Kapitel 1
„Ich würde es niederbrennen.“
Amanda Graham drehte sich abrupt zu ihrer Freundin um und starrte sie fassungslos an.
„Du würdest was?“
Beths Stimme klang entschlossen. „Verbrennen. Alles. Ein Streichholz, ein paar Liter Kerosin und - bumm! Ein hübsches, leeres Grundstück mit Meerblick.“
Amanda ließ ihren Blick über das verlassene Ravenwood Inn schweifen. Groß, verwittert und seit Jahren unbewohnt lag es im schattigen Rasen wie das bleiche Skelett einer einst strahlenden Debütantin, zurückgelassen nach einem Leben voller rauschender Feste und feiner Gesellschaft. Die viktorianische Architektur, die weitläufigen Veranden und verschnörkelten Balkone erzählten von einer Zeit, in der dieses Haus geliebt und gepflegt worden war. Mit viel Fantasie konnte Amanda fast das Lachen der früheren Gäste hören, die in eleganter Abendgarderobe Arm in Arm die breite Treppe hinaufstiegen.
„Einige Teile sind aus Ziegeln. Das würde sowieso nicht gut brennen“, versuchte sie pragmatisch einzuwenden. Vielleicht ließ sie sich von der Romantik der Geschichte blenden, aber sie hatte sich entschieden: Sie würde hier wohnen - und sich nicht von bröckelnder Farbe und verbarrikadierten Fenstern abschrecken lassen.
„Ich glaube, es braucht nur ein bisschen Arbeit, dann könnte es fantastisch werden. Früher war das hier die beliebteste Frühstückspension in der ganzen Gegend. Hunderte von Gästen müssen hier übernachtet haben. Jeder kannte das Ravenwood Inn.“
Beth hob skeptisch eine Augenbraue. „Ja, vor hundert Jahren? Oder tausend?“ Sie legte Amanda eine sanfte Hand auf die Schulter, doch ihre Worte waren unnachgiebig: „Du bist dem hier finanziell nicht gewachsen, Amanda, und das weißt du auch. Das Haus ist ein Fass ohne Boden. Du wirst jeden Cent aus dem Verkauf deiner Wohnung dafür brauchen. Ich verstehe, dass du eine seltsame familiäre Bindung dazu hast, aber du musst realistisch bleiben.“
Allein die Erwähnung ihrer verkauften Wohnung versetzte ihr einen Stich ins Herz. Sie bereute den Verkauf nicht, nachdem ihr Freund Ken sie verlassen hatte. Aber die ganze Sache war so schmutzig und demütigend gewesen, dass sie wusste, dass sie einen Neuanfang brauchte. Als sie erfuhr, dass ihr letzter lebender Verwandter, ihr Onkel Conrad, gestorben war und ihr das Ravenwood Inn hinterlassen hatte, war sie erschüttert und erleichtert zugleich gewesen. Vielleicht war das genau das Zeichen, auf das sie gewartet hatte. Vielleicht konnte sie sich in dem kleinen Küstenort ein ganz neues Leben aufbauen.
„Ich habe es satt, vernünftig zu sein, Beth. Ich war mein ganzes Leben lang vernünftig. Ich habe es satt, alles planen zu müssen, mir sagen zu lassen, was ich tun soll, und mich mit dummen, schrecklichen Männern herumzuschlagen. Ich brauche einen Neuanfang.“ Sie lächelte ihre langjährige Freundin schief an. „Und wo geht das besser als in einem kleinen Küstenort in Oregon, weit ab vom Schuss?“
Beth schnaubte verächtlich. „Du meinst in der Einöde.“
Amanda antwortete nicht. Sie betrachtete das alte Gebäude und rechnete im Kopf aus, was es kosten würde, es wieder herzurichten. Hinter ihr, auf der anderen Straßenseite, standen kleine, adrette Häuser mit akkurat geschnittenen Blumenbeeten und soliden Mittelklassewagen in der Einfahrt. Im Vergleich zu diesen gepflegten Einfamilienhäusern wirkte das heruntergekommene Hotel wie ein Fremdkörper – mit seinem löchrigen Dach und dem meterhoch wuchernden Gras, das offenbar seit Monaten nicht mehr gemäht worden war.
„Mag sein“, sagte Amanda leise, „aber wenn ich mir irgendwo ein neues Leben aufbauen will, dann kann das genauso gut hier sein.“
Ein ärgerliches Schnauben ließ sie aufblicken. Eine untersetzte ältere Dame auf der anderen Straßenseite musterte sie missbilligend. Kopfschüttelnd murmelte sie etwas vor sich hin und eilte weiter zu einem der kleinen Cottages, ihre übergroße Handtasche fest an sich gepresst.
Toll. Ein vielversprechender Anfang mit einer potenziellen Nachbarin, dachte Amanda ironisch. Genau das, was ich brauche.
Sie wandte sich wieder Beth zu und ignorierte den plötzlichen kalten Luftzug, der unter ihren dünnen Pullover kroch. „Hör zu, Beth, ich weiß, dass du nur mein Bestes willst, und ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du hergekommen bist. Aber die Wahrheit ist: Ich brauche etwas Neues. Und ich glaube, das hier könnte es sein. Hier kennt mich niemand, hier weiß niemand, was in meinem Leben passiert ist. Ich kann ganz neu anfangen. Alles, was sie über mich wissen müssen, ist, dass ich jetzt Besitzerin eines coolen alten Hotels bin.“
Sie deutete auf das stille, unbeleuchtete Gebäude. „Das ist meine beste Chance auf ein ruhiges, langweiliges, normales Leben – und ich werde sie ergreifen.“
Es kam aus tiefstem Herzen, doch Amanda war nicht überrascht, als Beth in ihre Handtasche griff und einen Autoschlüssel hervorzog.
„Ruf mich an, wenn du dich nach Sushi und Zivilisation sehnst, Süße“, sagte Beth und klang fast mitleidig. Sie küsste Amanda kurz auf die Wange und umarmte sie. „Es wird bald dunkel, und ich will nicht zu spät auf die Autobahn. Sag Bescheid, wenn du irgendwas brauchst“, sagte sie und ging zu ihrem Wagen.
Es dauerte fast zwei Minuten und brauchte ein paar Versuche, bis der rostfleckige Schlüssel endlich ins Schloss der massiven Eingangstür des Inns passte. Amanda bemühte sich, nicht zu stark gegen den aufwändig gefertigten Glaseinsatz in der Tür zu drücken, aber sie war ungeduldig und wollte die schwere Tür schnell genug aufschieben, um sich hindurchzuzwängen.
Im dämmrigen Licht konnte sie erkennen, dass die Eingangshalle riesig war. Dichte, schleifenartig herabhängende Spinnweben sahen aus wie vergessene Girlanden von einer längst vergangenen Feier. Sie schaltete ihre Taschenlampe ein und konnte gerade noch den riesigen Kronleuchter über sich und die geschwungene massive Treppe direkt vor sich erkennen. Breite, bogenförmige Türöffnungen führten nach rechts und links in dunkle, stille Räume, in denen sie kaum die Umrisse verlassener Möbel erkennen konnte. Die Luft war abgestanden und trocken, als wäre das Inn seit Jahren versiegelt gewesen und sie nun die erste Lebende, die es wieder betrat. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Herz schlug wie verrückt, während sie den Eingangsbereich mit ihren Blicken überflog und versuchte, alles auf einmal zu erfassen.
Fast erwartete sie, dass ein uralter Geist vorbeigeschwebt kam, um ihre Reservierung zu prüfen, bevor sie offiziell an der kleinen Rezeption neben der Treppe einchecken konnte.
Sie unterdrückte ein Frösteln und trat wieder nach draußen, ließ die widerspenstige Tür einen Spaltbreit offenstehen, während sie ihre Reisetasche und ihren Schlafsack aus dem Auto holte. Mit Ausnahme des Geldes, das sie auf der Bank deponiert hatte, ließen sich nun all ihre Habseligkeiten auf zwei übergroße Gepäckladungen aufteilen und standen in diesem Moment auf dem schwach gemusterten Teppich im Salon.
Kaffee, dachte sie. Ich brauche Kaffee. Und Laternen. Oder einen ordentlichen Drink.
Sie nahm ihre Jacke vom Rücksitz, knöpfte sie fest gegen die eindringende Kälte zu und fuhr schnell den Hügel hinunter. Nur drei Straßen trennten sie von der kleinen Hauptstraße des Ortes, und während sie fuhr, versuchte Amanda, sich den Weg zu ihrem neuen Zuhause einzuprägen.
Das Ravenwood Inn thronte auf einem malerischen Felsvorsprung mit Blick auf das weitläufige Städtchen, den breiten Strand und den Ozean, der sich dahinter erstreckte. Die Straßen schlängelten sich entlang der natürlichen Topografie und fielen allmählich zum Meer hin ab. Alles war sauber und ruhig. Kleine Läden mit beleuchteten Schaufenstern reihten sich aneinander, während altmodische Straßenlaternen eben erst zu flackern begannen.
Während sie über die Hauptstraße fuhr, kam es ihr vor, als hätte die Stadt die Gehsteige für die Nacht hochgeklappt kurz bevor sie ankam. Definitiv nicht L.A., dachte sie. Aber sie hatte das Leben in L.A. ohnehin nie wirklich gemocht. Sie hatte dort gearbeitet und gewohnt, aber sich nie wirklich zu Hause gefühlt. Die alte Küstenstadt war ganz anders: charmante Seitenstraßen mit gepflegten Bungalows, kleine familiengeführte Geschäfte. Im Zentrum konnte sie eine offene Grünfläche entdecken, vermutlich ein Park, mit einem weiß gestrichenen Musikpavillon und verstreuten Bänken entlang des von Gehwegen eingerahmten Rasens. Eine fest installierte Plattform wartete auf den jährlichen Weihnachtsbaum der Stadt, und Amanda vermutete, dass das steinerne Denkmal daneben entweder gefallenen Soldaten oder einem lokalen Helden gewidmet war.
Die salzige, raue Meeresluft war erfrischend.
Kein Smog, kein heißer Asphalt, dachte sie. Aber vermutlich werde ich die vielen Starbucks-Filialen und die Low-Carb-Lunches aus L.A. bald vermissen.
Auf dem Weg in die Stadt hatte sie einen Gemischtwarenladen mit einem großen Schild gesehen, das unter anderem „Eisenwaren“ anpries. Sie betete stumm, dass er noch geöffnet hatte.
Sie parkte vor dem alten Kino und musste die letzten Meter schnellen Schrittes hinter sich bringen, um die Aufmerksamkeit des dunkelhaarigen Ladenbesitzers zu erregen. Er trug ein rot-schwarz kariertes Hemd und hielt eine graue Katze im Arm. Gerade als sie näherkam, drehte er das Schild im Schaufenster auf „Geschlossen“. Doch als er sie bemerkte, hob er überrascht den Kopf, winkte sie heran und setzte die Katze auf den Boden, bevor er die Tür für Amanda öffnete.
Das Tier schlenderte über den Holzfußboden, sprang mit einer geschmeidigen Bewegung auf den Tresen und beobachtete Amanda mit seinen gelben Augen, während sie in den Laden eilte.
„Vielen Dank, dass Sie mich noch reinlassen! Ich brauche nur kurz ein paar Dinge, dann bin ich gleich wieder weg. Haben Sie Laternen?“
Während sie der unbeeindruckten Katze kurz das Kinn kraulte, folgte sie dem Ladenbesitzer durch einen Gang voller Krabbenfallen und Kisten mit Einmachgläsern. Der Laden roch nach Vergangenheit – nach frischem Obst, Pappe, Räucherfisch und Motoröl. Hier waren schon Generationen von Kunden ein- und ausgegangen, um Vorräte zu kaufen oder Rat einzuholen.
Hinter einem alten Holzofen und ein paar abgewetzten Bänken blieb der Mann schließlich vor einem Regal mit Laternen stehen.
„Öl oder Batterie?“
„Batterie“, sagte sie. „Ich möchte das Haus nicht schon in der ersten Nacht abfackeln.“
Sie dachte dabei an den Kommentar ihrer Freundin, sie solle das Haus lieber niederbrennen und das Grundstück verkaufen.
Der Ladenbesitzer zog überrascht eine Augenbraue hoch, griff nach einem Karton im obersten Regal und reichte ihn ihr. „Diese hier ist feuerfest. Äh … Ihre erste Nacht, wo?“
Amanda zuckte innerlich zusammen. „Im Ravenwood Inn. Ich habe es von meiner Tante und meinem Onkel geerbt und bin gerade erst angekommen. So spät wie es jetzt ist, dachte ich, ich übernachte einfach dort und sehe mir morgen alles in Ruhe an.“
Er pfiff leise durch die Zähne. „Wow, Sie haben echt Mut. Das Haus braucht eine Menge Arbeit.“ Seine Augen musterten sie neugierig und ohne jegliche Zurückhaltung. „Sie sind also Conrad und Judys Nichte, richtig? Ich habe gehört, dass Sie geerbt haben. Wollen Sie da nur wohnen oder das Inn wieder als Bed & Breakfast eröffnen?“ „Beides.“
Er grinste und streckte ihr seine große Hand entgegen. „Dann werden Sie bestimmt eine hervorragende Kundin von mir. Ich bin Brian Petrie, der Besitzer dieses Ladens. Wenn Sie irgendwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“
Sie schüttelte ihm lachend die Hand. „Amanda Graham. Ich glaube, ich werde eine zu gute Kundin. Das Inn braucht in der Tat eine Menge Arbeit. Haben Sie da vielleicht einen Rabatt für Stammkunden?“
„Für Leute, die historische Gebäude renovieren, in denen vermutlich Spinnen und Geister hausen? Da lässt sich bestimmt was machen.“ Er lächelte warm. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Ravenwood Cove spürte Amanda, wie sich ihre Anspannung etwas löste.
„Aber bitte erwähnen Sie nie wieder Spinnen. Ich schlafe heute auf dem Boden. Haben Sie zufällig Feldbetten? Und Insektenspray?“
***
Als Amanda aus dem Gemischtwarenladen ging, hatte sie die Arme voller Tüten und Päckchen. Mit einiger Mühe winkte sie Brian zu und verstaute dann ihre Einkäufe in ihrem kleinen Auto. Es brauchte einiges an Geschick, um all die Tüten so weit zur Seite zu schieben, dass sie sich auf den Fahrersitz quetschen und die Tür schließen konnte.
Ich brauche definitiv ein größeres Auto für das Inn, dachte sie. Eins, mit dem ich Gäste abholen, Lebensmittel einkaufen und Baumaterial transportieren kann.
Als sie mit dem Auto losfuhr, das sie zuvor halb auf dem Gehsteig geparkt hatte, kamen ihr Bilder der Zukunft in den Kopf – einer Zukunft, in der ihr Bed and Breakfast florierte. Sie stellte sich das wunderschöne historische Gästehaus vor, voller glücklicher Touristen, die ihre Zimmer buchten, während sie selbst als immer freundliche Gastgeberin die ihre Gäste stets willkommen hieß, durch die Flure des Inns schritt.
Es war genau die Art von Traum, den sie unbedingt wahrmachen wollte.
Vor harter Arbeit hatte sie keine Angst. In ihrem letzten Job war sie Betrugsermittlerin bei einer großen Versicherung gewesen und hatte das Team praktisch allein geführt. Ihr Chef war ein gutmütiger Alkoholiker gewesen, der kurz nach dem Mittagessen regelmäßig verschwand, nur um am nächsten Tag mit einem gewaltigen Kater wieder aufzutauchen. Amanda hatte sich viele Ermittlungstechniken selbst beigebracht – sie wusste, wann jemand log, um eine hohe Abfindung zu kassieren, und sie konnte erkennen, ob das verheerende Feuer in einem Restaurant wirklich ein Unglück gewesen war oder nur ein perfider Versicherungsbetrug, um Schulden zu begleichen.
Sie hatte mehr als genug mitbekommen, um zu erkennen, wie gierig und manipulativ Menschen sein konnten. Und dann war da noch ihr Exfreund – ein Meister darin, jede Gelegenheit zu nutzen, um ihr mitzuteilen, wenn sie ein paar Pfunde zugenommen hatte oder welche Frauen auf einer Party attraktiver waren als sie.
All das hatte sie bis ins Mark getroffen.
Ein neuer Beruf und ein gewaltiges Projekt wie das Ravenwood Inn waren genau das, was sie brauchte.
Keine Männer. Kein Drama.
Zum Glück gab es in Kleinstädten keinerlei Geheimnisse oder Aufregung.
Kapitel 2
Amanda schreckte am nächsten Morgen aus dem Schlaf hoch. Das durchdringende Krähen eines überaus eifrigen Hahns hallte durch die Nachbarschaft. Helles Sonnenlicht fiel durch die Ritzen der verbarrikadierten Fenster und zeichnete lange Streifen auf den staubigen Boden.
Mit einem schnellen Satz sprang sie aus dem klapprigen Feldbett, auf dem sie notdürftig geschlafen hatte, und suchte hastig ihre Bettdecke ab. Erst als sie sicher war, dass sich keine Spinne in den Falten versteckte, atmete sie erleichtert auf.
Keine Spinnen! Das war zumindest ein guter Start in den Tag.
Ein Blick auf die Uhr ihres Handys ließ sie leise fluchen. Viel zu früh. Das Schreien eines Hahns war etwas völlig anderes als der gewohnte Lärm der morgendlichen Rushhour, den sie aus Los Angeles kannte.
Verdammtes Hühnervieh.
Sie band ihr langes Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen, schnappte sich ihre Taschenlampe und begann eine gründliche Inspektion des Hotels. Mit ihrem Notizbuch bewaffnet, skizzierte sie den Grundriss, machte sich Notizen und hielt mit ihrem Handy fotografisch den Zustand jedes Zimmers fest.
Im Erdgeschoss entdeckte sie einen eleganten Speisesaal neben einer großzügigen, wenn auch veralteten Großküche. Hinter einer dunklen Holztür lag ein großes Gäste-WC mit einer riesigen, kunstvoll verzierten Spiegelwand. Zwei weiträumige Salons luden zum Verweilen ein – einer mit einer verstaubten Veranda und einem verhüllten Klavier, der andere mit einem riesigen Kamin, dessen eiserner Schwenkarm vermutlich einst einen Kessel gehalten hatte. Direkt an die Küche grenzte ein geräumiger Waschraum, mit einer Tür an der hinteren Wand.
Neugierig öffnete Amanda sie und leuchtete mit der Taschenlampe eine schmale Holztreppe hinunter, die in einen finsteren Keller führte, aus dem ihr der modrige Geruch von altem Ziegelstein und feuchter Erde entgegenwehte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Da würde sie runtersteigen und sich umsehen – aber definitiv nicht heute.
Eine schmale Treppe neben der Kellertür führte Amanda ins zweite Stockwerk. Wahrscheinlich der frühere Dienstbotenaufgang, dachte sie. Ganz anders als die breite, repräsentative Haupttreppe.
Sechs große Schlafzimmer erstreckten sich entlang des Flurs, drei davon mit eigenem Bad und Blick auf den Strand in der Ferne. In jedem Zimmer standen alte, aber robuste Möbel. Vorsichtig zog Amanda die schweren Vorhänge auf, ließ Licht in die Räume und hustete, als eine Staubwolke aufwirbelte.
Eine Doppelflügeltür führte zu einem Balkon mit Blick auf den verwilderten Obstgarten. Als sie sie öffnete, schlug ihr der Duft von reifen Äpfeln entgegen. Amanda lehnte sich über das Geländer und ließ den Blick über das Grundstück schweifen.
Mehrere Hektar Land gehörten also zum Ravenwood Inn, mitsamt einiger Nebengebäude. Direkt neben dem Gartenweg ragte eine verwitterte, mit wilden Rosen überwucherte Pergola empor. Weiter hinten erkannte sie eine kleine Scheune, zwei Schuppen und ein einsames Hühnerhaus.
Nahe des Haupthauses erstreckte sich vermutlich der ehemalige Gemüsegarten, der nun von Unkraut überwuchert war. Eine windschiefe Vogelscheuche wachte über das vernachlässigte Land, das einst frische Kräuter und Gemüse für die Gäste geliefert hatte. Amanda stellte sich vor, wie eine Köchin vor Jahren vielleicht noch schnell in den Garten gelaufen war, um Petersilie oder Tomaten für das Abendessen zu holen.
Vielleicht sollte sie sich selbst ein paar Hühner anschaffen?
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, wie sie selbst über den Hof rannte, um flatternde Hennen einzufangen. Definitiv nicht ihre Welt.
Nachdem sie die Haupttreppe nach oben gegangen war, entdeckte Amanda im obersten Stockwerk zwei kleine Kammern – vermutlich für das Personal – sowie ein großes Schlafzimmer, das eindeutig den Besitzern gehört hatte.
Während in allen anderen Räumen die Möbel noch ordentlich arrangiert waren, bot sich ihr hier ein chaotisches Bild. Schubladen waren aufgerissen, Kleidung lag verstreut auf dem Boden, das Bett war zerwühlt. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere wild durcheinander.
Sie hatte gewusst, dass ihre Tante und ihr Onkel vor vielen Jahren plötzlich fortgegangen waren – doch das hier trug alle Anzeichen einer überstürzten, panischen Flucht. Als sie ihren Onkel einst in Kansas besucht hatte, hatte er ihr erzählt, dass sie schon lange nicht mehr in Ravenwood lebten. Doch nie hatte er erklärt, warum sie damals umgezogen waren oder weshalb sie ein florierendes Geschäft einfach so hinter sich gelassen hatten.
Vorsichtig bahnte sich Amanda ihren Weg durch die verstreut liegenden Kleidungsstücke und umhergewehten Papiere, bedacht darauf, nichts zu zertreten. Wie viele Jahre mochte dieses einst stolze Haus nun schon dem Verfall preisgegeben sein? Warum nur sollten ihr Onkel und ihre Tante so plötzlich geflohen sein – und das, ohne ihre wertvollen Möbel, persönlichen Habseligkeiten oder Erinnerungsstücke mitzunehmen?
Menschen fliehen, wenn sie Angst haben, dachte sie, während sie einen umgestürzten Stuhl aufhob und wieder auf die Beine stellte. Sie flüchten, wenn sie verfolgt werden – wenn sie nicht gefunden werden wollen.
Schon als Amanda durch die verschiedenen Räume gegangen war, hatte sie sich eher wie eine Besucherin gefühlt. Viele der Zimmer sahen so aus, als müssten sie nur ein wenig aufpoliert werden, um wieder Gäste empfangen zu können. Doch als sie schließlich die Suite betreten hatte, in der ihre Tante und ihr Onkel gewohnt hatten – und die sie dann so plötzlich verlassen hatten – beschlich sie ein ganz anderes Gefühl. Jetzt war es, als würde sie in das Privatleben anderer eindringen. Ein weiterer schmerzhafter Hinweis darauf, wie wenig sie über ihre letzten Verwandten wusste. Und die Chance, das zu ändern, hatte sie nun verpasst.
Sie trat leise zurück und schloss die Tür. Bevor sie sich an das Chaos und die Vergangenheit in diesem Raum wagte, war es besser, in einem der anderen Zimmer zu schlafen. In diesem hier schlummerten zu viele Geheimnisse.
Nach einem schnellen Frühstück aus Käse und Crackern war sie bereit dafür, loszulegen. Sie erledigte ein paar Anrufe – meldete Strom an, abonnierte die Lokalzeitung und ließ einen Container für den Bauschutt der Renovierung liefern. Außerdem erkundigte sie sich beim örtlichen Steuerbüro nach möglichen Rückständen. Ihr Onkel hatte vor Jahren einmal erwähnt, dass die Grundsteuer für das Ravenwood Inn ihn fast umbrachte, aber er wollte trotzdem nicht aufgeben. Was auch immer ihn dazu brachte, weiterhin jährliche Zahlungen für ein Hotel zu leisten, in dem er nicht mehr wohnte, war Amandas Glück. Keine Schulden, keine Zwangsversteigerung – das alte Hotel gehörte jetzt ihr.
Mit der Zusage, dass der Strom bis Mittag wieder laufen würde, zog sie sich Arbeitshandschuhe über, nahm ein Brecheisen und trat nach draußen. Sie hatte gerade das zweite Brett von einem der Fenster gehebelt, als sie spürte, dass sie von der Straße aus beobachtet wurde.
Sollen sie doch glotzen, dachte sie. Es ist wohl nicht das erste Mal, dass jemand eine Frau beim Renovieren sieht.
„Guten Morgen!“ Die Stimme war tief, bestimmt – und wollte eindeutig ihre Aufmerksamkeit.
Sie drehte sich um, immer noch das Holzbrett in der Hand, das sie gerade losgerissen hatte. Sie wünschte sich, eine Hand frei zu haben, mit der sie sich die Haarsträhne aus dem Gesicht streichen könnte. Vor ihr stand ein Mann in Polizeiuniform, Mitte fünfzig, mit freundlichem Lächeln – doch sein Gesichtsausdruck blieb sachlich.
„Wir haben uns noch nicht kennengelernt.“ Formuliert wie eine Feststellung, die eine Antwort erwartete.
Amanda seufzte innerlich, legte das Brett zur Seite, zog ihren Handschuh von ihren Fingern und streckte die Hand aus. „Amanda Graham. Ich habe das Ravenwood Inn von meinem Onkel geerbt und bin dabei, es ein wenig auf Vordermann zu bringen.“
Er schüttelte ihre Hand mit festem Griff und lächelte diesmal ehrlicher. „George Ortiz. Polizeichef von Ravenwood Cove. Willkommen in unserem Städtchen! Sie haben Talent mit dem Brecheisen.“
Amanda lachte überrascht. „Danke. Ähm, das ist mein erstes Mal.“
George ließ seinen Blick über die verwitterte Fassade des Hauses wandern, die abgeblätterte Farbe, das verzogene Holz. „Ich wünsche Ihnen viel Glück. Ich wollte schon immer mal einen Blick ins Inn werfen, aber es war so lange verlassen, dass ich nie die Gelegenheit hatte. Könnte ich irgendwann eine kleine Führung bekommen?“
„Warum nicht gleich jetzt?“ schlug sie vor, legte Brecheisen und Brett beiseite und klopfte sich den Staub von den Händen. Eine Pause konnte nicht schaden – und mit dem Polizeichef wollte sie es sich sicher nicht verscherzen.
Während sie ihn durch das Gebäude führte, spürte sie, wie stolz sie auf all das Potenzial dieses Hauses war. Sie sprach über ihre Pläne für die Räume, die Möglichkeiten für die Zukunft – und George nickte interessiert. Er hatte viele Tipps parat, empfahl lokale Handwerker und warnte sie vor denen, die sie besser meiden sollte. Die Hortman-Brüder etwa, die sich gern mal ein Bier genehmigten, während sie Rohre verlegten. Oder Roy Greeley, der zwar exzellente Arbeit zu einem fairen Preis lieferte, aber sich besser nicht an Stromleitungen versuchen sollte – er hatte es einmal geschafft, beinahe seine eigene Werkstatt niederzubrennen.
Kleinstadtleben an der Küste, dachte Amanda. Natürlich kennt der Polizeichef hier jeden.
„Ich schicke Ihnen später den Reverend vorbei. Sie brauchen ganz offenbar dringend Hilfe mit dem Grundstück.“
Amanda warf einen Blick durch das verschmierte Fenster in den verwilderten Garten. Umgestürzte Äste, verrottende Laubhaufen und kniehohes Unkraut. „Macht die Kirche etwa Gartenarbeit? Oder denken Sie, ich brauche göttlichen Beistand, um dieses Chaos zu beseitigen?“
George lachte. „Weder noch. Die Jugendgruppe der Kirche verdient sich mit Gartenarbeiten etwas dazu. Der Reverend sorgt dafür, dass sie ihre Sache gut und vor allem zu einem guten Preis machen. Meine Frau und ich lassen sie unseren Rasen mähen – das hält die Jugendlichen auf Trab und von Dummheiten ab.“
Als Amanda ihm die Suite der alten Eigentümer zeigte, pfiff George leise durch die Zähne.
„Hat die Reinigungskraft heute frei?“
Sie zuckte mit den Schultern. „So sah es schon aus, als ich meine erste Tour durchs Haus gemacht habe. Ich hatte bisher aber noch keine Zeit, mich darum zu kümmern.“
„Da hat es jemand eilig gehabt.“ Der Polizeichef trat vorsichtig ein und ließ den Blick durch das Chaos schweifen.
Amanda nickte, spürte plötzlich einen seltsamen Beschützerinstinkt für das Durcheinander – warum, wusste sie selbst nicht genau. „Mein Onkel und meine Tante sind damals sehr plötzlich abgereist. Sie haben nie darüber gesprochen. Ich vermute, dass jemand aus der Stadt später die Fenster vernagelt hat. Ich weiß nicht mal, ob sie jemals noch einmal zurückgekehrt sind.“
George schüttelte den Kopf. „Die Stadt hat das machen lassen. Der Gemeinderat wollte verhindern, dass Kids die Fenster einschlagen oder sich hier herumtreiben. Das Ravenwood Inn ist das älteste Gebäude in Ravenwood Cove – ein Stück Stadtgeschichte.“ Er ging langsam durch den Raum, schaute sich alles genau an, ohne etwas zu berühren. Amanda hatte auf einmal das Gefühl, als würde er einen Tatort untersuchen.
„Sie haben nie erfahren, warum Ihre Verwandten so überstürzt verschwunden sind?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, sie haben es niemandem erzählt. Ich habe manchmal nachgefragt, aber mein Onkel meinte nur, dass dieser Teil ihrer Geschichte in der Vergangenheit liege und ich es dabei belassen solle.“
George drehte mit der Stiefelspitze ein aufgeschlagenes Buch um. „Übrigens müssen Sie mit dem Stadtrat über Ihre Pläne sprechen – das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Sie haben nicht vor, es lila zu streichen oder ein Meditationszentrum draus zu machen, oder?“
Amanda lachte und führte ihn in Richtung Tür. „Keine Sorge. Ich will das Ravenwood Inn wieder so schön machen, wie es früher war – elegant und einladend.“ Sie hielt kurz inne und fügte leise hinzu: “Und hoffentlich auch geliebt.“
„Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg.“ Er schüttelte ihr erneut die Hand. Doch obwohl seine Worte freundlich klangen, hörte sie einen leichten Zweifel heraus.
Alles klar, dachte Amanda. Wieder jemand, der glaubt, ich schaffe es nicht.
Amanda musste langsam feststellen, dass sie nichts mehr motivierte, als der Zweifel der anderen an ihrem Vorhaben. Vielleicht lag es an ihrem Dickkopf. Oder daran, dass sie zu oft enttäuscht worden war. Auf jeden Fall schien sie immer weniger auf die Meinung anderer zu geben, während sie immer mehr von dem erreichte, was sie im Leben brauchte.
Nachdem der Polizeichef gegangen war, schnappte sie sich wieder das Brecheisen und machte sich an die restlichen Bretter. Bis Mittag hatte sie fast alle Fenster im Erdgeschoss freigelegt, so dass Sonnenstrahlen durch die schmutzigen Scheiben fielen. Es war, als würde das alte Haus, das so lange im Dunkeln gelegen hatte, langsam aus seinem Schlaf erwachen. Und Amanda war diejenige, die es auf magische Weise erweckte.
Kapitel 3
Je weiter der Tag fortschritt, desto offensichtlicher wurde es, dass Amandas Tätigkeiten Aufmerksamkeit erregten. Immer wieder schlenderten Leute scheinbar zufällig an ihrem Grundstück vorbei, warfen neugierige Blicke auf das alte, lange verlassene Hotel und versuchten, unauffällig zu beobachten, was dort vor sich ging. Einige kamen direkt auf sie zu, stellten sich als örtliche Elektriker, Klempner oder Maler vor und drückten ihr ihre Visitenkarten in die Hand. Sie beantwortete geduldig ihre endlosen Fragen zu ihren Plänen für das Ravenwood Inn und merkte schnell, dass die meisten entweder auf einen Auftrag hofften oder ihren Freunden einfach nur die neusten Neuigkeiten über die seltsame Frau mit dem Brecheisen aus dem Inn erzählen wollten.
Als schließlich die gut gelaunte Lokalreporterin Lisa Wilkins auftauchte und sie um ein schnelles Foto auf der breiten Veranda bat, wünschte Amanda, sie hätte sich zumindest ein wenig um ihre Haare und ihr Make-up gekümmert. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie hier nicht nur eine neue Einwohnerin war – sie war eine Art Ereignis. Ein bisschen wie ein Wanderzirkus oder eine Kunstausstellung, die plötzlich mitten in der Stadt aufgetaucht war. Und das lag definitiv außerhalb ihrer Komfortzone.
Schließlich fand sie in einem der Schränke einen alten, abgenutzten Besen und begann, die trockenen Blätter und den angesammelten Schmutz von der Veranda zu fegen. Doch kaum hatte sie angefangen, bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie sich vor dem Haus etwas tat. Ihre Nachbarn von gegenüber kamen nach und nach aus ihrer Garage – jeder mit einem Klappstuhl in der Hand. Die Eltern stellten ihre Stühle auf dem Rasen auf, mit direktem Blick auf das Ravenwood Inn, während die drei Kinder angewiesen wurden, sich daneben zu platzieren. Amanda versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, fegte konzentriert weiter und riskierte nur verstohlene Blicke auf die improvisierte Zuschauertribüne. Doch als die Familie dann auch noch ein Lunchpaket auspackte und anfing, genüsslich Sandwiches zu essen und Limonade zu trinken, während sie alle sie weiterhin beobachteten, musste sie ein Lachen unterdrücken.
Nichts Gutes im Fernsehen? dachte sie amüsiert. Scheint, als wäre ich die beste Unterhaltung, die sie heute kriegen können. Also gut, spielen wir mit.
Sie richtete sich auf, setzte ihr breitestes Lächeln auf und winkte ihrer kleinen Fangemeinde zu. Nach kurzem Zögern hob schließlich die Mutter die Hand und winkte zurück – mit einem Sandwich in der anderen Hand.
Amanda wollte gerade den Besen beiseitelegen und hinübergehen, um sich vorzustellen, als ein beiger Van mit einem kleinen Anhänger langsam in ihre Einfahrt einbog und vor dem alten Backsteinbriefkasten zum Stehen kam. Neugierig ging sie ein paar Schritte darauf zu. Kaum hatte der Wagen in ihrer kreisrunden Auffahrt gehalten, sprangen eine Handvoll Teenager aus dem Wagen. Schließlich stieg auch der Fahrer aus und lief um den Wagen herum – ein freundlicher Mann mit einem offenen, warmen Lächeln. Er streckte ihr die Hand entgegen.
Amanda warf einen Blick auf die Seitenwand des Vans, auf der ein Kreuz und die Worte Presbyterianische Kirche von Ravenwood Cove prangten. „Sie müssen der Pfarrer sein“, stellte sie fest, während sie den festen Händedruck erwiderte. Dann zeigte sie auf die Jugendlichen, die sich lässig gegen die Karosserie des Wagens lehnten und ihr neugierige Blicke zu warfen. „Und das hier ist Ihre Arbeitskolonne? Ich nehme an, George hat Sie geschickt.“
Etwas Warmes und Einladendes lag in den lachfalten um die Augen des Mannes und in seinem offenen Gesichtsausdruck. „Ja, Mrs. Graham. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Ich bin Thomas Fox. Wir dachten, wir schenken Ihnen einen Nachmittag Arbeit für Ihr Projekt. Und falls wir einen guten Job machen, dürfen wir ja vielleicht in Zukunft für Sie arbeiten.“
Amanda korrigierte ihn rasch in Bezug auf die Anrede und zeigte der Gruppe dann, wo sie anfangen sollten – vorne am Straßenrand. Sobald sie sich vergewissert hatte, dass sie die Beete nach ihren Vorstellungen aufhübschen und den Rasen sauber trimmen würden, machte sie sich an die nächste Baustelle: die Küche. Amanda wollte sie wenigstens so weit auf Vordermann bringen, dass sie zumindest ihre Lebensmittel darin aufbewahren konnte.
Sie wusste nicht, wie lange das Ravenwood Inn schon keinen Strom mehr hatte. Sie holte tief Luft, riss dann entschlossen die Kühlschranktür auf – und war erleichtert. Er war leer und sauber, ebenso wie der große Gefrierschrank daneben. Sie durchsuchte die hohen Küchenschränke und warf alte Lebensmittelpackungen in zwei große Müllbehälter aus dem Hauswirtschaftsraum und machte so Platz für ihre eigenen Lebensmittel.
Dann drehte sie den Wasserhahn auf und ließ das Wasser einige Minuten laufen. Erst floss es rostbraun heraus, doch schließlich wurde es klar. Immerhin keine kaputten Rohre, dachte sie erleichtert. Es gab genug andere Dinge, um die sie sich kümmern musste – angefangen bei der dicken Staubschicht auf jedem einzelnen Regal bis hin zu der Mäusefamilie, die sich hinter dem Küchenmülleimer häuslich eingerichtet hatte.
Bleiche und Papiertücher kaufen. Rotwein. Kammerjäger anrufen, notierte sie auf ihrer gedanklichen Liste. Vielleicht finde ich einen, der mit humanen Methoden an die Sache herangeht.
Bis zum Abend hatte sie eine Menge erledigt. Sie hatte eingekauft, ihre neugierigen Nachbarn von der gegenüberliegenden Straßenseite, die Hendersons, kennengelernt, eine Runde Kekse und Limonade an die freiwilligen Helfer verteilt, vier Spinnen erledigt und außerdem gab es jetzt Strom und damit Licht, um die Geister in den dunklen Ecken zu vertreiben. Sie hatte einen Gutachter und einen Bauunternehmer engagiert, damit diese einschätzten, was am Haus getan werden musste. Sie hatte geschrubbt, gekehrt, Kisten geschleppt und unzählige Gespräche geführt. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte.
Fitnessstudio kann ich mir sparen, dachte sie mit einem gequälten Lächeln, als sie sich müde in das provisorisch hergerichtete Bett im halbwegs sauberen Gästezimmer in der zweiten Etage fallen ließ. Wenn mich dieses Haus nicht in Form bringt, dann schafft das auch nichts anderes.
Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen – und träumte von Geistern der Vergangenheit, die im Foyer Walzer tanzten, und dicken Mäusen, die sich in der Küche vergnügten.
Kapitel 4
Am Nachmittag des dritten Tages konnte Amanda endlich erste echte Fortschritte sehen. Es tat gut, das Dickicht aus überwucherten Ranken von den Mauern zu lösen und die Jugendlichen bei der Gartenarbeit anzuleiten. Die Gruppe war eifrig dabei, den Boden umzugraben und die Baumwurzeln zu entfernen, die sich in den Jahren des Leerstands tief in die Erde gegraben hatten. Trotz der anstrengenden Arbeit lachten und witzelten sie, während sie sich mit dem Spaten abwechselten. Amanda war froh, dass sie sie engagiert hatte.
Der Morgen hatte allerdings nicht so vielversprechend begonnen. Ihr neuer gefiederter und vor allem unüberhörbarer Nachbar hatte beschlossen, es darauf anzulegen und sie pünktlich zum Morgengrauen direkt unter ihrem Fenster wachzukrähen. Genervt hatte sie das Fenster aufgerissen und ein Kissen nach ihm geworfen, woraufhin der Übeltäter panisch davon gerannt war. Sie hatte dabei ein paar Worte gemurmelt, für die ihre Mutter sie mit strengem Blick zurechtgewiesen hätte, aber sie wären den Ärger wert gewesen. Der Hahn mochte mit seinen schimmernden Schwanzfedern in warmen Herbstfarben ein stattlicher Kerl sein, doch wenn er nicht bald lernte, sich zu benehmen, würde sie anfangen, nach Rezepten für Hühnchen mit Knödeln zu suchen.
Dann war der Bauinspektor gekommen – ein mürrischer, schweigsamer Mann, der zwei Stunden lang mit kritischem Blick und missbilligendem Brummen jeden Winkel des Hauses inspizierte. Sein Bericht war allerdings nicht so schlimm, wie Amanda befürchtet hatte. Die gute Nachricht: Das Ravenwood Inn war in seiner Grundstruktur stabil, es gab keine Probleme mit dem Fundament, der Elektrik oder den Wasserleitungen. Die schlechte Nachricht: Es brauchte dringend eine neue Heizung, alle Fenster mussten ersetzt werden, da die Rahmen vermoderten, und ein langjähriges Leck im Dach hatte einen Teil der Wand im Wintergarten verrotten lassen. Der Inspektor hatte ihr den Bericht mit einem knappen „Hätte schlimmer sein können“ überreicht und war dann grummelnd davongezogen.
Roy Greeley, ihr Bauunternehmer, war hingegen eine echte Bereicherung – Amanda musste sich unbedingt bei dem Polizeichef für die Empfehlung bedanken. Roy hatte gleich ein kleines Team mitgebracht, das direkt mit den ersten Reparaturen begann. Nachdem sie sich eine Weile davon überzeugt hatte, dass die Männer ihr Handwerk verstanden, ließ sie sie gewähren und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen und die neuen doppelverglasten Fenster zu bestellen. Als der Verkäufer ihr den Preis nannte, schluckte sie. Es war fast ein Drittel ihres gesamten Budgets für die Renovierung. Zähneknirschend zog sie ihre Kreditkarte aus der Geldbörse und diktierte die Zahlen. Ihr Geld würde schneller verschwinden, als ihr lieb war. Und bis die Bauarbeiten abgeschlossen waren, konnte sie keine zahlenden Gäste aufnehmen. Es war nun ein Rennen gegen die Zeit: Entweder sie eröffnete zuerst das Inn oder ihr ging das Geld aus.
Gegen zwei Uhr gönnte sich Amanda eine Pause auf der vorderen Veranda. Während die Jugendlichen und Roys Team ihre Mittagspause genossen, konnte auch sie sich einen Moment entspannen. Die klare Herbstluft roch nach verbranntem Laub, und irgendwo in der Nachbarschaft stieg eine dünne Rauchfahne auf – wahrscheinlich verbrannte jemand Gartenabfälle. Sie griff sich die Tageszeitung, die auf den Stufen lag, ließ sich in einen alten Korbstuhl sinken und begann zu lesen.
Auf der Titelseite prangte ihr eigenes Foto. Ihr Lächeln wirkte etwas unsicher, aber der Artikel war sachlich und auf den Punkt geschrieben. Er schilderte die geplanten Renovierungen des Ravenwood Inn und erwähnte, dass Amanda das Gebäude nach dem Wegzug ihrer Tante und ihres Onkels vor acht Jahren übernommen hatte. Lisa, die Reporterin, hatte ihre Zitate wortgetreu wiedergegeben, inklusive ihrer Pläne und Hoffnungen, das Hotel bald wiederzueröffnen.
Ich halte ihr zugute, dass sie nichts darüber geschrieben hat, dass sie das Haus einfach so verlassen haben, dachte Amanda schmunzelnd und blätterte weiter.
Der Rest der Zeitung war ein charmantes Potpourri aus Kleinstadtleben: Kazoodles Toy Store veranstaltete einen Straßenverkauf – wetterabhängig. Die freiwillige Feuerwehr lud zu einem Pancake-Frühstück in den Räumlichkeiten der Grange Hall ein, um Spenden für neue Ausrüstung zu sammeln. Eine gewisse Mrs. Welch suchte verzweifelt nach ihrer verschwundenen Diamantkette und bot eine Belohnung an. Und es war offenbar der perfekte Monat, um Knoblauch zu pflanzen und einen neuen Komposthaufen anzulegen.
Nicht gerade L.A., dachte Amanda, als sie die Zeitung zusammenfaltete. Aber vielleicht bringt mir der Artikel ja ein paar potenzielle Kunden.
Mit diesem positiven Gedanken schnappte sie sich einen Hammer und eine Schachtel Nägel, um einige lose Bretter auf der kleinen hinteren Veranda zu befestigen. Sie war nicht so beeindruckend wie die große Hauptveranda vorn oder der Wintergarten, aber Amanda konnte sich gut vorstellen, dass hier früher Küchenpersonal oder Hausangestellte eine kurze Verschnaufpause genossen hatten.
Gerade wollte sie den ersten Nagel einschlagen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sie drehte sich um und sah eine rundliche Frau mit Kopftuch unter einem der Apfelbäume stehen. Die Fremde starrte sie mit aufgerissenen Augen an, während sie einen geflochtenen Korb im Arm hielt, die Füße in einem Meer aus heruntergefallenen Äpfeln.
Amanda richtete sich auf und lächelte, doch die Frau reagierte panisch. Ohne ein Wort drehte sie sich um und rannte davon – Äpfel purzelten aus ihrem Korb, während sie eilig durch einen Spalt im Lattenzaun schlüpfte und im Garten des Nachbarhauses verschwand.
Amanda seufzte. Meine Nachbarn sind echt seltsam.
Sie hatte nichts dagegen, wenn jemand ein paar Äpfel pflückte oder auf einen Plausch vorbeikam, aber sie musste sich wohl daran gewöhnen, dass hier jeder zu glauben schien, ihr Leben – und ihr Grundstück – sei ein öffentliches Gut.
***
Einige Stunden später waren sowohl Roys Bauarbeiter als auch die Jugendlichen wieder am Werk. Amanda stand auf der Seitenveranda und kratzte die alte Farbe vom Holzgeländer, als Roy mit einer hochgewachsenen, eleganten Frau an seiner Seite auf sie zukam. Er wirkte alles andere als begeistert. „Amanda, ich habe jemanden mitgebracht, der Sie kennenlernen möchte. Das ist Mrs. Sandford, die Bürgermeisterin von Ravenwood Cove.“ Amanda schenkte ihr ein freundliches Lächeln, doch die ältere Frau erwiderte es nicht. Stattdessen musterte sie Amanda mit frostigem Blick, als wäre sie eine fremde Spezies. Eine besonders hässliche Spezies.
Eine, die sie gern beißen würde, dachte Amanda. „Die Bürgermeisterin ist hier, um sich die Fortschritte am Inn anzusehen“, erklärte Roy mit einem Hauch der Warnung in seiner Stimme. Der Haltung der Bürgermeisterin und Roys Ton nach zu urteilen, stimmte etwas nicht. Amanda unterdrückte den Impuls, einen höfischen Knicks zu machen, und streckte stattdessen die Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Bürgermeisterin Sandford. Ich wollte sowieso bald bei Ihnen vorbeischauen, um sicherzugehen, dass ich alle Vorgaben der Denkmalschutzbehörde einhalte. Ich möchte keinen schlechten Start in der Stadt hinlegen.“
Die Bürgermeisterin schniefte und ließ sie ihren Blick ganz bewusst zu der abgeblätterten Farbe auf der Veranda gleiten. „Ich hoffe, Sie planen, dieses Gebäude als Wohnhaus zu nutzen und nicht als Geschäft, Miss Graham. Mit der Ausnahme von Vermietungen für einen Monat oder länger sind Kurzzeitvermietungen in Ravenwood Cove nicht erlaubt.“ Amanda war wie vor den Kopf gestoßen, und ihr Gesicht zeigte das sicherlich deutlich. „Ähm, tut mir leid, aber ich verstehe nicht recht. Wollen Sie damit sagen, dass Bed & Breakfasts oder Hotels hier nicht gestattet sind? In einer Küstenstadt?“
Mrs. Sandford neigte würdevoll den Kopf und sah Amanda ernst an. „Das ist korrekt. Ravenwood Cove war nie ein wilder Touristen-Hotspot, Miss Graham. Ich hoffe, Sie verstehen, dass unsere Bewohner eine ruhigere, beschauliche Lebensweise bevorzugen. Sie sind es gewohnt, alle Vorzüge einer schönen und sicheren Küstenstadt zu genießen, ohne den schrecklichen Verkehr, den Müll und die Probleme, die eine touristisch geprägte Wirtschaft mit sich bringen würde.“
„Moment mal! Wollen Sie etwa sagen, dass die örtlichen Geschäftsleute keine Touristen hier haben wollen? Haben Sie sie gefragt?“ Die Bürgermeisterin deutete mit einer beiläufigen Geste auf die Arbeiter, die gerade neue Dielen auf der Veranda verlegten und Unkraut aus dem Garten zogen. „Ich bewundere Ihre Sorgfalt bei der Instandhaltung Ihres Hauses, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass der Stadtrat einem so drastischen Schritt wie der Umwandlung dieses Gebäudes in ein Hotel nicht zustimmen kann.“
Amanda spürte, wie ihr Blutdruck in die Höhe schoss, als sie den hochmütigen Tonfall dieser überheblichen Frau hörte. „Dieses Gebäude?“ Mit einer weiten Geste deutete sie auf das Inn – ihre einzige Einkommensquelle, das Einzige von Wert, das sie besaß, abgesehen von ihrem Auto. „Dieses Gebäude hat über Jahrzehnte Gäste beherbergt! Es wird keine Umwandlung geben, weil es immer ein Hotel gewesen ist. Gott allein weiß, wie viele Menschen hier schon übernachtet haben! Mr. Petrie hat mir erzählt, dass das Ravenwood Inn das älteste Gebäude der Stadt ist.“
Mrs. Sandford ließ ihre blasse, knochige Hand langsam eine der nahen Säulen hinaufwandern, wobei sich unter ihren blau geäderten Fingern kleine Farbsplitter lösten. „Vielleicht das älteste, aber das bedeutet nicht, dass es wieder in Betrieb gehen muss.“ Sie rieb sich energisch den Schmutz von den Händen, als wollte sie damit das Gespräch beenden. „Wir müssen die Stadt vor einem Ansturm von Touristen schützen und vor den Problemen, die dieses Gesindel, das nicht hierhergehört, mit sich bringt. Ich bin sicher, Sie verstehen das. Außerdem ist die Gegend hier mittlerweile ein Wohnviertel.“ Mit einer ausladenden Geste wies die Bürgermeisterin auf die ruhige Straße mit ihrem hübschen Häuschen.
Amanda bemühte sich, ihre Wut zu zügeln. „Diese Stadt ist um das Ravenwood Inn herum gewachsen. Seine ursprüngliche Funktion müsste doch eigentlich Bestandsschutz genießen, oder nicht? So wie Bauernhöfe, um die herum Städte entstehen, die aber trotzdem ihr Vieh behalten dürfen. Es müsste dasselbe Prinzip sein. Was wollen Sie damit sagen, dass es jetzt ein Wohnviertel sei?“
„Es tut mir leid, Miss Graham, aber nein. Da dieses Gebäude so lange leerstand, wurde die mögliche Nutzung inzwischen den neuen Gegebenheiten angepasst.“ Amanda spürte den Druck in ihrem Kopf, ihre Hände zitterten vor unterdrücktem Zorn. „Verstehen Sie, dass das bedeutet, dass ich völlig bankrott bin? Ich habe jeden Cent, den ich besitze, in die Renovierung dieses Hauses gesteckt. Ich kann es mir nicht leisten, hier zu wohnen, wenn das Inn kein Geld einbringt.“ Mrs. Sandford sah sie mit eiskaltem Blick an. „Das ist bedauerlich, aber die Stadt muss geschützt werden. Selbstverständlich steht es Ihnen frei, Ihre Bedenken dem Stadtrat vorzulegen.“
Amanda versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. „Und sitzen Sie im Stadtrat, Frau Bürgermeisterin?“ Zum ersten Mal kräuselten sich die dünnen Lippen der älteren Frau zu einem Hauch von einem Lächeln. „Selbstverständlich. Als Bürgermeisterin leite ich den Rat.“ Amandas Gedanken rasten. Sie suchte fieberhaft nach Argumenten, die diese hochmütige alte Hexe vielleicht umstimmen konnten. „Wir glauben daran, die Ruhe unserer Stadt, um jeden Preis zu bewahren, Miss Graham.“ „Selbst auf Kosten Ihrer Bewohner? Ich bin auch eine Bewohnerin, Bürgermeisterin Sandford!“
Das frostige Lächeln erlosch. „Miss Graham, meine Familie lebt seit Generationen hier. Viele der schönsten Gebäude der Stadt wurden von meinen Vorfahren erbaut und besessen. Ihre Familie hingegen blieb nur lange genug, um sich eines Nachts heimlich davonzustehlen – unter sehr … merkwürdigen Umständen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Kein besonders solides familiäres Vermächtnis.““ Zum ersten Mal in ihrem Leben fiel Amanda einfach nichts mehr zu sagen ein. Zumindest nichts, das nicht aus sieben Buchstaben bestand und mit „Sch“ begann .
Offenbar erkannte Mrs. Sandford die Wut, die Amanda mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. „Oh. Wie schade, dass aufbrausendes Temperament in Ihrer Familie zu liegen scheint“, sagte sie mit einem beinahe mitleidigen Unterton. „Ich fürchte, ich muss mich verabschieden. Einen schönen Tag noch, Miss Graham.“ Die hochgewachsene Bürgermeisterin wandte sich ab, als wäre die Sache für sie erledigt, und ließ Amanda fassungslos zurück. Es gab auf einmal Tumult im Garten. Aufgeregte Stimmen riefen durcheinander, und noch bevor Amanda sich umdrehen konnte, rannte einer der größten Jungen der Gruppe auf sie zu. „Ähm, Miss Graham?“ Sie erkannte die Dringlichkeit in seinem Gesicht.„Ja?“
Er schluckte hart. „Ich glaube, wir haben eine Leiche in Ihrem Garten gefunden.“
Kapitel 5
Albtraum. Das musste ein Albtraum sein, denn schlimmer konnte ihr Leben doch nun wirklich nicht mehr werden. Der große Junge hatte recht. Da war definitiv etwas unter der Vogelscheuche vergraben. Nur war es kein Etwas. Es war ein Jemand.
Einer der Jugendlichen hatte sich durch Baumwurzeln gegraben, etwa einen Meter tief, als er auf etwas Ungewöhnliches gestoßen war. Seine Schaufel hatte ausreichend Erde von der klaren Plastikplane gehoben, dass Amanda die Umrisse einer skelettierten Hand erkennen konnte – und einen dunklen Stofffetzen, vielleicht einen Ärmel. Mehrere Leute hatten bereits ihre Handys gezückt, um die Polizei zu rufen, und Amanda konnte sich kaum vorstellen, wie beschäftigt die Notrufzentrale in dieser kleinen Stadt in den nächsten Minuten sein würde.
Die kommenden Stunden verschwammen in einer Flut aus unerwünschtem, schrecklichem Treiben. Der gesamte Parkplatz des Inns wurde von Polizeiwagen in Beschlag genommen, und neugierige Stadtbewohner strömten herbei, um das Spektakel aus nächster Nähe zu erleben. Roy blieb auf der hinteren Veranda an Amandas Seite, erklärte ihr, wer wer war, und brachte ihr eine dampfende Tasse Kaffee, als die Abendkühle einsetzte. George, der Polizeichef, war als Erster eingetroffen und hatte Amanda angewiesen, an Ort und Stelle zu bleiben, falls er Fragen hätte.
„Keine Reporterwagen, die sich das Schauspiel ansehen? Das überrascht mich.“ Amanda nickte mit dem Kinn in Richtung der kleinen Menschenmenge, sichtbar genervt. Roy zuckte mit den Schultern. “Zu weit weg für die großen Medien. Vielleicht kommt morgen ein einzelner Reporter mit einem Kameramann.“ Das ist sicher nicht die Ruhe, von der die Bürgermeisterin gesprochen hat, dachte Amanda, während sie zusah, wie ein junger Polizist gelbes Absperrband ausrollte und es an den kahlen Fliederbüschen am Straßenrand befestigte.
Mrs. Sandford war nur fünfzehn Minuten geblieben, und hatte hastig und mit atemberaubender Geschwindigkeit in ihr Handy gesprochen, während die gesamte örtliche Notfalltruppe – inklusive Sanitätern und freiwilliger Feuerwehrleute – am Tatort eintraf, um dem Geschehen beizuwohnen. „Ich schätze, für den armen Kerl kommen die Sanitäter ein bisschen zu spät.“ Amanda nickte mit dem Kopf in Richtung der Rettungskräfte, die eine Trage aus dem Krankenwagen holten, und sich dann einfach daraufsetzten, um die Menge im Garten zu beobachten. Roy verzog keine Miene. “Sie haben einen seltsamen Sinn für Humor, Amanda.“
Sie zuckte mit den Schultern. “Passt zur heutigen Situation.“ Roy nahm einen Schluck von seinem abkühlenden Kaffee. “Die haben heute sonst nichts zu tun – außer hier, meine ich. Sie müssen verstehen, in Ravenwood Cove passiert nicht viel, und alle wollen dabei sein, wenn es mal spannend wird.“ Er deutete mit einer farbbespritzten Hand auf die Nachbarn gegenüber, die sich ganz offen auf ihren Veranden niedergelassen hatten, um das Geschehen zu verfolgen. “Das hier ist großes Kino für diese Stadt.“ Ein weißer Minivan bog in die Auffahrt des Inns ein und hielt am Absperrband. Ein junger Polizist eilte herbei, um es anzuheben und den Wagen durchzulassen. „Wer ist das?“
„Das ist Ben, der Bestatter. Scheinbar war der Gerichtsmediziner nicht verfügbar, also kümmert Ben sich um den Transport der Leiche. Das Bestattungsunternehmen nutzt die Leichenwagen nur noch für Beerdigungen und erledigt alles andere mit dem Minivan. Ben meint, so erschrecken sie die Leute nicht, wenn sie mit Toten durch die Gegend fahren – und keiner fasst ihre Autos an.“
Amanda unterdrückte ein Frösteln. Tote. Wer würde da schon irgendwas anfassen wollen? Roy schmunzelte. „Stellen Sie sich mal vor, jemand stiehlt den Minivan und merkt dann erst unterwegs, dass hinten eine Leiche liegt.“ „Sie haben aber auch einen ziemlich morbiden Sinn für Humor, Roy.“ Er seufzte. Ja, das sagt meine Frau auch.“ Sie hätte es ahnen müssen, aber als der Polizeichef mit einem Durchsuchungsbefehl für das Inn auftauchte – insbesondere für die Hauptsuite –, zog sich ihr Magen dennoch schmerzhaft zusammen. Ihre Hände zitterten, als sie das Dokument entgegennahm und die juristischen Details überflog. George klang beinahe entschuldigend, als er erklärte, dass sein Team das gesamte Gebäude durchsuchen müsse, dass sie währenddessen in einem einzigen Zimmer bleiben dürfe, und sie ihr Bestes tun würden, nichts zu beschädigen.
Es war offiziell. Ihre Familie und ihr Inn waren die Hauptverdächtigen. Stunden vergingen, während denen die Polizei den Tatort untersuchte und die skelettierten Überreste aus Amandas Garten barg. Die hohen Scheinwerfer warfen grelles Licht auf den zertrampelten Rasen, der nun von Planen und Absperrband übersät war. Jedes noch so kleine Detail der durchwühlten Master-Suite war fotografiert und mehrere braune Papiertüten voller potenzieller Beweise aus dem Haus getragen worden.
Als George schließlich zu Amanda auf die Veranda trat, war es fast Mitternacht. In eine schwere Decke gehüllt, spürte sie die Kälte auf ihrem Gesicht und sah die Erschöpfung in jeder Linie seines Körpers, als er sich seufzend auf einen freien Stuhl sinken ließ. „Ich weiß, dass Sie eine Menge Fragen haben, Amanda.“ Sie schnaubte. „Und ob. Wissen Sie, wer er ist … war?“ George rieb sich den Nacken und streckte dabei seinen schmerzenden Rücken. „Offiziell wird das Labor, das erst bestätigen müssen, aber ich bin mir ziemlich sicher.“ Amanda hielt den Atem an. „Ich glaube, es ist Emmett Johnson. Er trug immer einen Siegelring am rechten kleinen Finger, und der, den wir gerade ausgegraben haben, sieht genauso aus.“
Amandas Gedanken rasten. Emmett Johnson. Jemand, der in dieser Stadt bekannt war und der in ihrem Garten vergraben lag. Sie hatte seinen Namen noch nie zuvor gehört, aber sie wusste, dass sie ihn nie wieder vergessen würde. Emmett. „Sind Sie sicher?“ „Ich würde darauf wetten. Emmett trug immer Cowboystiefel aus Straußenleder. Und es sieht so aus, als hätten wir genau diese mit ihren verzierten Stahlkappen dort gefunden, wo seine Füße sind … also waren.“
„Und wie lange liegt er schon in meinem Garten?“ Sie sah das Zögern im Gesicht des Polizeichefs. „Emmett ist vor acht Jahren verschwunden.“ Ihr Mund klappte auf. „Sie meinen, er …“
„Er verschwand in der gleichen Nacht, in der Ihre Tante und Ihr Onkel die Stadt verließen. Halloween. Vor über acht Jahren.“ George drehte sich zu ihr, und in seinem Blick lag fast so etwas wie Mitleid. „Kurz nachdem Ihr Onkel ihm gesagt hat, er solle zur Hölle fahren.“