Leseprobe Ein verführerischer Handel mit dem Duke | Eine skandalöse Regency Romance

Prolog

Fairford, Gloucestershire

24. Dezember 1804

Er hätte nicht herkommen sollen. Schließlich hatte er sich doch selbst versprochen, dass er es nicht tun würde.

Aber dieses Versprechen hatte er sich auch schon letztes Jahr gegeben. Und das Jahr zuvor. Und jedes Jahr brach er es erneut, und so wurde das Versprechen zu einer Lüge. Aber er kam immer, egal wie oft er sich schwor, es nicht zu tun.

Versprechen waren hinterhältig, besonders die, die man sich selbst gab.

Letztlich wurden sie immer zu Lügen.

Sollte er das nicht schon längst begriffen haben?

Die Sonne verschmolz gerade mit dem Horizont, als er sich aus dem Haus seines Vaters und den Weg hinunter in den Wald schlich. Ein paar sporadische bernsteingelbe und purpurrote Streifen zogen sich wie blutige Kratzspuren über den Himmel, aber zwischen den Bäumen war es bereits so finster wie um Mitternacht.

Doch das spielte überhaupt keine Rolle. Schließlich kannte er jeden Stein, jede hochstehende Baumwurzel, jedes welke Blatt, das sich im Schlamm unter seinen Füßen versteckte. Er war diesen Weg schon so oft gegangen, dass er ihn mit verbundenen Augen hätte finden können, einzig geleitet von seinen Erinnerungen.

Und doch war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war, egal wie vertraut es sich auch anfühlte. Es würde nie wieder so werden. Sich selbst vorzumachen, dass es doch noch einmal so sein könnte, wäre nur eine weitere Lüge.

Dieses Jahr war kein Schnee gefallen. Aber es regnete gelegentlich. Und seit er von Eton nach Hause gekommen war, tauchte ein trüber Nieselregen alles in verwaschenes Grau. Der Boden war noch nass, das eisige Wasser lief nach und nach in seine Stiefel und seine Füße versanken im Schlamm. Dunkelheit umhüllte ihn.

Nicht mehr lange.

Und als er aus dem Schutz der Bäume trat, wartete es schon auf ihn. So wie es das immer tat. Ein strahlendes Licht, das den pechschwarzen Himmel darüber zum Leuchten brachte, als würden alle Sterne gleichzeitig auf ihn herabstrahlen. Als hätte eine riesige Hand die hellsten Ornamente des Himmels aufgesammelt und sie so lange fest in einer Faust zusammengedrückt, bis flüssige Lichtströme zwischen den Finger hindurchflossen, sich direkt über Hammond Court ergossen und es in blasssilbernes Feuer tauchten.

Als befände sich genau hier der einzige Ort, der zählte. Und als wäre Ambrose St Claire der einzige Mann, der zählte.

Es war doch dasselbe, jedes Jahr wieder.

Max blieb im Schatten stehen, außerhalb des goldenen Lichtkreises, der auf die Auffahrt fiel. Die Partygäste auf der anderen Seite der Fenster lachten und plauderten, aber sie verschwammen zu einem unscharfen bunten Klecks aus Satin, Seide und glitzernden Juwelen. In ihren Händen hielten sie kleine silberne Becher mit gewürztem Apfelwein. Er jedoch blieb unsichtbar.

Die Wärme und Heiterkeit, die sich hinter diesen Fenstern ausbreiteten, waren ihm so fern wie die Sterne, die kalt am schwarzen Himmel funkelten. Aber selbst von hier aus konnte er das Lachen, die Gespräche, den Gesang hören. Weihnachtslieder. Jedes Jahr die gleichen Lieder.

Mistelzweige. Silberne Glöckchen. Rebhühner, Tannenbäume und rote Äpfel.

Er steckte die Hände in die Taschen seines Mantels und stieß mit seinem Fuß in den schlammigen Boden. Vor vier Jahren hatte er das Haus zum letzten Mal betreten. Da war es noch sein Zuhause gewesen.

Vier lange Jahre. Jetzt war er kein Kind mehr. Er war sechzehn, fast ein Mann, und doch schaffte er es einfach nicht, sich von diesem Ort fernzuhalten.

Dabei wollte er nicht hier sein, wollte sich nicht erinnern. Wenn er könnte, würde er sich umdrehen und nie wieder zurückkommen, müsste dieses Haus nie wieder sehen. Aber er konnte einfach nicht vergessen, wie es sich angefühlt hatte, auf der anderen Seite dieser Fenster zu stehen. Es wäre einfacher, wenn er es könnte. Aber es war schlichtweg unmöglich, einen solchen Verrat zu vergessen.

Oder zu vergeben.

Es war einfach unfair. Es war so verdammt unfair!

Seine Hände ballten sich in den Manteltaschen zu Fäusten. Er hasste Ambrose, hasste ihn so sehr, dass ihm die Bitterkeit in der Kehle brannte und ihn husten und würgen ließ.

Ambrose konnte sich zwar als echter Gutsherr aufspielen, aber das änderte nichts an der Wahrheit. Er war kein edler Herr. Und das Gut hatte er auch gestohlen. Er hatte es Max und seinem Vater gestohlen.

Und er war nicht der einzige Dieb. Es gab noch viele andere, die ihnen genommen hatten, was einst ihnen gehörte. In den vergangenen vier Jahren waren sie bis auf das letzte Hemd komplett ausgeplündert worden.

Die anderen Jungs in Eton verachteten ihn deswegen und nannten seinen Vater den Herzog der Bettler.

Eines Tages würde er sie dafür bezahlen lassen. Er würde sie alle bezahlen lassen, aber keiner müsste so teuer bezahlen wie Ambrose St Claire. Von all den Vertrauensbrüchen hatte ihn seiner am tiefsten getroffen. Eine klaffende Wunde, die noch immer blutete. Auch wenn mittlerweile schon vier Jahre ins Land gezogen waren.

Vor langer Zeit einmal, noch bevor seine Mutter starb und alles auseinanderbrach, da war Ambrose ihr Freund gewesen. Und er hatte Ambrose vertraut, zu ihm aufgeschaut. Ja, er hatte ihn regelrecht vergöttert. Aber am Ende hatte sich herausgestellt, dass Ambrose auch nicht besser war als alle anderen.

Er war ein Dieb und ein Lügner.

Eines Tages, wenn Max wieder einmal hierherkäme, würde er sich nicht im Wald unter den regennassen, tropfenden Ästen verstecken, wo ihm das kalte Wasser in den Kragen lief. Nein, er würde einfach die Auffahrt hinaufgehen, durch die Tür treten und das Haus seines Vaters zurückerobern.

Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Hause zurückzukehren, wo es keine Girlanden, keine silbernen Becher und kein goldenes Kerzenlicht gab. Sein Vater würde schon auf dem abgenutzten Ledersessel in seinem Arbeitszimmer eingeschlafen sein, eine leere Brandyflasche neben sich auf dem Boden.

Max wischte sich mit seinem Ärmel über die feuchten Wangen -die Wolle seines Mantels kratzte auf seiner Haut - und wandte sich zum Gehen. Er kehrte dem hell erleuchteten Hammond Court den Rücken, ließ es bis zum nächsten Jahr hinter sich.

Er weinte nicht. Natürlich nicht. Nicht wegen eines Schurken wie Ambrose St Claire.

Die Feuchtigkeit auf seinen Wangen stammte nur von den Wassertropfen, die von den Ästen über ihm fielen. Nichts weiter.

Kapitel 1

Fairford, Gloucestershire

12. Dezember 1819

Im Schlafzimmer von Rose schneite es.

Die Kälte weckte sie. Der winterliche Luftzug biss ihr in die Nase und ließ ihre Zehen kribbeln, riss sie aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie kämpfte sich hoch, stützte sich auf die Ellenbogen und spähte über den Rand ihrer Bettdecke. Gedämpftes Morgenlicht fiel durch die dünnen Vorhänge und fing den blassen Schimmer der weichen Schneeflocken ein, die durch einen gezackten Sprung im Fenster hereinwirbelten.

Die Schneeflocken waren wirklich hübsch, aber so durfte das leider nicht weitergehen. Das glitzernde Wirbeln harmloser Flöckchen konnte sich in Sekundenschnelle in einen Schneesturm verwandeln. Und die stahlgrauen Wolken hinter dem Fenster versprachen tatsächlich noch mehr Schnee.

Mehr Schnee. Dabei war Fairford ohnehin schon halb darunter begraben. Anfang November hatte es angefangen, zu schneien, und seitdem kaum einen Tag lang aufgehört.

Jetzt hatte das verdammte Schneetreiben auch noch seinen Weg ins Haus gefunden.

Mit einem Seufzer schleuderte sie die Bettdecke zur Seite. Wäre es irgendein Fenster gewesen, in irgendeinem anderen Schlafzimmer, in irgendeinem anderen Herrenhaus, wäre ein Schneesturm im Haus sicherlich schockierend, aber hier, in Hammond Court, hatte sich die Grenze zwischen Innen und Außen immer weiter aufgelöst, als die goldenen Herbsttage nach und nach in tiefste Winterkälte übergegangen waren.

So hätte das jedenfalls Ambrose ausgedrückt. Aber der hatte sich ja auch immer für einen Poeten gehalten. Und das war eines der Dinge, die sie an ihm am meisten geliebt hatte.

Ein glühender Schmerz brannte hinter ihren Augenlidern, aber sie schüttelte die aufsteigenden Tränen mit einer ungeduldigen Kopfbewegung weg. Er hätte ihre Tränen und trauervollen Seufzer nicht gewollt. Wenn er sie jetzt sehen könnte, würde er sie schimpfen, bis ihr die Ohren klängen.

Und überhaupt, wann hatte Heulen jemals etwas gebracht?

Sie rollte sich aus dem Bett, schnappte sich die Bettdecke, wickelte sie sich um die Schultern und schlitterte in ihren Strümpfen über den Holzboden, um die Schneewehe unter ihrem Fenster zu inspizieren.

Eigentlich war es eher eine Pfütze. Eine große Pfütze. Es hatte wohl schon eine ganze Weile geschneit, wahrscheinlich die ganze Nacht über. Sie zog die verschlissenen Vorhänge beiseite, um sich die Schäden am Fenster besser ansehen zu können. Es war noch früh, das graue Licht zu schwach, um die Schatten zu vertreiben, die in den Ecken des Schlafzimmers herumlungerten. Aber der Sprung, der eine der oberen Scheiben spaltete, war nicht zu übersehen.

Nun, das erklärte wenigstens das bedrohliche Knacken, das sie letzte Nacht geweckt hatte. Es war also doch kein Geist gewesen. Das war zumindest ein Trost. Nicht, dass sie an Geister glaubte. Auf keinen Fall! So dumm war sie schließlich nicht. Aber in der tiefsten Dunkelheit der Nacht, als das Haus um sie herum knarrte und ächzte, war ihr schon in den Sinn gekommen, dass es bestimmt Ambrose wäre, dem es gelingen könnte, unter den Untoten zu wandeln.

Ja, er würde seine Freude daran haben, sie heimzusuchen. Dieser Schuft!

Sie gab acht, einen Bogen um die Pfütze zu machen, und näherte sich vorsichtig dem Fenster. In dem trüben Licht blinzelte sie hinauf zu dem Sprung. Ja, er war definitiv länger geworden. Gestern hatte sie noch sein Ende mit einem verschmierten Daumenabdruck markiert. Jetzt ging er schon weit darüber hinaus. Er reichte bis zur Oberkante des Fenstersimses und war von einem Spinnennetz aus feineren Sprüngen umgeben, die aussahen wie Falten, die sich am Augenwinkel fächerförmig ausbreiteten.

Auch er breitete sich immer weiter aus, zusammen mit Dutzenden anderer Risse, die die Wände zierten.

Sie könnte Lappen in die Lücke oben stopfen, aber die Fenster bestanden eh schon mehr aus Stoff denn aus Glas. Es war ein Wunder, dass die Zimmerdecken noch nicht herunter auf ihre Köpfe gefallen waren. Wenn ihr nicht bald etwas einfiel, um den Verfall noch aufzuhalten, mussten sie hier weg.

„Nun, das ist wohl ein ziemliches Durcheinander, oder?“

Rose drehte sich um und sah Abby in der Tür stehen. Ihr graues Haar stand ihr zu Berge. „Es ist nur ein bisschen Wasser, Abby. Nichts, was man nicht aufwischen kann.“

„Es ist ein wahres Wunder, dass du in diesem feuchten, zugigen Zimmer noch nicht erfroren bist.“

„Alle Zimmer sind feucht und zugig.“

„Keines so sehr wie dieses.“ Abby zeigte vorwurfsvoll auf die Pfütze. „Um Himmels willen, Rose, warum kommst du nicht zu mir ins Bett? Dort ist es trocken, und uns beiden wäre es so ein bisschen wärmer.“

Wärmer, ja, aber nicht sicherer. Seit einer ihrer Gläubiger aus dem Dorf wütend vor ihrer Tür gestanden hatte, um seine Zahlung einzufordern, und dabei alle möglichen unangenehmen Drohungen von sich gegeben hatte, schlief sie in diesem Zimmer. Glücklicherweise hatte sie ihn abwimmeln können, bevor er die Tür aufbrach. Aber er würde nicht der Letzte sein.

Sie hatten sehr viele Gläubiger und alle waren so wütend wie fauchende Katzen. Sie hatte keine Lust, noch einmal so überrumpelt zu werden. Und da man von diesem Schlafzimmer einen Blick auf die Auffahrt hatte, würde sie eben hierbleiben. „Ich mag dieses Zimmer. Es ist so … äh, gemütlich.“

Abby schnaubte. „Gemütlich, ja?“

„Ja, ganz genau.“ Die Lüge kam ihr zwar einigermaßen leicht über die Lippen, aber Rose achtete trotzdem darauf, Abbys Blick nicht zu begegnen. Abby merkte immer, wenn sie log, und gerade konnte sie eine scharfe Zurechtweisung überhaupt nicht ertragen.

„Gemütlich. So ein Quatsch!“ Abby drehte sich auf dem Absatz um und verschwand durch die Schlafzimmertür, ihre langsamen, schweren Schritte hallten durch den Flur. Als sie zurückkam, trug sie ein dunkelrotes Stoffbündel in den Armen. „Komm, hilf mir damit.“

Rose ging um die Pfütze herum, durchquerte das Schlafzimmer und zog ein Stück Stoff aus dem Bündel. Dann hielt sie inne. „Das ist doch kein Lumpen. Das sieht aus wie …“

„Das ist eine der seidenen Blenden von Mr St Claires Bettvorhängen.“ Abby reckte ihr Kinn in die Höhe. „Jetzt mach nicht so viel Aufhebens darum, Mäuschen. Wir haben fast keine Lumpen mehr, und außerdem ist die Seide dicker. Das hält die Zugluft viel besser ab als irgendein alter Küchenlappen.“

„Aber es ist doch Seide.“ Das war natürlich ein lächerlicher Einwand. Wozu brauchten sie jetzt noch seidene Bettvorhänge? Außerdem waren sie schon zu alt und zu abgenutzt, um überhaupt noch einen Wert zu haben. Und doch …

Einst hatten sie Ambrose gehört. Sie widerstand dem Drang, ihr Gesicht darin zu vergraben, da sie wusste, dass sie sich dabei nur eine staubige Nase holen würde. Aber es schien ihr falsch, dass ein Mensch so viel Krimskrams hinterlassen sollte, wenn er starb. Falsch, dass all diese Dinge, die für Ambrose zu Lebzeiten so nebensächlich gewesen waren, ihn irgendwie überlebt hatten und nun alles waren, was von einem einst so lebensfrohen Mann übrig blieb.

Sie erwartete, dass Abby sie schelten würde, aber als sie aufblickte, starrte Abby auf den roten Seidenbehang, ihre blassen blauen Augen waren tränenfeucht.

„Verflucht sei er“, flüsterte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich weiß gar nicht, warum ich ihn so sehr vermisse, diesen lästigen alten Schurken.“

„Er war wirklich lästig, nicht wahr? Und es passt zu ihm, dass er starb, kurz bevor das Wetter so schlecht geworden ist. Ich wage zu behaupten, dass er das so geplant hat. Das wäre genau seine Art.“

Abby lachte zittrig. „Vermutlich hat er das.“ Sie nahm den anderen Seidenbehang vom Stapel und ging zum Fenster.

„Pass auf, dass du nicht in die Pfütze trittst. Mach dir nicht die Strümpfe nass.“ Rose stapfte durch das Schlafzimmer, ging auf alle viere und begann die Pfütze aufzuwischen. Das eisige Wasser durchdrang schnell die Seide und ließ ihre Finger taub werden.

Vielleicht würde es für eine Weile der letzte Schnee sein. Und vielleicht würde sie morgen aufwachen und die Sonne wäre hinter den Wolken hervorgekommen. Dann würde es etwas wärmer werden, gerade genug, um die Kälte ein bisschen zu mildern. Vielleicht war auch das Glück schon ganz nah und würde sie sogar heute noch finden, und dann …

„Meine Güte, wer kann das denn nur sein?“

Rose erstarrte, den tropfenden Seidenvorhang hielt sie fest in den Händen. „Was?“ Doch sie konnte bereits die Kutschenräder hören, die die Auffahrt entlangklapperten.

„Da kommt eine Kutsche.“ Abby spähte durch das Fenster und runzelte die Stirn. „Wie seltsam. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr morgens. Wer sollte denn so früh hierherkommen?“

Ja, wer nur? Ganz sicher niemand, den sie sehen wollten. Rose vergaß die Pfütze und sprang auf. „Komm weg vom Fenster, Abby!“

Aber Abby ging einfach nicht vom Fenster weg. Sie blieb genau da stehen, wo sie war - gut sichtbar für jeden, der zufällig zum Haus hinaufblickte. Sie starrte hinab auf die Auffahrt, während das Knirschen der Kutschenräder in den Furchen immer lauter wurde. „Himmel! Das ist keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine richtig schicke, und ich glaube … Rose, komm und sieh selbst! Ist das ein Wappen an der Tür?“

Ein Wappen? O Gott, hoffentlich nicht. Eine Kutsche mit Wappen brachte nie etwas Gutes.

„Wir können hier später weitermachen.“ Rose nahm Abby die Seidenbehänge aus der Hand und drängte sie vom Fenster weg zur Tür. „Geh jetzt zurück in dein Zimmer und ich werde mich um unsere Besucher kümmern. Sie sind bestimmt gekommen, um ihr Beileid zu bekunden, und werden schnell wieder verschwunden sein.“

Eine Beileidsbekundung. Na sicher. Um sieben Uhr morgens kam niemand, um sein Beileid auszudrücken. Nein, sie waren aus einem ganz anderen Grund hier.

Was auch immer es war, sie würden mit ziemlicher Sicherheit ohne es gehen müssen.

„Kannte Ambrose denn irgendwelche Lords?“ Abby spähte über Roses Schulter und versuchte aus dem Fenster zu blicken. „Weil ich mir sicher bin, dass ich ein Wappen gesehen habe …“

„Ich vermute, dass er wohl ein oder zwei Lords gekannt haben muss. Ambrose kannte jeden.“ Genauer gesagt, kannte jeder ihn. „Ich werde dir alles erzählen, sobald sie weg sind. Geh bis dahin in dein Schlafzimmer und bleib dort, bis ich dich hole, in Ordnung?“

Abby sah sie besorgt an, schlurfte aber zur Schlafzimmertür. „Ja, gut, aber komm sofort hoch, wenn sie weg sind.“

„Das werde ich, aber versprich mir, dass du dein Schlafzimmer nicht verlässt, bis ich dich hole.“ Rose zögerte, fügte dann aber hinzu: „Egal, was du hörst.“

Abbys Augen weiteten sich. „Meine Güte, das gefällt mir gar nicht.“

Ja, natürlich. Aber was auch immer sich unten abspielte, wahrscheinlich würde ihr das noch weniger gefallen. „Versprich es mir, Abby.“

„Ich verspreche es, aber sei vorsichtig, Mäuschen, ja? Hast du mich verstanden?“

„Ja, das werde ich.“ Rose wartete in der Tür, bis Abby den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer gehumpelt war, darin verschwand und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Dann sauste sie zurück in ihr eigenes Schlafzimmer und spähte aus dem Fenster.

Die Kutsche hatte auf halber Höhe der Auffahrt angehalten. Sie starrte hinunter, ihr Herz schlug so heftig, dass es ihr fast den Brustkorb zertrümmerte. Abby hatte recht gehabt. Es war keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine Vision aus schimmerndem schwarzen Lack, mit glänzenden schwarzen Rädern, goldenen Speichen und Beschlägen und einem eleganten Paar Brauner, die unruhig in ihrem Geschirr tanzten und mit ihren zierlichen Hufen auf den Boden stampften.

Das Wort „prachtvoll“ reichte nicht einmal ansatzweise aus, um sie zu beschreiben. Es war die Art von eleganter, modischer Equipage, die im Hyde Park für Spazierfahrten genutzt wurde. Zumindest stellte sie sich das so vor, da sie selbst noch nie im Hyde Park oder sonst irgendwo in London gewesen war.

An der Tür befand sich auch ein Wappen, irgendetwas in Schwarz, Gold und Königsblau. Aus diesem Winkel konnte sie es nicht genau erkennen, aber die Farbkombination kam ihr bekannt vor. Hatte sie nicht etwas Ähnliches auf einigen von Ambroses Briefen gesehen?

Sie wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass die Insassen ausstiegen, aber niemand kam zum Vorschein. Eine Minute verging, dann noch eine, aber gerade, als sie ein Gebet murmelte und darum bat, dass sie einfach wieder wegfahren mögen, stieg der Kutscher vom Kutschbock. Er sprang auf die Auffahrt und öffnete die Tür der Kutsche.

Wer auch immer darin saß, hatte es nicht eilig, auszusteigen. Stattdessen ließen sie den Kutscher einfach dort stehen, sein Mantel flatterte im Wind und auf seinen Schultern sammelten sich Schneeflocken. Endlich, endlich, tauchte ein langes Bein auf, gekleidet in eine enge dunkelgraue Hose und glänzende schwarze Stiefel mit hübschen goldenen Quasten.

Eine große, tadellos behandschuhte Hand legte sich auf den oberen Rand der Tür, und dann entfaltete sich der Rest des Mannes aus der Kutsche. Er drehte sich um, um etwas zu seinem Kutscher zu sagen, dann schritt er die Auffahrt hinauf, bis er direkt unter ihrem Fenster stand.

Rose schnappte nach Luft. Dieser Mann war zweifellos der Besitzer der Kutsche.

Er war … ach, herrje, sie hatte noch nie einen Mann wie diesen gesehen. Sein Gesicht war teilweise von der Krempe eines eleganten Kastorhutes verdeckt, aber sie konnte einen Blick auf eine gerade aristokratische Nase und eine dichte dunkle Haarpracht erhaschen. Er war außerdem außergewöhnlich groß und breitschultrig, vielleicht der größte und am besten gebaute Gentleman, den sie je gesehen hatte. Sein kraftvoller Körper wirkte gerade so gebändigt wie eine gespannte Feder.

Er marschierte auf das Haus zu, seine Schritte so locker und selbstbewusst wie die eines Mannes, der es gewohnt war, dass ihm alle aus dem Weg gingen. Einen Moment später klopfte es kräftig an der Haustür. Das dumpfe Geräusch hallte durch das ganze Haus.

Sie wartete, alle Muskeln waren angespannt, die Fäuste geballt und ihre Fingernägel gruben sich in die Handflächen.

Geh weg, verdammt! Geh doch einfach …

Doch die einzige Antwort auf ihre Wünsche war ein zweiter dumpfer Schlag, diesmal lauter und ungeduldiger als der erste, und dann, nach einigen Augenblicken unheilvoller Stille, ein weiterer, gefolgt von einem knackenden Geräusch, als würde Holz splittern.

Schnell legte sie ihre Hand über ihren Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Wollte er etwa die Tür aufbrechen? Nein, das konnte doch nicht sein! Selbst der entschlossenste Gläubiger von Ambrose würde es nicht wagen, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen …

Rumms!

Sie schnappte nach Luft, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Grundgütiger, er machte es wirklich! Er brach in ihr Haus ein, verschaffte sich wie ein gewöhnlicher Verbrecher gewaltsam Zutritt. Sie wich vom Fenster zurück. Mit zitternden Beinen schlich sie zum Kleiderschrank auf der anderen Seite des Schlafzimmers.

Die Pistole von Ambrose befand sich dort und sie war bereits geladen. Seit ihrem letzten ungebetenen Besucher hatte sie darauf geachtet. Sie warf sich einen Mantel über ihr Nachthemd, steckte die Pistole in die Tasche und schlüpfte leise auf ihren Strümpfen aus dem Schlafzimmer.

Als sie den Treppenabsatz erreichte, hielt sie inne, achtete darauf, dass sie nicht gesehen wurde. Sie erstarrte, lauschte und ihre Finger umklammerten fest die Pistole.

Der Lärm hatte aufgehört. Sie spähte um die Ecke und huschte dann weiter, blieb dabei aber fast unsichtbar. Die Haustür stand weit offen. Sie schien noch intakt zu sein, aber Gott allein wusste, was sein nächstes Ziel sein würde. Er war bestimmt nicht mit solcher Brutalität hereingestürmt, um jetzt aufzugeben.

Dieser Mann … er war es gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Seine Kutsche mit diesem kunstvollen Wappen, sein arroganter Gang, der teure Kastorhut und diese Stiefel mit den goldenen Quasten – jeder konnte auf den ersten Blick sehen, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte.

Aber mit ihr auch nicht.