1. Kapitel
Wolkenfetzen verhüllten die Mondsichel.
Plötzlich war es in dem vornehmen Stadtviertel dunkel, und Cassandra eilte die flachen Stufen hinunter. Unten angekommen, hastete sie atemlos im Schutz der Schatten am Souterrain vorbei. Sie war auf den Privatbesitz irgendeines Herrn eingedrungen, aber das war jetzt ihre geringste Sorge. Ihr Herz raste, und ihr war schwindlig vor Angst. Sie hätte einen Moment stehen bleiben sollen, um sich zu sammeln, doch das wagte sie nicht, denn hier war sie nicht sicher. In diesem provisorischen Versteck gab es nichts, was ihre Verfolger daran gehindert hätte, sie zu finden und mit Gewalt wegzuschleppen.
Es hatte auch keinen Sinn, zu schreien und zu hoffen, dass Passanten ihr zu Hilfe kommen würden. Die Männer, die sie jagten, hatten schon bewiesen, dass sie eine passende Antwort auf Lager hatten, falls jemand Fragen stellte. Ein paar Hundert Yards entfernt war sie mit einem Herrn zusammengestoßen und hatte gehofft, er würde ihr helfen, aber ihre Verfolger hatten sie eingeholt und ihm eine glaubwürdige Geschichte erzählt. Er hatte die Achseln gezuckt und war gleichgültig weitergegangen.
Da war ihr die Flucht gelungen, aber nur, weil sie verzweifelt, jung und schnell war und ihre Häscher sturzbetrunken waren.
Es war gefährlich für eine Frau, sich nachts allein in London herumzutreiben, und sie wusste nur zu gut: Mit ihrer Flucht aus dem Haus ihres Onkels zu dieser späten Stunde hatte sie in den Augen der Welt jeden Anspruch auf Respekt verspielt. Sie konnte nirgendwo Hilfe erwarten, nur noch mehr Gefahr. Sie war ganz allein. Sie musste nachdenken.
In dem Herrenhaus brannte ein mattes Licht. Es kam aus einem kleinen, vergitterten Fenster, das wahrscheinlich zum Dienstbotentrakt im Kellergewölbe gehörte. Bei ihrer überstürzten Flucht hatte sie nur wenig von dem Haus gesehen, doch das Wenige ließ den Schluss zu, dass die adligen Besitzer nicht daheim waren, und so traf sie in Sekundenschnelle die Entscheidung, hier Zuflucht zu suchen.
Cassandra hatte gesehen, dass der Türklopfer nicht an seinem Platz hing, und die Läden der großen Fenster auf Straßenhöhe und darüber waren alle geschlossen. Wahrscheinlich war die Adelsfamilie, die ein so großes imposantes Haus im vornehmsten Stadtviertel besaß, nicht in London. Die Saison neigte sich dem Ende zu, also konnte man davon ausgehen, dass sie, wie der Rest der oberen Zehntausend, in einen modernen Badeort gereist waren und nur eine Handvoll Diener zurückgeblieben waren, die das Haus hüteten. Natürlich drohte ihr auch von den Dienern Gefahr. Wenn zufällig einer herauskam und sie hier sah, wo sie nichts zu suchen hatte, würde er Zeter und Mordio schreien und die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger erregen. Von den Nachtwächtern, die auf Patrouille waren, hatte sie auch nichts zu erwarten. Sie wusste zwar nichts über diese Dinge und hoffte, dass es so bleiben würde, fürchtete jedoch, dass sie sie als Landstreicherin verhaften und in ein schreckliches Gefängnis sperren würden. Und wenn sie herausfanden, wer sie war, würden sie sie in die „Obhut“ – das Wort war Zynismus – ihres Onkels und Vormunds zurückbringen. Dann war sie wieder da, wo sie angefangen hatte.
Cassandra erstarrte, als sie ärgerliche Männerstimmen hörte. Es waren ihr Onkel und … er. Sie hatten die Suche nach ihr also noch nicht aufgegeben. Natürlich nicht – es hing zu viel davon ab, sie zu finden.
Am besten versuchte sie, irgendwie in das Herrenhaus zu gelangen und sich dort zu verstecken, bis der Tag anbrach. Dann war es auf der Straße nicht mehr so gefährlich. Es war kein genialer Plan, aber etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.
Vielleicht konnte sie irgendwie die Leute im Haus auf sich aufmerksam machen, sodass sie herauskamen. Dann könnte sie hineinschlüpfen, während sie ihr den Rücken zudrehten, und sich vor ihren Verfolgern in Sicherheit bringen. – Aber wie? – Weiter denken konnte sie im Moment nicht. Panik stieg in ihr auf, und sie kämpfte dagegen an. Es würde ihr nicht helfen, den Kopf zu verlieren. Sie musste erst planen und dann handeln.
Sie schlich zu der Treppe, die zur Straße hinaufführte – sie hatte sich wie ein verängstigtes Tier in der dunkelsten Ecke zusammengekauert – und lauschte angespannt auf die Stimme ihres Onkels. Er war in der Nähe, aber ihr verzweifeltes Vorhaben konnte nur gelingen, wenn er noch viel näher wäre.
Das Warten zog sich endlos hin, doch schließlich hörte sie ihn in nicht allzu großer Ferne fluchen. Sie schloss daraus, dass er wahrscheinlich direkt vor dem Haus nebenan stand. Sie schlich zur Kellertür zurück und nahm einen Holzeimer in die Hand, der dort stand. Gerade eben wäre sie beinahe darüber gestolpert, und da war ihr die Idee gekommen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Sie schleuderte den Eimer mit aller Kraft gegen das erleuchtete Fenster und flüchtete wieder in ihr altes Versteck, dicht bei der Tür, aber hoffentlich unsichtbar. Der Holzeimer krachte gegen die Eisengitter – ein lautes, erschreckendes Geräusch auf der ruhigen Straße –, und sie hörte zornige Stimmen im Haus. Gleich darauf quietschte ein Riegel, und die Tür wurde geöffnet.
Auf dem Gehweg ertönte ein triumphierendes „Wir haben sie!“ Schwere Schritte eilten auf sie zu und wurden etwas langsamer, als es die Stufen im Dunkeln hinunterging. Darauf hatte sie gezählt – sie würden dem Geräusch folgen und sicher sein, dass sie sie endlich aufgespürt hätten.
Die Kellertür wurde aufgerissen, und ein Mann erschien. Er war ihr so nahe, dass sie ihn hätte anfassen können. Wahrscheinlich ein Diener. Er war Afrikaner. Seine Silhouette vor dem hellen Hintergrund war imposant. Er war groß und kräftig, seine Haltung kämpferisch, und er hob die Fäuste. So stellte Cassandra sich die Pose eines Boxers vor. Hinter ihm tauchte eine Frau auf, die fast genauso groß und breit war. Ein furchterregendes Paar, aber die Aufmerksamkeit der beiden galt nicht ihr, sondern den Männern, die gerade an der Treppe angekommen waren.
„Oi!“, brüllte der Diener und trat den Eindringlingen entgegen. Er hatte die Fäuste immer noch kampfbereit erhoben. Seine Begleiterin, ebenso kühn wie er, folgte ihm. „Was denken Sie sich dabei, auf das Grundstück eines Herrn einzudringen und solchen Radau zu machen? Wenn Sie einbrechen wollen, bekommen Sie es mit mir zu tun, meine Herren!“
„Aber guter Mann …“, begann ihr Onkel in dem salbungsvollen Ton, den sie so hasste.
Cassandra wartete nicht ab, wie die Konfrontation ausging. Sie pirschte sich immer näher an die offene Tür heran, immer noch im Schatten verborgen, und sie segnete ihre weichen Schuhe, auf denen sie beinahe lautlos gehen konnte. Dann schlüpfte sie hinein, ohne dass einer der Streithähne es mitbekam. Es war gefährlich, denn schließlich konnten noch mehr Leute im Souterrain sein, und wenn einer sie jetzt sah, war sie verloren. Doch sie ging das Risiko ein und sagte sich, dass andere Anwesende auch bei dem Lärm herbeigeeilt wären. Außerdem hatte sie keine Wahl.
Ihre Rechnung ging auf. Der Korridor mit den steinernen Fliesen war leer. Eine Tür führte zu einer Küche, auch diese schien leer zu sein. Cassandra vergewisserte sich nicht, sondern drang tiefer in das Haus vor. Sie wollte unbedingt nach oben, weil sie glaubte, dort sicherer zu sein.
Die Stadthäuser vornehmer Leute hatten in der Regel den gleichen Grundriss, und so fiel es Cassandra nicht schwer, die Dienstbotentreppe zu finden. Sie schlich hinauf bis zu der mit grünem Stoff bezogenen Tür, die zum Erdgeschoss des Hauses führen musste, öffnete sie einen Spalt breit und spähte vorsichtig hindurch.
Sie sah eine große Eingangshalle mit einem schwarz-weiß-karierten Marmorfußboden. Ein bisschen kühles Mondlicht fiel durch das Fenster über der Tür und erlaubte ihr, sich umzuschauen. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, eine große, reglose menschliche Gestalt zu sehen, die in einer Nische stand und sie beobachtete. Ihr entfuhr ein Schrei der Überraschung, und sie schlug sich hastig die Hand auf den Mund. Doch im nächsten Augenblick begriff sie, dass es eine klassische Statue war, ein prächtiger Apollo aus Marmor. Ihr Gehirn registrierte es, obwohl es wirklich nicht wichtig war. Sie spürte hysterisches Gelächter in sich aufsteigen. Apollo konnte ihr nichts anhaben, und die Vorstellung, in einen Baum verwandelt zu werden wie die Nymphe Daphne, als er ihr nachgestellt hatte, war gar nicht unangenehm. Nein, fürchten musste sie lebende Männer, keine antiken Götter.
Sie öffnete die Tür ganz, schlüpfte hindurch und schloss sie – quälend langsam, aber das war nötig. Sie hörte niemanden von unten heraufkommen, und der kräftige Diener, der ihrem Onkel so energisch entgegengetreten war, hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er zwei Wildfremde einfach hereinspazieren lassen, damit sie das Haus durchsuchten, für das er verantwortlich war. Trotzdem wäre es Wahnsinn gewesen, hierzubleiben. Sie musste ein abgelegeneres Versteck finden, und das sehr leise und unauffällig. Sie schlich vorwärts. Jetzt war sie wohl eine Kriminelle. Sie beging Hausfriedensbruch. Aber sie hatte keine andere Wahl, und es gab kein Zurück mehr. Welche Tür sollte sie nehmen …?
2. Kapitel
Hal fluchte, als er verzweifelt versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er konnte nicht der Dunkelheit die Schuld geben, denn die Mittsommerdämmerung war gerade erst angebrochen, und er konnte gut sehen. Trotzdem schaffte er es nicht, den verdammten Schlüssel – der groß genug war – in das elende Schloss zu bekommen. Er war natürlich betrunken, sehr sogar. Betrunken, sinnierte er träge, wie ein Lord. Der er natürlich auch war. Das war also völlig in Ordnung.
Schließlich bewältigte er die Aufgabe, die leicht hätte sein sollen, und die Tür ging auf. Er trat ein. Mit übertriebener Vorsicht schloss er die schwere Vordertür hinter sich und blieb in der Halle mit dem Marmorboden stehen. Er schwankte ein wenig hin und her und überlegte, was er tun sollte. Apollo – der Beweis, dass sein Großvater wie die meisten seiner Generation im letzten Jahrhundert auf der Grand Tour gewesen war und wenigstens etwas von seinem Geld gut angelegt hatte – ignorierte ihn geflissentlich und starrte mit blicklosen Augen die Tür zur Bibliothek an. Er streckte einen Marmorarm aus, als wolle er ihm den Weg weisen.
Vielleicht missbilligte der Gott der … der Dinge, an die Hal sich gerade nicht erinnerte, die Trunkenheit seines Besitzers. Doch nach dem zu urteilen, was Hal aus seiner Schulzeit behalten hatte, waren diese griechischen Gottheiten alle das gewesen, was sein Freund Tom Wainfleet „Wüstlinge“ nannte.
„Unsinn!“, sagte Hal und brach in Gelächter aus. Der Klang hallte von den Wänden wider, und auf einmal wirkte das große Haus sehr leer. Natürlich war es das auch. Er wurde noch lange nicht wieder zu Hause erwartet, war jedoch spontan zurückgekommen, und die meisten Diener hatten Urlaub. Einige waren natürlich noch da; ein solches Haus konnte man nicht einfach leer stehen lassen. Hals Erster Diener, Jem Oldcastle, war irgendwo in seinem privaten Bereich, und seine Frau Kitty wahrscheinlich auch, aber sie rechneten nicht damit, dass Hal heute Nacht – oder eher heute Morgen – zurückkommen würde. Niemand tat es.
Georgiana war in Brighton, Bastian war mit ein paar Freunden aus Oxford auf einer Lesereise, und die jüngeren Kinder waren in Lyme Regis bei Tante Sophia, Gott steh ihr bei.
Nach den Strapazen der Saison hatte sich Hal inbrünstig nach Ruhe und Frieden gesehnt. Doch jetzt, da sein Wunsch in Erfüllung ergangen war, fand er die Vorstellung auf einmal unerklärlich deprimierend. Er folgte der Geste der Statue und torkelte in Schlangenlinien auf sein privates Heiligtum und Lieblingszimmer zu. Die Möbel im Rest des Hauses, außer in seinem Schlafzimmer, würden abgedeckt sein, doch er bestand darauf, dass ihm die Bibliothek stets zur Verfügung stand, und jetzt war er froh darüber. Seine plötzlich so düstere Stimmung würde sich sicher heben, wenn er in einer etwas gemütlicheren Umgebung war. In dieser Halle war einfach zu viel aus Marmor – der Boden, die Wände und die Statuen. Da musste man ja trübsinnig werden.
Er atmete erleichtert auf, als er seine Bibliothek betrat. Hier war es besser – viel gemütlicher. Dank langer Gewohnheit fiel es ihm leicht, im Dunkeln den Weg zwischen den Möbeln zu finden. Auch die Streichholzschachtel lag auf ihrem Stammplatz, dem Kaminsims. Beim Anzünden einer Kerze stellte er sich etwas ungeschickt an, doch mit viel Konzentration gelang es ihm schließlich. Einen Moment war er vom Licht geblendet, dann nahm er einen Leuchter, um noch mehr Kerzen anzuzünden.
Er hielt inne. Etwas stimmte nicht. Er war nicht allein im Zimmer.
Da war ein Mädchen.
In seinem benebelten Zustand war Hal gar nicht so überrascht, eine wildfremde junge Frau in seiner Bibliothek anzutreffen. Wildfremde junge Frauen waren schon öfter in sein Leben getreten, seit er Eton verlassen hatte. Er hatte auch nichts dagegen, schon gar nicht, wenn sie hübsch waren. Und die hier schien es zu sein, nach dem Wenigen zu urteilen, das er von ihr sehen konnte.
Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht eine Freundin seiner Schwester war, doch er hatte seine Sinne noch genug beisammen, um zu begreifen, dass das Unsinn war. Seine Schwester Georgie war nicht hier, und selbst wenn, gab es keinen Grund, warum eine ihrer unzähligen Herzensfreundinnen in seiner Bibliothek auf dem Sofa hocken sollte, noch dazu zu dieser unchristlichen Zeit. Er schaute blinzelnd auf die goldene Uhr, die auf dem Kaminsims stand, doch die war stehen geblieben.
Sie schlief – wie ein Murmeltier – und bemerkte ihn überhaupt nicht. Er ging auf sie zu und hob die Kerze, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Ja, sehr hübsch. Die schöne Unbekannte lag zusammengerollt auf dem großen Sofa, eingehüllt in einen weiten schwarzen Umhang, von dem ihre Farben kräftig abstachen, sogar in dem flackernden Kerzenlicht. Sie hatte kurze, feuerrote Haare, und ihre kleine Nase war von Sommersprossen übersät, die Leute mit dieser Haarfarbe oft hatten. Lange Wimpern ruhten auf ihren Wangen, und ihre Haut war sehr blass. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, und die hellrosa, im Schlaf leicht geöffneten Lippen waren sehr attraktiv. „Kussmund“ war das erste Wort, das Hal in seinem benebelten Zustand einfiel. Ja, es war ein echter Kussmund. Sie schien in Georgies Alter zu sein – ungefähr achtzehn. Er sah ein Stück sehr zerknitterten Musselins unter dem weiten Umhang, und unter dem Saum schauten kleine Füße in staubigen Seidenschuhen hervor.
Aber was machte sie in seiner Bibliothek?
Er musste irgendein Geräusch gemacht haben, denn plötzlich schlug sie die Augen auf – sie waren grün – und starrte ihn verständnislos an. Und dann kreischte sie.
Er fluchte, ließ vor Schreck die Kerze fallen, und im Zimmer herrschte mit einem Schlag ägyptische Finsternis.
3. Kapitel
Cassandra hatte nicht geplant, einzuschlafen. Aber leider hatte sie nichts Besseres zu tun gehabt. Sie hatte die Tür geöffnet und sich vorsichtig ins Zimmer getastet. Sie hatte keine Möglichkeit gehabt, ein Licht anzuzünden, und hätte das auch gar nicht gewagt, weil sie fürchtete, dass es unter der Tür hindurch gesehen wurde.
Sie brauchte jedoch keine Kerze, um zu wissen, dass sie in einer Bibliothek war. Der Geruch von altem und brüchigem Papier verriet es ihr, und es gab kaum einen Platz auf der Welt, an dem Cassandra sich so wohl fühlte wie in einer Bibliothek. Ihr ging es schon besser, obwohl ihr klar war, dass es keinen vernünftigen Grund für gute Laune gab. Es war nicht sicher, dass sie ihren Verfolgern wirklich entkommen war, und selbst wenn, so befand sie sich in einem fremden Haus und hatte nichts außer den Kleidern, die sie auf dem Leib trug, einem beunruhigend leichten Geldbeutel und den wenigen Sachen, die sie vor ihrer Flucht in ihren Pompadour gestopft hatte. Dazu gehörten die Perlen ihrer Mutter – die konnte sie bestimmt verpfänden, wenn sie nur wüsste, wie man das machte. Aber sie war immerhin bis hierhergekommen. Sie konnte sich hinsetzen und in Ruhe überlegen, was sie als Nächstes tun würde.
Sie tastete sich langsam vorwärts, um nicht über irgendetwas zu stolpern, und stieß sich schmerzhaft den Fuß an einem harten Gegenstand. Ihre Hände fanden die hohe Lehne eines Sofas; sie fingerte weiter, bis sie den Sitz gefunden hatte und sank erleichtert auf das Polster. Das war besser.
Ihr Kopf war immer noch leer, und ihr wollte nichts einfallen. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass ihr schwindlig war, weil sie Durst hatte. In der Bibliothek eines Herrn gab es bestimmt etwas zu trinken, Alkohol wahrscheinlich. Das war sie überhaupt nicht gewohnt, aber es wäre besser als nichts, und sie hatte gehört, dass man sich Mut antrinken konnte. Jedenfalls hatte es diese Wirkung auf ihren Onkel, und er … Sie schauderte und drängte den Gedanken energisch beiseite.
Sie stand müde auf und setzte ihren vorsichtigen Weg durch das Zimmer fort. Bald fand sie einen Tisch, auf dem eine schwere Kristallkaraffe stand, und ein Glas daneben. Das war gut. Doch jetzt musste sie sich in völliger Finsternis etwas einschenken. Sie würde sicher kleckern, aber es wäre nicht nett, die Bibliothek ihres ahnungslosen Gastgebers schmutzig zu machen. Sie dachte nach und stellte die Karaffe und das Glas auf den Fußboden. Nach ein paar misslungenen Versuchen, bei denen einiges danebenging, schaffte sie es, ein wenig in das Glas zu träufeln. Zum Glück war es kein Weinglas mit schmalem Stil, sondern eher ein schwerer Cognacschwenker. Sie setzte ihn an die Lippen und nahm einen zaghaften Schluck. Es schmeckte genauso grässlich, wie sie befürchtet hatte, und sie musste husten. Doch sie spürte die Wärme, die sich in ihrer Kehle ausbreitete, und beschloss, dass es ihr etwas besser ging. Sie goss sich noch ein wenig ein, machte sich auf den Rückweg zum Sofa, setzte sich und leerte das Glas mit verblüffender Geschwindigkeit.
Es war guter alter geschmuggelter Schnaps aus Frankreich, und natürlich verfehlte er seine Wirkung auf eine zierliche junge Dame nicht. Sie war ja kaum größer als fünf Fuß, hatte noch nie etwas Starkes getrunken, und hinzu kam, dass sie einen strapaziösen Abend hinter sich hatte, an dessen Ende sie Hals über Kopf durch die Straßen von London geflüchtet war. Bald fiel ihr das Glas aus der Hand und rollte ungesehen und unbeschädigt über den Perserteppich. Sie merkte es nicht, weil sie schon schlief.
Cassandra fuhr aus dem Schlaf hoch und sah eine hochgewachsene Gestalt, die sich mit einer Kerze in der Hand über sie beugte, und sonst nichts.
Sie schrie auf, und das Licht ging aus. Sie hörte einen Mann fluchen, aber bevor sie wieder schreien konnte, ertönte ein kratzendes Geräusch, als der Fremde ein Streichholz anzündete, und noch mehr Flüche. Dann flackerte eine Kerze nach der anderen auf, bis alle am Leuchter brannten. Der Mann hielt den Kandelaber hoch und starrte sie an.
Ein paar Sekunden blickten sie sich schweigend an. Cassandra sah einen großen jungen Mann in derangierter Ausgehkleidung – seine Sachen sahen aus, als entsprächen sie der neuesten Mode, wären aber unsanft behandelt worden. Sein Haar war dunkel und zerzaust, die Augen leuchtend blau. Er war ungewöhnlich attraktiv und sehr, sehr zornig.
„Was zum Teufel“, sagte er anklagend, „machen Sie in meiner Bibliothek?“
Ihre Geistesgegenwart ließ sie kläglich im Stich. Sie brachte kein Wort heraus, sondern starrte ihn in stummem Entsetzen an.
Er schaute stirnrunzelnd auf sie herunter, und dann fiel sein Blick auf das Glas und die Karaffe. Seine Miene wurde noch grimmiger, und er sagte: „Haben Sie meinen besten Branntwein getrunken?“
„Ja“, sagte sie kleinlaut.
Er schnüffelte. „Und haben Sie meinen besten Branntwein auch noch verschüttet?“
„Nur ein bisschen. Es tut mir sehr leid, Sir. Ich konnte nichts sehen. Ich habe nicht gewagt, nach Kerzen zu suchen.“
„Das glaube ich. Sind Sie eine Einbrecherin? Sie sehen nicht so aus, muss ich sagen, aber vielleicht ist das Ihr … Ihr …“ Er winkte anmutig ab, weil ihm nicht das richtige Wort einfiel.
Cassandra dämmerte, dass der gut aussehende junge Mann selbst betrunken war. Das erschreckte sie. Erfahrung hatte sie gelehrt, betrunkenen Männern zu misstrauen, aber sie wusste auch, dass nüchterne Männer fast genauso schlimm sein konnten. Dieser junge Herr allerdings machte nicht den Eindruck, als wolle er sie belästigen, und sie musste sich eingestehen, dass er zu Recht zornig war, denn sie war in sein Haus eingedrungen.
Sie sagte: „Ich bin keine Einbrecherin. Aber ich verstehe, dass Ihnen meine Anwesenheit sehr seltsam vorkommen muss.“
„Seltsam, sagen Sie? Na, was denn sonst!“ Er lachte und plumpste neben ihr auf das Sofa.
Sie erstarrte, doch er rückte nicht näher zu ihr, sondern streckte nur seine langen Beine aus und schlug sie übereinander. Er lehnte sich zurück, musterte sie mit seinen verstörend blauen Augen von Kopf bis Fuß, verschränkte die Arme und sagte: „Sprechen Sie weiter.“
Sie wusste, dass sie ihm eine Erklärung schuldete. „Ich wurde verfolgt. Ich habe mich neben der Tür zum Souterrain versteckt, und als Ihre Diener herauskamen, bin ich ins Haus geschlüpft und habe mich in dieses Zimmer geschlichen. Und ich habe Ihren Branntwein getrunken. Es tut mir leid“, sagte sie wieder. „Ich weiß, es war eine Frechheit.“
„Sie hatten sicher Ihre Gründe“, sagte er. „Wann war das?“
„Gegen Mitternacht, glaube ich.“
„Und warum sind meine Diener herausgekommen? Es scheint mir seltsam, dass sie das um Mitternacht getan haben.“
„Ich habe einen Eimer ans Fenster geworfen.“
„Nun, das erklärt es“, sagte er, anscheinend völlig zufrieden. Doch dann dachte er einen Moment scharf nach, runzelte wieder die Stirn und sagte: „Warum waren Sie um Mitternacht unterwegs und haben mit Eimern geworfen? Und wer hat Sie verfolgt? Sie sind doch keine … keine … oder doch?“ Er wedelte wieder mit der Hand.
„Nein, das bin ich nicht!“, sagte sie empört. „Allerdings“, fügte sie mit einem bedauernden Schniefen hinzu, „kann ich verstehen, warum Sie das denken. Ich weiß, dass ich mich nicht nachts auf der Straße herumtreiben sollte. Aber glauben Sie mir, Sir, ich habe es nur getan, weil ich keine Wahl hatte.“
„Natürlich, gar keine Wahl“, sagte er mit einem Gähnen. „Ich dachte es übrigens nicht. Also, Sie sind keine Einbrecherin und keine … Mir fällt kein Wort ein, das ich in Damengesellschaft sagen kann. Aber wenn Sie beides nicht sind, was hatten Sie um Mitternacht draußen zu suchen, und wer hat Sie verfolgt? Natürlich möchte ich Sie nicht aushorchen.“
Cassandra saß zusammengekauert in der Sofaecke und drehte ihren Umhang zu einer Wurst zusammen.
Plötzlich sagte der junge Mann: „Haben Sie einen Namen? Ja, natürlich haben Sie einen. Ich bin nicht so betrunken, dass ich das nicht weiß, aber wie lautet er?“
„Das möchte ich lieber nicht sagen.“
„Ich muss Sie doch irgendwie nennen!“
„Wozu?“
Er dachte darüber nach. „Es gibt sicher einen Grund, er fällt mir nur gerade nicht ein.“
„Nun, ich verrate es Ihnen nicht.“
Er musterte sie wieder und grinste plötzlich. „Dann muss ich mir selbst einen Namen für Sie ausdenken, geheimnisvolle schöne Fremde! Was für ein Name passt zu einer Frau, die nachts in Häuser eindringt, den Leuten den Branntwein wegtrinkt und auf ihren Sofas schläft?“
Sie sagte: „Ich dringe nicht in Häuser ein! Jedenfalls nicht gewohnheitsmäßig!“
„Und das soll ich Ihnen glauben … Incognita könnte ich Sie nennen!“
Sie schnaubte. „Wie albern!“
„Finden Sie? Nicht originell vielleicht. Lassen Sie mich nachdenken …“, sinnierte er. „Ich hab’s! Ich werde Sie Biancaneve nennen! Das ist genau richtig. Ist sie nicht in das Häuschen eingebrochen, hat sich am Essen der Bewohner bedient und ist dann eingeschlafen? Keinen Branntwein, aber sie hätte sicher daran genippt, wenn welcher da gewesen wäre. Ich weiß noch, dass ich es den Kindern vorgelesen habe, als sie klein waren. Ein sehr schlechtes Beispiel für Kinder, aber es hat ihnen gefallen, wenn ich mich richtig entsinne. Wahrscheinlich hat dieses Märchen Sie inspiriert. Biancaneve, das ist ein passender Name. Oder Schneewittchen, wenn Ihnen das lieber ist.“
Er sah viel zu jung aus, um Kinder zu haben, schon gar keine, die schon groß waren. Er musste sehr früh geheiratet haben. Er war sicher noch keine dreißig – vielleicht siebenundzwanzig oder achtundzwanzig. Sie ertappte sich bei der neugierigen Frage: „Haben Sie viele Kinder?“
„Dutzende“, sagte er düster. „Nein, nicht Dutzende, sondern fünf. Es kommt mir nur manchmal so vor, als wären es Dutzende. Vor allem die Jüngeren. Sie jagen im Rudel!“
„Ich kann nicht glauben, dass Sie fünf Kinder haben. Ihre arme Frau!“
„Oh, ich habe keine Frau, Schneewittchen. Ich hatte noch nie eine.“
Sie schnappte nach Luft.
Er sah sie überrascht an, dann grinste er wieder. „Was? Oh, Sie denken … Nein, nein, nichts dergleichen. Mein Leben ist auch ohne solchen Unsinn kompliziert genug. Ich bin ihr Bruder und – zur Strafe für meine Sünden – ihr Vormund. Bastian ist zwanzig, Georgie – Georgiana – ist achtzehn, und die anderen … vierzehn und zwölf. Zwillinge“, erklärte er, als sie eine Augenbraue hochzog.
„Meine Güte“, sagte sie matt.
„Ja“, erwiderte er mit tiefer Überzeugung. „Aber glauben Sie mir, Güte ist nur sehr selten im Spiel. Sie sind kleine Monster, bis auf Bastian.“
Es war verrückt, doch sie fühlte sich jetzt wohler, als sie wusste, dass er so viele jüngere Geschwister hatte. Aber warum? Vielleicht erhoffte sie sich von ihm Verständnis für ihre Lage, weil er eine Schwester in ihrem Alter hatte.
„Sind sie jetzt hier? Ich dachte, das Haus stünde leer.“
„Sie sind nicht hier. Das Haus steht auch praktisch leer. Nur Jem Oldcastle, seine Frau, ein paar Hausmädchen und Kutscher und ich sind hier. Und Sie natürlich, Schneewittchen.“
Sie fröstelte, weil ihr plötzlich bewusst wurde, wie verwundbar sie war. Sie war allein mit ihm in diesem riesigen Haus, und alle Gefahren, die ihr drohten, stürmten wieder auf sie ein.
Er merkte es, obwohl er betrunken war und sich schläfrig auf dem Sofa rekelte. Er sagte abrupt: „Ich pflege keine jungen Frauen zu belästigen. Auch keine alten Frauen oder Mädchen. Egal, ob ich betrunken oder nüchtern bin. Ich weiß zwar immer noch nicht, was Sie hier wollen, aber Ihnen droht keine Gefahr von mir. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“
„Ich wünschte, jeder Mann, der sich Gentleman nennt, wäre so!“, platzte sie mit unverhohlener Bitterkeit heraus.
Sein Blick verfinsterte sich, und er sah wieder wütend aus, aber nicht wütend auf sie, und seltsam furchterregend. Er sagte: „Ich denke wirklich, dass Sie mir erzählen sollten, was los ist. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Sie schlug die Hände vors Gesicht und fühlte sich plötzlich sehr müde. „Ich glaube, mir kann keiner helfen.“
Seine Stimme klang warm und ermutigend. „Versuchen Sie es mit mir. Meine Schwester hat immer irgendwelchen Ärger. Sie ist verlobt, und wahrscheinlich wird sie auch nach der Heirat noch Ärger haben, aber das ist dann nicht mehr mein Problem. Vielleicht werde ich es sogar vermissen! Also …“
Cassandra brach in Tränen aus.