Kapitel eins
Miss Louisa Templeton starrte Sebastian Colfax, Marquess of Marsden, an und war sich sicher, dass sie einen ebenso erstaunten und ungläubigen Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte wie ihre Mutter und ihre Schwester.
„J-ja?“, flüsterte Louisa und räusperte sich dezent.
Ihr Herz pochte vor Nervosität. Schlimmer noch, ihre Knie fühlten sich furchtbar weich an und sie war ganz kurzatmig. So viele neugierige Blicke lagen auf ihr und dem Marquess – einige Ladys hoben sogar bereits die Fächer, um dahinter zu tuscheln. Es gehörte sich nicht, dass sie auf seine ganz gewöhnliche Bitte hin so die Fassung verlor, auch wenn diese Bitte für Louisa so gar nicht gewöhnlich war.
Die grünbraunen Augen des Marquess, in denen mehr Gold als Grün funkelte, hielten sie mit ihrem unbekümmerten Blick gefangen. „Sind Sie sich nicht sicher, ob Sie mir diesen Tanz schenken möchten, Miss Templeton?“
Louisa errötete vor Schreck, dann hob sie das Kinn. „Ich bin mir ganz sicher, Mylord. Es wäre mir eine Ehre, mit Euch zu tanzen.“
Leises Gekicher erklang unter jenen, die nahe genug bei ihnen standen, um die Unterhaltung zu belauschen. Louisas jüngere, viel hübschere Schwester Emily hatte ihr den ganzen Abend lang bedauernde Blicke zugeworfen und sich ihr gegenüber sogar beschwert, dass ihr vom ganzen Tanzen die Füße schmerzten – doch niemand hatte bisher Louisa aufgefordert.
Ihre Mutter, die Viscountess Templeton, lächelte aufmunternd, während ihre Schwester schmollte – zweifellos aus Enttäuschung. Schließlich sagte man über sie, sie wäre eine der Perlen dieser Saison, und Lord Marsden hätte demnach sie auffordern sollen.
Der Marquess musterte Louisa eingehend, sodass sie befürchten musste, er könnte sehen, wie sich ihr Herz nach unmöglichen Dingen mit ihm sehnte. Dingen, von denen wahrscheinlich alle Debütantinnen träumten: durch romantisches Werben im Sturm erobert zu werden, verstohlene Küsse in üppigen Gärten, wunderschöne Blumen am Morgen und dann ein Heiratsantrag.
Albern.
Dennoch gab es diese Sehnsüchte, und Louisa schämte sich dafür, sich eingestehen zu müssen, dass sie von diesem Gentleman träumte. Wie sie sich wünschte, dass sie auch so hübsche Kleider, Ohrringe und Ketten besäße wie ihre Schwester. Allein eine Blume, die sie im Garten ihrer Mutter gepflückt hatte, zierte ihr Haar. Der Marquess bot ihr den Arm, und Louisa legte ihre zitternde Hand darauf. Ihr war vor heimlicher Freude ganz schwindelig. Es war bereits ihr fünfter Ball seit Beginn der Saison, doch der Marquess war der erste Gentleman, der sie zum Tanzen aufforderte. Lord Marsden war aber nicht nur irgendein Gentleman – laut diversen Zeitungen, Müttern und Debütantinnen war er einer der begehrtesten Fänge der Saison, obwohl man ihm nachsagte, ein schrecklicher Wüstling zu sein.
Oh, warum hat er mich nur aufgefordert?
Es sollte keine Rolle spielen, doch Louisas neugieriges Wesen, über das ihre Eltern so häufig klagten, drängte sie dazu, nachzufragen. Der Marquess hätte jede der anderen Damen auffordern können, die begierig auf einen Tanz warteten. Damen, die sehr viel hübscher und begehrter waren und denen weder die Diamanten noch die Perlen der Saison direkt ins Gesicht sagten, was für Mauerblümchen sie doch wären.
Dennoch war Louisa nicht einfältig genug, ihrer Neugier nachzugeben. Stattdessen versuchte sie sich an einem Lächeln, als sie auf der weitläufigen Tanzfläche ankamen. Der Marquess allerdings sah nicht sie an, sondern schaute über ihren Kopf hinweg, und Louisa zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Er wirkte völlig desinteressiert. Ein schneller Blick über die Schulter verriet ihr, dass er durch die offenen Terrassentüren in die Dunkelheit starrte.
Das Orchester erwachte zum Leben und die Melodie eines wunderschönen Walzers erfüllte den Raum. Der Marquess führte Louisa schwungvoll in den Tanz, und als sie deshalb leicht stolperte, korrigierte er ihre Schritte problemlos und wirbelte sie in einer weiteren anmutigen Drehung herum.
„I-ich bin untröstlich“, stammelte sie. „Ich habe noch nicht viel Übung und fürchte, ich bin Euch fast auf den Fuß getreten, Mylord. B-bisher habe ich nur mit meinem Tanzlehrer getanzt.“
Louisa wollte im Boden versinken, als der Marquess eine Braue hob und seine Lippen zu einem zynischen Lächeln verzog. Dennoch kommentierte er ihr Geplapper nicht, und sie tanzten weiter. Er wirbelte sie an ihrer Mutter vorbei, die sie mit offensichtlicher Sorge beobachtete. Louisa zuckte leicht zusammen, lenkte ihre Aufmerksamkeit dann jedoch wieder auf den Tanz, um sich und ihre Familie nicht zu blamieren. Sie sah den Marquess an und fragte sich, was er über ihren Kopf hinweg wohl anstarrte. War es nicht üblich für einen Gentleman, sich während des Tanzes mit der Dame zu unterhalten? Louisa hatte nicht viel Erfahrung mit derlei Dingen, da sie höchst selten zum Tanzen aufgefordert wurde und dies hier ihr erster öffentlicher Walzer war.
„Ein wunderbarer Tanz“, sagte sie. „Und Ihr seid ein großartiger Tänzer, Mylord.“ So. Ihre Mutter sagte ja immer, dass es wichtig war, einem Gentleman zu schmeicheln, besonders einem Lord.
Der Marquess senkte den Blick und betrachtete einige Momente lang ihr Gesicht. „Müssen Sie unbedingt sprechen, Miss Templeton?“
Sein gelangweilter Tonfall schmerzte und ließ Louisa nach Luft schnappen. „Ist es nicht üblich für eine Dame und einen Herrn, sich während des Tanzens zu unterhalten?“
„Es ist nicht wünschenswert.“
„Dessen war ich mir nicht bewusst, Mylord.“
„Jetzt sind Sie es“, sagte er in diesem distanzierten Tonfall.
Er führte sie durch einige ausladende Drehungen, und Louisa hätte schwören können, dass sie sich viel zu nahe waren, als er sie wieder an sich zog. Sie konnte die anregende Hitze seines Körpers spüren.
„Warum habt Ihr mich um diesen Tanz gebeten, wenn Ihr nicht an einer Unterhaltung interessiert seid?“, fragte Louisa mehr neugierig als beleidigt.
„Bisweilen tanze ich gern“, sagte er mit kühler Höflichkeit. „Es ist eine Schande, dass das nicht möglich ist, ohne mit endlosem Geplapper überschüttet zu werden. Mein Gehör ist nicht besonders angetan, wenn es mit geistlosem Geplauder über das Wetter oder anderen uninteressanten Unsinn bedrängt wird. Wenn Sie uns also beiden den Gefallen tun und einfach den Walzer genießen möchten?“
Louisa spürte, wie die Schamesröte ihre Ohren glühen ließ. „Ihr seid abscheulich unhöflich, Mylord“, flüsterte sie, erschüttert von seiner unverzeihlich groben Antwort.
Er hob arrogant eine Augenbraue. „Ich sage nur die Wahrheit.“
Louisa biss sich auf die Unterlippe und hatte keine Ahnung, was sie auf seinen beißenden Kommentar erwidern sollte.
Ein höhnisches Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln, und sie hasste es, dass sie ihn so unglaublich gut aussehend fand, obwohl er so … so sehr verdient hätte, dass jemand ihn wirklich heftig trat. Einen Moment lang fragte sie sich, welche Wirkung es wohl auf ihn hätte, wenn sie ihn kräftig mit ihren Wanderstiefeln in die Weichteile treten würde.
Ihr Tanz endete, und Lord Marsden brachte Louisa zu ihrer Mutter zurück, verbeugte sich höflich und verließ den Ballsaal.
„O du liebe Güte“, sagte Emily mit funkelnden Augen. „Der Marquess hat nur mit dir getanzt, Louisa. Das ist höchst bemerkenswert. Ich frage mich, warum er dich ausgewählt hat.“
Louisa seufzte und ärgerte sich darüber, dass sie bei den Worten ihrer Schwester einen Hauch von Aufregung verspürte. Selbst wenn sein Verhalten entschieden ungewöhnlich war, hatte das nichts zu bedeuten. „Ich bin sicher, dass Lord Marsden lediglich …“ Sie hatte ‚freundlich‘ sagen wollen, brachte das Wort jedoch nicht über die Lippen. Er war so ein Rüpel gewesen.
„Vielleicht hatte er einfach Mitleid mit dir“, sagte Emily fröhlich.
Louisas Bauch zog sich zusammen. „Mitleid?“
„Dich hat seit Ewigkeiten niemand mehr zum Tanzen aufgefordert, und du hast so verzweifelt ausgesehen, wie du mit hoffnungsvollem Blick neben der Tanzfläche gestanden hast.“
„Emily!“, tadelte ihre Mutter, öffnete ihren Fächer und wedelte viel heftiger damit, als sie es ihren Töchtern erlauben würde. „Zieh deine Schwester nicht so auf. Wir sollten dem Marquess für sein deutliches Interesse danken. Sicherlich wird das Louisas Chancen erhöhen – und so wenig schmeichelhaft das auch klingt, Liebes: Du kannst jede Hilfe gebrauchen, um einen Ehemann zu finden.“
Ärger wallte in Louisa auf. War sie wirklich erst jetzt für andere Gentleman interessant, weil einer von ihnen mit ihr getanzt hatte? „Ich brauche frische Luft“, sagte sie leise.
Weder ihre Mutter noch ihre Schwester hatten warnende Worte für Louisa übrig, als sie sich anschickte, sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen. Natürlich war ihre Mutter nicht besorgt. Sie glaubte wohl nicht einmal im Traum daran, dass irgendein Gentleman – ob höchst begehrenswert oder verwegener Wüstling – jene Tochter belästigen könnte, die alle nur als Mauerblümchen bezeichneten. Louisa schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, lief zur Terrassentür und sog die frische Luft tief in ihre Lunge.
„Du schienst ausgesprochen verärgert, während du mit Miss Templeton getanzt hast“, erklang eine amüsierte Stimme.
Louisa erstarrte. Sie verfluchte ihr Pech, dass sie ausgerechnet diese Unterhaltung zu hören bekam, doch ihre Neugier ließ sie an Ort und Stelle verharren. Sie blickte den dunklen Pfad hinab in den Garten, doch sie konnte nicht sehen, wer gesprochen hatte.
„Ich wollte nur mit irgendeinem Mädchen des ton tanzen – einem, bei dem meine Mutter nicht gleich aus dem Häuschen sein würde“, erklang trocken die unverkennbare Stimme des Marquess. „Sobald man mit einer heiratswürdigen Dame von Stand tanzt, hören diese Wichtigtuerinnen gleich schon die Hochzeitsglocken läuten. Verdammt lästig.“
Der andere Mann lachte. „Aus ebendiesem Grund überlege ich, diese Bälle ganz zu meiden. Wie war es, mit Miss Templeton zu tanzen? Sie ist so …“
„Eine graue Maus?“
„Ich wollte ‚unscheinbar‘ sagen. Ich bin überrascht, dass du sie ausgewählt hast, auch wenn ich jetzt deine Beweggründe verstehe.“
Louisa schlug sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu keuchen. Scham brannte in ihren Wangen. Der Marquess antwortete zunächst nicht, und sie wandte sich um, um wieder hineinzugehen. Da hörte sie ihn noch sagen: „Ich wage zu behaupten, ein Gespräch mit meiner Katze wäre interessanter. Was einiges darüber aussagt, wie ermüdend die Unterhaltung mit dem Mädchen war.“
Louisa floh. Das Gefühl, weinen zu müssen, schnürte ihr den Hals zu. Sie stolperte aus dem Haus der Countess und war dankbar, als sie ihre Freundinnen sah.
„Louisa“, rief Drusilla und winkte fröhlich. „Wir schleichen uns zum Berkeley Square 48 davon. Willst du mit uns kommen?“
Unfähig zu lächeln oder zu sprechen, folgte sie den Damen in die Kutsche und lehnte den Kopf an das Polster. Dieses stechende Gefühl in ihrer Brust war ihr unerklärlich. Der Marquess hielt sie für eine graue Maus … und unscheinbar … und hatte nur mit ihr getanzt, weil niemand je glauben würde, er könnte Interesse an einer Frau wie ihr haben.
„Louisa?“, fragte Harriet und lehnte sich vor. „Du bist so schrecklich ruhig. Was ist denn …“
Louisa überraschte sich selbst und ihre Freundinnen damit, dass sie in Tränen ausbrach. Und auch wenn es sie furchtbar beschämte, sich so gehen zu lassen, konnte sie sich einfach nicht mehr beherrschen.
Als sie schlussendlich zusammen im unteren Salon des geheimen Damenklubs saßen, hatten ihre Freundinnen ihr bereits die gesamte Geschichte entlockt. Sie kam sich albern vor, weil es ihr so zusetzte, doch sie hatte das Gefühl, als hätte jemand ihr Herz gegen heiße Kohlen ausgetauscht.
„Seine Katze!“, rief Agatha aus. Ihre goldbraunen Augen funkelten zornig. „Wie kann er es wagen, dieser rüpelhafte, gut aussehende Flegel!“
Die anderen nickten.
Louisa schniefte. „Ein gut aussehender Flegel, in der Tat.“ Sie hasste es, wie sehr ihr Hals schmerzte.
„Wir sollten diesem arroganten Lord eine Lektion erteilen“, sagte Drusilla und verengte nachdenklich die Augen.
„Das meine ich auch.“ Victoria stemmte eine Hand in die Hüfte. „Aber wie?“
„Wir sollten seine kostbare Katze ein paar Tage lang entführen“, murmelte Harriet mit teuflischem Glitzern in ihren taubengrauen Augen.
Louisa keuchte, dann prustete sie los. „Ihr seid unerhört. Es gibt keinen Grund, meinetwegen Vergeltungspläne zu schmieden. Lord Marsden ist … er ist unwichtig und wir sollten keinen weiteren Gedanken an ihn verschwenden.“
Drusilla nahm ein Stück Kreide, als hätte Louisa nichts gesagt, und ging zu der berühmt-berüchtigten Wetttafel an der Wand hinüber. Unter einige andere Herausforderungen kritzelte sie: Wer wagt es, Lord Marsdens Katze für ein paar Tage auszuleihen, bis der elende Halunke sich Sorgen macht?
„Warum glauben wir, dass er sich überhaupt sorgen würde?“, fragte Louisa verdrießlich. „Meine Lieben, ich kann euch versichern, dass das nicht nötig ist.“
„Zumindest werden wir ihn dieser angeblich so brillanten Unterhaltungen mit seiner Katze berauben“, murmelte Victoria.
Drusilla kicherte zustimmend. Agatha lief zur Wetttafel hinüber und schrieb: Herausforderung angenommen. Die Damen jubelten ausgelassen, und auch wenn Louisa lachte, erfreut von der Liebe und Loyalität ihrer Freundinnen, konnte sie das ungute Gefühl nicht abschütteln, das sie bei dieser Herausforderung beschlich.
Kapitel zwei
Einige Wochen später
Der Maskenball von Lady Clarice sprengte sämtliche Erwartungen, die Gerüchte darüber geweckt hatten. Das Innere des großen Stadthauses war spärlich beleuchtet und mit orientalischen Vorhängen und Teppichen dekoriert. Die Damen trugen juwelenbesetzte Masken, aufwendige Perücken und halbtransparente Kleider mit tiefen Ausschnitten, die viel Haut enthüllten.
Louisa hatte einiges über die Verhaltensregeln für junge Damen gelernt und war sich durchaus bewusst, wie unanständig sie sich verhielt, an dieser skandalösen Zusammenkunft teilzunehmen. Man hatte sie oft vor den Sünden und der Dekadenz der geheimen Kehrseite des ton gewarnt, die behütete junge Fräulein wie Louisa ruinieren konnten.
Und alles, was sie an diesem Abend sah, war mit allerhöchster Sicherheit sündhaft. Einige Paare tanzten den Walzer viel zu eng aneinandergeschmiegt, andere küssten sich anzüglich und eng umschlungen auf Chaiselongues. Eine Dame mit schwarz-blauer Maske saß rittlings auf dem Schoß eines jungen Lords, ihr Mund höchst unanständig mit seinem verschmolzen. Doch keine dieser Zurschaustellungen von Lüsternheit konnte Louisas Neugier wecken, geschweige denn sie reizen, sich ebenso unangebracht zu verhalten.
Sie hatte es nicht aus Spaß gewagt, hierherzukommen, wohin sich keine andere Debütantin vor ihr je getraut hatte, sondern war hier, um einer ihrer liebsten Freundinnen beizustehen. Im Flur zögerte Louisa und wollte weglaufen, wusste jedoch, dass sie jetzt dieses Zimmer betreten musste, aus dem ihre Freundin Agatha nur wenige Augenblicke zuvor mit Tränen in den Augen geflohen war. Louisa war sich noch nie in ihrem Leben bei etwas so unsicher gewesen. Kein Argument der Welt jedoch hätte sie davon überzeugen können, jetzt umzukehren.
Noch während sie das dachte, schwang die Tür auf und eine große Gestalt erfüllte den Türrahmen.
Louisa atmete tief durch, als sie zum gut aussehenden, wenn auch einschüchternden Duke of Ranford aufschaute. Sie trat einen Schritt vor und stach anklagend mit dem Finger in seine Brust. „Wie konntet Ihr Eure Frau so verraten?“
Der Duke sah aus, als wollte er sie erwürgen, doch sie reckte das Kinn vor und begegnete seinem kalten Starren mit einem – wie sie hoffte – unerschrockenen Blick ihrerseits. Dieser Mann hatte gerade einer ihrer liebsten Freundinnen das Herz gebrochen, und Louisa war entschlossen, ihm die Leviten zu lesen, auch wenn er sie danach für ihre Frechheit zurechtstutzen würde. Hoffentlich würden ihre Worte ausreichen, damit der Duke erkannte, wie sehr er mit seinen Taten Agathas Herz und Stolz verletzt hatte.
„Ich werde Sie ohne Zögern beiseiteschubsen“, erwiderte der Duke schroff und mit ungläubig geweiteten Augen.
Louisas Finger, die sie vor ihrem Körper verschränkt hatte, zitterten. Es hatte sie eine ganze Menge Mut gekostet, heute Abend hierherzukommen, und sie würde nicht zurückweichen. Sie reckte ihr Kinn noch höher und hielt seinem gereizten Blick stand. „Agatha verdient Treue in ihrer Ehe und …“
„Ich bin ihr treu, verdammt noch mal“, fuhr der Duke dazwischen, eindeutig beleidigt von ihrer Anschuldigung. „Ich will keine andere Frau als meine verflixte Duchess. Dies ist nicht der richtige Moment für Ihren Unsinn.“
Eine wunderbare Freude durchströmte Louisas Herz bei dieser leidenschaftlichen Verkündung. „Aber … Ihr seid mit der Dame in Rot hinter dieser Tür verschwunden!“ Und sie vermutete, dass er sich ausgiebig mit Agatha vergnügt hatte. Aber hatte er wirklich gewusst, dass es seine Ehefrau und keine Kurtisane gewesen war?
Ein Sturm wütete in den Augen des Dukes und Louisa begann, sich wirklich Sorgen um ihren Hals zu machen. „Ich wusste genau, dass die Dame in Rot meine verwünschte Duchess war!“
Oh! Seine Stimme sprudelte nur so vor inbrünstiger Ehrlichkeit. Das bedeutete … das bedeutete … Louisa lächelte, während ihr Herz einen erleichterten Satz machte. Das hieß, dass Agathas Ehe gerettet war und der Duke seine Frau tatsächlich liebte. Dieser blinzelte, schaute über ihren Kopf hinweg und rauschte dann an ihr vorbei, die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, zweifellos um seiner Frau nachzulaufen.
Wie herrlich romantisch!
Louisa klatschte in die Hände und drehte sich ein paarmal um sich selbst, und ihr war gleichgültig, ob jemand ihren Freudentanz sehen würde.
„Na, was haben wir denn hier?“, ertönte eine viel zu bedrohlich klingende Stimme.
Sie stolperte, fing sich und wirbelte zu der Stimme herum, die vom anderen Ende des Flurs kam, konnte jedoch nur die Silhouette eines Mannes ausmachen.
„Wer ist da?“, rief sie zittrig und fühlte sich mit einem Mal wie die Heldin aus einem der Schauerromane, die sie so gern las. Sie tastete nach ihrer dunklen Perücke und der Maske. Beides saß noch perfekt, auch wenn sie bezweifelte, dass jemand sie hier erkennen würde, wenn sie doch schon bei den Bällen und Soiréen nicht auffiel. Die Silhouette näherte sich und kurz darauf trat der Marquess of Marsden ins Licht.
Er bewegte sich anmutig auf sie zu und strahlte dabei Kraft und Selbstbewusstsein aus. Sein maßgeschneidertes dunkles Jackett und seine Hose schmiegten sich auf eine Weise an seinen Körper, wie es nur einem höchst talentierten Schneider gelang. Louisa stockte der Atem und sie trat einen Schritt zurück. Selbst aus einiger Entfernung konnte sie die dunkle Belustigung in Lord Marsdens schönen Augen sehen. Sie musste zugeben, dass er der am besten aussehende Mann war, dem sie je begegnet war … und gleichermaßen der grässlichste. „Ihr!“
„Ah … ja, ich. Und wer sind Sie?“
„Ich bin niemand.“
„So entschlossen, ein Mysterium zu bleiben?“
Ihr Herz schlug ein wenig zu schnell und sie wollte vor ihm davonlaufen – die Demütigung ihrer letzten Begegnung war noch zu präsent in ihrem Herzen. Louisa erinnerte sich noch, wie töricht ihr Herz gepocht hatte, als sie mit ihm getanzt und versucht hatte, sich mit ihm zu unterhalten – und wie gelangweilt er gewirkt hatte.
Die Erinnerung an seine beißenden Worte schmerzte noch immer, gerade weil sie seine Nähe so furchtbar intensiv gespürt hatte. Seine verschleierten Beleidigungen hatten ihr Herz und ihren Stolz so sehr verletzt, dass ihre Freundinnen sich gezwungen gesehen hatten, Vergeltung zu üben und die Katze zu entführen, mit der er sich ja ach so gern unterhielt.
Diese Herausforderung hatte Agatha in die Arme des Dukes of Ranford getrieben. Eindeutig schlimmer war jedoch, dass der Marquess of Marsden Louisa seit der Entführung der Katze pausenlos zu beobachten schien. Schon seit einer Woche – oder sogar länger? – spürte sie seinen Blick auf sich, und selbst am vergangenen Abend auf dem Ball von Lady Brampton hatte sie die Gerissenheit in seinen stechenden Augen gesehen – sie hatte den Jäger erkannt, der auf seine Beute lauerte. Louisa hatte sich eindeutig wie diese Beute gefühlt und war davongeeilt, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Sie hätte schwören können, dass sein spöttisches Lachen ihr gefolgt war.
Was hatte sie nur getan, dass er sie jetzt mit einer derart besorgniserregenden Intensität betrachtete? Erneut berührte sie die Maske, die sich an ihr Gesicht schmiegte. Es fühlte sich töricht an, wie sie einfach nur im Flur standen und einander anstarrten. Was erwartete er von ihr? Louisa atmete tief durch, sich durchaus bewusst, dass sie der Begegnung an diesem skandalösen Ort schnellstens entkommen musste.
„Wenn Ihr mich entschuldigt, Mylord, es scheint, ich habe … mich verlaufen.“
„Ah, Sie sind es also wirklich. Der Gegenstand meiner jüngsten Gedanken.“ Sein leises, beunruhigendes Raunen ließ Louisa innehalten.
„Verzeihung?“
Er lächelte – ein träges, gefährliches Lächeln, das ihre Nerven flattern ließ. „Kommen Sie, Miss Templeton, glauben Sie wirklich, dass diese Maske und diese Perücke mich über Ihre Identität hinwegtäuschen könnten?“
Eine heftige Furcht erfasste Louisa und sie zuckte zusammen, ehe sie erstarrte. „Ich …“
Ja … sie hatte tatsächlich geglaubt, dass er sie in dieser befremdlichen Aufmachung nicht erkennen würde – zu wissen, dass er es doch tat, ließ sie schwindeln. Was hatte er gesagt? Dass sie der Gegenstand seiner jüngsten Gedanken wäre?
„Ich glaube kaum, dass Ihr – ein Gentleman – über mich nachdenkt, Mylord, schließlich habt Ihr selbst gesagt, dass Ihr unsere jüngste Unterhaltung höchst uninteressant fandet.“
Er schnalzte mit der Zunge und näherte sich ihr weiter. „Fragen Sie nach der Art und Weise, auf die Sie in letzter Zeit meine Gedanken einnehmen?“
Sie schnappte nach Luft. „Natürlich nicht! Ich habe kein Bedürfnis, das zu erfahren.“
Lügnerin, spottete eine kleine, insgeheim begeisterte Stimme in ihrem Hinterkopf.
Er packte ihr Kinn mit seinen langen, schlanken Fingern. Das Gefühl seiner Haut auf ihrer schoss durch ihren Körper. In seinen Augen glomm ein Ausdruck, den sie nicht zuordnen konnte.
„Ich denke über Sie nach, Miss Templeton. Seit Tagen schon …“
Sie schreckte vor seiner Berührung zurück, weil sie etwas Abstand zwischen ihrem Körper und seinem benötigte. „Tut Ihr das?“
„Ich bin ausreichend verärgert, über Vergeltung an dummen Mädchen nachzudenken, und Sie werden für Ihre Verfehlung bezüglich meiner Queen bezahlen.“
Du liebe Güte! Louisa schaute ihn schockiert an, denn sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
„Vergeltung?“ Ihre Stimme zitterte und sie biss sich auf die Unterlippe. Sicherlich konnte der Marquess nicht wissen, dass es die Ladys vom Berkeley Square 48 gewesen waren, die seine kostbare Katze für ein paar Tage entführt hatten. Es hatte einen Moment gegeben, in dem alles hätte auffliegen können, doch nicht er hatte Agatha erwischt, als diese seine geliebte Katze zurück in sein Haus gebracht hatte. Sicherlich hatte der Duke dem Marquess nicht erzählt, was er Agatha hatte tun sehen, oder?
„Das Schweigen der Schuldigen.“
„Ich bin … bin …“ Louisas Stimme zitterte erneut und sie brauchte einen Moment, sich zu wappnen. „Ich bin nicht schuldig!“ Sie stand wortwörtlich mit dem Rücken zur Wand und er viel zu nah vor ihr. „Mylord!“, keuchte sie und presste eine Hand gegen seine Schulter.
„Ja?“ Lord Marsden strich mit den Fingern über ihre Kehle. Das heftige Gefühl, das die Berührung auf ihrer Haut auslöste, ließ ihr Herz rasen. Er fuhr mit dem Daumen über ihren Kiefer, neigte ihren Kopf nach hinten und nahm ihren Blick mit seinen durchdringenden grünbraunen Augen gefangen.
Louisa fühlte sich wie ein Kaninchen im Bann eines listigen Fuchses. Sie versuchte, ihr entzücktes Erschauern zu unterdrücken, denn er verdiente es nicht, dass sie seinetwegen so empfand.
„Was tut Ihr denn?“, fuhr sie ihn an.
„Sicherlich haben Sie mit derlei … Zuwendung gerechnet, angesichts dieses Ortes, an den Sie sich gewagt haben.“
„Wenn Ihr nicht wärt, wäre ich nicht in diesem Pfuhl … der Sünde.“ Sie keuchte. „Aber das bedeutet nicht, dass ich …“
„Sagen Sie bloß nicht, dass Sie mich sehen wollten.“
„Natürlich nicht“, erwiderte sie. „Aber Ihr wart es, der den Ehemann meiner Freundin beschworen hat, sich eine Geliebte zu suchen, also musste ich herkommen, um ihr zu helfen!“
Seine Augen weiteten sich leicht. „Sie sagen das, als wäre es ein schreckliches Vergehen, Ranford zu einer Geliebten zu überreden.“
„Er ist verheiratet!“, rief Louisa aus. „Ihr seid wahrlich ein Schuft allererster Güte!“
„O Sie naives kleines Mädchen. Alle Männer mit Ehefrauen haben Mätressen.“
Sie verengte die Augen. „Nicht die ehrbaren.“
Er lächelte spöttisch. „Wenn Sie dann die kleinen Krallen wieder einfahren: Ich habe Ranford nur mit dem Gedanken an eine Geliebte getriezt, damit er erkennt, wie vernarrt er in seine Frau ist.“
„Oh“, sagte sie leise. „Wirklich?“
Statt zu antworten, senkte der Marquess den Kopf und presste seinen Mund direkt auf ihren. Louisa wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie keuchte und der verwegene Schuft strich mit der Zunge über ihre Unterlippe, ehe er sie in Louisas Mund schob. Es fühlte sich an, als würde ein Blitz in sie fahren und die Energie jede Zelle ihres Körpers prickeln lassen. Mit einem Schlag fühlte sie sich lebendig, wachgerüttelt, und hatte keine Ahnung, ob sie ihn wegschieben oder sich seinem Körper und seinem erregenden Duft entgegendrängen sollte. Schockierende Lust breitete sich in ihr aus und sein heißer, männlicher Geschmack ließ sie stöhnen.
Louisa kam jeglicher Sinn für Zurückhaltung, jeder vernünftige Gedanke abhanden. Sie schlang die Arme um seinen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und drängte ihre Zunge der seinen entgegen. Er nahm ihr Seufzen in seinen Mund auf und antwortete mit einem Stöhnen seinerseits. Der Marquess verschlang ihren Mund, bis sie wimmerte. Sie verlor sich ein Stück weit selbst, als ein ihr unbekanntes Gefühl zwischen ihren Schenkeln erwachte. Es fühlte sich eigenartig an, heiß und beängstigend. Sie drückte die Hände gegen seine Brust und zu ihrer Überraschung trat er ohne Gegenwehr zurück.
„Warum habt Ihr das getan?“
„Weil ich es kann“, sagte er mit amüsiertem Grinsen. „Und wie froh ich bin, dass ich es getan habe. Ich habe nie von etwas so … Süßem gekostet.“
„Ihr seid ein Wüstling!“
Sie floh vor ihm und hielt erst am Fuße der gewundenen Treppe inne, um zu Atem zu kommen. Einige spärlich bekleidete Damen im Flur sahen sich zu ihr um, und sie erkannte, dass der Marquess hinter ihr aufgetaucht sein musste. Eine der Damen leckte sich über die Lippen und zog zu Louisas Entsetzen den Ausschnitt ihres Kleides herab, um auf eindeutig einladende Weise mehr von ihrem Dekolleté zu präsentieren.
Louisa kniff kurz die Augen zu, dann stürmte sie weiter. Plötzlich schlang sich ein Arm um ihre Taille und sie wurde herumgewirbelt. Fassungslos blickte sie auf in das Gesicht eines Fremden.
„Lauf nicht weg, mein süßes Täubchen.“
Der Laut aus dem Mund des Mannes, als der Marquess gnadenlos in dessen Nacken griff, erinnerte Louisa an das Quieken eines erschrockenen Schweinchens.
„Wie können Sie es wagen!“, fuhr Lord Marsden ihn an und der Zorn in seinen Augen schockierte Louisa noch mehr als die Berührung des Fremden.
Der Mann ließ von ihr ab, als hätte er sich verbrannt. Louisa wartete nicht ab, was passierte, sondern rannte davon, bis sie aus dem Haus und in die kühle Abendluft stolperte.
„O Gott“, flüsterte sie. „Er hat mich geküsst!“
Sie eilte die Eingangstreppe hinunter und über die Kopfsteinpflasterstraße zur wartenden Kutsche. Die Stufen wurden heruntergelassen, als Louisa sich näherte, und sie schlüpfte hinein.
„Was hat denn so lange gedauert?“, rief Harriet, ihre grauen Augen von Sorge verdunkelt. „Ich kann nicht glauben, dass wir dir erlaubt haben, allein hineinzugehen. Agatha ist schon vor einigen Minuten wiedergekommen – und du wirst es nicht glauben: Der Duke ist ihrer Kutsche nachgejagt. Zu Fuß!“
„Es war so romantisch“, schwärmte Victoria. „Er liebt Agatha ganz eindeutig wirklich. Oh, ich freue mich so für sie. Aber verrate uns mal, Louisa, warum sind deine Lippen so geschwollen?“
Louisa starrte ihre Freundinnen an, während die vermaledeite Schüchternheit, die sie schon ihr gesamtes Leben begleitete, Besitz von ihr ergriff. „I-ich …“
„Du musst es uns jetzt nicht erzählen“, sagte Victoria sanft, doch ihre Augen funkelten spitzbübisch. „Wir wissen, auf was für einen Ball du dich getraut hast.“
„Trotzdem wirst du es uns irgendwann erzählen müssen“, fuhr Harriet dazwischen. „Hat man dir wehgetan?“
„Nein, natürlich nicht“, versicherte Louisa ihnen schnell. „Es gibt keinen Anlass zur Sorge.“
Ihre Freundinnen schauten sie zweifelnd an, doch Louisa lenkte sie geschickt ab, indem sie sagte, dass sie zum Berkeley Square fahren und den Rest des Klubs über die Ereignisse des Abends auf den neusten Stand bringen sollten. Während die Kutsche losrumpelte, konnte Louisa nicht anders, als sich die behandschuhten Finger auf die Lippen zu legen. Jemand hatte gerade ihren ersten Kuss geraubt … und ausgerechnet ein berüchtigter Wüstling, der keinerlei echtes Interesse an ihr hatte. Schlimmer noch, in ihrer Brust fühlte sie eine hilflose Sehnsucht nach der Verruchtheit aufsteigen, die sein Geschmack versprochen hatte.