Besorgnis. Sie trippelte mit den Füßen und hielt ihren bemalten Fächer zu fest umklammert. Noah ahnte, was ihr Kopfzerbrechen bereitete.
„Wenn du nicht heiraten willst, lass es“, murmelte er.
Ihre Augen weiteten sich. „Ist das dein Ernst, Noah?“
„Ja.“
„Mutter sagt, es sei meine Pflicht, zu heiraten“, sagte sie leise und schüttelte den Kopf. „Eine Verbindung mit einer mächtigen Familiewürde uns im alten Glanz erstrahlen lassen. Das würde auch Olivia den Weg zu ihrem Debüt bahnen.“
„Kann etwas so Einfaches wie eine Heirat alles zurückbringen, was wir verloren haben?“ Er hob die Hand, um ihrer Antwort zuvorzukommen. „Diese Sorgen und Lasten sind meine, Caroline, nicht deine. Olivia ist erst vierzehn. Es ist noch reichlich Zeit, bis sie ans Heiraten denken kann. Du musst an deine eigene Zukunft denken.“
Caroline sah ihn forschend an, doch Noah sorgte dafür, dass seine Miene nichts preisgab.
„Ist die Last nicht zu schwer für dich allein?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Du arbeitest so hart, Noah!“
„Niemals“, beteuerte er. „Als Familienoberhaupt verspreche ich, dass ihr beide – du und Olivia – nur heiraten werdet, wenn ihr es selbst wollt.“
„Eine Lady möchte jemanden heiraten, den sie mag“, sagte Caroline mit einem kleinen Lächeln und glänzenden Augen. „So ein einfacher Wunsch, aber manchmal scheint er unerfüllbar. Wenn ich heirate, möchte ich meinen Mann mögen.“ Eine feine Röte überzog ihre Wangen. „Du findest mich sicher albern.“
„Ganz und gar nicht“, sagte er, beugte sich vor und kniff ihr leicht ins Kinn. „Hör auf dein Herz und überlass den Rest mir.“
Es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass seine Schwestern glücklich wurden und nicht für die Sünden ihres Vaters büßen mussten.
Seine Schwester lächelte selig und nickte.
Noah lehnte den Kopf an das Polster, schloss die Augen und dachte daran, wie er weiter mit Miss Harriet Thompson verfahren würde. Es war wichtig, dass zwischen ihr und Chayton eine Bindung entstand, und Noah würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr zu helfen. Nicht aus Güte, wie er behauptet hatte. Es war ein Teil seines Plans, alles zurückzugewinnen, was sein Vater verloren hatte.
Sein Vater hatte alles verspielt – Ländereien, Landsitze, Erbstücke und Gemälde, sogar das kostbare Herrenhaus, in dem seine Mutter aufgewachsen war und das zu ihrer Mitgift gehört hatte. Wenn eine Lady heiratete, gingen ihr Geld und sonstiges Eigentum in den Besitz ihres Mannes über, und sein Vater war so töricht und grausam gewesen, das Haus zu verspielen, das seine Frau so geliebt hatte – Rosebrook Manor.
Jetzt gehörte Rosebrook Manor zu Lady Madeline Hunters Mitgift. Noah lächelte mit eisiger Entschlossenheit. Er hatte schon so viel getan, um den Besitz seiner Familie zurückzubekommen, doch seine Mutter hatte immer noch nicht aus ihrer Melancholie herausgefunden. Sie weinte oft, fuhr tagelang und meilenweit durch die Gegend, um Rosebrook Manor zu sehen, starrte es an und fuhr wieder zurück. Wenn sie wieder einmal verschwunden war, wusste er, dass sie das Heim ihrer Kindheit aufsuchte. Noah wollte es erst wiedersehen, wenn es ihm gehörte. Und Miss Thompson war die erste Sprosse der Leiter, die er erklimmen musste.
***
Am nächsten Morgen starrte Harriet auf den Brief, den der Butler ihrer Zofe übergeben hatte. Harriet unterdrückte ein Gähnen und betrachtete das Siegel. Sie wusste nicht, wessen es war. Ihr war bewusst, dass die Blicke ihrer Mutter, ihres Vaters und ihres Bruders neugierig auf ihr ruhten. Sie verkniff sich ein Stöhnen, steckte den Brief in die Tasche ihres Tageskleides, setzte ein strahlendes Lächeln auf und griff nach ihrer Tasse mit heißer Schokolade.
„Willst du deinen Brief nicht lesen?“, fragte ihr Bruder.
Sie sah ihn finster an, doch dann zog er die Augenbrauen hoch, und sie musste lächeln. Jonas war ein freundlicher junger Mann mit offenem Gesicht und leicht sommersprossiger Haut. Manchmal wirkte er ein wenig albern. Er kleidete sich gern wie ein Dandy, gab jedoch zu, dass diese Mode seiner kräftigen Gestalt nicht schmeichelte. Ihr Vater fand Jonas’ Hemdkragen etwas zu hoch, doch er hatte nichts gegen dessen makellos gebundenes Halstuch. Jonas’ scharlachrotes Wams aus Brokat war etwas auffällig, im Vergleich zur Kleidung anderer Gentlemen jedoch nicht übertrieben.
„Nun?“, hakte Jonas nach.
Sie räusperte sich. „Das mache ich in meinem Zimmer.“
Das brachte ihr die ganze Aufmerksamkeit ihres Vaters ein, die er bisher zwischen ihr und seiner Zeitung geteilt hatte. Harriet sah ihren Vater an, obwohl sie nicht ernsthaft mit seiner Unterstützung rechnete. Wahrscheinlich hatte er andere Dinge im Kopf, aber die Vorstellung, dass sie vielleicht einen Verehrer hatte, schien alle anderen Gedanken zu verscheuchen.
Er runzelte die Stirn. „Ist der Brief von einem Verehrer?“
Harriet stöhnte. „Papa!“
„Du weißt, ich wünsche, dass du heiratest, bevor …“
„Bevor du stirbst!“, sagte sie, denn sie kannte diesen Kehrreim nur zu gut.
Mit seinen silbergrauen Schläfen sah ihr Vater sehr distinguiert aus. Sie wünschte nur, dass er nicht nur Notiz von ihr nehmen würde, wenn er sich über sie ärgerte.
„Papa, du bist doch erst fünfundfünfzig. Warum tust du immer so, als stündest du schon mit einem Bein im Grab?“
„Sei nicht so dramatisch“, wies ihre Mutter sie zurecht. „Das ist nicht ladylike. Nun, von wem ist der Brief?“
Ihre Angehörigen musterten sie teils mit Neugier, teils mit Hoffnung. Harriet wusste, dass sie ihr keine Ruhe lassen würden, also zog sie den Brief aus der Tasche und schlitzte den Umschlag auf. Einen Moment lang verspürte sie ein Kribbeln auf der Haut, doch dann ärgerte sie sich mehr als nur ein bisschen über den Ton und den Inhalt von Noahs Nachricht. Das war kaum ein Liebesbrief, nichts, wovon ein Mädchen sich geschmeichelt fühlen sollte.
Nymphe,
Sie tragen immer noch die gleiche trostlose Farbe einer Debütantin, dabei ist es schon Ihre vierte Saison. Für den ersten Schritt unseres Plans müssen Sie sich eine neue Garderobe zulegen. Leuchtende, lebendige Farben würden Ihnen gut stehen.
N.
Entsetzt las sie die Zeilen noch einmal. Dieser Mistkerl!
„Du wirst erschreckend rot“, zog Jonas sie auf. „Ich glaube, Vater liegt richtig. Du hast einen Verehrer. Wer ist es?“
Sie starrte ihren Bruder an, der so dreist war, ihr zuzuzwinkern.
„Der Brief ist von einer Freundin, die der Meinung ist, dass ich in meiner vierten Saison noch unverheiratet bin, weil meine … meine Kleidung unvorteilhaft ist.“ Lächerlich!
Ihr Vater wandte sich wieder seiner Lektüre zu, und Mama setzte sich kerzengerade auf. Ihre Miene wurde nachdenklich, und Harriet seufzte. Ihre Nichtheirat war auch das Lieblingsthema ihrer Mutter.
„Nun!“ Die Viscountess schürzte die Lippen. „Ich fürchte, da ist etwas dran. Du bevorzugst Pastelltöne, Harriet. Dabei bist du keine milchgesichtige Debütantin mehr. Wenn du auffälligere Farben tragen würdest, würde es kein Gerede geben. Ich bin die einzige unter meinen Freundinnen, die eine unverheiratete Tochter hat, und ertrage die mitleidigen Blicke nicht mehr!“
Harriet verengte die Augen. „Ich bin dreiundzwanzig, Mama, keine gebrechliche …“
„Wir lassen dir ein paar neue Ballkleider schneidern, neue Tageskleider und ein Reitkostüm“, sagte ihre Mutter aufgeregt, ohne sich um etwaige Einwände Harriets zu kümmern. „Wir gehen sofort zu Madame Laurent.“ Die Viscountess warf dem Lakaien, der diensteifrig neben der Anrichte stand, einen Blick zu. „Lassen Sie die Kutsche anspannen.“
„Ja, Mylady.“ Er verbeugte sich und eilte hinaus.
„Madame Laurent ist sehr teuer. Ich glaube nicht …“
„Wir suchen verzweifelt nach einem Ehemann für dich, Harriet. Dass dein Vater nicht widersprochen hat, heißt, dass er einverstanden mit diesem Plan ist.“
„Es gibt keinen Plan“, stieß Harriet aufgebracht hervor.
O doch, sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Sie biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob es einen Sinn hatte, einem Mann nachzulaufen, der nur Notiz von ihr nehmen würde, wenn sie Kleider in anderen Farben trug. War er dann nicht höchst oberflächlich?
Plötzlich sah Harriet die elegante Lady Madeline vor sich. Lady Madeline trug immer wunderschöne Kleider und dazu erlesenen Schmuck. Harriet schaute wieder auf den Brief und atmete tief durch. Warum zögerte sie?
„Nun?“, hakte die Viscountess nach.
Sie sah ihre Mutter an und lächelte. „Danke, Mama. Ich gehe gern mit dir zu Madame Laurent.“