Kapitel 1
„Meg, ein Date auf eine Beerdigung mitbringen? Das geht doch nicht.“
Amandas lebenslustige, blonde Freundin stellte ihre Kaffeetasse auf der Kücheninsel aus Marmor ab und sah sie missbilligend an. „Er ist kein Date. Er ist mein Freund.“
Amanda verdrehte die Augen, es war nicht zu übersehen, dass sie Megs Wahrnehmung nicht zustimmte: „Er ist nicht dein Partner, du hast ihn vor einer Woche im Internet kennengelernt und heute trefft ihr euch erst zum zweiten Mal. Er kann nicht mit zur Beerdigung von Mr. Peetman kommen. Was würde deine Großmutter davon halten?“
Meg lachte: „Ich glaube, sie würde mich darum beneiden, dass ich in Begleitung komme. Sie hatte seit Jahren kein Date mehr.“
Amanda ließ ihren Mund betont weit aufklappen und tat so, als wäre sie empört: „Meg!“ Sie versuchte sich die neunzigjährige Mrs. Granger vorzustellen, die mit einem Date aus dem Internet in die Kirche spazierte. Der Gedanke war einfach zu absurd. Es mochte Jahrzehnte her sein, dass die temperamentvolle alte Dame verwitwet war, doch sie schien ihr Singleleben durchaus zu genießen.
Meg senkte den Blick und seufzte, während sie mit dem Henkel ihrer Kaffeetasse spielte.
„Ich will ja niemanden schockieren und genieße es nur einfach, mal etwas nur für mich zu haben, das ist alles. Lisa hat die Zeitung, du hast das Inn … Und ich? Ich arbeite in einem Café, das jemand anderem gehört, und verkaufe dort Gebäck. Mehr nicht. Also, was spricht dagegen, dass ich auch ein bisschen Spaß habe?“
„Beerdigungen sind kein Spaß.“ Amanda stellte die Sahne zurück in den Kühlschrank des Inns.
„Es geht darum, respektvoll zu sein und dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Und du hast doch auch etwas für dich.“ Sie drehte sich um und lächelte ihre Freundin an, die nun schmollte. „Du hast uns und wir sind deine Freunde.“
„Mag sein. Aber du und Lisa? Keine von euch ist mein Typ. Euch werde ich also wohl kaum küssen.“ Megs Stimme war schnippisch, aber sie zog ihre Lippe zusammen und gab nach.
„Okay, einverstanden. Aber er lädt mich nachher auf eine Pizza und ins Kino ein – darüber will ich kein Wort mehr hören, ist das klar?“
Amanda nickte und griff nach ihrer Handtasche. „Abgemacht. Wir sehen uns in der Kirche.“
***
Die presbyterianische Kirche war fast leer. Auf dem Altar lag ein großes Liliengesteck und eine Organistin spielte eine leise, feierliche Melodie, die das gesamte Kirchenschiff mit ihrem Klang erfüllte.
Ein Porträt von Mr. Peetman, vermutlich vor etwa zwanzig Jahren aufgenommen, mit gepflegtem Schnurrbart und deutlich mehr Haar, stand auf einer Staffelei vor dem Altar.
Seine Tochter Jennifer saß bereits in der ersten Bankreihe und schnäuzte sich leise die Nase. Neben ihr war ein älterer Mann mit dichtem, silbernem Haar. Zum stillen Gruß hob Amanda ihre Hand, Jennifer nickte schwach. Mit einem Taschentuch vor ihrem Gesicht, trotzdem waren die geröteten Augen zu erkennen.
Es war erst einen Monat her, dass Amanda Mr. Peetman wirklich kennengelernt hatte. Obwohl sie ihn vorher schon einige Male gesehen hatte – verkleidet als russische Dame, die nebenan zu wohnen schien … Erst als er sie vor einem Angreifer rettete, indem er dem mit einer Schaufel auf den Kopf schlug, erfuhr sie die Wahrheit über ihren Nachbarn. Nach Jahren im Zeugenschutzprogramm war er, gegen alle Ratschläge, nach Hause zurückgekehrt, um in der Nähe seiner Tochter sterben zu können. Selbst die Gefahr, von seinen alten zwielichtigen Bekannten aufgespürt zu werden, hielt ihn nicht davon ab. Seine Verkleidung machte ihn beinahe unkenntlich.
Es war nicht leicht gewesen, ihn in den letzten Wochen seines Lebens so krank zu sehen. Doch Amanda hatte in seiner schüchternen Tochter Jennifer eine neue Freundin gefunden und war dankbar, ihn überhaupt kennengelernt zu haben. Sein früherer Job als Buchhalter für Kriminelle hatte ihn auf vielerlei Weise zur Zielscheibe gemacht, doch Amanda bemühte sich, diesen Teil seines Lebens auszublenden – wenn sie ihm Essen brachte oder einfach nur bei ihm war.
Hinter ihr war plötzlich ein langsames Schlurfen zu hören, begleitet vom Quietschen eines Rollators.
Amanda drehte sich um und sah Mrs. Granger mit ihrem Rollator. Was sie jedoch überraschte, war der auffällig breitkrempige Hut, den sie trug. Er musste über einen halben Meter breit sein und war mit einem wilden Durcheinander an leuchtenden Seidenblumen bedeckt. Dazu ein knallpinker Hosenanzug und weiße orthopädische Schuhe.
Meg folgte ihr in einem schlichten schwarzen Kleid, mit einem genervten Gesichtsausdruck. Wortlos rutschte Amanda in der Kirchenbank ein Stück zur Seite, damit Mrs. Granger sich setzen konnte. Meg klappte den Rollator zusammen, stellte ihn an die Wand und setzte sich auf die andere Seite neben Amanda. Sie zischte genervt: „Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie trägt zu jeder verdammten Beerdigung das gleiche überdrehte Outfit.“ Megs Worte kamen leise und gereizt aus dem Mundwinkel. Amanda zog die Augenbrauen hoch, sie schwieg aber. Mrs. Granger war exzentrisch, ja, aber Amanda hatte sie ins Herz geschlossen. Sie war eine berüchtigte Klatschtante, bestechlich mit Schokoladengebäck. Aber auch eine herzliche Dame und absolut loyal.
Während die Pastorin sprach, schaute sich Amanda in der Kirche um. Außer ihnen saßen nur Jennifer und drei ältere Damen aus der Gemeinde in den Bänken und zwei Männer befanden sich hinten in der Kirche. Ein trauriges Ende für ein trauriges Leben aus Amandas Sicht. Ich wünschte, es wären mehr Menschen hier, die ihn vermissen, dachte sie.
In der letzten Reihe saß James Landon, regungslos und den Blick nach vorn gerichtet. Amanda war überrascht, ihn hier zu sehen. Sie hatte ihn seit Mr. Peetmans Tod vor einer Woche nicht mehr gesprochen, nur einmal durch das Fenster des Peetman-Cottage beobachtet, wie er sich mit einem Polizisten stritt und frustriert zu sein schien. Auf einmal schlug er seine Mütze wütend gegen seinen Oberschenkel und ging zügig zu seinem Auto zurück. Obwohl sie James erst seit ein paar Wochen kannte, war sie überrascht, dass er noch nicht in ihr gemütliches kleines Haus gekommen war … Zumal sie ihm selbst noch eine SMS geschrieben hatte, um ihn darüber zu informieren, dass ihr kranker Freund verstorben war. James hatte sie zum ersten Mal wegen der Ermittlungen um die Leiche unter der Vogelscheuche in ihrem Garten getroffen. Dabei hatte sie eigentlich gedacht, dass sie sich gut verstanden. Doch direkt danach war er zu einem zweiwöchigen Fortbildungsseminar an die Ostküste gefahren und erst ein paar Tage vor Mr. Peetmans Tod zurückgekehrt.
Der andere Mann in der letzten Reihe der kleinen Kirche war Gast im Ravenwood Inn, dem historischen Bed & Breakfast von Amanda. Er hatte erst am Abend zuvor eingecheckt, sein Name war Richard Loomis. Amanda erkannte ihn sofort an seinen hellbraunen Haaren und der tiefen Bräune, die in Oregon eher selten war – es sei denn, sie kam aus dem Solarium. Meg hatte gekichert, als sie ihn sah. Sie hatte ihn „Mr. Solarium“ genannt, bis Amanda sie aus Höflichkeit ausbremste.
Im Gegensatz zu den vier anderen Gästen, die Amanda derzeit im Inn beherbergte, war Richard Loomis alles andere als gesellig. Es war schon schnell zur Tradition geworden, dass Amanda abends eine kleine Snackrunde und mit Weinprobe oder eine andere ruhige Veranstaltung anbot, die ihre Gäste normalerweise sehr genossen und dabei gern am Kamin aus Stein entspannten oder auf der Veranda saßen.
Wenn das Wetter im Sommer schön war, schlenderten oft mehrere Paare in den hinteren Wintergarten des Inns, um den Sonnenuntergang über dem Meer zu bewundern. Mr. Loomis hingegen schien sich lieber in seinem Zimmer zu verkriechen. Beim Einchecken hatte er nur das Nötigste gesagt, bar bezahlt und kurz genickt, als sie ihm die Quittung gab, dann hatte er sich direkt in sein Zimmer verzogen. Amandas großem, orangefarbenem Kater Oscar ging er dabei bewusst aus dem Weg, während der sich selbst als Empfangskomitee des Inns verstand.
Er hatte jedenfalls mit keinem Wort erwähnt, dass er Mr. Peetman kannte oder wegen dessen Beerdigung in die Stadt gekommen war.
Die Trauerfeier dauerte nicht lange. Pastor Fox sprach kurz über das Leben von Mr. Peetman und ließ dabei allerdings alles aus, was auch nur im Entferntesten darauf hingewiesen hätte, dass dieser früher als Buchhalter in der organisierten Kriminalität, also für Verbrecher, gearbeitet hatte. Ein paar Gebete wurden gesprochen, die Organistin spielte ein berührendes Kirchenlied zum Abschiednehmen. Dabei war, hin und wieder, ein leises Schniefen aus Jennifers Bankreihe zu hören. Als sich alle zum Schlussgebet erhoben, musste Amanda unweigerlich über das Leben von Mr. Peetman und die Entscheidungen, die er getroffen hatte, nachdenken. Sie hätte einiges darauf gewettet, dass Pastor Fox eine ganz andere Grabrede gehalten hätte, wenn er die Details aus Mr. Peetmans zwielichtiger, ruchloser Vergangenheit gekannt hätte.
Der Empfang nach der Beerdigung wurde ebenfalls klein gehalten, es gab selbstgemachtes Essen von einigen Kirchenfrauen und Blechkuchen, gespendet vom örtlichen Hospiz. Dafür sind mehrere große runde Tische und Klappstühle aufgestellt worden. Da aber nur wenige Leute anwesend waren, setzte sich alle mit einem jeweils vollen Teller an denselben Tisch. Amandas geheimnisvoller Gast, Mr. Loomis, kam nicht zum Empfang, sondern verschwand durch die Seitentür, sobald der Gottesdienst vorbei war.
James setzte sich neben Amanda und unterhielt sich mit einigen anderen, nicht aber mit ihr. Zuerst dachte sie, dass er einfach nur allen anderen gegenüber höflich sein wollte, aber nach und nach wurde klar, dass er ihr nicht einmal in die Augen sehen wollte. Während sie sich ein Stück der klebrig-käsigen Lasagne in den Mund schob und so tat, als würde sie den Gesprächen folgen, fragte sie sich, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte das Gefühl, dass James ihr etwas sagen wollte. Auch, dass er nicht besonders glücklich wirkte. Er aß kaum etwas, sprach über ein paar Minuten mit anderen Trauergästen und entschuldigte sich schließlich. Warf sein unberührtes Essen in den Müll und stellte den Keramikteller pflichtbewusst in eine bereitgestellte Plastikwanne. Dann schloss er die schwere Kirchentür leise hinter sich und ging zu seinem Auto – ohne ein einziges Wort mit Amanda gewechselt zu haben. Sie war verwirrt und hatte ein ungutes Gefühl. Vielleicht lag sein Verhalten an ihr? Sie konnte sich allerdings beim besten Willen nicht vorstellen, was sie falsch gemacht hatte.
Mrs. Granger hingegen schien in ihrem Element zu sein, plauderte fröhlich mit jedem und nahm wieder und wieder Komplimente für ihren fantastischen Hut entgegen. Hätte Amanda es nicht besser gewusst, hätte sie annehmen können, die alte Dame sei plötzlich senil geworden und wäre in der falschen Annahme, dass sie auf einer fröhlichen Party anstatt auf einer Beerdigung sei. Es stimmte, dass das Kichern und die Scherze der alten Dame die Stimmung aufhellten, aber sie schienen dennoch ziemlich unangebracht.
„Nun, Mrs. Granger, Sie scheinen sich ja gut zu amüsieren“, sagte Amanda vorsichtig – bemüht darum, nicht verärgert zu klingen.
Die alte Dame war überrascht und lächelte sie mit ihren freundlichen Augen an. „Eigentlich möchten Sie wissen, warum ich so fröhlich hier sitze und lache, auf der Trauerfeier für einen toten Mann. Oder, Amanda?“
„Nun, Sie haben mehr Spaß als alle anderen hier. Bedrücken Sie Beerdigungen denn gar nicht?““
Mrs. Granger schüttelte den Kopf. „Ach, Kindchen“, sagte sie und winkte ab. „Ich habe schon mehr Menschen beerdigt, als du je kennenlernen wirst. Ums Sterben mache ich mir keine Sorgen.“
Amanda wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „Wenn das der Grund dafür ist, dass Sie so einen fantastischen Hut tragen, bin ich ganz Ihrer Meinung.“ Mrs. Granger zwinkerte ihr zu. „Schätzchen, wenn ich morgens aufwache und nicht unter der Erde liege, ist das Grund genug zum Feiern.“
Kapitel 2
Amanda freute sich immer auf den Samstag in Ravenwood Cove. Denn das war der Tag, an dem die örtlichen Bauern und Kunsthandwerker ihre kleinen Stände auf dem freien Grundstück neben der alten Grange Hall aufbauten. Fast zwei Dutzend Anbieter verkauften dort ihre frischen Erzeugnisse und handgefertigten Waren. Obwohl der Markt noch ganz neu in Ravenwood Cove war, hatte er sich sofort als großer Erfolg erwiesen. Die Menschen aus dem Ort, die unter der Woche arbeiteten, schliefen am Wochenende ein wenig länger. Nach einer Tasse Kaffee, vielleicht noch ein paar Erledigungen im Haushalt, zogen sie sich bequem an und schlenderten in die Innenstadt. Um einen Blick darauf zu werfen, welche Neuheiten und Leckereien es an diesem Wochenende auf dem Bauernmarkt gab. Jede Woche war es eine kleine Überraschung, welche Neuigkeit auf sie warten würde. Die Bäckerei testete etwa Rezepte für neue Himbeer-Blätterteigteilchen oder weiße Schokoladen-Cupcakes, der mobile Pizzaofen backte gelegentlich frisches indisches Naan-Brot oder Törtchen, gefüllt mit saftigen Brombeeren aus der Umgebung.
Amanda fuhr mit ihrem roten Fahrrad den Hügel hinunter in die Stadt. Dabei winkte sie Grace zu, als sie an ihr vorbeisauste. Grace zog einen Handwagen hinter sich her, der voller knallgelber Kisten war, vermutlich von Kazoodles, dem Spielzeugladen. An Samstagen war ihr Stand definitiv einer, auf den Kinder sich besonders freuten. Sie sorgte zuverlässig dafür, dass es jede Woche etwas Neues gab, mit dem sie spielen konnten.
Am letzten Samstag trug sie sogar ein riesiges aufblasbares Dinosaurierkostüm, das die Kinder vor Freude laut quietschen ließ, als sie um sie herumlief, knurrte und andeutete, mit den weichen Stoffklauen nach ihnen zu greifen.
Der Parkplatz an der Grange Hall war abgesperrt und die kleinen Pop-up-Stände waren für die Anbieter vorbereitet. Der Duft von frischem Brot, gewürzten Nüssen und frisch geschnittenen Blumen zog durch die Luft, zusammen mit dem verheißungsvollen Aroma von frisch gebrühtem Kaffee. Amanda hatte zwei Kartons frische Eier dabei. Frisch gelegt vom Hennen-Harem ihres Hahns mit dem liebevoll ausgesuchten und wohlüberlegten Namen „Dummkopf“. Amanda dachte daran, Mrs. Mason eine Schachtel Eier vorbeizubringen. Sie ging danach weiter, zu den Ständen mit Haushaltswaren. Brian Petrie ließ Amanda immer ihr Fahrrad hinter seinem Verkaufsstand abstellen. Sein Stand war gesäumt von Töpfen mit Chrysanthemen und allerlei Ausrüstung, mit der die Leute ihre Häuser winterfest machten. Für ihn hatte Amanda neuerdings auch immer frische Eier dabei, als Dank für seine Hilfsbereitschaft.
Schnell ist der Stand von Pfarrer Tom Fox und der örtlichen presbyterianischen Kirche auch zu einem der beliebtesten auf dem Markt geworden. Zusammen mit einer Gruppe Jugendlicher ließ er samstags zwei Saftpressen heißlaufen. Auf dem Hof der Kirche standen neun Apfelbäume und ein krummer, alter Birnenbaum. Für ihre Früchte gab es nun endlich Verwendung. Als jemand aus der Gemeinde vorschlug, frischen Apfelsaft zu pressen und diesen auf dem Markt zu verkaufen, war der Pfarrer sofort begeistert. Mit dem Erlös sollten neue Geräte für den heruntergekommenen Spielplatz im Park in der Nachbarstadt Likely finanziert werden. Die Jugendlichen waren mit Begeisterung dabei, sie arbeiteten unermüdlich an den Pressen und produzierten Liter um Liter des goldenen Apfelsafts und unterhielten sich fröhlich mit den vorbeikommenden Leuten, verteilten auch kostenlose Probiergläser, um noch mehr Interesse zu wecken. Als Amanda ihnen auch ihre eigenen Äpfel anbot, standen sie prompt mit einem übergroßen Pickup-Truck und einem Dutzend motivierter Jugendlicher vor der Tür und pflückten eifrig im gesamten Garten des Ravenwood Inns, dankbar für die kostenlose Ernte.
Am Kaffeestand, den Meg ganz allein betreute, hatte sich eine ziemliche Schlange gebildet. Sie lächelte zwar ununterbrochen, eilte aber so schnell wie möglich hin und her, um die geduldige Reihe von Leuten zu bedienen und sie mit ihrem morgendlichen Koffein zu versorgen. Sie nickte Amanda, die im Vorbeigehen winkte, kurz zu und unterhielt sich weiterhin fröhlich mit den Kunden an ihrem Stand, während die Siebträgermaschine eine Bohne nach der anderen zermahlte und durchlaufen ließ.
So sehr Amanda den Wochenmarkt auch genoss, sie hatte viel zu tun: Sie organisierte und koordinierte den ganzen Markt und versuchte zu helfen – wann und wo auch immer sie gebraucht wurde. Bewaffnet mit ihrem Klemmbrett und Stiften in der Hand, lief sie von Stand zu Stand. Sprach mit den Händlerinnen und Händlern und fragte bei jedem nach, ob es Fragen oder Probleme gab. Heute kontrollierte sie aber nicht nur, ob alles reibungslos lief, sie verteilte auch Flyer für das bevorstehende Erntedankfest. Die kleine Stadt nutzte – und liebte – zwar jeden Vorwand zum Feiern, aber das alljährliche Herbstfest war eine wohlbewahrte Tradition und ein echtes Highlight. Seit sich ihr Ort zu einem beliebten Reiseziel entwickelte und der Ansturm immer größer wurde, waren fast durchgängig alle Zimmer in der Umgebung ausgebucht. Amanda war auch Teil des Komitees, das dafür sorgen sollte, das diesjährige Erntedankfest in Ravenwood Cove besonders aufwendig zu inszenieren: mit einem Heuwagen, auf dem ihre Gäste auch mitfahren konnten, und einem altmodischen Jahrmarkt.
Amanda wuselte durch die gesamte Reihe der Stände und verteilte Flyer. Sie warb um Aussteller und Stände für das Erntedankfest. Mr. Orwin schnappte sich Amanda gleich, als sie bei ihm vorbeikam. Er berichtete in nahezu panischem Ton, dass er keinen Strom an seinem Stand hatte. Den hätte er aber dringend gebraucht, um seine Holzskulpturen beleuchten und seine Schleifmaschine betreiben zu können. Nach ein paar Minuten hatte sie ihn schon wieder beruhigt und machte sich auf die Suche nach dem Elektriker, der den Strom wieder in die Leitung zu seinem Stand bringen sollte. Amanda konnte ihren Rundgang schnell fortsetzen.
Einer der Ausstellenden, bei denen sie auch nach dem Rechten sehen wollte, war Truman. Er war ganz neu in Ravenwood Cove und hatte gerade im Ort einen Fahrrad- und Drachenladen eröffnet. Obwohl er erst zum dritten Mal auch auf dem Markt vertreten war, hatte sein Stand bereits einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Seine sich in allen leuchtenden Farben drehenden Windspiele und die riesigen Schmetterlingsdrachen waren kaum zu übersehen. Die Drachen flogen in über fünf Metern Höhe über dem Markt, waren von überall zu sehen und verliehen dem Markt eine besondere Stimmung.
Zunächst waren einige in Ravenwood Cove von Trumans äußerem Erscheinungsbild überrascht – oder verschreckt. Hier waren junge Männer mit verschlungenen Tattoos im Stil mittelalterlicher Holzschnitte, die sich um die Arme schlängelten, ungewöhnlich. So wie Frisuren, die scheinbar wöchentlich ihre Farbe und Form wechselten. Heute war Truman wieder in Höchstform: In einem ärmellosen T-Shirt mit einem rätselhaften mathematischen Problem auf der Vorderseite, stellte er seine tätowierten Arme zur Schau. Dann war die rechte Seite seines Kopfes auch noch fast komplett glattrasiert. Die dunklen Haare auf der linken Seite waren aber noch da und ein paar Zentimeter lang, in den Spitzen aber violett gefärbt.
Er grinste Amanda breit an und winkte mit einer Zange.
„Hey, Manda! Was geht bei dir?“ Amanda hielt sich zurück und bemühte sich, nicht loszulachen. Truman war eine einzigartige und unerwartete Bereicherung für das kleine Küstendorf. Aber sie musste zugeben, dass er für sie inzwischen zu einem ihrer Lieblingsnachbarn geworden war. Sie unterhielt sich gerne mit ihm. Denn sein Verstand war hellwach und neugierig, außerdem war er jederzeit bereit, einem Nachbarn zu helfen. Er stand parat – ob beim Tragen von Einkäufen oder beim Auf- und Abbauen der Marktstände. Gerade eine Woche zuvor hatte Amanda ihn dabei beobachtet, wie er für Mrs. Bitterman große Plastikkisten voller Lavendel- und Fingerhutpflanzen mit seiner Sackkarre transportierte und dabei gleichzeitig angeregt mit ihr über Vorteile von Ginsengtee diskutierte. Trumans kleiner brauner Hund Benny, eine ansehnliche Mischung aus Dackel und Chihuahua, lief wie immer dicht an seinen Fersen. Nach ein paar Minuten hatte Amanda sich vergewissert, dass Truman wunschlos glücklich und mit seinem Stand zufrieden war, dann schnappte sie sich ihre Freundin Lisa am „Back Mich Glücklich“-Stand. Lisa, ganz und gar Reporterin, ließ ihre hochauflösende Kamera nicht aus der Hand und setzte Mrs. Masons beeindruckende Auswahl an köstlichen Cupcakes in Szene, um sie fotografisch festzuhalten. Dafür waren die Cupcakes auf einem mehrstöckigen Ständer arrangiert und in Regenbogenfarben aneinandergereiht. Der Tourismus-Boom, den die Stadt gerade erlebte, und der Anteil, den die Lokalzeitung an diesem Aufschwung hatte, gefielen Lisa sichtlich. Sie arbeitete noch engagierter daran, die Reize des Städtchens und seiner Bewohner hervorzuheben, einschließlich der Händler und ihrer Produkte auf dem Wochenmarkt. Mrs. Mason, die örtliche Bäckerin, stand unbeholfen neben ihren wunderschönen Teilchen und versuchte, sich aus dem Bild herauszuhalten. Sie trug eine makellose Schürze um ihre gut gepolsterte Taille und hielt eine kleine rosa Kuchenschachtel in der Hand.
Selbst mit der Kamera vor dem Gesicht schien Lisa gehört zu haben, dass Amanda näherkam: „Was du heute Morgen alles schon verpasst hast!“ Sie schaltete ihre Kamera schon wieder aus, behielt sie aber griffbereit. Offensichtlich hatte sie die Cupcakes schon ideal eingefangen. „Owen Winters hat mich eine linke Spinnerin genannt und meinte, er würde mir ein Foto von seinem Gartentor nur erlauben, wenn er dafür fünf Dollar bekäme. Ist das zu glauben?“
Tatsächlich konnte Amanda sich das vorstellen. Ein schon etwas älterer Herr war ein Veteran mit dem Ruf, grundsätzlich misstrauisch gegenüber den Absichten anderer zu sein. Er wohnte neben Mrs. Bitterman, der einzigen Nachbarin, die er zu mögen schien – offenbar aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zum Gärtnern und für Oldtimer. Man konnte ihn häufig dabei beobachten, wie er mit dem Kopf unter der Motorhaube ihres noch fahrenden Ford Model A von 1934 steckte. Dabei fluchte er leise vor sich hin. Dann, wenn der Wagen nicht das tat, was er wollte. Abgesehen davon, war Owen dafür bekannt, dass er gelegentlich versuchte, George Ortiz von seinen Anliegen zu überzeugen. Dann fing er den geduldigen Polizeichef ab und belagerte ihn mit unaufhörlichen Berichten davon, wie laut die Teenager aus der Nachbarschaft waren, wenn sie vorbeifuhren. Oder davon, dass ein Hund ständig bellte und ihn zur Weißglut trieb. Es musste George einige Nerven kosten, dabei ernst zu bleiben, denn jeder wusste, dass Owen Winters schwerhörig war. Als guter Polizist hörte er aber aufmerksam zu und ging jeder Beschwerde nach, sehr zur Zufriedenheit von Owen.
„Und? Hast du ihm die fünf Dollar gegeben?“, fragte Amanda einfach nach. Sie konnte sich einen kleinen Seitenhieb auf ihre sonst so ernsthafte Freundin nicht verkneifen. Als Lisa schockiert reagierte, bekam Amanda die gewünschte Reaktion:
„Ihn bezahlen? Bist du verrückt? Die Presse bezahlt nicht für Fotos.“ Sie schnaufte empört, fügte dann aber kleinlaut hinzu: „Ich habe ihm allerdings zwei seiner Kürbisse abgekauft. Die werden sich im Herbst gut auf meiner Veranda machen.“
„Und wie viel haben sie gekostet?“
Ihre Freundin hatte sich bereits umgedreht und verstaute ihre Kamera in der Tasche, aber Amanda konnte den resignierenden Ton ihres widerwilligen Eingeständnisses nicht überhören.
„Fünf Dollar.“
Amanda lachte und hakte sich bei ihrer Freundin ein, während Lisa endlich lächelte und mit einem Seufzer ergänzte: „Wie auch immer, ich brauchte die Kürbisse ohnehin.“
„Natürlich brauchtest du welche.“ Hinter Lisas ernster Fassade schlug das sanfte Herz einer Frau, die immer darum bemüht war, anderen zu helfen – sei es durch einen Artikel in der Lokalzeitung oder indem sie ganz diskret dafür sorgte, dass jemand, der kaum über die Runden kam, ausreichend versorgt war. Amanda hatte sie mehr als einmal beobachtet, wie unaufgeregt Lisa Menschen aus Ravenwood Cove unterstützte – ohne ihnen das Gefühl zu geben, bedürftig und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Das war eine der Eigenschaften, die Amanda an ihrer stillen Freundin am meisten bewunderte. Owen lebte von einer schmalen Rente und konnte diese nur durch den Verkauf an seinem kleinen Obststand oder gelegentliche Gartenarbeiten für Mrs. Bitterman aufbessern. Die fünf Dollar von Lisa waren wahrscheinlich eine Hilfe für ihn und er konnte sich ein paar dringend benötigte Lebensmittel davon kaufen.
„Bist du so weit? Ich habe Mrs. Granger versprochen, mich zu ihr und Mrs. Bitterman zu setzen und mit ihnen gemeinsam einen Blick auf die Marktbesucher zu werfen. Nur Gott weiß, welche abenteuerlichen Geschichten sie mir heute wieder erzählen wird“, sagte Lisa, als sie sich die Kamera wieder um den Hals hing.
Amanda hakte sich bei Lisa aus und ließ ihr einen Vorsprung: „Das klingt vielversprechend.“ Niemandem würde sie heute lieber lauschen als Mrs. Granger, die alles über jeden hier in Ravenwood Cove wusste. Sie war legendär. „Ich muss nur noch ein paar Händler besuchen, dann komme ich dazu. Halt mir einen Stuhl frei.“
Amanda ging weiter, sprach mit Händlern und war froh, dass es zu keinen weiteren Ausfällen oder einer anderen Katastrophe gekommen war und alles reibungslos zu laufen schien. Mit einem zufriedenen Seufzer steckte sie ihr Klemmbrett unter den Arm. Fast jeder Ladenbesitzer in der Stadt hatte einen Stand bestückt, einige hatten sogar spontan einfach Klappstühle herausgeholt und Decken auf dem Bürgersteig ausgerollt, um ihre Waren den anderen Einwohnern der Gemeinde oder Besuchern anzubieten. Sie waren dabei, den Trubel des Wochenmarktes wollte niemand verpassen.
Das einzige Geschäft in der Stadt, das noch nie einen Stand auf dem Wochenmarkt bestückt hatte, war eines der neuesten, und mit Sicherheit der stilvollste Laden in Ravenwood Cove. Die ehemalige Bürgermeisterin Mrs. Sandford, die nach einem Skandal unehrenhaft von ihrem Amt hatte zurücktreten müssen, eröffnete im Anschluss daran ganz still und ohne große Vorankündigung eine hochpreisige Kunstgalerie. Dort bot sie auch importierte Antiquitäten an, keine üblichen lokalen Fundstücke und ausrangierte Gegenstände, die oft in den Antiquitätenläden des Küstenstädtchens landeten. Amanda mochte solche Läden und ihr Sammelsurium an Dingen, die sich manchmal als wahre Schätze entpuppten. Aber Mrs. Sandford hatte öffentlich erklärt, dass in der Sandford Gallery niemals „Trödel“ zu finden sein würde. Der Strom an Besucherinnen und Besuchern, die die Stadt überfluteten, hatte sich für die ehemalige Bürgermeisterin als echter Glücksfall erwiesen. Sie hatte sogar ein paar elegant gekleidete junge Frauen eingestellt, die sich um die Kundschaft kümmerten, während sie selbst sich hauptsächlich um die Buchhaltung kümmerte und alles vom hinteren Büro aus überwachte. Getrennt und abgeschirmt von den Besuchern, durch ein innen liegendes Fenster aus Milchglas.
Später setzte sich Amanda zu Lisa und Mrs. Granger an den Stand von Mrs. Bitterman, der bis zum Überquellen mit einer Vielfalt an Blumen und Kräutern gefüllt war. Mrs. Bitterman schien große Freude daran zu haben, mit allen an ihrem Stand vorbeilaufenden Besuchern zu plaudern. Viele konnten nicht einfach an der üppigen Auswahl an Dahlien und den Bündeln frischer Kräuter vorbeigehen und gerieten ins Staunen, erfreuten sich an dem farbenfrohen Anblick. Fast zwanzig Jahre jünger als ihre langjährige Freundin Frau Granger, war sie ein Energiebündel, obwohl sie sich kürzlich bei einem Zumba-Tanzkurs einen Knochen im Fuß gebrochen hatte und sich noch erholen musste. Sie trug einen Gipsverband am linken Fuß und lief mit einem Paar Krücken. Sie liebte es, ausführlich zu erklären, wie man mit ihrem eingelegten Elefantenknoblauch kochen konnte oder welches Fleisch mit Rosmarin gebraten am besten schmeckte. An dem ständigen Trubel um ihren Stuhl, auf dem sie mit ihrem gebrochenen Fuß saß, konnte Amanda erkennen, dass ihre Pflanzen und Kräuter bei den Besuchern sehr beliebt waren.
Owen Winters brachte drei Kränze aus Weinreben zum Verkauf vorbei, ignorierte den Gruß der Damen und sprach kurz leise mit Mrs. Bitterman, bevor er wieder in der belebten Marktgasse verschwand.
Mrs. Granger plapperte ununterbrochen vor sich hin. Sie saß auf dem Sitz ihres Rollators und gab Lisa und Amanda alles an Klatsch und Tratsch weiter, was sie über die meisten Passanten wusste. Oder gab ihre Meinung dazu ab. Sie war die am besten informierte Tratschtante. Auch wenn sie vielleicht ein wenig mehr erzählt hatte, als sie eigentlich sollte. Denn sie tratschte nie aus Boshaftigkeit oder um hässliche Gerüchte zu verbreiten. Es schien ihr einfach Freude zu machen, alle im Ort auf dem Laufenden zu halten und auf jeden ein Auge zu haben. Amanda hatte schon vor einiger Zeit erkannt, dass es aber durchaus auch Dinge gab, über die ihre neunzigjährige Freundin nie sprach. Aus Rücksicht und weil sie niemandem wehtun oder ein ihr anvertrautes Geheimnis verraten würde.
Gerade als sie auf Mrs. Henderson, Amandas Nachbarin von gegenüber, zeigte und leise über dunkle Details aus ihrem Highschool-Liebesleben zu flüstern begann, kam Meg aufgebracht dazu. Mit einem frustrierten Seufzer ließ sie sich auf den für sie frei gehaltenen Stuhl neben ihrer Großmutter fallen. Man sah ihr die Anspannung in jeder Bewegung an. Der Frust stand ihr ins Gesicht geschrieben.
„Anderson ist hier.“
Allein der Name ließ Amanda erstarren. Ihr Mund blieb vor Schock offen.
„Hier? Was macht dieser Querulant in Ravenwood? Geht’s dir gut?“ Sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber allein der Gedanke an Megs Vergangenheit mit Anderson Bowles gab ihr allen Grund, aufgebracht zu sein. Meg hatte ihn über eine Dating-Plattform kennengelernt. Schon beim ersten Date war er fordernd, hatte seine Ansprüche geäußert und war übergriffig geworden. Er hatte weit mehr von Meg verlangt, als sie zugelassen hätte. Auf ihre Entscheidung, nicht mit ihm zu schlafen, hatte er sie als „prüde“ und „altmodisch“ verhöhnt. Meg hatte daraufhin nicht lang gefackelt und ihm die Meinung gesagt, ihn blockiert und die zwei riesigen Sträuße weißer Rosen, die er ins Café hatte liefern lassen, direkt in den Mülleimer gepfeffert. Das hatte er nicht gut aufgenommen und konnte ihre Reaktion nur schwer verdauen. Noch Wochen später schrieb er ihr noch und versuchte unentwegt, sie über das Telefon zu erreichen.
„Ich glaube, er verfolgt mich. Er kam gerade zum Cuppa-Stand und meinte, wir müssten reden. Ich habe ihm gesagt, dass wir nichts zu besprechen hätten und er gehen solle, aber er schien ziemlich wütend zu sein, bevor er endlich abzog. Ich habe Tory gebeten, den Stand zu übernehmen, und bin direkt zu dir, auf dem schnellsten Weg.“
Lisas Körperhaltung veränderte sich sofort, Megs Worte schienen sie ins Wanken gebracht zu haben. „Ich mache mich sofort auf die Suche nach George und sage ihm, was hier los ist“, sagte sie und rannte los, bevor Meg sie aufhalten konnte. Lisa war schon verschwunden und eilte zielstrebig durch die Menge, um den Polizeichef zu finden.
Mrs. Granger hatte aufmerksam zugehört und lehnte sich schließlich in ihrem Rollator zurück: „Zu meiner Zeit hätte man so einem Bengel hinter einem Schuppen ordentlich die Leviten gelesen. Süße, deine Oma lässt nichts auf dich kommen.“ Die alte Dame griff nach ihrer in die Jahre gekommenen schwarzen Handtasche, die am Rollator hing, und wühlte darin herum. Sie zog einige Baumwoll-Taschentücher, ein zerfleddertes Rabattheft für die Drogerie im Örtchen und schließlich einen kleinen und kompakten Revolver heraus.
„Für dich, mein Schatz. Mach ihm klar, dass er sich nicht mit dir anlegen sollte“, sagte sie, als sie ihrer Enkeltochter die Knarre zusteckte.
„Gram! Steck das Ding weg! Ich kann ihn doch nicht erschießen!“ Meg drehte sich hektisch um. Sie wollte nicht, dass jemand ihre Großmutter dabei beobachtete, wie sie mit einer tödlichen Waffe herumfuchtelte. „Er soll nur damit aufhören, mich zu belagern!“
Mrs. Granger schien ehrlich enttäuscht, während sie die Pistole endlich wieder in ihrer Tasche verstaute. „Na, komm schon … Damit könntest du ihn loswerden – solange du ihn an einer Stelle triffst, bei der er keinen Spaß versteht. Dann hätte sich das wohl erledigt.“
In diesem Moment kam Unruhe vor dem Stand auf. Ein großer, aggressiv wirkender Mann schob sich durch die Menge und steuerte direkt auf die Frauen zu. Es war Anderson Bowles, Megs Online-Date. Er trug einen Hoodie und die Baseballkappe des nächstgelegenen Colleges und sah aus wie ein wütender blonder Burschenschaftler, wild entschlossen und bereit für eine Prügelei. Amanda und Meg sprangen direkt auf und brachten sich in Position. Amanda spürte, wie ihr Herz raste, doch sie stellte sich schützend vor ihre Freundin und war bereit, sie zu verteidigen.
„Du bist abgehauen und verschwunden! Du hast mich zurückgewiesen! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?!“
Seine Stimme war laut, zornig und voller Bitterkeit, sie richtete sich ausschließlich an Meg. Sein Gesicht war nur noch eine hochrote Maske unbändiger Wut, seine Fäuste waren geballt und die Arme weit ausgestreckt. So furchteinflößend er auch wirkte, Amanda packte die Hand ihrer Freundin und stellte sich entschlossen dazwischen. Sie war bereit, Anderson mit allen Mitteln aufzuhalten. „Du bist ein durchgeknallter Psycho und du hast mich gestalkt! Jetzt lass mich endlich in Ruhe!“, schrie Meg mit leicht zitternder Stimme. Die Menschen an den benachbarten Ständen wurden allmählich auf Anderson aufmerksam, denn sie hörten die lauten Stimmen und bemerkten die nervösen Bewegungen der Frauen. Owen Winters war gerade wieder zurückgekehrt, um nachzusehen, ob sich seine Kränze verkauft hatten. Als er die lauten Stimmen hörte, drängelte er sich sofort durch die sich versammelnde Menschenmenge, auf den wütenden Fremden zu. Er packte Anderson am Arm, als dieser die Hand hob. Amanda sah, wie Anderson seine Haltung veränderte und seine Hand hob, als wollte er Meg schlagen. Sie warf sich also mit aller Kraft gegen seine linke Seite, gerade als Owen versuchte, ihn zurückzuziehen. Die Wucht beider stieß Anderson aus dem Gleichgewicht. Er stürzte rücklings auf den Asphalt, riss dabei Amanda und Owen mit sich. Amanda landete halb über ihm und Owen war für einen Moment benommen, hielt ihn noch am Arm fest, gerade als George Ortiz herangeeilt kam.
Anderson schien vor Wut blind zu sein, war völlig außer sich und rappelte sich wieder auf. Dabei ignorierte er seine beiden Angreifer. Meg aber wich zurück, stolperte und fiel mitsamt dem Stuhl hinter ihr auf den Boden. Als Anderson die Hand ausstreckte, um sie an den Haaren zu packen, griff George blitzschnell zu und verdrehte Andersons Arm schmerzhaft auf seinem Rücken, sodass ein schrilles Keuchen aus Andersons Mund schoss.
„Ich glaube, wir kennen uns noch nicht“, sagte George. Kein bisschen freundlich. Angesichts seines autoritären Untertons richtete Anderson seine ganze Aufmerksamkeit auf George.
„Das ist eine private Angelegenheit zwischen meiner Freundin und mir!“, stammelte er. Aber George ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Sieht nicht so aus, als würde sie das genauso sehen. Klingt also eher danach, als müssten wir uns unterhalten.“ George begann, ihm seine Belehrung als Beschuldigter vorzutragen. Er hätte das Recht zu schweigen oder könnte einen Anwalt dazu rufen. Amanda rappelte sich währenddessen zitternd auf und nahm ihre Freundin Meg, die den Tränen nah war, in den Arm. Das Marktpublikum drängte sich um sie herum, sie schienen sich einen Überblick verschaffen zu wollen, sie tuschelten und beobachteten alles. Mrs. Granger stand auf ihren Rollator gestützt, Mrs. Bitterman hielt ihre Hand.
„Was für ein Schwachkopf“, sagte sie trocken. „Geht’s dir gut, Liebling?“ Ihre Enkeltochter nickte und nahm ihre Oma in den Arm. George legte Anderson Handschellen an und informierte die Wache per Funk darüber, dass er jemanden verhaftet hatte und ihn in die Zelle bringen würde.
„Meine Damen, würdet ihr beide bitte später auf die Wache kommen und eine Aussage machen?“
„Hey, Moment mal! Ich war’s nicht, die hat mich angegriffen!“, schrie Anderson und warf Amanda einen zornigen Blick zu. „Ich meine, sie hat mich am Rücken verletzt und ich sollte sie verklagen! Ich bin das Opfer hier!“
George ignorierte ihn. Professionell und gelassen führte er den jammernden Mann durch die Menge, offenbar hatte er mit solchen Situationen Erfahrung. Meg sagte zu, dass sie ihm gleich nachkommen würden, sobald sie Mrs. Granger ins Auto gebracht hatten. Das dauerte, wie immer, etwas. Der Polizeichef lächelte, als wäre es das Normalste der Welt, einen die Beschwerde führenden Verdächtigen über den Wochenmarkt zu führen.
Während sie darauf wartete, dass Meg ihr Auto holte, sammelte Amanda ihre Sachen zusammen und sorgte dafür, dass Mrs. Bitterman nach Hause gebracht wurde. Als Meg schließlich mit dem Auto vorfuhr, spürten die beiden jüngeren Frauen noch die Nachwirkungen ihrer Konfrontation mit Anderson. Amandas Knie zitterten sogar, als sie Megs Einkäufe im Kofferraum verstaute. Mrs. Granger musterte die beiden aufmerksam und schien zu einem eigenen Schluss gekommen zu sein. Sie schob dann ihren Rollator zielstrebig zur Fahrertür und versuchte, die Tür zu öffnen.
„Was hast du jetzt vor?“ Meg kannte die Eigenarten ihrer Großmutter und sie wusste sofort, was die alte Dame vorhatte und worauf das alles hinauslaufen würde.
„Ihr seid beide so mitgenommen, ich fahre euch.“ Sie streckte ruhig ihre Hand nach dem Schlüssel aus und wartete geduldig.
„Du kannst nicht fahren. Du bist seit Jahren nicht mehr selbst gefahren.“
„Naja, das heißt nicht, dass ich es nicht mehr kann.“
„Doch. Genau das bedeutet es, Oma. Erinnerst du dich noch daran, wie das beim letzten Versuch ausgegangen ist? Als du mit deinem Cadillac durch die Rückwand der Garage gefahren bist? Danach mussten wir dir den Schlüssel abnehmen, nur zu deinem Schutz. Dem Schutz vor dir selbst.“
Mrs. Granger schnaubte. „Als ob, die Bremsen haben versagt.“
„Das konnte der Mechaniker in der Werkstatt so nicht bestätigen.“
Offensichtlich hatte Mrs. Granger darauf gehofft, dass Meg anständig genug war, den unglücklichen Unfall in der Garage unerwähnt zu lassen. Sie verzog das Gesicht und schmollte ein wenig.
„Na gut, du fährst. Aber nur, weil ich heute nicht fahre, heißt das nicht, dass ich es nicht jederzeit tun könnte“
Meg verdrehte die Augen, als sie ihrer Großmutter die Tür öffnete. „Na gut. Wenn du hundert wirst, machen wir einen Roadtrip und du fährst, abgemacht?“
Mrs. Granger grinste über beide Ohren und ignorierte ganz bewusst, dass Meg es mit diesem Vorschlag nicht wirklich ernst meinte.
„Abgemacht. Wir mieten uns ein Cabrio und du sitzt auf dem Beifahrersitz.“.
Kapitel 3
Amanda liebte es, gleich früh am Morgen an den Strand zu gehen, besonders an kühlen Herbsttagen. An einem seltenen, klaren Tag wie heute, an dem ihr der Herbstwind von hinten entgegenwehte, störten sie nicht einmal die Kälte oder, dass sie schon so früh draußen war. Sie war ganz allein am Strand. Die Morgensonne begann gerade über die Dünen aufzugehen und ließ den kalten Sand vor ihr golden glitzern.
Fast alle Gäste des Gasthauses waren schon Sonntagnachmittag abgereist, zurück in die größeren Städte und an ihre Arbeitsplätze. Nur ein einziger Gast war geblieben: Richard Loomis. Er hatte gesagt, dass er kein Frühstück wünsche. Amanda hatte versucht, mit ihm über die Beerdigung zu sprechen. Loomis hat geduldig zugehört und höflich erklärt, dass Mr. Peetman ein Freund der Familie gewesen sei und er deshalb gekommen sei, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Trotzdem hatte Amanda ein merkwürdiges Gefühl dabei. Ihr Kater Oscar schien ihre Meinung zu teilen: Immer, wenn Loomis den Raum betrat, stolzierte Oscar schnurstracks mit erhobenem Schwanz und hochgereckter Nase an ihm vorbei, so als würde er ihn ignorieren wollen. Das war Amanda aufgefallen und bestärkte ihr Gefühl, dass mit Mr. Loomis etwas nicht stimmte. Wenn der Kater jemanden nicht mochte, hatte das wahrscheinlich einen triftigen Grund.
Sie war fast allein am Strand. Nur ein einziges Paar war auch so früh unterwegs. Sie gingen Hand in Hand und unterhielten sich leise.
Amanda lächelte und nickte, als sie an ihnen vorbeiging. Die beiden waren allerdings so vertieft in ihr Gespräch, dass sie sie gar nicht bemerkten. Als sie sich noch einmal nach den beiden umsah, war sie überrascht davon, wie sie sich durch den fehlenden Blickkontakt fühlte. Trotz all der guten Freunde, die sie inzwischen in Ravenwood Cove gefunden hatte, fühlte sie sich manchmal doch noch immer allein.
Sie hatte so viel Zeit und Energie in ihr Gasthaus gesteckt, den Wochenmarkt auf die Beine gestellt und sich darauf konzentriert, ihr Leben wieder in den Griff bekommen zu wollen – da blieb kaum Platz für anderes. Ihr Gefühl von Einsamkeit lag nicht daran, dass sie Männer vermisste. Ihr Ex-Freund Kevin fehlte ihr jedenfalls überhaupt nicht. Aber sie hatte einfach noch keine Ruhe gefunden. Keine Zeit dafür, einmal durchatmen zu können und etwas herunterzufahren. Unter einem schönen Abend stellte sie sich ein gutes Buch und einen gemütlichen Platz auf dem Sofa vor, um sich vom Renovieren und all den Aufgaben, die ihr Haus so mit sich brachte, erholen zu können. Vielleicht war es an der Zeit, daran etwas zu ändern.
Wenn ich jemals etwas Zeit übrig habe, dachte sie, dann werde ich versuchen, wieder mehr unter Leute zu kommen. Vielleicht an einem Kurs im Ort teilnehmen.
Diese Morgenrunden halfen ihr beim Nachdenken und der frische Wind machte ihren Kopf bei diesen Spaziergängen frei. Zwei Tage war der Vorfall auf dem Wochenmarkt her. Erst jetzt fühlte sie sich halbwegs erholt davon. Die blauen Flecken und kleinen Zerrungen vom Sturz auf Anderson Bowles waren fast verheilt. Aber das war nicht das, was sie wirklich beschäftigte. Viel schlimmer war die Erinnerung. Die Angst, auf die Polizeiwache kommen zu müssen und ihre Aussage zu machen, hatte alte Wunden aufgerissen. Damals, als in ihrem Garten ein toter Mann gefunden worden war, hatten die Ermittlungen sie schon einmal aufgewühlt. Noch heute träumte sie manchmal davon.
Es war nicht so, dass sie etwas gegen die Polizei hatte, jedenfalls nicht gegen die örtliche Wache. Ihr neuer Freund, Detective James Landon, war groß, klug und zugegeben ziemlich gutaussehend. Sie mochte seinen trockenen Humor. Mehr als einmal hatte sie laut über seine Kommentare gelacht, während er versuchte, ernst zu bleiben. Dann wurden diese Lachfältchen an seinen meergrünen Augen tiefer, auch wenn er versuchte, ernst zu bleiben.
Nach allem, was sie bei ihrem Umzug nach Ravenwood Cove erlebt hatte, war er genau der Freund, den sie in dieser turbulenten Anfangszeit gebraucht hatte. Jemand, der ihr half, wenn sie mit der Mordermittlung nicht weiterkam, oder ihr die Fachbegriffe in einem Autopsiebericht erklärte. Dass er ein großer, attraktiver Mann mit dunklem, gepflegtem Haar war und in Wranglers und Cowboystiefeln eine gute Figur machte, spielte dabei keine Rolle.
Na ja, fast.
Amanda blickte den Strand entlang und zog eine kleine Tüte aus ihrer Jacke. Morgen würde sie wieder hier unterwegs sein, so wie jede Woche, um heimlich kleine Schätze im Sand zu vergraben: Muscheln, Glasflaschen und hübsche Steine, damit Kinder sie später finden konnten. Diese versteckten Schätze hatten dem Ort auch zu seiner neuen Bekanntheit verholfen. Immer mehr Besucher kamen in der Hoffnung, ihre eigenen kleinen Schätze zu finden. Ein örtlicher Glasbläser, der sich über seine gesteigerte Auftragslage freute, blies mittlerweile sogar bunte Glaskugeln und verlangte dafür nur die Materialkosten und war froh über die gestiegene Nachfrage. Der Stadtrat war gerne bereit, diese zu übernehmen, da jedes Mal, in den Nachrichten über die lustigen Funde in ihrer kleinen Stadt berichtet wurde und die Geschäfte der kleinen Läden in Ravenwood Cove einen echten Aufschwung erlebten.
Wenn Amanda auf ihrer Morgenrunde keine Schätze vergrub, sammelte sie Müll. Seit sie Mrs. Granger dabei beobachtet hatte, wie sie mit einem Greifer, einem langen Stock mit Griff und Zange, am Strand entlanglief, hatte sie sich auch eine Greifzange gekauft. Damit konnte sie den angespülten Abfall einsammeln, ohne sich überhaupt bücken zu müssen. Manchmal konnte sie dabei ihren Spaziergang sogar im gewohnten Tempo fortsetzen. Es war erstaunlich, wie viel Unrat über Nacht an den Strand gespült wurde. Sie freute sich darüber, mit diesem kleinen Beitrag, ihre neue Heimat schöner zu machen.
In der Bucht war es ruhiger als an der offenen Küste, geschützt durch eine geschwungene Halbinsel aus riesigen, dunklen Felsen, die den hellen Sand an seinem Platz hielten, und mehrere hohe Dünen, die den Wind abmilderten. Selbst wenn draußen die Brandung tobte, blieb das Wasser in der Bucht ruhig. Heute war so ein Tag, ein perfektes Beispiel dafür. Der einzige Hinweis darauf, dass vor ihr schon jemand hier gewesen war, war ein Boot, das am Hauptpier festgemacht war. Die anderen Angler wussten, dass sie an einem so schönen Herbsttag früh aufstehen mussten, um genügend Zeit zum Auslegen der Krabbenfallen zu haben und den besten Fang machen zu können.
Amanda sammelte weiter und suchte den Sand ab. Sie fand ein Stück gelbes Seil und eine Bierflasche. Beides landete in ihrer Tüte. Sie genoss den langen Spaziergang und nahm ihre übliche Route, vom Hauptpier am Rand der Bucht entlang, einmal herum bis zum kleinen Seitendock. Es wurde nicht mehr benutzt, da es vor Jahren dem Verfall überlassen worden, mittlerweile verrottet und baufällig war. Die neue Anlegestelle machte es viel einfacher, die Ausrüstung in die Boote zu laden und die Fische an Land zu bringen, sie war natürlich auch viel sicherer.
Erst als ihre Mülltüte fast voll war und sie gerade über den alten Pier lief, fiel ihr etwas auf. Auf der anderen Seite des Holzstegs schwankte ein kleines Fischerboot im Wasser und schlug gegen die morschen Pfähle. Das war seltsam. Amanda wusste, dass George, der Polizeichef, höchstselbst die Warnschilder angebracht hatte, die das Spielen auf der Konstruktion untersagten. Auch, dass er beim Stadtrat Mittel dafür beantragt hatte, um den Steg abbauen zu lassen, weil der gefährlich war und nicht mehr benutzt werden konnte. Aus seiner Sicht eine Gefahr für die Öffentlichkeit. Als Amanda näherkam, sah sie das bemalte Bootsseil über die Seite hängen und im Wasser treiben, nirgends festgemacht.
Das war definitiv ungewöhnlich. Kein Bootsbesitzer würde jemals ein Boot so ungesichert zurücklassen und es einfach so treiben lassen. Es war kein Geheimnis, dass die Strömung und Gezeiten ein Boot leicht abtreiben ließen. Amanda versuchte, sich eine harmlose Erklärung dafür einfallen zu lassen, aber ihr fiel keine ein. Die Flut hätte es allerdings von selbst in die Bucht getrieben haben können.
Sie beschloss nachzusehen, legte den Greifarm und die Mülltüte beiseite und legte einen Stein darauf ab, damit der Wind sie nicht mitnehmen würde. Dann begutachtete sie den alten Steg. Er war lang und gerade, das Holz war morsch. Jeder Schritt musste wohlüberlegt sein. Vorsichtig umging sie die Stellen, die unter ihr einzubrechen drohten, und ging auf das schaukelnde Boot zu.
Sie war etwa sechs Meter entfernt, da sah sie es. Sie war nah genug, um im hinteren Teil des Bootes einen nackten Fuß und ein nacktes Bein zu erkennen. Bewegungslos auf dem Bootsboden.
Amandas Herz hämmerte in ihrer Brust, klopfte bis zum Hals. Da lag jemand mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden des Bootes. Als sie noch näherkam, betete sie innerlich, dass es nur ein Betrunkener war, der seinen Rausch ausschlief. Doch als sie den Körper richtig sah, schnürte es ihr die Kehle zu. Die Wahrheit traf sie wie ein Schlag und raubte ihr den Atem. Etwas war furchtbar, ganz schrecklich falsch.
Da lag ein Mann im Boot. Er lag mit dem Gesicht nach unten und war splitternackt. Seine Haut war so blass, dass er fast aussah, als wäre er aus Wachs. Überall, wo sein Körper den Holzboden des Bootes berührte, waren violettfarbene Flecken zu sehen. Ein Arm war über den Kopf gestreckt und berührte fast das einzige Kleidungsstück, das er trug: ein Sweatshirt, das wie ein Turban zusammengerollt und wie ein schrecklicher Party-Hut auf seinem Kopf befestigt war.
Amanda atmete die kalte Meeresluft tief ein, nahm all ihren Mut zusammen und griff nach dem Seil. Sie beugte sich so weit wie möglich vor und konnte das tropfnasse Seil gerade noch erreichen, das vorn am Boot festgebunden war. Es war schwer, aber sie zog es mit festen Händen, Griff um Griff, aus dem Wasser, bis sie genug davon aus dem Wasser gezogen hatte, um es sicher am Dock festbinden zu können. Die stürmischen Wellen machten es schwer, den richtigen Moment abzupassen, aber schließlich schaffte sie es, ins Boot zu steigen. aber Amanda wartete, bis sie sich vorsichtig über den Bug schwingen konnte. Sie musste wissen, ob der Mann noch lebte. Klar war ihr auch schon geworden, dass sie nicht auf einen Krankenwagen oder die Polizei warten durfte, wenn er sofort Hilfe brauchte. Sein ausgestreckter Arm war nur wenige Meter von der Vorderseite des Bootes entfernt. Also streckte sie ihre Hand aus und tastete nach seinem Handgelenk. Sobald ihre Finger die eiskalte Haut berührten, wusste sie, dass sie nichts mehr für den Mann tun konnte. Keine Hoffnung.
Er war tot.
Sie kletterte zurück auf den Steg. Ihre Finger zitterten, als sie den Reißverschluss ihrer Windjacke öffnete und das Handy herausholte.
„Rettungsleitstelle, was ist passiert??
Amanda holte tief Luft, ihre Stimme bebte.
„Mein Name ist Amanda Graham … Und ich glaube, ich habe gerade eine Leiche in der Bucht gefunden.“
Kapitel 4
Vor kaum einer Stunde war der Strand an der Bucht noch völlig leer gewesen. Jetzt starrte Amanda entsetzt auf die Menschenmenge, die sich am Ende des alten Stegs versammelt hatte. Alle waren neugierig darauf, einen Blick auf die Leiche zu werfen. Ein einziger Anruf beim lokalen Rettungsdienst hatte nicht nur Krankenwagen und Polizei eintreffen lassen, sondern auch etliche Einheimische, die es sich angewöhnt hatten, die Notrufe über Funkkanäle im kleinen Städtchen mitzuhören.
Die Fischer, die von ihrem Morgenfang zurück in die Bucht kamen, zeigten sich sichtlich irritiert von der Menschenansammlung an ihrem sonst so ruhigen Strand. Einige von ihnen blieben auch da, um das Spektakel zu beobachten.
Truman war als einer der Ersten am Tatort angekommen. Sein kleiner Hund Benny rannte keuchend neben seinem Fahrrad her. Auf Amandas leise Bitte hin, hatte er sich am Ende des Stegs postiert. Ruhig sprach er mit jedem, der einen besseren Blick auf den Fundort haben wollte, und erklärte dann, dass der Steg bis auf Weiteres von der Polizei gesperrt sei.
Amanda erkannte einige bekannte Gesichter in der Menge: ihre Nachbarn, die Hendersons, und auch ihren Gast Richard Loomis. Sie selbst blieb jedoch auf dem Steg. Denn sie konnte davon ausgehen, dass sie bald zu ihrem Fund befragt werden würde.
Lisa kam über den Sand gelaufen, die Kamera griffbereit und ganz in ihrem Reporter-Modus. Doch sobald sie Amanda entdeckte, blieb sie abrupt stehen. Nach einem kurzen Gespräch mit Truman, der sie bat, Abstand zu halten, kehrte sie mit missmutigem Gesichtsausdruck zur Menge zurück.
Die Sanitäter trafen als zuerst am Ort des Geschehens ein. Nachdem sie feststellten, dass sie für die toten Männer nichts mehr tun konnten, verließen sie eilig das Boot und warteten darauf, dass die Polizei auftauchen und den Tatort sichern würde. Einer von unterstützte Truman dabei, die Schaulustigen zurückzuhalten. Amanda kannte keinen der Männer, war aber dankbar für die gefaltete Decke, die sie ihr gegeben hatten. Der alte Steg war übersät mit rostigen Nägeln und Splittern, da war ein sicherer Sitzplatz Gold wert.
So sicher man eben sein konnte, mit einer Leiche, die nur wenige Meter entfernt kopfüber im Wasser lag. Sie hatte mit George Ortiz und seinen Kollegen gerechnet, war aber überrascht, wie schnell James Landon, ihr Freund und Ermittler bei der Landesbehörde, am Tatort eintraf. Keine zehn Minuten nach dem Notruf fuhr er mit seinem zivilen Streifenwagen über den Sand, sprang mit sichtbarer Ungeduld aus dem Auto und ging direkt zum noch im Hafen festgemachten Boot. Er gab den örtlichen Polizisten noch ein paar schnelle Anweisungen, vermutlich, um die Menschen weiter zurückzudrängen und neugierige Blicke oder das Mithören der Gespräche auf dem Steg zu verhindern. Kurz darauf wurde Absperrband zwischen den Fahrzeugen gespannt, die Leute wurden in Richtung der Dünen zurückgeschickt.
James nickte Amanda im Vorbeigehen kurz zu, aber seine Aufmerksamkeit galt dem Tatort. Nach einem kurzen Gespräch mit Ortiz überließ er dem Polizeichef den Tatort und ging auf Amanda zu.
„Wie kommt es, dass du immer in der Nähe bist, wenn irgendwo in der Stadt eine Leiche auftaucht?“ Er konnte einen amüsierten Unterton in seiner Stimme nicht vermeiden.
„Klar, als wäre ich darauf aus“, erwiderte Amanda trocken. „Ich will einfach überall dabei sein, wo etwas passiert. Versteht sich von selbst, oder?“
James setzte sich neben sie. „Ich dachte, du willst nur sichergehen, dass du mich endlich wiedersiehst.“ Sein Grinsen war ansteckend, aber Amanda zögerte für einen Moment – sie war sich nicht sicher, ob er sie aufziehen wollte oder tatsächlich mit ihr flirtete.
„Du hast es erkannt. Ich mache mich auf die Suche nach Leichen, damit du zurück nach Ravenwood kommst.“
Er ließ seine Beine über dem Wasser baumeln, dabei schielte Amanda über den Steg. „Trägst du immer Cowboy-Stiefel bei Tatortuntersuchungen?“
„Immer. In denen kann ich schneller Bösewichte jagen als in Sneakern. Es ist allerdings nervig, dass ich zur Spurensicherung immer diese Stoffüberzieher anziehen muss.“ Seine Stimme wurde ernster. „Wie geht’s dir nach dem Fund?“
Amanda überlegte kurz, bevor sie antwortete: „Mir geht es gut. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, bei meinem Morgenspaziergang eine Leiche zu finden.“
Es wurde kurz still, das fand Amanda unangenehm. Sie dachte an das letzte Mal zurück, als sie James gesehen hatte: bei Mr. Peetmans Beerdigung.
„Du redest jetzt also wieder mit mir?“ Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, brannte aber innerlich und hoffte auf eine Erklärung. „Was war eigentlich dein Problem mit mir bei der Trauerfeier? Sind wir nicht Freunde?“
Der groß gewachsene Detective seufzte und sah auf das Wasser.
„Du hättest mir sagen sollen, dass Mr. Peetman in der Stadt ist, Amanda. Das Zeugenschutzprogramm einfach zu verlassen, das ist eine ernste Sache. Und du hast kein Wort darüber verloren, als du seine wahre Identität herausgefunden hattest.“ Er drehte sich zu ihr, sein Gesicht deutete eher eine Frustration als Wut an. „Das hätte eine Lüge von ihm gewesen sein können. Vielleicht war er gefährlich. Vertraust du mir nicht?“
Amanda zuckte mit den Schultern. Es tat ihr leid, dass sie ihn verärgert hatte, aber sie bereute ihre Entscheidung nicht.
„Du bist Ermittler bei der Landesbehörde. Ich habe angenommen, du müsstest ihn sofort melden und mitnehmen.“ Als James den Mund öffnete, um ihr zu widersprechen, hob Amanda die Hand, um ihn zu unterbrechen.
„Er hat Charles Timmins mit der Schaufel niedergeschlagen, nicht ich.“ Seine Reaktion darauf stand James ins Gesicht geschrieben, seine Augenbrauen schnellten überrascht und verständnisvoll nach oben. „Er hat mir an dem Tag das Leben gerettet. Als ich vor Charles weglief, war es Mr. Peetman, der ihn aufgehalten hat.“ Sie rückte auf der Decke hin und her, war in Gedanken versunken und erinnerte sich. „Ich fühlte mich ihm gegenüber verpflichtet. Nachdem ich mit ihm gesprochen hatte und wusste, wer er wirklich war. Er hat mir auch gesagt, dass er krank war und nicht mehr lange leben würde. Wenn ich geglaubt hätte, dass er gefährlich ist, hätte ich ihn sofort gemeldet. Versprochen.“
„Also hast du auch bei deiner Aussage auf der Wache gelogen.“
„Dann verklag mich doch.“ Amanda konnte den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
„Komm schon, ich will dich doch gar nicht verhaften!“
James legte eine warme Hand auf ihre Schulter und wollte gerade etwas sagen, doch in dem Moment wurden ein dunkler Lieferwagen und ein kleiner SUV durch die Absperrung gelassen, die in Richtung des Stegs fuhren.
„Tatort-Ermittler, wahrscheinlich mit dem Gerichtsmediziner“, antwortete James auf Amandas fragenden Blick und stand auf, um auf die Ermittler zuzugehen. Sofort war er wieder ganz im Arbeitsmodus. Amanda beobachtete, wie er mit den Männern aus dem Van sprach und sie zum Boot führte. Ein kleiner Ermittler mit einem eher jungenhaften Gesicht stieg aus dem SUV, zog Gummihandschuhe an und folgte James, der sich mit seinem breiten Rücken von Amanda wegbewegte. Innerhalb weniger Minuten hatte das Team der Spurensicherung mit der Untersuchung begonnen, im Inneren des Bootes wurde alles fotografiert. Währenddessen stand der Gerichtsmediziner auf dem Steg, rauchte seine Pfeife und beobachtete den Fortschritt der Ermittlung. George wandte sich wieder der neugierigen Menge zu und versuchte, sie weiter zurückzuhalten, während James die Tatort-Ermittler unterstützte. Er verpackte sorgfältig Beweise und suchte nach weiteren Fasern oder Spuren.
Amanda war nah genug an dem Tatort, um der Unterhaltung zwischen den Polizisten und der Spurensicherung folgen zu können. Ein junger Polizist kam zu ihr, um Amandas Aussage mit aufzunehmen. Er war ernst dabei und notierte sorgfältig alles, an das sie sich erinnern konnte. Das war nicht viel, aber Amanda war sich darüber bewusst, dass sie nichts auslassen sollte. Sie berichtete davon, das Boot gesehen und dann hineingeschaut zu haben. Dabei habe sie den Mann erkannt, nach seinem Puls gefühlt und daraufhin die Polizei gerufen.
Es dauerte lange, bis sie den Tatort gesichert, ihn fotografisch erfasst hatten und alles dokumentiert war. Auch die Schiffswände und der Handgriff des Außenbordmotors waren nach DNA-Spuren abgesucht worden. Auch wenn Amanda nicht mehr dortbleiben musste und ihr gesagt wurde, dass sie nach Hause gehen konnte, blieb sie. Um den Ermittlern weiter bei der Arbeit zuzusehen. Vielleicht war es morbide Neugier, aber sie hatte James noch nie bei der Arbeit gesehen und es faszinierte sie, mit wie viel Genauigkeit er jedes Detail dokumentiert sehen wollte und die neuesten Erkenntnisse mit seinen Kollegen diskutierte.
Schließlich schienen alle Spuren erfasst zu sein, damit war für die Spurensicherer alles erledigt.
„Habt ihr alles, was ihr braucht?“ James fragte den Tatort-Ermittler, der ihm am nächsten war. Der überlegte kurz und schien im Kopf alle gefundenen Spuren und Beweise durchzugehen, dann nickte er zustimmend und war zufrieden.
George und James stiegen vorsichtig in das Boot, das bei jeder Bewegung leicht schwankte, und versuchten, das Boot möglichst stillzuhalten.
Gemeinsam knieten sie auf dem Boden und schoben ihre Hände unter die Schultern des Toten. James blickte George an. Als dieser ihm stumm zunickte, rollten sie die Leiche auf den Rücken.
Als Amanda das Gesicht des toten Mannes sah, keuchte sie erschrocken auf. Trotz der schon eingetretenen lilafarbenen Gesichtsfärbung erkannte sie ihn sofort. Als sie ihn das letzte Mal auf dem Wochenmarkt gesehen hatte, war er vor Wut rot angelaufen und hatte den Polizeichef angeschrien.
Es war Anderson Bowles. Sein Mund schien mit einer überraschten Reaktion offengeblieben zu sein, das Gesicht war zu einer überraschten Miene erstarrt und sein Körper steif im Tod. George legte ein Handtuch über seinen Oberkörper und Amanda war überrascht davon, wie sehr sie das erleichtert hatte. Obwohl er ein Stalker war und ihrer Freundin Angst gemacht hat, blieb ihm durch dieses einfache Frottee-Handtuch im Tod ein Hauch von Würde. Amanda war nicht altmodisch, aber selbst mit einem unangenehmen Menschen sollte anständig umgegangen werden, wenn er verstarb.
James und George begannen mit der Untersuchung der Leiche, während der junge Gerichtsmediziner, weiterhin seine Pfeife rauchend, auf dem Steg stand und das Treiben auf dem Boot beobachtete. „Wahrscheinlich ein Herzinfarkt“, murmelte er, als er seine Pfeife ausklopfte, und der verbliebene Rest an Tabak ins Wasser fiel. Einer der Ermittler deutete an, dass er einen Beutel für den Beweis brauchen würde, und entfernte dann vorsichtig das Sweatshirt, das um Bowles’ Kopf gewickelt war. Routiniert verschloss er es luftdicht in einer Tüte.
„Herzinfarkt, hm?“ James machte keine Anstalten, seine Skepsis zu verbergen. „Wann hast du das letzte Mal gehört, dass ein Herzinfarkt-Opfer sich komplett auszieht und aus seinem Sweatshirt einen Turban macht, um ihn sich auf den Kopf zu setzen? Und wann hast du zum letzten Mal einen Fischer gesehen, der ohne Angelausrüstung, ohne Kühlbox, ohne Wasser oder Nahrung auf seinem Boot unterwegs gewesen ist?“
George hörte nur mit halbem Ohr zu, sein Blick war auf die Bootswand gerichtet. Er untersuchte sie knapp unterhalb der Oberkante. „Und wenn es ein Herzinfarkt war, warum ist dann ein Einschussloch im Boot?“
James trat sofort auf Georges Seite herüber, er balancierte vorsichtig, weil das Fischerboot empfindlich auf jede seiner Bewegungen reagierte. Gemeinsam suchten sie das Boot genauer ab. Dabei stieß James auf die nächste Spur.
„Wie auch immer, warum steckt ein Projektil im Außenbordmotor?“ Er zeigte auf eine Kerbe nahe dem Motor. Ein dunkles Loch, fast vollständig von einem silbernen Aufkleber verdeckt.
Der Gerichtsmediziner schwieg. Seine Theorie war komplett widerlegt. George und James tauschten einen wissenden Blick und der Polizeichef sprach aus, was beide dachten.
„Das war kein Herzinfarkt. Das war Mord.“