1.
Seit Tagen lag dichter Nebel über der Küste. Der June Gloom, wie ihn die Kalifornier nennen, war stellenweise so undurchdringlich, dass man unter den Palmen am Strand die Blätter kaum erkennen konnte.
In den Morgenstunden und am Abend war es besonders schlimm. Dann kroch der diesige Dunst wie ein fetter Krake landeinwärts, zwängte sich durch die Boulevards und Straßen und hievte sich sogar bis hinauf zu den Nobelvierteln der Hills, die er schamlos mit seinem feuchten Atem bespuckte.
An solch einem Morgen saß Alex verschlafen in der Küche und schlürfte gemächlich seinen Mandelmilch-Cappuccino, als Mike polternd durch die Tür trat.
»Bin wieder zurück, Hase! So eine Joggingtour ist doch wirklich eine Klatschbörse vom Feinsten! Kennst du schon die brandneuesten News?«
Alex hob lethargisch die Augenbrauen. »Hat der alte Murch von nebenan endlich seinen Ferrari zu Schrott gefahren?«
»Knapp daneben, aber mindestens ebenso kostspielig! Mrs Palmer hat es mir gerade erzählt – sie weiß es vom Gärtner der Prestons, und die Prestons durften die Bescherung aus erster Hand erleben, als sie heute früh aus Florida zurückkamen.«
»Doch nicht schon wieder ein Einbruch?«, fragte Alex mit erwachendem Interesse.
»Genau das! Diesmal hat’s John und Catherine Preston aus der Parkland Lane erwischt.«
»Hm. Ist das nicht dieses tattrige Ehepaar, das immer mit seinem lahmen Basset durch die Gegend schlurft?«
Mike nickte, während er sich grinsend eine Banane aus der Obstschale schnappte. »Korrekt. Steinreich, aber klapprig wie ein altes Fahrrad.«
Alex stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wäre dann schon der dritte Einbruch innerhalb von zwei Wochen. Und immer hier bei uns in der Nachbarschaft. Ich frage mich, wozu sich die Leute teure Alarmanlagen leisten, wenn die im entscheidenden Moment nicht funktionieren!«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Mike schulterzuckend. »Bei den Prestons würde es allerdings kaum wundern, wenn die Alarmanlage erst gar nicht eingeschaltet war.«
»Leise rieselt der Kalk …«
»Die Gegend hier ist einfach hoffnungslos überaltert! Der Place-to-be für Ganoven aller Art. Die meisten Bewohner sind so senil, dass sie bald nicht mehr wissen werden, wo oben und unten ist!«
Alex seufzte und beobachtete, wie sich sein Freund genüsslich die Banane in den Mund schob. »Zum Glück wissen wir beide noch recht gut, wo oben und unten ist.«
»Stimmt, Hase«, rief Mike kauend. »Auch wenn es bei uns manchmal drunter und drüber geht.«
Alex rang sich ein Kichern ab. »Wohl einen Scherzkeks gefrühstückt!«
»Apropos oben und unten – es wird Zeit, dass ich nach oben gehe und mich fertig mache. In der Firma werden sie mich schon sehnsüchtig erwarten. Der leidige Deal mit Hunter’s Favorite geht in die Endrunde. Wenn alles klappt, gehört uns heute Abend die Aktienmehrheit, und ich darf die ganze Jägertruppe zu einem fürstlichen Dinner ins Providence einladen. Und du willst wirklich nicht mitkommen?«
Alex schüttelte gähnend den Kopf. Die Aussicht, in einem der besten Restaurants der Westküste zu dinieren, hätte bei den meisten Menschen helle Begeisterung hervorgerufen. Alex jedoch blieb hiervon unbeeindruckt.
»Lieber nicht, Captain. Diese Geschäftsessen sind zwar todschick, aber leider auch todlangweilig. Außerdem speise ich bereits heute Mittag auswärts und darf meinen Ernährungsplan nicht komplett durcheinanderwirbeln.«
Mike warf seinem Freund einen neugierigen Blick zu.
»Lucy will sich mit mir zum Lunch treffen«, erklärte dieser. »Angeblich hat sie etwas ›wahnsinnig Wichtiges‹ zu berichten.«
Mike ließ seine Augenbrauen hüpfen. Wenn sich Alex mit seiner besten Freundin Lucy traf, hieß das für gewöhnlich, dass sie seine fachmännisch-männliche Beratung benötigte. Und das konnte nur bedeuten, dass sie entweder am Anfang oder am Ende irgendeiner Liebelei stand. Einer aussichtslosen Liebelei, wie Mike in Gedanken nachschob.
»Ich wette, es hat etwas mit Männern zu tun«, kommentierte er trocken.
»Das befürchte ich leider auch. Hoffentlich ist sie nicht wieder in irgendeinen Schlamassel geschlittert.«
Mike zuckte mit den Schultern. »Alles andere würde mich wundern.«
2.
Für Mike wurde es ein langer und anstrengender Tag. Als er kurz nach Mitternacht nach Hause kam, waren Conchita und Ernesto bereits zu Bett gegangen. Alex dagegen saß putzmunter im Wohnzimmer und zockte auf der nagelneuen Playstation, die er mit dem riesigen, in die Wand eingelassenen LED-Fernseher gekoppelt hatte.
»Hey, Gameboy, du bist ja noch hellwach!«
»Und wie ich wach bin, Captain!«, rief Alex, während er impulsiv mit dem Steuerrad der Konsole hantierte.
Ein liebevolles Lächeln umspielte Mikes Lippen. »Konntest du deinem Ernährungsplan heute Abend gerecht werden?«
»Ja, schon. Conchita hat mal wieder ihre ultrascharfe Chilisuppe gebraut.«
Alex machte eine Pause, bevor er leise nachschob: »Aber ohne dich schmeckt alles irgendwie fad.«
Mike trat einen Schritt vor und strich seinem Freund zärtlich durch die schwarzen Haare, die ganz zerzaust wirkten, als hätten sie stundenlang in einem Rennfahrerhelm gesteckt.
»Du bist süß. Aber ich hatte dir ja angeboten mitzukommen. Das Dinner war ein Riesenerfolg. Hunter’s Favorite ist künftig eine Marke von Greenfort Enterprises. Alle sind happy, und ich bin froh, dass diese Nummer vorbei ist und wir in den nächsten Tagen etwas mehr Zeit für uns haben. – Wie war’s denn mit der fabelhaften Lucy?«
Alex’ Rennauto flog aus der Kurve, überschlug sich und krachte geräuschvoll in den Reifenstapel, der den Rand des Parcours säumte. Game over flackerte es in großen, zerfließenden Lettern auf dem Bildschirm.
Alex legte seufzend den Controller beiseite und wandte sich an Mike. »Frag lieber nicht. Sie lässt kein Klischee aus. Schwebt auf Wolke sieben und ist natürlich für kein vernünftiges Argument zu haben.«
Mike hob die Hände und ließ sie resigniert wieder sinken. »Die Arme«, kommentierte er trocken. »Wir wissen ja, wie das enden wird.«
»Wem sagst du das. Aber sie strotzt nur so vor Überzeugung: ›Diesmal ist es ganz anders! Seit ich Ryan treffe, habe ich sooo viele Schmetterlinge im Bauch, dass ich kurz vorm Abheben stehe. Wir beide sind füreinander geschaffen. Eine Frau spürt das …‹«
Alex rollte mit den Augen, ehe seine Stimme wieder ihre gewohnte Lage annahm: »Stell dir vor, heute Morgen hat sie ihren Job im Eiscafé gekündigt, weil der Typ demnächst mit ihr auswandern will!«
Mike klopfte sich mit dem Finger gegen die Stirn, konnte seine Neugier aber nicht mehr unterdrücken. »Hm. Dieser Ryan muss ja ein Prachtexemplar sein! Was macht er überhaupt? Und vor allem: Wie sieht er aus?«
»Was er macht, weiß Lucy selbst nicht genau. Er wohnt irgendwo in Norwalk und handelt mit irgendwelchen Produkten.«
»Klingt irgendwie unkonkret.«
»Aber gut sieht er aus, das muss man ihm lassen. Jedenfalls nach den Fotos zu urteilen.« Alex zögerte und strich sich langsam übers Kinn. »Auch wenn ich finde, dass er etwas Brutales ausstrahlt. In einer einsamen Nebelnacht möchte ich dem Kerl jedenfalls nicht allein begegnen.«
Mike lachte. In diesem Punkt brauchte sich sein Freund nun wirklich keine Sorgen zu machen. Er kannte kaum jemanden, der durchtrainierter und sportlicher war. Als passionierter Fitnesscrack konnte es Alex mit allem und jedem aufnehmen, nur schien er diesen Umstand selbst hin und wieder zu vergessen, und dann meldete sich hinter der robusten Fassade ein kleines, schreckhaftes Angsthäschen, das nicht wusste, wohin es hoppeln sollte.
»Dein Bizeps muss sich vor niemandem fürchten!«, bemerkte er. Dann wanderten seine Gedanken wieder zu Lucy und ihrem neuen Lover: »Wie lange kennen sich die beiden Turteltäubchen denn schon?«
»Tja, morgen werden es bereits zwei Wochen sein.«
»Um Himmels willen! Und du konntest sie nicht wenigstens ein klein wenig bremsen?«
Alex machte eine ratlose Geste mit den Armen. »Es wird kommen, wie es kommen muss – und rate mal, wer dann die Tränen trocknen darf.«
Mike schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Lucy kein Händchen für Männer hatte. Stets geriet sie an den Falschen, war sofort Feuer und Flamme und merkte erst viel zu spät, wenn sich ihre Begeisterung als Einbahnstraße erwies. Im Grunde war sie zu bedauern. Doch ihre Sturheit und der Unwille, aus begangenen Fehlern zu lernen, hatten sein Mitleid mit der Zeit auf ein Minimum eingedampft. Was nicht schlimm war, denn auch sie selbst steckte ihre Missgriffe meist gut weg. Nur Alex tat ihm leid, saß er doch als bester Freund bei Lucys emotionalen Achterbahnfahrten unfreiwillig in der ersten Reihe.
»Da kann man wohl nichts machen«, murmelte er.
Alex war inzwischen aufgestanden und sah gedankenversunken durch das breite Panoramafenster hinaus in den Garten. Dort hatte sich feuchter Dunst ausgebreitet, der in trüben Schwaden über dem Rasen hing.
»Glaubst du eigentlich an böse Omen?«, fragte er unvermittelt.
Mike sah überrascht auf. »Omen?«
»Ich meine so etwas wie Vorzeichen«, flüsterte Alex nach einer kurzen Pause. »Boten für etwas Böses, das bevorsteht.«
»Wie kommst du bloß auf solche Gedanken?«
»Findest du nicht auch, dass der Nebel etwas Schauriges an sich hat? Wie ein böser Geist, der umherschleicht und auf seinen Auftritt wartet.«
Ein leichter Schauder überkam Mike, doch er ließ sich nichts anmerken. »O Hase! Du hast eindeutig zu viele Horrorfilme gesehen. Vielleicht solltest du –«
Er unterbrach sich, als Alex plötzlich zusammenzuckte und mit aufgerissenen Augen nach draußen starrte.
»Was hast du?«
»Da hinten war was!« Alex’ Stimme zitterte. »Dort, bei der Hecke. Nur ganz kurz – dann ist es weggehuscht!«
Mit einem Ruck war Mike aufgefahren. »Ich sehe nichts. – Bist du sicher, dass es nicht bloß Murchinsons Katze war?«
Alex brummte verneinend. »Nein, es war viel größer«, flüsterte er, »und irgendwie dachte ich für einen Moment, Ghost Face würde mich anstarren.«
Ein jähes Unbehagen ergriff die beiden Jungs.
»Hast du dich auch bestimmt nicht getäuscht?«
Alex überlegte eine Weile, während er nervös mit zwei Fingern seine Lippe knetete. »Weiß nicht«, raunte er schließlich. »Vielleicht war es auch mein eigener Schatten, vom Nebel reflektiert. Diese verdammten Räubergeschichten machen einen ganz irre!«
Mike hob die Augenbrauen und ließ – etwas eher als gewollt – die Rollläden herunterfahren. Zwar neigte Alex bisweilen zur Dramatik, aber ganz geheuer war ihm die Sache trotzdem nicht.
»Es wird schon nichts gewesen sein«, meinte er so beiläufig wie möglich. »Räubergeschichten hin oder her, ich schlage vor, wir gehen jetzt nach oben, verkriechen uns unter der Bettdecke und spielen dort eine hübsche Partie Räuber und Gendarm!«
Alex hatte seine Fassung wiedergefunden und betrachtete Mike mit aufkeimendem Grinsen. »Klasse Idee, Captain! Wer ist der Räuber?«
»Immer der, der fragt!«