Kapitel 1
Hamilton Terrace
St. John’s Wood, London
August 1818
Jasper St Vincent, der Duke of Montford, hatte ein sehr spezielles Talent für die Sünde.
Manche Gentlemen waren besonders sportlich, andere künstlerisch oder musikalisch begabt, und wieder andere zeichneten sich durch ihren Witz oder ihre modische Extravaganz aus. Doch es gab keinen einzigen Gentleman in ganz London, der ihm in seiner erfindungsreichen und außergewöhnlichen Verruchtheit das Wasser reichen konnte.
Es war wirklich eine seltsame Gabe, und es war eine, die er sich nicht einmal selbst ausgesucht hatte. Nein, sie war ihm regelrecht aufgezwungen worden, lag tief verwurzelt in seinen Knochen, ein Vermächtnis seiner Mutter oder seines Vaters. Er wusste nicht mit Sicherheit, welches Elternteil sie ihm vermacht hatte. Denn beide waren von einem Fieber dahingerafft worden, noch bevor er sein sechstes Lebensjahr erreicht hatte. Aber einer von ihnen musste die Blutlinie der Familie St Vincent mit dieser wahrhaft schillernden teuflischen Veranlagung infiziert haben, die nun genauso unabänderlich zu ihm gehörte wie das Grübchen in seiner linken Arschbacke.
An manchen Tagen betrachtete er sie als einen Segen, an anderen als einen Fluch. Das hing natürlich immer von der aktuellen Lage ab, in der er sich befand.
„Euer Gnaden, auf Eurem Gesicht liegt ein lächerlich verwirrter Ausdruck. Man könnte meinen, wir spielten Schach und nicht einfach nur eine Partie Siebzehn und Vier.“
Heute Abend, ja, da hielt er seine Gabe für einen Fluch. Für eine Geißel, eine Plage, eine Qual, die ihm aus den tiefsten Tiefen des feurigsten Höllenschlunds auferlegt worden war. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, thronte ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Spieltisches, auf einem scheußlich grellgrünen Seidendiwan, Satans Lieblingsmätresse höchstpersönlich. Ihre prallen scharlachroten Lippen, die er einst so verführerisch gefunden hatte, waren zu einem bösartigen Grinsen verzogen.
Diese Lippen waren pures Gift. Wie schade, dass er bereits viel zu viel von ihnen gekostet hatte, bevor er endlich wieder zu Sinnen gekommen war. Es war nur ein vorübergehender Anfall von Wahnsinn gewesen, dennoch hatte er sich schwer damit getan, sich von ihr zu befreien. Sie hatte Narben hinterlassen, und zwar nicht nur im übertragenen Sinn. Sie hatte ihn tatsächlich verstümmelt. Er berührte mit einem Finger die schmale gezackte Narbe, die ihre silberne Haarbürste auf seiner Stirn hinterlassen hatte. Nur einen Zentimeter weiter rechts, und er hätte sein Auge verloren. So aber würde bloß seine Augenbraue nie wieder dieselbe sein.
Der Streit mit der Haarbürste hatte ihrer Affäre ein endgültiges, ein unwiderrufliches Ende gesetzt. Wenn es um Verstümmelung ging, zog auch er eine Grenze, wie jeder anständige Gentleman es tun sollte. Doch seit er vor einem Monat mit ihr gebrochen hatte, war Lady Selina Archer von seinem einstigen Quell der Freude zu seiner größten Pein geworden.
„Ihr seid an der Reihe, Euer Gnaden. Versucht doch bitte, Euch auf das Spiel zu konzentrieren, ja?“ Ihr selbstgefälliges Grinsen wurde breiter, ihre Lippen zogen sich zurück und gaben den Blick auf scharfe, glänzende Schneidezähne frei. „Ach herrje, fühlt Ihr Euch etwa nicht wohl? Ihr seht ziemlich blass aus.“
Lieber Himmel, dieses Grinsen war einfach gruselig. Und wieso war ihm bloß noch nie aufgefallen, wie unangenehm ihre Stimme klang? Wie das Knirschen von zerbrochenem Glas unter einem Stiefelabsatz. Seine strapazierten Nerven schrien bei jedem Wort, das über ihre Lippen kam, vor Protest regelrecht auf. „Ich bin mir durchaus bewusst, dass ich an der Reihe bin, Mylady.“
„Ach, wirklich? Verzeiht mir, Euer Gnaden. Ihr habt Euch so lange nicht bewegt, dass ich schon dachte, Ihr wäret vielleicht eingeschlafen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass Ihr in meinem Ankleidezimmer einschlaft, obwohl Ihr besser wach bleiben solltet.“
Einmal. Das war nur ein einziges Mal passiert. Und außerdem war er zu diesem Zeitpunkt betrunken gewesen.
Aber sie versuchte eh nur ihn abzulenken, und das würde er nicht zulassen. Das konnte er nicht zulassen. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand. Ein erneuter ungeheuerlicher Skandal stand schon bevor, ja, er klebte dem letzten scheinbar direkt an den Fersen. Jener hatte bereits ausgereicht, um seinen Großvater eine Woche lang ans Bett zu fesseln, und der, der sich jetzt zusammenbraute, würde noch viel schlimmer werden. Wenn er dieser leidigen Affäre heute Abend also kein Ende setzte, könnte es den alten Knaben endgültig umbringen.
„Sollen wir also endlich fortfahren, Euer Gnaden?“ Selina klopfte mit ihren Fingerknöcheln auf den Tisch. „Es sei denn, Ihr möchtet aufgeben? Das Glück scheint heute Abend nicht auf Eurer Seite zu stehen, oder?“
Zum Teufel mit dem Glück. Glück hatte nicht das Geringste hiermit zu tun. Denn es gab nur eine Möglichkeit, eine Wette zu gewinnen: Man sollte nie das aufs Spiel setzen, was man sich nicht leisten konnte, zu verlieren.
Er betrachtete die Ohrringe, die sie auf den Stapel abgelegter Karten geworfen hatte.
Nun, dafür war es jetzt wohl zu spät.
Eine Schweißperle bahnte sich ihren Weg unter das weiße Leinen seines Halstuchs und gesellte sich zu ihren Verwandten, die sich schon an seinem Halsansatz angesammelt hatten. Er wünschte sich nichts mehr, als dieses verdammte Ding herunterzureißen und auf den Boden zu werfen. Doch eine solche Genugtuung würde er Selina nicht geben. Sie durfte nicht wissen, dass sie ihn gehörig aus der Fassung gebracht hatte.
Immerhin war er Montford, um Himmels willen. Und dieser ließ sich niemals derart aus der Ruhe bringen. Außerdem geriet er nie in Panik, ärgerte sich nicht und regte sich auch nicht unnötig auf. Er zermarterte sich niemals den Kopf über irgendeine Chose und verfiel auch sonst nicht in lächerliche Gefühlsduseleien. Wenn er sich erst einmal dazu entschlossen hatte, zu sündigen, dann tat er das mit Stil und mit einer Gelassenheit, um die ihn alle Schurken Londons beneideten. Außerdem bereute er nie eine seiner Taten im Nachhinein.
Oh, er hätte bestimmt schon einmal Reue zeigen müssen. Und es gab sicherlich eine Passage in der Bibel oder sonst wo, die davor warnte, dass die begangenen Sünden eines Mannes ihn früher oder später stets einholen würden. Trotzdem schien es nicht viel Sinn zu machen, sich über eine vage Bestrafung, die irgendwo in der Zukunft lauerte, Sorgen zu machen. Vor allem dann nicht, wenn die Sünden der Gegenwart doch bereits mit der brutalen Wucht einer führerlosen Kutsche auf ihn zu donnerten.
„Es wird spät, Euer Gnaden, und ich habe heute Abend noch eine andere Verabredung. Außerdem bin ich mir sicher, dass Ihr es kaum erwarten könnt, zu dem glänzenden neuen Spielzeug zurückzukehren, das es geschafft hat, Eure Aufmerksamkeit zu erregen. Ich könnte mir denken, dass Ihr mich bereits ersetzt habt. Es kümmert Euch ja eh nicht, wenn Ihr mich auf so grausame Weise demütigt, oder, Montford?“
„Ah, sind wir wieder einmal an diesem Punkt angelangt, Mylady? Ja, ich bin ein Wüstling und ein Schuft, ein Mann, der zu keinen wahren Gefühlen und keinerlei Sanftheit fähig ist. Ein kaltherziger Unhold, der seine Geliebten behandelt, als wären sie nichts weiter als Spielzeuge.“
Und so weiter und so fort. Das war die übliche Strafpredigt, die sie ihm wieder einmal angedeihen ließ. Zu guter Letzt waren gerade diese übertriebene Theatralik und ihre endlosen Schuldzuweisungen der Grund dafür gewesen, dass er ein für beide Seiten doch recht angenehmes Arrangement beenden musste. Nun, das und die Tatsache, dass sie die Aufmerksamkeiten anderer Gentlemen doch zu sehr genoss. Er war noch nie besonders gut darin gewesen, etwas mit anderen zu teilen. Ein Elend, das leider Gottes bei kleinen Kindern und Herzögen weit verbreitet war.
„Ihr seid ein Biest, Montford.“ Selina machte einen Schmollmund, ihre Unterlippe bebte. Noch vor einem Monat hätte dieser Schmollmund seine Leidenschaft derart entfacht, dass er Hals über Kopf mit ihr ins nächste Bett getaumelt wäre. Aber jetzt konnten ihn ihre Darbietungen nicht mehr täuschen.
Jetzt ließen sie ihn kalt. „Ein Biest, ja, in der Tat. Und wenn ich mich recht erinnere, hat Ihnen das früher besonders gut an mir gefallen.“
„Ist Spott das Beste, was Ihr zu bieten habt, Montford? Und das, nachdem wir einander einmal so viel bedeutet haben? Nachdem wir monatelang nur wirklich gelebt haben, wenn wir in den Armen des Anderen lagen?“
„Nanu, auf einmal so romantisch, Selina? Aber erlauben Sie mir, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie auch ziemlich lebendig wirkten, als Sie mir Ihre Haarbürste an den Kopf geworfen haben. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie zu diesem Zeitpunkt in meinen Armen gelegen hätten.“
„Oh! Ich wusste, dass Ihr mir das an den Kopf werfen würdet!“
„Und doch werfe ich nur mit Worten um mich. Die tun nicht ganz so weh wie Ihre Haarbürste.“
Selinas Gesicht verdunkelte sich und zwei unschöne Flecke zeigten sich auf ihren Wangen. „Das war’s dann also, Montford? Vorwürfe und Anschuldigungen sind alles, was bleibt? Sonst habt Ihr nichts weiter zu sagen?“
„Nicht das Geringste. Ich glaube, Sie haben mehr als genug für uns beide gesagt.“ Je weniger er jetzt noch von sich gab, desto schneller würde er sie für immer los sein.
„Nun, ich weiß gar nicht, warum mich das noch überrascht.“ Ein höhnisches Lächeln verzerrte Selinas hübsches Gesicht. „Mein Fehler war, zu glauben, dass Euch meine Gefühle wichtig sind, aber Ihr sorgt Euch nur um Eure eigenen egoistischen Vergnügungen.“
„Dann sind Sie bestimmt froh, mich jetzt los zu sein, nicht wahr?“ Ihm ging es jedenfalls so. Endlich war er sie los. Und das keinen Moment zu früh. Nach einer Stunde mit Selina schmerzte sein Kopf nämlich, als hätte sich ein Rudel kleiner Teufelinnen in den Adern an seinen Schläfen eingenistet, wo sie mit winzigen Dreizacken auf ihn einstachen.
Sollte es nicht eigentlich angenehm sein, eine Geliebte zu haben? Und hatte es nicht auch eine Zeit gegeben, als er von Selinas Lächeln einfach hingerissen war? Ja, das musste wohl so gewesen sein, doch war es nun mehr nur noch eine verschwommene Erinnerung, eine Fata Morgana, die knapp außerhalb seiner Reichweite in der Luft flirrte und schimmerte.
„In diesem einen Punkt, Euer Gnaden, stimmen wir wahrlich überein.“ Sie warf ihren Kopf zurück und ihre dunklen Locken fielen über ihre Schultern. „Wie ich bereits sagte, habe ich heute Abend noch eine weitere Verabredung. Ich kann nicht die ganze Nacht hier rumsitzen, während Ihr Euch Gedanken über Eure Karten macht.“
„Es liegt mir gänzlich fern, Sie noch weiter von Ihren Vergnügungen abzuhalten, Mylady.“ Er fuhr mit dem Finger unter den feuchten Stoff seines Halstuchs, das an seiner Haut klebte. Die goldenen Ohrringe glänzten matt im Schein des Feuers. Verziert waren sie mit riesigen tropfenförmigen Rubinen, die ihm wie ein Paar blutroter Augen zuzwinkerten. Ein funkelndes Symbol seiner eigenen Torheit.
Die Ohrringe waren Teil einer Parüre, die er ihr in den frühen, noch glücklichen gemeinsamen Tagen als Zeichen seiner Zuneigung geschenkt hatte. Diese Rubine waren nicht mehr als verschwenderischer Tand. Auch was sie gekostet hatten, war nicht wichtig. Juwelen kamen und gingen. Genau wie Geliebte. Und die anderen Schmuckstücke – eine herrliche Rubinkette und ein Set Kämme bestückt mit Rubinen und Diamanten – waren ihm tatsächlich herzlich egal. Diese konnte sie ruhig behalten, sogar mit seinem Segen.
Aber was die Ohrringe anging, so war es eine völlig andere Sache.
Wenn es sich dabei nur um gewöhnliche Juwelen gehandelt hätte, könnte sie diese als Zeichen seines einst brennenden Verlangens einfach behalten, doch war an diesen Rubinen nichts gewöhnlich. Er hatte sie ihr zu einem Zeitpunkt geschenkt, als er von unbändiger Lust nach ihr gequält wurde und nichts Geringeres als der … äh, intimste Ausdruck seiner Wertschätzung für die bezaubernde Selina angemessen schien. Es hatte ihn erregt, sie an ihren Ohren baumeln zu sehen, da er wusste, was sich in ihnen verbarg.
Und nun hing sein guter Ruf davon ab, dass er die Ohrringe zurückbekam. Verdammt, was war er doch für ein Idiot gewesen, einer Schlange wie Selina eine derartige Waffe zu überlassen. Aber es gab eben nichts Dämlicheres als einen Mann, der mit seinem Schwanz dachte.
Nur mit Hilfe einer noch wertvolleren Saphir-Parüre hatte er sie überreden können, die Rubinohrringe heute zum Wetteinsatz zu machen. Zuerst hatte sie abgelehnt und so getan, als würde sie es nicht ertragen, sich von einem Geschenk zu trennen, das er ihr zu Beginn ihrer erblühenden Liebe gemacht hatte.
Erblühende Liebe, natürlich. So ein Unsinn. Selina verstand nur eine Art von Liebe, und das war die Liebe zum Geld. Was die wahre Liebe anging – die mit Herzchen und Blümchen, sehnsüchtigen Seufzern und atemlosen Küssen -, die würde sie nicht einmal erkennen, wenn sie sich vor ihr aufbäumte und ihr einen Tritt verpasste.
Ihm allerdings würde es wohl genauso gehen. In dieser Hinsicht waren Selina und er gleich. Was für ein ernüchternder Gedanke. Aber wenigstens teilte er nicht ihre Boshaftigkeit. Sein Herz war zwar undurchdringlich, ja, doch war es nicht so ein schwarzes, verschrumpeltes Ding, wie jenes, das in den kalten Tiefen von Selinas Brust lauerte.
Doch auch wenn Selina die Dienerin des Teufels war, so war sie keine Närrin.
Die Rubinohrringe waren wie ein Knüppel, wie das Schwert des Damokles, das über ihm hing, wie eine Klinge an seiner Kehle. So lange sie sich in ihrem Besitz befanden, besaß sie die Macht über ihn – und das wusste sie nur zu gut. Sie wollte sie also so unbedingt behalten, wie er sie ihr entreißen wollte.
Nicht, weil sie sie liebte, sondern weil sie ihn verachtete.
Zu seinem Glück gab es aber noch eine Sache, die Selina mehr liebte als Rache.
Juwelen. Vor allem für Saphire hatte sie eine besondere Schwäche. Denn diese betonten das tiefe Blau ihrer Augen so vorteilhaft. Letztlich war die Verlockung der Saphir-Parüre zu groß gewesen, um ihr nicht nachzugeben. Und so lagen die Juwelen nun da, ein Vermögen, achtlos auf dem Tisch zwischen ihnen verstreut.
„Los, Euer Gnaden.“ Scheinbar gleichgültig betrachtete Selina ihre Fingernägel. „Zeigt Eure Karten, oder gebt auf.“
Er warf einen Blick auf seine Karten. Eine Dame, eine Sieben und eine Drei. Zwanzig Punkte. Das war keine schlechte Hand, ja, doch Selina hatte, wie alle von Satans Jüngern, meistens wahrhaft teuflisches Glück. Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Karten zu zeigen und darauf zu hoffen, dass sie kein Ass gezogen hatte.
Er breitete sie also auf dem Spieltisch aus. „Zwanzig, Mylady.“
Selina wurde erst blass, dann färbte sich ihr Gesicht rot. Er hielt den Atem an, als sie langsam und immer langsamer ihre Karten auf den Tisch legte.
***
„Verflixt noch mal!“ Prue schnappte sich ihren ruinierten Brief, knüllte ihn zusammen und warf ihn schließlich verstimmt auf den Boden neben die vier anderen zerknitterten Papierstücke. Das Feuer im Kamin war längst zu Asche verglüht, und als sie durch die großen Glastüren hinter dem Schreibtisch blickte, sah sie, dass der Garten schon in ein tintiges, undurchdringliches Schwarz getaucht war. Doch all ihre Bemühungen hatten nur zu ein paar gekritzelten Zeilen und einem Haufen tintenbeflecktem Papier geführt.
Egal, wie viel sie vor sich hin kritzelte, ihr Gehirn weigerte sich, auch nur eine einzige Zeile eines fröhlichen, amüsanten Briefes auszuspucken. Sie hatte sich vorgestellt, dass ihre Gedanken einfach aus der Spitze ihrer Feder fließen würden, doch jetzt hatte sie stattdessen nur das Arbeitszimmer des Duke of Basingstoke in Unordnung gebracht. Er würde seine Großzügigkeit ihr gegenüber sicherlich bereuen, wenn er morgen früh an seinem Schreibtisch saß und ein ausgetrocknetes Tintenfass und eine leere Schublade vorfand, die vorher noch voll mit Papier gewesen war.
Sie hatte es wirklich versucht. Doch nun saß sie schon seit Stunden hier, ihre Feder schwebte über einem weißen Blatt Papier, und auch ihr Kopf war ähnlich blank. Es fanden sich dort einfach keine Worte. Das Problem war simpel: Sie hatte nichts zu sagen. Nun, nein, ganz so war es denn auch nicht. In ihrem Kopf tummelten sich tatsächlich viele nebulöse Gedanken, die sie zu einer düsteren, dramatischen Geschichte hätte ausschmücken können. Zu einer Geschichte über all die Übel, die mittellosen jungen Damen widerfuhren, die sich selbst überschätzten und mit dem Adel durch London zogen, obwohl sie lieber zu Hause hätten bleiben sollen.
Aber sie wollte ihren Vater nicht mit ihren schrecklichen Aussagen belasten. Das würde ihn nur beunruhigen, und er hatte in den letzten Monaten schon genug Sorgen gehabt. Genug für ein ganzes Leben. Nein, nur sonnige, optimistische Gedanken waren jetzt angebracht. Ihr würde doch wohl irgendwas Erfreuliches einfallen?
Ihre Reise von Wiltshire hierher war immerhin angenehm gewesen, es hatte nicht geregnet und die Straßen zeigten sich in einem guten Zustand. Auch die Aussicht war wunderschön, denn die englische Landschaft erstrahlte in ihrem besten gold-grünen Sommerkleid. Die Kutsche des Herzogs war bequemer als jede andere, in der sie je gereist war – wirklich erstaunlich, was für einen Unterschied eine bessere Federung doch ausmachte. Außerdem erlaubte der Kutscher nur die besten Pferde in der Nähe seiner Equipage.
Ja, darüber könnte sie schreiben. Ihr Vater hatte sich schließlich schon immer für Pferde interessiert.
Sie nahm also ein frisches Blatt Papier aus der Schublade, tauchte ihre Feder sorgfältig in die Tinte, ignorierte die Verkrampfung in ihrem Nacken, beugte sich über ihre Aufgabe und ließ die Feder über das Blatt gleiten.
Ihre liebe Freundin Franny, die nach einer märchenhaften Wendung des Schicksals nun die Duchess of Basingstoke war, erfreute sich bester Gesundheit, ebenso wie ihr Ehemann, der Herzog, und ihr acht Monate alter Sohn Giles Frederick Charles Alexander Drew, der zukünftige Duke of Basingstoke.
Ein wahrlich langer Name für so ein winziges Kerlchen – aber so war das nun mal bei Herzögen. Das hinreißende lachende Engelchen wurde Freddy genannt. Er war ein kleiner Prinz, gesegnet mit den strahlend blauen Augen seiner Mutter, dem lockigen goldenen Haar seines Vaters und einem süßen zahnlosen Lächeln.
Ja, das war doch schon sehr gut. Am besten, sie konzentrierte sich nur auf solch angenehme Dinge. Das Abendmenü, die Mätzchen des Babys, harmloser Tratsch und dergleichen.
Sie tauchte ihre Feder erneut in das Tintenfass und machte sich daran, die vorzüglichen Curry-Eier, die es heute Abend gegeben hatte, und die Schönheit der noch blühenden Rosen in den Gärten zu beschreiben. Aber sie war gerade mal bis zu ‚ein spektakuläres Aufgebot von zartem Rosa‘ gekommen, als die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen wurde und ein Wirbelwind in dunkler Abendkleidung in das Zimmer stürmte.
„Wie geht es Ihnen, Basingstoke?“
Ihre Hand erstarrte, doch ihre Finger umklammerten die Feder so fest, dass sie ein Loch in das Papier darunter riss und sich eine dunkle Tintenlache unter der Feder ausbreitete.
Diese Stimme. Es machte überhaupt keinen Unterschied, dass sie ihn seit über acht Monaten nicht mehr hatte sprechen hören und es damals auch nur ein paar Dutzend Worte gewesen waren.
Sie würde diese Stimme überall erkennen. Seit ihrer katastrophalen ersten Saison hatte sich diese Stimme jedes Mal, wenn ihr Kopf das Kissen berührte, heimtückisch in ihre Träume eingeschlichen.
Jasper St Vincent, der Duke of Montford.
Schurke. Wüstling. Halunke. Bösewicht.
Sie hatte keinen einzigen Moment der Ruhe mehr gehabt, seit ihr Vater letztes Jahr bei einer Partie Pikett auf Lord Hastings Ball tausendfünfhundert Pfund an Seine Gnaden, den Duke of Montford, verloren hatte.
Ganze tausendfünfhundert Pfund, verloren an einem einzigen Abend. Puff, und einfach so waren sie weg, in Luft aufgelöst, als hätte ein Zauberer seinen Zauberstab darüber hin und her gewedelt.
Besser gesagt, sie hatten sich nicht in Luft aufgelöst, sondern waren in den Taschen des Duke of Montford verschwunden.
Wegen dieses Wetteinsatzes war Lord Hastings Ball sowohl der erste als auch der letzte ihrer Saison gewesen. Sie und ihr Vater hatten kaum Zeit gehabt, ihre Koffer in ihrer gemieteten Unterkunft auszupacken, bevor sie auch schon wieder zurück in Wiltshire waren. Und das mit einer weitaus angespannteren finanziellen Lage als bei ihrer Abreise.
Ihr Vater hatte die Wette wohl nur schlecht durchdacht und es ergab tatsächlich keinerlei Sinn, dass er sie überhaupt eingegangen war. Major Thomas Thorne war kein Mann, der Geld verwettete, das er gar nicht hatte.
Das heißt, er war es nie gewesen, bis er dem Duke of Montford begegnet war.
Sie entschuldigte das Verhalten ihres Vaters dabei genauso wenig wie er es sich selbst verzeihen konnte. Sie hatte ihn noch nie so beschämt gesehen wie damals, als er ihr alles gestanden hatte. Zum ersten Mal, soweit sie sich erinnern konnte, sah man ihm jedes seiner fünfzig Lebensjahre an.
Das war einer ihrer schrecklichsten Momente gewesen.
Schon bald nach ihrer Ankunft in London musste ihr Vater erkennen, dass die Kosten für ihre Saison seine Mittel bei Weitem übersteigen würden. Dennoch wollte er die Sache unbedingt durchziehen, ihr zuliebe. Das Schlimmste daran war, dass sie doch nicht einmal bei dieser Saison dabei sein wollte. Sie war wohl die letzte Frau auf dieser weiten Welt, die in einem engen Seidenkleid durch einen großen Ballsaal wirbeln sollte. Aber da waren sie nun, in London, und durch eine schreckliche Wendung des Schicksals im selben Ballsaal wie der Duke of Montford.
Die Verzweiflung ihres Vaters hatte, wie vorherzusehen war, zu katastrophalen Ergebnissen geführt.
Aber die Hauptschuld an ihrem Ruin musste doch wohl der Duke of Montford auf sich nehmen? Er war schließlich dafür bekannt, stets hoch zu pokern. Ein Mann, der so oft wettete, musste also auf den ersten Blick bemerkt haben, dass ihr Vater kein Spieler war. Und trotzdem hatte er sich mit ihm an einen Tisch gesetzt und ihm innerhalb weniger Stunden jeden Penny abgeknöpft.
Nein, mehr als das. Jeden Penny, den sie hatten, und jeden Penny, auf den sie jemals hätten hoffen können.
„Mein Gott, das war ein verdammt desaströser Abend.“ Montford warf sich in einen der Sessel, die vor dem Kamin standen, und legte seine in Stiefeln steckenden Füße auf den Tisch vor sich. All das ohne auch nur einen Blick in Richtung des Schreibtisches zu werfen. „Sie werden nicht glauben, wo ich war, Basingstoke.“
Ihre Gedanken begannen zu schwirren. In einem Bordell in Covent Garden vielleicht? Oder in einer Spielhölle in der St James’ Street? Im Schlafzimmer seiner Geliebten? Sie legte die Feder zur Seite und stand mit einem unterdrückten Seufzer auf. Sie sollte ihn jetzt besser in seinen Ausführungen stoppen, bevor er seine Ausschweifungen noch in den schillerndsten Farben schildern konnte. „Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden, aber ich bin nicht der Duke of Basingstoke.“
Was ja eigentlich ganz offensichtlich sein sollte.
Montford schielte über seine Schulter. Als er sie erblickte, sprang er auf und drehte sich geschwind zu ihr um. „Sie!“
„Ja, in der Tat, ich bin es. Miss Prudence Thorne, Euer Gnaden.“ Widerwillig machte sie einen Knicks. „Wir haben uns zum Ende der letzten Saison im Theater kennengelernt“, fügte sie noch hinzu, da er sich sicherlich nicht an jemanden so Unbedeutenden wie sie erinnern würde.
Er stieß ein ungeduldiges Schnauben aus. „Ich weiß, wer Sie sind, Miss Thorne. Was ich nicht weiß, ist, wo zum Teufel Sie herkommen und was Sie hier tun.“
„Ich komme aus Wiltshire und habe hier einen Brief geschrieben, wenn Ihr es denn unbedingt wissen müsst.“
„In Basingstokes Arbeitszimmer? Wie ungewöhnlich.“ Er warf sich zurück in seinen Sessel und seine Stiefel landeten mit einem dumpfen Geräusch wieder auf dem Tisch. „Wo also ist Basingstoke? Er hätte mich warnen können, dass Sie nach London kommen.“
Tja, es musste sicherlich unangenehm sein, wenn einen sein Erzfeind aus der Dunkelheit ansprang, nicht wahr? Nur der Himmel wusste, was er ihr gerade beinahe gestanden hätte. Andererseits hatte Montford wahrscheinlich keine Ahnung, dass sie wirklich seine Erzfeindin war. Tausendfünfhundert Pfund waren für ihn doch nur ein Taschengeld und kein Grund, einen Groll gegen ihn zu hegen. „Der Herzog und die Herzogin haben sich bereits zurückgezogen. Ich glaube, sie haben nicht mehr mit Eurem Erscheinen gerechnet, da Ihr heute Abend nicht zum Dinner gekommen seid.“
Er blinzelte. „Das war heute Abend?“
Seine langen dunklen Wimpern berührten seine Wangen, was sie unverständlicherweise völlig aus dem Konzept brachte. Und so fiel ihre Antwort schärfer aus, als sie eigentlich sein müsste. „Das war es in der Tat. Wenn Ihr wie angekündigt auch aufgetaucht wäret, hättet Ihr Euch auch nicht so über meine Anwesenheit erschrecken müssen, und …“
„Soll das etwa ein längerer Vortrag werden, Miss Thorne?“ Gähnend ließ er seinen Kopf gegen die Sessellehne fallen. „Wenn ja, macht es Ihnen doch sicherlich nichts aus, dass ich derweil ein Nickerchen halte, oder?“
Was für ein Ekel! „Es ist mir egal, was Ihr macht, Euer Gnaden, obwohl man sich schon fragen könnte, warum Ihr, wenn Ihr doch so erschöpft seid, nicht in Euer eigenes Haus zurückkehrt.“
Er blickte einen Moment lang zu ihr auf, bevor ein Grinsen seine Lippen kräuselte. Und während sie sich darüber ärgerte, machte er es sich in dem Sessel noch bequemer und streckte die langen Beine von sich. „Nein, nein, ich bin hier ganz zufrieden. Also, Miss Thorne, was führt Sie nach London? Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise von … äh, von …“ „Wiltshire, Euer Gnaden, wie schon gesagt. Das ist eine kleine Grafschaft im Südwesten Englands, in der Nähe von Trowbridge. Vielleicht habt Ihr schon einmal davon gehört?“
„Das kommt mir vage bekannt vor, ja. Ich glaube, ich habe mir dort einmal einige alte Steine angesehen, die früher eine Art Begräbnisstätte oder so etwas waren. Wirklich furchtbar langweilig. Ich hoffe, Sie haben den ganzen Weg von Trowbridge hierher nicht nur für Basingstokes Dinnerparty auf sich genommen.“
Pff, wie absurd. „Es ist eine zweitägige Reise von Trowbridge nach London, Euer Gnaden. Ihr nehmt doch nicht wirklich an, dass ich diese beschwerliche Reise nur für einen Teller gebratenes Geflügel auf mich nehme.“
Er zuckte mit den Schultern. „Warum denn nicht? Das gebratene Geflügel von Basingstokes Koch ist exzellent.“
Sie warf einen Blick auf ihren unfertigen Brief, der auf dem Schreibtisch lag, und unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Um Himmels willen, hatte er wirklich vor, sie hier herumstehen zu lassen, während er über die Vorzüge von gebratenem Geflügel plauderte? „Ich bin auf Frannys … also, Ihrer Gnaden Einladung hier. Aber was geht Euch das eigentlich …“
„Ihr Timing scheint etwas daneben, Miss Thorne.“ Er musterte sie und schlug seine langen Beine übereinander. „Jetzt, wo die Saison vorbei ist, ist London so langweilig wie ein Grab.“ „Die Saison kümmert mich nicht, Euer Gnaden.“ Und das war noch milde ausgedrückt. Die Wahrheit war, dass sie lieber sterben würde, als jemals wieder einen Fuß in einen Ballsaal Londons zu setzen. Franny hatte ihr zwar angeboten, die Kosten ihrer zweiten Saison zu übernehmen, aber sie hatte abgelehnt. Nicht nur, weil sie nicht wollte, dass ihre Freundin so viel Geld für sie ausgab, sondern auch, weil sich ihr schon beim bloßen Gedanken an eine weitere Saison der Magen umdrehte.
„Dem mag so sein, aber wenn Sie auf der Jagd nach einem Ehemann sind, Miss Thorne, haben Sie Ihre Chance verpasst. Sie hätten schon vor Wochen kommen sollen.“
Meine Güte, damit kam er der Wahrheit für ihren Geschmack doch etwas zu nahe, oder? „Ich habe Euch doch gerade gesagt, dass ich nach London gekommen bin, um die Herzogin zu besuchen. Wie seltsam, dass Ihr daraus schließt, ich sei nach London gekommen, um einen Ehemann zu finden. Ich wüsste nicht, wie Ihr zu dieser Annahme kommt.“
Das war natürlich nicht die Wahrheit. Ihr fielen sogar tausendfünfhundert Gründe ein, und wenn der Herzog auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, würde er ihr viel Glück für ihre ehelichen Bestrebungen wünschen. Wenn sie keine vorteilhafte Partie machte, könnte er die letzten fünfhundert seiner tausendfünfhundert Pfund gleich vergessen, da er keinen Penny davon jemals zu Gesicht bekäme.
Ihr Vater war ein stolzer Mann und er würde stets alles unternehmen, um eine Ehrenschuld zu begleichen. Deswegen hatte er bereits das Grundstück, das ihr kleines Anwesen umgab, an einen benachbarten Gutsherrn verkauft, der es nur ihnen zuliebe gekauft hatte. Doch das Land brachte nur tausend Pfund ein. Sie schuldeten Montford also noch die restlichen fünfhundert. Außer ihrem Haus und ihren geliebten Besitztümern besaßen sie jedoch nichts mehr, das sich noch zu verkaufen lohnte.
Selbst wenn sie das an den Mann bringen könnten, würde es möglicherweise trotzdem nicht genug Geld einbringen, um die Schulden zu begleichen. Und was würde dann aus ihnen werden? Man konnte eben aus einem Stein kein Blut pressen, egal wie sehr man es versuchte. Und wenn Thornewood erst einmal weg war, was dann? Wohin sollten sie dann gehen?
Oh, es war nicht auszudenken.
„Ach, kommen Sie, Miss Thorne. Es gibt keinen Grund, sich so zu zieren. Jede unverheiratete Dame in England ist doch hinter einem Ehemann her. Am besten noch einen wohlhabenden mit Adelstitel.“
„Ganz im Gegenteil, Euer Gnaden. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, das lästiger ist als ein Ehemann.“ Das stimmte zwar, aber dass sie keinen Ehemann wollte, ob wohlhabend oder nicht, war in ihrer Situation völlig egal. Sie würde gezwungen sein, einen zu finden, und das war alles nur die Schuld des Duke of Montford.
„Eine Ehefrau beispielsweise.“ Er legte den Kopf wieder an die Lehne seines Sessels und starrte finster an die Decke. „Es ist schon seltsam, Miss Thorne, aber genau die Damen, die behaupten, dass sie partout nicht heiraten wollen, ändern unweigerlich ihre Meinung, sobald sie einen erst mal in ihre Krallen bekommen haben.“
Grundgütiger, gab es überhaupt einen arroganteren Mann als ihn? Zweifellos dachte er, dass jede junge Lady in England nur darauf aus war, die Duchess of Montford zu werden.
Nun ja, vielleicht waren sie das auch. Aber sie gehörte nicht dazu. „Keine Sorge, Euer Gnaden. Londons Gentlemen sind vor meinen Klauen sicher. Ich bin nur hier, um die Herzogin zu besuchen. Und das ist auch schon alles.“
Natürlich war das bei Weitem nicht alles, aber der Duke of Montford musste nun wirklich nichts über ihre Heiratspläne erfahren. Oder genauer gesagt, über die Heiratspläne, die Franny für sie schmiedete. Oh, er würde es schon bald genug noch herausfinden – so wie jeder andere Schurke und jedes Klatschmaul in London.
In der feinen Gesellschaft gab es schließlich keine Geheimnisse.
Bis dahin hatte sie jedoch keinesfalls vor, ihn in ihre Gründe für ihren Aufenthalt in London einzuweihen. Es war schon schlimm genug, dass sie bei diesem Besuch von seiner lästigen Anwesenheit geplagt werden würde. Da er ein guter Freund des Duke of Basingstoke war, ließ sich das jedoch leider nicht ändern.
Aber er war nicht ihr Freund, und so gab es keinen Grund für sie, noch länger hier herumzustehen und mit ihm zu schwatzen. „Wenn Ihr mich entschuldigt, Euer Gnaden, so werde ich mich für heute Abend zurückziehen.“
„Sie können gehen, Miss Thorne.“ Seine Augen waren geschlossen und er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, sie zu öffnen. Stattdessen wedelte er nur mit der Hand, als würde er einen Diener entlassen. „Also, ab ins Bett mit Ihnen.“
Sie wandte sich zum Gehen, aber noch bevor sie die Tür erreichen konnte, ließ ein tiefes, dröhnendes Brummen sie innehalten. Sie drehte sich wieder um und sah, dass der Duke of Montford immer noch in seinem Sessel lümmelte, sein Kopf lag im Nacken und sein Mund stand weit offen.
Er schnarchte! Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken.
Wie peinlich für ihn! Und so wenig … herzoglich.
Sie könnte jetzt nett sein und ihn wecken, damit er sich auf den Heimweg machte, aber letztlich schuldete sie dem Duke of Montford keinerlei Freundlichkeit. Also ließ sie ihn einfach dort, wo er war, vor einem fast erloschenen Feuer, mit seinen Stiefeln auf dem Tisch und seinem Kopf in einem merkwürdigen Winkel an den Sesselrücken gelehnt.
Es war einfach zu perfekt.
Sie huschte zur Tür hinaus und eilte die Treppe hinauf in ihr Schlafgemach. Und wenn sie ihm einen schmerzenden Rücken und einen steifen Nacken wünschte, nun ja, niemand außer ihr würde das je erfahren.
Kapitel 2
Der beißende Schmerz begann unter Jaspers linkem Ohr. Dieses eisige Brennen allein hätte schon gereicht, um ihn aus dem Schlaf zu reißen, aber leider hörte der Schmerz dort noch nicht auf. Vielmehr zog er sich von seinem Hals bis zur Vertiefung zwischen seinen Schulterblättern und zog sich weiter bis zur Mitte seines Rückens.
Dort saß er fest, pochte so stark, dass davon Tote auferweckt worden wären.
Es war wieder diese Schurkin, die mit den glitzernden roten Rubinen anstelle der Augen. Sie schlich in der Dunkelheit umher, den glasigen Blick auf ihn geheftet. Ihre geschwungenen Lippen waren zu einem schauerlichen Lächeln verzogen, das scharfe glänzende Zähne entblößte. Sie hatte eine Klinge tief in seinen Nacken gestoßen, genau dort, wo er in die Schulter überging, und nun drehte und drehte sie die Klinge …
Er stöhnte vor Schmerzen auf. „Verschwinde, Hexe, und lass mich schlafen!“
Doch die Schurkin antwortete nicht, und als er blindlings nach dem Messer in ihren Händen schlug, griff er nur ins Leere. Eine unsichtbare Halunkin also, die mit einem ebenso unsichtbaren Messer hantierte. „Loftus, die Schurkin ist wieder in meinem Schlafgemach. Werfen Sie sie sofort hinaus, ja?“
Seltsamerweise antwortete Loftus nicht. Dabei huschte sein Diener morgens eigentlich immer herum, klopfte Mäntel aus, schärfte Rasiermesser und erledigte sonst noch was. Hatte die Schurkin etwa auch den armen Loftus erstochen?
Das durfte nicht sein. Nicht nur, weil Loftus eine so freundliche, sanftmütige Seele von Mensch war und einen derart blutigen Tod nicht verdient hatte, sondern auch, weil Jasper niemals wieder einen Diener finden würde, der sich so hervorragend um seine Wäsche kümmerte. „Loftus? Sind Sie da?“ Immer noch keine Antwort. Dafür wurde das Messer immer tiefer in seinen Hals gedreht, sein Blut spritzte aus der klaffenden Wunde. Er konnte es schmecken, dick und kupfern auf seiner Zunge. Als Nächstes würde sie ihm die Augen ausstechen, dann sein Herz auf die Spitze ihres Messers spießen, und sein Großvater würde mit seiner übel zugerichteten Leiche zurückbleiben …
„Nein!“ Sein eigener Schrei weckte ihn. Er rappelte sich auf, die Erinnerung an den Traum klebte noch an ihm, und er versuchte die Benommenheit mit einem Kopfschütteln loszuwerden.
Hier gab es keine roten Augen, die ihn anfunkelten, nur ein paar Kohlen glühten noch im Kamin.
Das war nicht nur ein Traum gewesen, sondern ein wahrhafter Albtraum. Nur ein Albtraum, blutiger zwar als der letzte, aber die Schurkin existierte nicht, es gab kein Messer und keine … Kissen?
Wo zum Teufel waren seine Kissen geblieben? Und warum war es so verdammt kalt in seinem Schlafgemach? Er fiel zurück auf das Bett und legte einen Arm über seine Augen. „Jemand hat meine Kissen mitgenommen, Loftus. Holen Sie sie zurück, ja? Und schüren Sie das Feuer! Seien Sie so gut.“
Doch er erhielt immer noch keine Antwort. Was war bloß mit Loftus los? Er war doch immer schon in seinem Schlafgemach, wenn Jasper aufwachte, wich ihm nicht von der Seite und kümmerte sich um seine Kleidung.
Er drehte sich um, aber die andere Hälfte seines Bettes war ebenfalls verschwunden. Und so schlug er mit einem lauten Bums auf den Boden auf und zuckte zusammen, als der Schmerz in seiner Hüfte explodierte. „Hölle und Verdammnis!“ Er versuchte seine verklebten Augenlider zu öffnen, blinzelte ein paar Mal und konnte schließlich auf die Balkendecke über seinem Kopf blicken.
Balken? Nein, da stimmte etwas nicht.
Verdammt, jemand hatte seinen Diener, seine Kissen und seine grünen Seidenbettvorhänge geklaut, und jetzt waren da auch noch Balken, wo vorher keine gewesen waren.
Entweder das, oder … Er blinzelte erneut.
Wo war er? Jedenfalls nicht in seinem Schlafzimmer, das war sicher. Gütiger Gott, war er doch in Selinas Ankleidezimmer eingeschlafen? Das würde die rotäugige Dämonin und die Stichwunde an seinem Hals erklären, aber nein, er erinnerte sich deutlich daran, dass er gestern Abend ihr Stadthaus verlassen und Knapp angewiesen hatte, ihn zur Park Lane zu fahren.
Ah, richtig! Jetzt wusste er es wieder. Er war in Basingstokes Arbeitszimmer.
Er musste in dem Sessel eingeschlafen sein. Er kämpfte sich mühsam auf die Knie und hievte sich hoch. Sein Mantel, sein Halstuch und seine Weste lagen zusammengeknüllt am Fuß einer Chaiselongue, die in der Nähe stand. Dort musste er sie wohl gestern Abend hingeworfen haben. Aber natürlich war er nicht so vernünftig gewesen, sich auf den Haufen zu legen, und nun schmerzten sein Nacken und sein Rücken höllisch.
Er brauchte unbedingt ein Bad, eine Tasse Tee und sein Bett. Aber durch die Glastüren hinter Basingstokes Schreibtisch fiel nur ein schwacher Lichtschein herein. Im Haus war es still, sogar die Bediensteten lagen offenbar noch in ihren Betten. Es konnte also nicht später als vier oder fünf Uhr morgens sein. Und tatsächlich, nur einen Augenblick später schlug die Uhr auf dem Kaminsims vier Mal und bestätigte seine Vermutung.
Nun gut. Wenn er nicht Basingstokes Diener aus dem Bett holen und eine Kutsche verlangen wollte – das würde ihn wirklich unbeliebt machen –, musste er sich vorerst mit der Chaiselongue und einem Glas von Basingstokes sehr gutem Brandy begnügen. Es war zwar nicht gerade das Richtige, in den frühen Morgenstunden Brandy zu trinken, aber es würde dabei helfen, sich die Zeit zu vertreiben und den Schmerz in seinem Nacken zu lindern.
Er stand also auf, stolperte fluchend durch das Zimmer, nahm ein Glas vom Serviertisch und schob Basingstokes Kristallkaraffen hin und her, bis er den Brandy gefunden hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck und wandte sich dann um, wollte zu der Chaiselongue zurückkehren, blieb jedoch stehen, als er Basingstokes Schreibtisch erreicht hatte.
Darauf lag ein halbfertiger Brief, und vier oder fünf zerknüllte Seiten, übersät mit dunklen Tintenflecken, waren auf dem Boden verstreut.
Ah ja. Miss Thorne. Wie hatte er Miss Prudence Thorne vergessen können?
Er vergaß nie ein hübsches Gesicht. Und kaum eine Dame in London konnte sich mit Miss Thornes anmutiger kleiner Nase, dem weichen, hübschen Schwung ihres Kinns, den großen grün-grau-braunen Augen und dem ungewöhnlichen goldbraunen Farbton ihres Haares rühmen, der ihn an warmen Honig erinnerte.
Nur eine einzige Lady in ganz England hatte solche Haare und solche Augen, aber der sanften Zartheit ihres Gesichts zum Trotz besaß sie doch ein teuflisches Wesen.
Eine wie sie konnte man unmöglich vergessen, das stand fest. Miss Prudence Thorne. Die Tochter von Major Thomas Thorne, dem er in der letzten Saison auf Lord Hastings Ball eine stattliche Summe Geld abgeknöpft hatte. Miss Prudence Thorne, die liebe Freundin der Duchess of Basingstoke und offensichtlich deren Gast in London, und wahrscheinlich auch Teil der Jagdgesellschaft, die Anfang nächster Woche in Basingstokes Landhaus stattfinden würde.
Miss Prudence Thorne, die ihn mit einer Verachtung betrachtete, die so tief wie ein Ozean war.
Sie zu necken, war das einzig Erfreuliche an diesem Abend gewesen. Leider war es ihm nicht ganz gelungen, sie in Rage zu versetzen, obwohl er es fast geschafft hatte. Ihr feuriges Temperament brodelte direkt unter der Oberfläche und hatte ihre weiße Haut schon zart rot gefärbt.
Also wirklich, die Dame tat sich keinen Gefallen, wenn sie so streng zu sich war und sich unbedingt zusammenreißen wollte. Es würde herrlich sein, wenn sie endlich ihre Beherrschung verlöre. Er hoffte nur, dass er es miterleben könnte.
Sie war wirklich ein rundum einnehmendes Geschöpf, diese Miss Thorne.
Sie machte natürlich keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, aber bisher war ihre Abscheu eher still und unerbittlich gewesen. Trotz all ihrer anderen unzähligen Fehler war Miss Thorne keine Frau, die Wutanfälle hatte. Jedenfalls nicht vor ihm. Und obwohl er wusste, dass ihre Zunge überaus spitz war, beschränkte sich die Dame auf zusammengepresste Lippen und eisige Blicke.
Im Gegensatz zu Selina, die sich, was Selbstbeherrschung anging, noch eine Scheibe von Miss Thorne abschneiden könnte. Aber die beiden Damen konnte man wirklich nicht miteinander vergleichen. Jede Emotion von Selina war von Selbstsucht, Gier oder Boshaftigkeit motiviert. Selbst ihr Hass auf ihn war nur ein Produkt ihrer Eifersucht und ihres verletzten Stolzes.
Miss Thorne hingegen … nun, vielleicht hatte er sich ihre Abneigung verdient.
Aber ungeachtet dessen, was die Klatschbasen hinter seinem Rücken über ihn sagten, hatte er durchaus ein Gewissen. Er schenkte ihm nur keine große Beachtung, wenn es denn einmal aufmuckte. Er hatte jedoch ein oder zwei Mal tatsächlich leichte Gewissensbisse wegen der Wette mit Major Thorne in der letzten Saison verspürt. Er neigte nicht gerade zur Selbstreflexion, aber sein Gewissen hatte ihn doch gezwickt wie der Biss eines Flohs.
Diese Wette … sie war nicht ganz in Ordnung gewesen. Er hatte sich an diesem Abend nicht wirklich auf der Höhe gefühlt, war gelangweilt und kribbelig zugleich. Die Bälle während der Saison sorgten immer für diese zwiespältigen Gefühle bei ihm. All diese raubtierhaften Blicke, die auf ihm lagen. All die Mütter, die nur eine Ehestiftung im Sinn hatten und ihn als potenziellen Ehemann für ihre einfältig gackernden Töchter musterten, ihn ausmaßen und wogen, als wäre er ein Stück Fleisch.
Es war also wirklich nur Hastings Schuld. Wäre sein verdammter Ball nicht so todlangweilig gewesen, hätte sich Jasper gar nicht erst in den Salon zum Kartenspielen zurückziehen müssen. Er spielte eigentlich eh nur bei White’s oder in den Spielhöllen von St James. Und wäre er in einem seiner Stammlokale gewesen, wie dem Pidgeon Hole oder Mrs Leach’s, hätte er sich doch gar nicht erst mit Major Thorne an den Kartentisch gesetzt. Er hatte schnell gemerkt, dass der Major kaum Erfahrung mit Glücksspielen hatte.
Normalerweise ging er nicht so leichtfertig mit einem Gentleman um, der nicht genug Geld besaß, um es zu verlieren. Das war unsportlich.
Aber an diesem Abend war er nicht in Stimmung für ein faires Spiel gewesen, und so hatte er dem Mann am Ende etwa tausend Pfund abgenommen. Oder war es sogar mehr gewesen? Das Problem war, dass er sich sogar entschlossen hatte, ihm die Schulden zu erlassen, was wirklich sehr großzügig von ihm war, ja sogar heldenhaft. Major Thorne war zwar ein erbärmlicher Kartenspieler, zugleich jedoch ein vornehmer alter Gentleman. Und Jasper hatte nicht die Angewohnheit, vornehme alte Gentlemen in den Ruin zu stürzen.
Seine Anfälle von Heldentum waren jedoch gar flüchtiger Natur, und so hatte er die verfluchte Wette bereits völlig vergessen, als er einen Bankwechsel von Thorne erhielt, der bis auf fünfhundert Pfund die gesamte Schuld beglich, verbunden mit dem Versprechen, auch den Rest noch zu bezahlen.
War das der Grund, warum Miss Thorne so plötzlich in London aufgetaucht war? Hatte ihr Vater sie hierher geschickt, um über die Rückzahlung des Restbetrags zu verhandeln? Sie hatte jedoch nicht den Eindruck eine Dame gemacht, die ihn um einen Gefallen bitten wollte – ganz im Gegenteil sogar. Aber er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie nur aus dem fernen Wiltshire gekommen war, um die Duchess of Basingstoke zu besuchen.
Sie waren zwar gute Freundinnen, aber um Himmels willen, niemand kam ausgerechnet im August nach London.
Er blickte noch einmal auf den Schreibtisch, auf den unvollendeten Brief darauf und die zerknüllten Papierkugeln darunter.
Er sollte es nicht tun. Er sollte es wirklich nicht tun. Das ging ihn auch überhaupt nichts an.
Doch es war zu spät, er stiefelte bereits auf den Schreibtisch zu. Er starrte auf die auf dem Boden verteilten Papierkugeln, stieß eine davon halbherzig mit dem Zeh an, während sein leise protestierendes Gewissen mit der unerklärlichen Neugier kämpfte, die er für Miss Thorne empfand, seit sie am Ende der letzten Saison in der Theaterloge von Basingstoke aufgetaucht war.
Es war wirklich seltsam, dass er eine so gewöhnliche Person wie Miss Prudence Thorne aus Wiltshire derart faszinierend fand. Vielleicht lag es daran, wie sie ihn immer anfunkelte. Sie hatte wirklich einen ziemlich beeindruckenden Blick, mit diesen zusammengekniffenen grün-grau-braunen Augen und den dichten dunklen Wimpern, die vor Wut flatterten.
Doch trotz seiner irrationalen Besessenheit von ihr, ging es ihn absolut nichts an, was sie geschrieben hatte. Es gab wirklich keine Entschuldigung dafür, in ihre Privatsphäre einzudringen. Ein richtiger Gentleman hätte einfach seinen Brandy getrunken, wäre zu seiner Chaiselongue zurückgekehrt und würde dort ruhig warten, bis ein Diener erschien.
Na gut. Er trat also vom Schreibtisch zurück. Aber er hatte noch keine zwei Schritte in Richtung der Liege gemacht, als er schon wieder innehielt.
Was, wenn Miss Thorne ihrem Vater irgendetwas über die Schulden geschrieben hatte? Dann könnte man wohl sagen, dass es ihn etwas anging, oder nicht? Fünfhundert Pfund waren schließlich eine beträchtliche Summe. Vielleicht hatten Miss Thorne und ihr Vater ja einen Plan geschmiedet, eine hinterhältige Verschwörung, um sich aus Thornes Verpflichtungen herauszuwinden. Nach allem, was er wusste, könnte Miss Thorne sogar vorhaben, ihn auszurauben. War er es sich nicht selbst schuldig, dies herauszufinden? Immerhin könnte seine Sicherheit in Gefahr sein!
Er kehrte also wieder zum Schreibtisch zurück, schnappte sich die weggeworfenen Blätter, die auf dem Boden lagen, machte es sich in Basingstokes Sessel bequem und glättete sie nacheinander, bevor er das erste in die Hand nahm.
Liebster Vater, ich bin gut in …
Weiter war sie nicht gekommen, denn der Satz endete in einem hässlichen Tintenklecks. Er legte das Blatt beiseite und nahm erst das zweite, dann das dritte zur Hand. Alle glichen sie dem ersten. Ein paar Kritzeleien, gefolgt von einem scheinbar ungehaltenen Tintenfleck.
Der Brief auf dem Schreibtisch sah jedoch vielversprechender aus, also griff er sich auch diesen und begann zu lesen. Angenehme Reise aus Wiltshire, bla, bla, schöne Landschaft, gute Straßen, irgendetwas über hervorragende Kutschenfedern und die in Gold und Grün gekleidete Landschaft – sie schrieb ganz schön gestelzt – Freddys blaue Augen, bla, bla, bla … der Kutscher des Herzogs, bla, bla …
Guter Gott, das war der langweiligste Brief, den man sich vorstellen konnte. Er las noch bis zum Ende der Seite und warf ihn dann angewidert beiseite. Keine hinterhältigen Pläne oder Verschwörungen, kein Wort über die Schulden oder irgendwelche Details über die Gründe, warum sie in London war.
Verdammt enttäuschend. Also wirklich. Er kippte seinen Brandy hinunter, stellte das leere Glas auf Basingstokes Schreibtisch, legte Miss Thornes öde Briefe daneben und ging zurück in seine Ecke. Er schnappte sich seinen Mantel und legte sich auf die Chaiselongue, wobei sein Rücken vor Schmerz aufschrie.
Was hatte sich Basingstoke bloß dabei gedacht, so ein elendes Möbelstück in sein Arbeitszimmer zu stellen? Das Ding war so hart wie eine Tischplatte aus Marmor. Der Mann war doch ein Herzog, um Himmels willen. Er konnte sich doch sicher eine anständige Chaiselongue leisten?
Aber immerhin war sie besser als der Sessel, und wenigstens lag hier auch ein Kissen – ein steifes, hartes kleines Ding, ja, mit jeder Menge lästiger Quasten. Er schob es sich dennoch unter seinen Kopf, zog seinen Mantel über sich und drückte die Augen zu, darauf wartend, dass der Schlaf ihn übermannte.
***
Es war noch dunkel, als Prue aufwachte. Ein vages Gefühl der Panik hatte sie aus einem tiefen Schlaf gerissen.
Etwas stimmte nicht. Sie hatte irgendetwas vergessen. Ihr Gehirn drehte sich schläfrig im Kreis und versuchte herauszufinden, was ihr so ein unbestimmtes Unbehagen verursachte und ihr den Magen umdrehte. Hatte es etwas mit Franny zu tun? Hatte sie vergessen, ihr etwas zu sagen?
Nein, das war es nicht.
Dann ging es vielleicht um ihren Vater? Nein, der war in Thornewood und in Sicherheit. Sie hatte ihren Brief an ihn noch nicht fertig geschrieben, aber das war …
Oh nein! Sie setzte sich ruckartig auf und krallte ihre Finger in die Bettdecke. Das Arbeitszimmer des Duke of Basingstoke! Sie hatte seine Schreibfeder einfach auf dem Tisch liegen lassen, das Tintenfass war offen geblieben und ein halbes Dutzend verschmierter Blätter lagen über den Boden verstreut! Ach, du meine Güte, was hatte sie sich nur dabei gedacht, das private Arbeitszimmer des Herzogs in einem solchen Chaos zu hinterlassen, nachdem er so freundlich angeboten hatte, es ihr zu abzutreten?
Sie sprang aus dem Bett, schnappte sich ihren Mantel und zog ihn sich über die Arme, während sie aus dem Schlafzimmer in den dunklen Flur trat. Sie murmelte ein kurzes Gebet, dankbar dafür, dass sie daran gedacht hatte, aufzupassen, wo ihr Zimmer lag, als die Zofe es ihr gezeigt hatte. Sonst hätte sie nun möglicherweise stundenlang durch die Flure irren müssen, nur um die Treppe zu finden.
Aber sie war ganz leicht zu finden, und im Nu war Prue unten, wo sie vor Kälte zusammenzuckte, als ihre nackten Füße den Marmorboden berührten. Schnell tapste sie durch den Eingangsbereich und in den Flur, der zum Arbeitszimmer des Herzogs führte.
Die Tür quietschte, als sie sie aufstieß, und ein unwillkürlicher Schauer durchlief sie beim Eintreten. Meine Güte, war es hier kalt, aber es würde ja sicher nur einen Moment dauern, die Feder und das Tintenfass wieder in Ordnung zu bringen und die zerknüllten Papiere einzusammeln.
Sie eilte zum Schreibtisch, wo sie abrupt zum Stehen kam.
Die zerknüllten Papiere lagen nicht mehr auf dem Boden, sondern waren flach auf dem Schreibtisch des Herzogs ausgebreitet, von Hand glattgestrichen. Ein Blatt lag auf dem anderen, ein ordentlicher Stapel mit ihrem halbfertigen Brief obenauf. Daneben stand ein leeres Glas, nur ein paar letzte Tropfen einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit schimmerten auf seinem Boden.
Sie nahm es in die Hand und roch daran. Brandy? Sie roch noch einmal. Ja, das war eindeutig Brandy, aber wer würde mitten in der Nacht im Arbeitszimmer des Duke of Basingstoke …
„Sie sind heute Morgen aber früh auf, Miss Thorne. Haben Sie etwas vergessen?“
Sie schnappte nach Luft und wirbelte herum, instinktiv griff sie nach dem Kragen ihres Mantels und ihre Finger schlossen sich fest darum. Diese tiefe, dunkle Stimme umhüllte sie erneut, diesmal etwas heiser vom Schlaf, aber es war zweifellos er. Dieser langsame, gedehnte Tonfall, in dem immer ein Hauch von Belustigung mitschwang, als hätte er ein köstliches Geheimnis und könne es kaum erwarten, es ihr ins Ohr zu flüstern, war unverkennbar.
Montford. Natürlich. Kein anderer Gentleman in England sprach so wie er.
„Entschuldigen Sie, Miss Thorne.“ Eine schlanke, dunkle Gestalt erhob sich von der Chaiselongue auf der anderen Seite des Raumes. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Das Feuer war schon vor einiger Zeit erloschen, aber sie hatte die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich offen gelassen, als sie eintrat, und als er auf sie zukam, fiel ein schwacher Lichtstrahl aus dem Flur auf sein Gesicht.
Ein weiteres Keuchen versuchte sich aus ihrer Kehle zu befreien, aber es blieb ihr im Hals stecken, als er auf sie zu schlenderte.
Sein Mantel, das Halstuch und die Weste, die er gestern Abend noch getragen hatte, waren nirgends zu sehen. Er trug nur mehr ein weißes Hemd, dessen weit geöffneter Kragen seine Kehle entblößte, aus den Falten des weichen Leinenstoffs lugten ein paar schwarze Haare hervor. Seine dunklen Locken waren zerzaust und ein leichter Bartschatten umspielte sein Kinn und seinen Hals.
„Warum … was macht Ihr hier?“ Dieses kehlige, atemlose Murmeln kam doch nicht von ihr, oder? Das war doch nicht ihre Stimme. Sie klang, als hätte sie Kieselsteine geschluckt.
„Ich bin eingeschlafen. Ich kann Basingstokes Arbeitszimmer jedoch nicht unbedingt als Schlafgemach empfehlen, falls Sie sich das fragen sollten. Seine Chaiselongue gleicht weniger einem Bett als einem mittelalterlichen Folterinstrument.“
„Das habe ich mich überhaupt nicht gefragt.“ Außerdem würde sie lieber nicht mit ihm über Schlafgemächer diskutieren, wenn er so aussah … wie jetzt. Wie ein … ein … oh, gütiger Gott, er sah aus wie ein Pirat, mit diesen wilden Locken und dem dunklen Bart … Und er kam immer noch auf sie zu, kam viel zu nah, so nah, dass sie glaubte, jedes einzelne winzige Haar an seinem Kinn voneinander unterscheiden zu können, und sie sich vorstellen konnte, wie sie an ihren Fingerspitzen kratzen würden.
Nicht, dass sie vorhatte, sie zu berühren. Oder ihn. Ganz sicher nicht ihn, auch wenn ihre Finger seltsam unruhig geworden waren und an den Falten ihres Mantels zupften, während das dünne Nachthemd, das sie darunter trug, ihre erhitzte Haut streichelte. Sogar ihre Zehen wurden wärmer, das Eis schien zu schmelzen …
Sie konnte sich nicht erinnern, zurückgewichen zu sein, aber sie musste es getan haben, denn ihr Hintern stieß plötzlich gegen den Schreibtisch. Ihre Hände krallten sich um seine Kante und das glatte Holz drückte sich in ihre Handflächen. „Was machen Sie so früh am Morgen hier unten, Miss Thorne?“ Endlich blieb er stehen, aber das verruchte Lächeln, das seine Lippen umspielte, und das Glitzern seiner Zähne in der Dunkelheit verwirrten sie fast ebenso sehr wie seine Bartstoppeln. „Haben Sie sich Sorgen um mich gemacht?“
„Ich wüsste nicht, warum ich mir Sorgen um Euch machen sollte, Euer Gnaden, wenn ich doch nicht einmal ahnte, dass Ihr hier unten eingeschlafen seid.“ Obwohl sie es natürlich gewusst oder zumindest vermutet hatte. Ihr war ja sogar das ganz besondere Schnarchen des Duke of Montford vertraut.
Aber wenn sie wirklich sicher gewesen wäre, dass er immer noch hier war, hätte sie nichts auf der Welt dazu gebracht, sich nach unten zu wagen. Um Himmels willen, welcher Gentleman verbrachte denn auch die Nacht im Arbeitszimmer eines anderen Gentleman? „Ich bin heruntergekommen, um meine Sachen aufzuräumen und meine …“ Sie brach mit einem empörten Keuchen ab. Es konnte nur eine Erklärung dafür geben, warum ihre Briefe nicht mehr auf dem Boden verstreut lagen, wo sie sie zurückgelassen hatte, sondern stattdessen ordentlich auf dem Schreibtisch gestapelt waren. „Ihr habt meine Briefe gelesen, nicht wahr?“
„Kann man das denn wirklich Briefe nennen, Miss Thorne? Nein, ich glaube nicht. Ein paar unleserliche Kritzeleien, mehr ist das doch nicht. Ich muss Ihnen jedoch ein Kompliment für Ihre einfallsreichen Tintenkleckse machen. Ich habe noch nie in meinem Leben schönere gesehen.“ Er schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln.
Für einen schrecklichen Moment zuckten ihre verräterischen Lippen. Doch sie presste sie schnell fest zusammen, bevor sie so etwas Dummes tun konnte, wie etwa sein Lächeln zu erwidern. „Wie könnt Ihr es wagen? Das waren private Briefe, Euer Gnaden. Ihr hattet kein Recht, sie zu lesen.“
„Privat?“ Er grunzte nur. „Ah, ja. Und so pikant. Ich hatte fast das Gefühl, ich würde Ihre Beichte belauschen. Am besten hat mir der Teil mit ,Lieber Vater‘ gefallen. Wirklich berauschend. Und Ihre Beschreibung der Landschaft in ihren grün-goldenen Gewändern hat mich doch tatsächlich erröten lassen.“
Natürlich. Errötet. Er. Der Mann war wahrscheinlich zuletzt errötet, als er noch kurze Hosen trug. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Seid Ihr fertig?“
„Nicht ganz, nein. Darf ich noch anmerken, Miss Thorne, dass Sie mir wirklich dankbar sein sollten. Sie haben im Arbeitszimmer des armen Basingstoke ein ziemliches Chaos hinterlassen, und ich war so freundlich, es für Sie aufzuräumen.“
„Ihnen danken? Nun gut, Euer Gnaden, ich danke Euch dafür, dass Ihr Euch in Zukunft aus meinen Angelegenheiten heraushalten werdet.“ Sie drehte sich um und wollte gerade ihre Briefe an sich nehmen, als ihr Blick auf das leere Glas fiel. „Habt Ihr etwa getrunken? Um …“ Sie schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims. „fünf Uhr morgens?“
„Auf keinen Fall, Miss Thorne. Was für eine skandalöse Anschuldigung.“
„Entschuldigt bi…“
„Ich habe schon um vier Uhr morgens getrunken.“
Grundgütiger, hatte es jemals einen unverbesserlicheren Mann gegeben? „Ihr …“
„Ich bitte um Verzeihung, Miss Thorne, aber so sehr Sie auch scheinbar unbedingt mit mir weiterplaudern wollen, ich glaube, ich höre einen der Diener. Es ist höchste Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Wissen Sie, ich möchte meinen eigenen Diener nicht beunruhigen. Er ist ziemlich beschützerisch mir gegenüber.“
Er ging zur Chaiselongue, schnappte sich seinen zerknitterten Kleiderstapel und schritt zur Tür des Arbeitszimmers. „Es war mir wie immer eine große Freude, Sie zu sehen, Miss Thorne.“ Er machte eine tiefe Verbeugung vor ihr, drehte sich um und verschwand durch die Tür. Sein langes Halstuch flatterte hinter ihm her.