Kapitel eins
„Es wird Zeit, dass du heiratest, Agatha“, sagte Tante Millie und strahlte sie an. „Du hast schon zwei Saisons hinter dir und jetzt, zu Beginn der dritten, immer noch keinen Antrag bekommen! Das ist eine Schande für die ganze Familie, und ich kann es mir nicht erklären, denn du bist ein hübsches Mädchen und von guter Herkunft. Ich habe deinem Vater gestern erst Lord Peterson empfohlen, und er fand auch, dass der Earl eine passende Partie für dich und die Familie sei. Ich gratuliere dir schon jetzt, mein liebes Kind.“
Lady Agatha Barrett saß im Salon ihrer Tante, der Marchioness of Huxley, und nippte sittsam an ihrem Tee. Dabei war ihr danach, höchst undamenhaft mit den Augen zu rollen. Aber natürlich wären ihre Mutter, die Countess of Trembly, und Tante Millie entsetzt gewesen. Und ihre Cousine Jane hätte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, zu betonen, was für ein unvollkommenes, unmanierliches Mauerblümchen Agatha doch war, obwohl das überhaupt nicht stimmte.
„Lord Peterson sieht sehr gut aus“, sagte Mutter mit einem energischen Nicken, und in ihren Augen funkelte der gefürchtete Eifer, Agatha zu verkuppeln. „Es heißt, er habe ein Einkommen von zwanzigtausend Pfund im Jahr und sogar eine Villa in Venedig. Er ist auch sehr charmant. Fandest du das nicht auch, Agatha, als du gestern Abend auf dem Ball mit ihm getanzt hast?“
„Oh, ich denke, Agatha fand ihn wunderbar“, warf Cousine Jane vergnügt ein und setzte ihr berühmtes unschuldiges Lächeln auf. „Außer dem Earl hat ja keiner mit ihr getanzt! Meine liebe Cousine war bestimmt dankbar für seine Aufmerksamkeit, auch wenn er schon über vierzig ist.“
Mutter schoss das Blut in die Wangen, und sie starrte Agatha mit aufgerissenen Augen an. „Agatha? Was hältst du von dem Earl, meine Liebe?“
„Er war einfach nur freundlich, Mama“, sagte Agatha mit einem Seufzer und stellte ihre Teetasse auf den kleinen Tisch aus Walnussholz. „Ich glaube nicht, dass Lord Peterson wirklich an mir interessiert ist. Er hat mich während des Tanzes die ganze Zeit über Jane ausgefragt.“
Ihre Cousine platzte fast vor Stolz, doch Tante Millie zog verächtlich die Augenbrauen hoch. „Meine Jane wird nur einen Duke heiraten. Lord Peterson muss sich anderswo umsehen.“
Mit „anderswo“ meinte sie natürlich Agatha, die nur hübsch war und einigermaßen Klavier spielen konnte. Jane dagegen war hinreißend schön und eine ausgezeichnete Harfenspielerin. So weit Agatha zurückdenken konnte, hatte ihre Tante sie mit ihrer Cousine verglichen. Das wurde ihr zunehmend lästig, denn sie kam dabei immer schlecht weg. Glücklicherweise war der morgendliche Besuch bei ihrer Tante jetzt zu Ende, und wenig später fuhren sie und ihre Mutter in der Kutsche die Upper Wimpole Street entlang zu ihrem Stadthaus.
„Ich glaube, du brauchst neue Kleider“, sagte Mutter mit einem leichten Stirnrunzeln. „Es ist unbegreiflich, dass du in deine dritte Saison gehst und noch so gut wie keine Heiratsanträge bekommen hast! Du bist sehr hübsch, meine Liebe. Deine Mitgift ist bescheiden – nur fünftausend Pfund –, aber damit scheidest du noch lange nicht als Heiratskandidatin aus!“
Agatha nickte. Sie wusste, dass die Besessenheit ihrer Mutter, sie zu verkuppeln, unheilbar war. Sie hatte nun schon zwei Saisons durchlitten, vielleicht würde es beim dritten Mal klappen. Agatha wusste, dass sie mit ihren dunklen Locken und den hellbraunen Augen wirklich hübsch war. Doch letztes Jahr hatte ein Herr, von dem sie erwartet hatte, dass er um ihre Hand anhalten würde, bissig bemerkt: „Auf dem Heiratsmarkt gibt es noch mehr schöne Damen mit größerer Mitgift. Warum sollte ein Herr von Rang und Namen eine weniger begüterte Frau heiraten?“
Seine Worte hatten Agatha getroffen, doch sie hatte nur das Kinn gereckt und war weitergegangen. Trotzdem empfand sie eine Leere und das Gefühl, eine Versagerin zu sein, auch wenn sie es nur ungern zugab. Ihr Instinkt sagte ihr, dass dies ihre dritte gescheiterte Saison sein würde.
„Mama, sagst du bitte dem Kutscher, dass er mich am Berkeley Square 48 absetzen soll? Ich bin am Nachmittag zu Hause.“
Ihre Mutter seufzte. „Vielleicht solltest du aufhören, diesen Klub der Duchess zu besuchen. Ich begreife nicht wirklich, was dort vor sich geht und warum du so oft hingehst!“
Agatha gab einen unbestimmten Laut von sich. Sie wusste, warum Mutter es erlaubte – weil der Klub von mehreren einflussreichen Ladys des ton geleitet wurde. Einst hatte sie sich von Bällen davongestohlen und ab und zu sogar von zu Hause, aber dann hatten die meisten Ladys am Berkeley Square 48 glänzende Ehen geschlossen und waren Duchess, Marchioness oder Countess geworden. Erst da hatte Agatha ihrer Mutter von ihrer Bekanntschaft mit diesen Ladys erzählt. Mutter war froh darüber gewesen und hatte ihr geraten, diese Kontakte zu pflegen, aber sie ahnte nicht, was im Klub alles angestellt wurde und wie viel Freundschaft, Schwesterlichkeit und Liebe Agatha dort gefunden hatte.
„Wurde nicht vor ein paar Wochen verkündet, dass die Duchess dem Duke einen Erben geboren hat?“, fragte ihre Mutter. „Wir sollten ein schönes Geschenk schicken!“
Agatha lächelte wehmütig. „Theo hat Zwillinge bekommen, Mama. Einen Jungen und ein Mädchen. Ich hatte gehofft, Pippa noch einmal zu sehen, bevor sie mit dem Marquess in die Flitterwochen fährt. Sie hat mir gestern eine Nachricht geschickt, dass sie am Berkeley Square sein würde, um sich zu verabschieden. Lord Trent fährt mit ihr nach Ägypten.“
Heiße Sehnsucht stieg in Agathas Herzen auf, als sie an das Glück einer ihrer engsten Freundinnen dachte. Pippa war so kühn gewesen, einem Herrn den Hof zu machen, den alle für einen Taugenichts hielten, und hatte sich hoffnungslos in ihn verliebt. Zum Glück erwiderte er ihre Gefühle, und sie hatten erst letzte Woche Hochzeit im kleinen Kreis gefeiert. Der ganze ton war immer noch in Aufruhr über das glückliche Ereignis und die Schnelligkeit, mit der sie geheiratet hatten.
Agatha konnte nicht umhin, festzustellen, dass die meisten der Ladys vom Berkeley Square ihr Glück gefunden hatten, weil sie eine Wette oder Herausforderung angenommen hatten. Sie lehnte den Kopf an das Polster, schloss die Augen und fragte sich, wie es wäre, selbst so viel Glück und Liebe zu finden.
Mutter erging sich in Lobpreisungen von Lord Peterson und den Vorteilen, die eine Verbindung mit seiner Familie bringen würde. Agatha hörte widerspruchslos zu, denn sie liebte ihre Mutter und wusste es zu schätzen, dass sie solche Hoffnungen für ihre einzige Tochter hegte. Als die Kutsche hielt, beugte Agatha sich vor, küsste ihre Mutter auf die Wange, stieg aus und eilte in das prächtige Stadthaus am Berkeley Square 48.
Der Butler begrüßte sie herzlich, sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Guten Tag, Lady Agatha. Sie haben den Fechtunterricht heute Morgen versäumt.“
„Ich werde Monsieur Lambert um Verzeihung bitten“, sagte sie mit einem leichten Kichern. „Ich weiß, er hasst es, wenn ich eine Stunde versäume, aber die familiären Pflichten gingen vor.“
Sie übergab dem Butler ihren Umhang und ihren Hut und ging durch den langen Korridor, der zu dem großen Salon führte. Er war leer. Heute war Dienstag, und es war nicht viel los. Agatha trat an die Tafel, auf der die Wetten notiert wurden. Es versetzte ihr einen Stich, als sie ihren Namen neben dreien davon sah.
Herausforderung angenommen.
Bei einer ging es darum, dass sie geschworen hatte, Pfarrer Tomlinson zu küssen, einen gut aussehenden Herrn, mit dem sie in der letzten Saison schamlos geflirtet hatte. Er hatte sich empfänglich gezeigt, und Agatha fand, dass sie gut zusammenpassten, aber ihre Familie war entsetzt gewesen. Die Tochter eines Earls heiratete keinen Pfarrer, der der dritte Sohn eines Viscounts war.
Agatha Barrett wird Pfarrer Tomlinson küssen, bevor sie einundzwanzig wird.
Sie hatte diese Worte an die Wetttafel gekritzelt, als sie einen Schwips gehabt hatte. Sie hatte gemeinsam mit Pippa, Harriet und Drusilla geklauten Brandy getrunken. Agatha schaute sich die anderen Herausforderungen an, die sie angenommen hatte. Sie sollte die Katze des Marquess of Marsden stehlen und für mindestens eine Nacht behalten. Das war unmöglich, aber sie hatte sich darauf eingelassen, weil sie ihm eine Lektion erteilen wollte. Er hatte zu Miss Louisa, einem ihrer schüchternsten Mitglieder, gesagt, seine Katze sei unterhaltsamer als sie. Miss Louisa hatte bitterlich geweint.
„Agatha, ich war nicht sicher, ob du heute kommen würdest“, sagte Harriet, die gerade hereinkam. „Denkst du darüber nach, neue Wetten anzunehmen?“
Agatha schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie leise, „ich will erst die erledigen, die ich schon angenommen habe.“
Große taubengraue Augen sahen sie an. „Alle?“
„Es sind doch nur drei“, entgegnete sie vorlaut.
Harriet gab einen erstickten Laut von sich. „Niemand am Berkeley Square hat jemals drei Wetten eingelöst! Das ist viel zu riskant.“
War es das wirklich? Oder würde es auch Agatha Glück und eine wunderbare Ehe einbringen? Sehnsucht erblühte in ihr wie eine Blume, und in ihrer Kehle formte sich ein Kloß. Ihre erste Saison war sehr aufregend gewesen. Agatha hatte davon geträumt, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Natürlich nicht gleich in der ersten Saison, schließlich war sie erst achtzehn gewesen. Doch jetzt fürchtete sie, dass es nie passieren und sie als alte Jungfer enden würde, wie Tante Millie so oft beklagte.
„Willst du wirklich diese Wetten erfüllen?“, fragte Harriet und stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Sogar den preisgekrönten Hengst des Dukes stehlen?“
Agatha wand sich, als sie hörte, wie skeptisch ihre Freundin klang. Sie hatte diese Wetten schon vor Monaten angenommen, aber nicht gewagt, sie zu erfüllen, denn sie waren skandalös, und wenn etwas schiefging und sie erwischt wurde, wäre die Enttäuschung ihrer Familie riesig. Ihre Freundinnen hatten sicher gemerkt, dass sie zögerte, aber nichts dazu gesagt.
Lady Victoria, die halbwegs in den heiß begehrten Duke of Ranford verliebt war, hatte versucht, mit ihm zu flirten, doch er hatte keinerlei Notiz von ihr genommen. Cousine Jane hatte kritisch bemerkt, dass der Duke sich lieber mit seinen Pferden abgab, als Ladys den Hof zu machen.
Ein paar Tage später, als Victoria sich über ihre Blamage gegrämt hatte, hatte Drusilla lachend gesagt: „Fünfzig Pfund derjenigen, die den preisgekrönten Hengst stiehlt, den der Duke so liebt, und sei es nur für einen mehrstündigen Ritt, und das Tier dann in seinen Stall zurückbringt!“
Natürlich hatte Agatha ihren Hut in den Ring geworfen, weil sie diese Wette unbedingt gewinnen wollte. Als sie jetzt daran dachte, wie aufregend es gewesen war, lachte sie, verspürte jedoch wieder das sehnsüchtige Ziehen tief in der Brust.
Es war ein heiliges Gesetz für die Mitglieder, ihre Ankündigungen wahr zu machen, um ihre Charakterstärke zu beweisen. Wenn sie es wagten, sich gegen die Regeln der Gesellschaft und der Familie aufzulehnen, war es ein Triumph, auch wenn nur sie selbst davon wussten. Viele ihrer Freundinnen hatten es so gemacht, nur Agatha traute sich nicht. Sie fühlte sich wie eine Maulheldin, und nun stiegen ihr zu ihrem Ärger auch noch Tränen in die Augen, und ihre Kehle schmerzte.
„Warum bist du so still, Agatha?“, fragte Harriet. „Das gefällt mir nicht. Wenn du schweigsam bist, führst du immer etwas im Schilde, und das … macht mir Sorgen.“ Es klang scherzhaft, doch sie sah ernst aus, so als wüsste sie, dass Agatha Kummer hatte.
„Komm mit, Harriet. Ich zeige dir etwas.“
Agatha ging zu dem kleinen Tisch am Kamin, setzte sich hin, nahm ein Blatt Papier und tauchte die Feder ins Tintenfass.
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Pfarrer Tomlinson küssen, wenn er diese Woche Papa besucht.
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Lord Marsdens Katze für ein paar Tage ausleihen, bis der elende Taugenichts sich Sorgen macht.
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Den Hengst des Dukes of Ranford ausleihen und durch den Hyde Park galoppieren.
Harriet las und schnappte nach Luft. „Bist du sicher?“
Agatha zog die Nase kraus und lachte, doch es klang ein wenig nervös. „Wenn ich den Pfarrer küsse, verlieben wir uns vielleicht ineinander. Ist das nicht so vielen unserer Freundinnen passiert, dass ich unseren Klub bereits den Klub der Kupplerinnen genannt habe?“
Harriets Augen funkelten, und ihr berühmtes liebenswürdiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ich verstehe, aber gleich drei Wetten? Das ist sehr ehrgeizig!“
„Das brauche ich vielleicht, um aus dem Trott meines Lebens herauszukommen“, sagte Agatha leise. „Einmal eine leichtsinnige Tat begehen! O Harriet, ich komme mir vor wie eine Aufschneiderin! Ich bin nicht so mutig wie Prue oder Theo und erst recht nicht wie Perdie, die sogar aus London geflohen ist!“
„Papperlapapp!“, rief Harriet mit blitzenden Augen. „Wir sind verschieden, aber alle außergewöhnlich.“
Agatha stöhnte. „Ich brauche keine Predigt darüber, wie wunderbar wir sind.“
„Es bedrückt dich, dass du nicht so abenteuerlustig bist wie die anderen“, sagte Harriet und setzte sich neben sie.
„Harriet“, sagte Agatha trocken, „du sitzt beinahe auf meinem Schoß.“
„Der Stuhl ist nicht breit genug für uns beide, also begnüge ich mich mit einem Stück deines Beines.“
Sie lachten, dann wurde Harriet wieder ernst.
„Wirklich, Agatha, du bist sehr tollkühn. Denk daran, du willst einen Geistlichen verführen! Fürchtest du nicht den Zorn des Himmels?“
Agatha starrte ihre Freundin verärgert an, doch die lachte nur.
„Ich habe nichts von Verführung gesagt“, betonte sie. „Ich habe ,küssen‘ gesagt.“
Harriet ignorierte die Bemerkung. „Als Lucinda Prue dieses unanständige Buch zeigen wollte, das davon handelt, wie man seinen Mann verführt, wer hat darauf bestanden, dass wir es auch erfahren sollten, obwohl wir noch Debütantinnen waren?“
Agatha grinste. „Das war ziemlich unerhört von mir, nicht wahr?“
„Aber auch wunderbar“, sagte ihre Freundin energisch. „Nun sag mir, warum es für dich unbedingt drei Wetten sein müssen.“
„Ich … ich weiß es nicht genau. Mein Herz verlangt es von mir.“
Harriet stand auf. Auch Agatha erhob sich, und sie verließen das Zimmer Hand in Hand.
„Ich fühle mich einsam und habe Angst“, erklärte Agatha leise. „Es ist meine dritte Saison, und meine Familie liegt mir ständig damit in den Ohren, dass ich noch keinen Mann gefunden habe. Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich an meine Zukunft denke und fürchte, dass auch die dritte Saison nichts bringt … Ein weiteres Jahr, in dem sich kein Herr für mich interessiert. Ich will heiraten und Kinder haben, Harriet.“ Agatha seufzte. „Wir haben doch gesehen, dass unsere Freundinnen den richtigen Mann gefunden haben, weil sie anders gehandelt haben, als es von ihnen erwartet wurde. Vielleicht habe ich auch solches Glück.“
Harriet lächelte. „Das glaube, das wirst du. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Vielleicht bringt eine Wahnsinnstat die Wende in unserem Leben.“
„Und wenn ich sogar drei begehe, ist der Erfolg so gut wie sicher“, sagte Agatha und warf den Kopf in den Nacken. „Davon bin ich überzeugt.“
Doch während sie in den Garten hinter dem Haus gingen, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie sich auf dünnes Eis begab. Das hätte ihr Angst einjagen sollen, doch Agatha empfand nur kribbelnde Erregung und feste Entschlossenheit.