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„Warum ist es nur so schrecklich kalt hier?“ Alexi stampfte mit ihren UGG-Boots auf den Boden und steckte ihre Hände tiefer in die Taschen ihrer Schaffelljacke. „Solche arktischen Temperaturen hatten wir in London noch nie.“
„Hör auf zu jammern“, tadelte Cheryl sie. „Wir haben erst November. Noch ein paar Wochen, und du wirst einen Grund haben, dich zu beschweren.“
„Es wird noch schlimmer?“ Alexi schauderte bei dieser Vorstellung.
„In London scheint es nur wegen der ganzen Luftverschmutzung wärmer zu sein.“
„Eine ungesunde Dosis Kohlenmonoxid ist nicht zu verachten, wenn es darum geht, die Temperaturen über dem Gefrierpunkt zu halten.“ Alexi nahm schnell Cheryls Ellbogen und verhinderte dadurch, dass diese auf einer Eisplatte ausrutschte. „Das ist der Beweis, denke ich.“
„Komm schon, gib es zu. Es gefällt dir hier.“ Cheryl nickte Alexis Kater zu. „Ihm gefällt es jedenfalls.“
„Nur weil es hier mehr Wildtiere gibt, denen er hinterherjagen kann.“
„Wenn ich an meinen letzten Aufenthalt in London zurückdenke, muss ich dir widersprechen.“
Alexis Atem formte Wolken vor ihrem Gesicht, als sie kicherte. „Ich glaube, du hast recht.“
Cosmo, Alexis Kater, trottete vor den beiden her, während Cheryls kleiner Terrier Toby freudig um seinen tierischen Freund herumtanzte.
„Man könnte fast meinen, sie hätten sich wochenlang nicht gesehen, dabei waren es nur wenige Tage“, sagte Cheryl mit einem geduldigen Lächeln.
Cosmo war zweimal so groß wie Toby und doppelt so schwer; seine Pfotenabdrücke im Schnee waren doppelt so groß wie die des Hundes. Alexi war vor einiger Zeit als Reporterin einer Story auf der Spur gewesen, bei der ihr nur die Obdachlosen, die unter der Waterloo Bridge schliefen, helfen konnten. Cosmo, eine Wildkatze, die ebenfalls dort lebte, hatte Alexi gleich in sein Herz geschlossen und sich von ihr adoptieren lassen. Seither gab es die beiden nur noch im Doppelpack.
„Geht’s dir gut?“ Alexi verlangsamte ihre Schritte, als sie bemerkte, dass Cheryl Schwierigkeiten hatte, mit ihrem Tempo mitzuhalten. „Du hättest mit deinem kleinen Bündel Freude im Haus bleiben sollen.“
Cheryl grinste bei der Erwähnung ihrer zwei Monate alten Tochter. „Was, sollte ich Drew etwa noch mehr Grund geben, sie zu verwöhnen?“
„Seit wann braucht er dafür einen Grund?“
Cheryl verdrehte die Augen. „Auch wieder wahr.“
Alexi lachte, als sie an Cheryls riesigen Ehemann und seine totale Verehrung für die kleine Verity dachte. Als junger Vater hatte er natürlich Angst, sie fallen zu lassen oder anderweitig etwas falsch zu machen. Dennoch hatte Drew bislang alles richtig gemacht, wenn es darum ging, Veritys Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen.
„Das Mädchen wird garantiert ein Papakind“, sagte Alexi voraus.
„Wusste ich es doch!“ Cheryl grinste. „Er lässt mich sogar …“
„Oh nein!“ Alexi ließ Cheryls Arm los und rannte los. „Cosmo, hör sofort damit auf!“
Ein Mann vom Filmteam, das gerade die erste Folge einer Reality-Kochshow auf Hopgood Hall drehte, hatte Cosmos Aufmerksamkeit geweckt. Von da an hatte Cosmo beschlossen, sich zu amüsieren, indem er dem Mann nachstellte. Dieser hatte seine Ausrüstung fallen gelassen – die vermutlich teuer und unersetzbar war – und war zur nächstgelegenen Tür gerannt. Als er Alexis Stimme hörte, gab Cosmo seine Verfolgung auf und verwandelte sich in den Inbegriff von eleganter, schnurrender Unschuld, während er sanft um Alexis Beine strich.
„Böser Junge! Du weißt genau, dass du das nicht tun darfst.“
„Was zum Teufel ist das für ein Ding?“, fragte der Kameramann, der sich hinter der Tür in Sicherheit gebracht hatte. „Sieht aus, als käme er direkt aus Afrika! Erschreckt er nicht … na ja, die Pferde?“
„Tut mir leid. Er ist eigentlich ganz harmlos“, sagte Alexi und kreuzte die Finger hinter ihrem Rücken. „Und trotz allem, was Sie vielleicht über ihn gehört haben, ist er kein schwarzer Panther. Er sieht nur wie einer aus und glaubt, seinem Ruf gerecht werden zu müssen.“
„Na gut.“ Der Mann steckte seinen Kopf vorsichtig aus der Tür und beäugte Cosmo misstrauisch, während er zu verbergen versuchte, dass ihm gerade eine Katze einen Riesenschreck eingejagt hatte. „Wenn der harmlos ist, setze ich einen Zehner auf den Außenseiter um ein Uhr dreißig im Kempton Park.“
Alexi verdrehte die Augen. Sie befand sich in einer Stadt, die für ihre Pferderennen bekannt war, und jeder sprach darüber. Der Mann hob seine Ausrüstung wieder auf, gab noch ein paar Kraftausdrücke von sich und verschwand in dem improvisierten Studio. Nachdem sie Cosmo wieder unter Kontrolle hatte, ging Alexi zu Cheryl zurück.
„Sei nicht so hart zu Cosmo“, sagte Cheryl, der Lachtränen über die Wangen liefen. „Es ist eine Weile her, seit er zum letzten Mal seine Autorität ausgeübt hat.“
„Irgendwann bringt er mich noch ins Grab.“
„Cosmo amüsiert sich nur. Er ist wie ein gelangweilter Teenager, der versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen.“
„Ich sehe zu, wie ich ihn von diesem Haufen fernhalte.“
„Nicht nötig.“ Cheryl klopfte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. „Sie sollen endlich mal ihren Mann stehen. Wir sind hier auf dem Land. Wer könnte hier schon Angst vor einem süßen kleinen Kater haben?“ Cheryl beugte sich hinunter, um Cosmos großen Kopf zu streicheln. Er schmiegte sich an ihre Hand und schnurrte wie die Unschuld in Person, die er allerdings nicht war.
„Du Quälgeist!“, sagte Alexi, die ihre Zuneigung nicht verbergen konnte.
Sie warf einen kritischen Blick auf das Gebilde, in dem der Kameramann gerade Zuflucht gesucht hatte; immer noch verwundert über die Geschwindigkeit, mit der innerhalb von sieben Monaten so viele Veränderungen Einzug gehalten hatten. Hopgood Hall lag in Lambourn, dem Tal der Rennpferde. Es war ein Hotel, das sich im Besitz von Cheryl und Drew befand. Alexi und Cheryl hatten sich während ihres Studiums an der Universität angefreundet, doch Cheryl hatte beinahe sofort nach ihrem Abschluss in Hotelmanagement Drew geheiratet, während Alexi eine Karriere im Journalismus eingeschlagen hatte. Für ihren Beruf hatte sie alles gegeben. Dennoch war ihre Karriere zu einem spektakulären Ende gekommen, als ihr Arbeitgeber, der Sunday Sentinel, im Frühling desselben Jahres einen Teil seiner Mitarbeiter entlassen hatte. Als Investigativjournalistin war Alexi den Kürzungen zum Opfer gefallen.
Sie und Cosmo waren daraufhin nach Lambourn gekommen, um ihre Wunden zu lecken und zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Doch dann geriet Alexi in einen Vermisstenfall – eine Freundin von Cheryl war spurlos verschwunden. Später kam heraus, dass diese Frau von einem Pferdeausbilder aus der Gegend ermordet worden war; einem Mann, den viele in der Umgebung als gottgleich betrachteten. Alexi löste den Fall mithilfe eines ziemlich attraktiven Privatdetektivs, Jack Maddox.
In der Folge hatte Alexi einen hohen Vorschuss von einem Verlag dafür erhalten, dass sie ein Buch über den Fall schrieb. Sie hatte sich ein Cottage in Lambourn gemietet und sich im Dorf eingelebt, in einer sehr ruhigen Gegend, wo sie ihr Buch schreiben und über ihre nächsten Schritte nachdenken konnte. Von Natur aus ein Stadtmädchen, war Alexi überrascht, wie schnell sie sich an das Landleben gewöhnt hatte und wie bereitwillig die Einheimischen sie aufgenommen hatten. In Anbetracht der Tatsache, dass sie einen der ihren als Mörder entlarvt hatte, hatte sie beinahe erwartet, ausgestoßen zu werden.
Cheryls und Drews Hotel hatte in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt, als Alexi ankam. An der Stelle des Gebäudes, das sie nun vor sich sahen – gebaut aus alten Ziegelsteinen, damit es mit der Fassade des hübschen alten georgianischen Hauses harmonierte – hatte vorher eine hässliche Ansammlung von Fertighäusern gestanden. Dort waren die Pferdepfleger und Bereiter vom Hof des in Ungnade gefallenen Pferdeausbilders untergebracht gewesen. Auf einen Vorschlag von Alexi hatten die Hopgoods stattdessen ein solides Nebengebäude mit Konferenzräumen und Unterbringungsmöglichkeiten errichten lassen. Alexi war mit Cheryl und Drew eine Partnerschaft eingegangen, wodurch sie das Nebengebäude finanzierte. Drew nutzte seinen Einfluss, um die Baugenehmigung zu erhalten, und der Rohbau war vor weniger als einem Monat fertiggestellt worden.
„Ich kann es kaum erwarten, dass es Frühling wird, um all die kleinen Innenhöfe und die Gartengestaltung zu sehen“, sagte Cheryl. „Es war klug von dir, vorzuschlagen, dass Fay die Entwürfe machen soll.“
„Es hat ihrem Leben einen Sinn gegeben“, antwortete Alexi und bezog sich dabei auf die Mutter des Mordopfers, die nun im Haus ihrer Tochter in der Nähe lebte.
„Komm, gehen wir hinein. Ich will endlich sehen, wie alles funktioniert. Du nicht“, Alexi hob eine Hand, um Cosmo zurückzuhalten, der empört miaute. „Du hast dich da drin schon unmöglich gemacht. Und kein Knöchelbeißen, ja?“ Cosmo blickte aus scharfsinnigen Augen zu Alexi auf. „Es wird nicht lange dauern.“
Das Nebengebäude war in großer Eile fertiggestellt worden, und nun hing seine Zukunft in der Schwebe. Wenn sich Alexis Investition auszahlen sollte, musste diese Kochshow die Einrichtung im besten Licht zeigen – und erfolgreich sein. Es gab viele Stolpersteine, und Alexi betete jeden Tag darum, dass sie Drew und Cheryl nicht dazu gebracht hatte, sich zu übernehmen. Nach der Mordermittlung hatte das Hotelgeschäft für eine Weile an Fahrt aufgenommen. Es hatte einen Andrang von Leichenfledderern gegeben, die den Schauplatz des Parker-Mordes sehen wollten, wie Drew vermutete. Er wiederum machte sich die allgemeine Neugier zunutze, indem er die Preise erhöhte. Alexi nutzte hingegen die Gelegenheit, die Konferenzräume anzupreisen, in denen Journalismus-Workshops und Schreibkurse stattfinden sollten. Auch Hochzeiten konnte man dort feiern und einfach alles, was Geld einbrachte.
Sie hatte jedoch nicht einkalkuliert, dass Patrick Vaughan, ihr früherer Chef, Ex-Freund und Politikredakteur beim Sentinel, mit einem Trumpf aufwarten würde. In dem verzweifelten Versuch, Alexi zurückzugewinnen, hatte er kein Nein akzeptiert. Sie stimmte zu, gelegentlich einen Artikel als Freiberuflerin für die Zeitung zu schreiben, stellte jedoch sicher, dass sie ihre Arbeit auch der Konkurrenz anbot. Sie wollte ihren Standpunkt deutlich machen. Patrick bot ihr weitere verlockende Aufträge an, falls sie nach London zurückkehrte – zum Sentinel, und zu ihm.
Alexi ging jedoch nirgendwohin.
Der Sentinel war im Besitz eines Moguls, der auch an einem großen Kabel-TV-Sender beteiligt war: einem, der eine ernsthafte Konkurrenz für die nationalen Sender darstellte. Der Sender drehte Reality-Kochsendungen in verschiedenen Teilen des Landes: eine pro Drehort an jedem Abend wochentags, für insgesamt sechs Wochen. Die Regionalsieger würden schließlich gegeneinander kochen, um den Hauptpreis zu gewinnen. Patrick hörte, dass es an einem der Drehorte Probleme mit dem Gesundheitsamt gab. Da er vom Neubau auf Hopgood Hall wusste, bot er Alexi an, die Sendung dort drehen zu lassen – falls das Nebengebäude rechtzeitig fertig wurde. Alles war möglich mit der Aussicht, sechs Wochen lang ein beinahe voll belegtes Hotel zu haben. Alexi gefiel die Vorstellung nicht, in Patricks Schuld zu stehen, doch sie wusste, dass ihm die Anerkennung seiner Vorgesetzten dafür, eine solche Serie aus dem Boden zu stampfen, genauso viel bedeutete wie die Aussicht, sich bei ihr beliebt zu machen. Patrick sah immer das Gesamtbild.
So ungern sie es auch zugab, hatte Patrick doch recht gehabt mit seinem Vorschlag. Cheryls Hotel, und insbesondere ihr temperamentvoller Koch Marcel, sollten die Hauptdarsteller in der Produktion sein. Das Hotel lag in einer der malerischsten Gegenden des Landes, wo es mehr Rennpferde als Menschen gab. Das mit liebevoll restaurierten Antiquitäten eingerichtete Gebäude bot eine wunderschöne Kulisse. Was Marcels Schimpfen und Fluchen betraf, konnte er sogar Gordon Ramsay übertreffen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er dies mit einem französischen Akzent tat, der seine Obszönitäten irgendwie exotischer klingen ließ. Seine Launenhaftigkeit und sein attraktives dunkles Äußeres machten ihn zu einem Naturtalent fürs Fernsehen. Die Kamera liebte ihn, und er spielte sich auf wie eine Primadonna.
„Glaubst du, sie haben in Bezug auf Marcel ihre Hausaufgaben gemacht?“, fragte Cheryl. „Ich meine, er sieht wie ein Franzose aus, klingt wie einer und verhält sich wie einer, aber wir wissen doch beide, dass er aus dem Londoner East End stammt und ein waschechter Cockney ist.“
Alexi brauchte einen Moment, um über die Frage nachzudenken. „Ich denke nicht, dass Marcel je behauptet hat, Franzose zu sein. Er ist aber in Frankreich aufgewachsen und hat dort seine Ausbildung gemacht, das ist wahr. Die Leute glauben nur …“
„Und er lässt sie in dem Glauben.“
„Na ja, um ehrlich zu sein, ist der Wettbewerb in dieser Sparte brutal. Man muss jede Gelegenheit nutzen, um sich von der Konkurrenz abzuheben.“
„Das nehme ich an.“
Cheryl öffnete die Tür zum Empfangsbereich und wischte ihre Schuhe am Fußabstreifer ab. Alexi folgte ihr auf dem Fuß, wohl wissend, dass es reine Zeitverschwendung war. Ihre makellosen neuen Holzböden würden schon bald vor Schmutz strotzen wegen des ständigen Kommens und Gehens. Alexi dachte an die unverschämt hohe Summe, die sie dafür erhielten, dass das Filmteam die Einrichtungen nutzen durfte, und fühlte sich sofort besser.
„Die vier Kandidaten sollten bald hier sein“, sagte Alexi und nickte dem gehetzt aussehenden Produzenten zu, der gerade ein Gespräch am Handy führte und gleichzeitig mit einem Mann im Anzug sprach. „Ich kann es nicht erwarten zu sehen, welche masochistischen Typen sich bereit erklärt haben, jeden Bereich ihres Lebens unter die Lupe nehmen zu lassen, und das sechs Wochen lang für vierundzwanzig Stunden am Tag.“
„Das ist das Gleiche wie bei Big Brother.“
„Ja, aber bei uns wird niemand rausgewählt. Die Kandidaten sind entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten und sich von unserem pseudo-französischen Koch schikanieren zu lassen. Dabei werden sie überall von Kameras begleitet, außer auf der Toilette.“ Alexi zuckte mit den Schultern. „Man muss wohl wirklich Koch werden wollen, um komplett auf seine Privatsphäre zu verzichten.“
„Denk an unseren Kontostand“, sagte Cheryl grinsend. „Und sei dankbar, dass wir nicht vor die Kamera müssen.“
„Oh, das bin ich, glaube mir!“ Die Freundinnen betraten ein kleines Empfangszimmer, worin die Kandidaten vor laufenden Kameras zum ersten Mal auf Marcel treffen würden. Alexi und Cheryl nahmen außerhalb der Reichweite der Kameras Platz. Alexi nickte dem Mann zu, dem Cosmo zuvor nachgestellt hatte, und entschuldigte sich noch einmal.
„Keine Sorge“, antwortete er und streckte seine Hand aus. „Ich bin Gerry Salter, Tontechniker.“
„Alexi Ellis, Mitbesitzerin.“ Sie schüttelte seine Hand. „Und Cheryl Hopgood, die echte Besitzerin.“
„Willkommen in unserem kleinen Paradies“, sagte Cheryl, die nun an der Reihe war, ihm die Hand zu schütteln.
„Habe ich was verpasst?“ Drew, der Verity in einer dicken, gesteppten Babytrage am Körper trug, kam hereingeschneit. Das Baby schlief friedlich. „Echte Männer haben keine Angst davor, pink zu tragen“, fügte er grinsend hinzu, als er Alexis schockierten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Wie macht er das?“, wollte Cheryl wissen und gurrte ihrer schlafenden Tochter zu. „Bei mir ist sie nie so ruhig.“
„Es ist eine Gabe“, antwortete Drew und küsste seine Frau auf die Nasenspitze. „Na ja, ehrlich gesagt singe ich ihr etwas vor. Das funktioniert jedes Mal.“
Cheryl starrte ihn mit offenem Mund an. „Du hast überhaupt kein musikalisches Talent.“
Er grinste. „Verity ist sehr nachsichtig.“
„Das muss sie auch sein.“
„Nein, die Show hat noch nicht angefangen“, sagte Alexi und beantwortete damit Drews ursprüngliche Frage.
„Noch keine Spur von Jack“, sagte Drew. „Ich war mir sicher, er würde heute hier auftauchen.“
Alexi zuckte mit den Schultern, weil sie nicht zugeben wollte, wie sehr sie auf Jacks Besuch gehofft hatte. Sie hatte ihn nicht häufig zu Gesicht bekommen, seit sie den Mord an Natalie Parker aufgeklärt hatten. Nicht dass es dafür einen Grund gegeben hätte. Zwischen ihnen hatte es gefunkt, als sie sich zum ersten Mal trafen, aber das leidenschaftliche Feuer war ausgeblieben. In den darauffolgenden Monaten hatten sie sich ein paar Mal zum Abendessen getroffen, aber mehr war nicht passiert. Vielleicht hatte Alexi seine Signale missverstanden. Oder sein Herz war bereits von jemand anderem in Beschlag genommen worden. Die besitzergreifende Art seiner attraktiven Geschäftspartnerin kam ihr in den Sinn. Wahrscheinlich ist es besser, wenn nichts daraus wird, dachte sie. Seit sie sich an Patrick die Finger verbrannt hatte, war sie nicht bereit, sich schon wieder auf eine Beziehung einzulassen, obwohl Jack all ihren Anforderungen entsprach.
„Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, war er mit einer umfangreichen Ermittlung in Newbury beschäftigt“, antwortete Alexi.
„Ach, schade.“
„Hallo, Hübsche.“
„Was machst du hier?“, wollte Alexi wissen, als Patrick an ihrer Seite auftauchte, einen Arm um ihre Taille legte und sie auf die Wange küsste. Sein Übermut brachte sie dazu, zurückzuweichen und sich ihm zu entziehen. Diese öffentlichen Zurschaustellungen von Zuneigung brauchte sie wirklich nicht. Sie gaben ihr das Gefühl, dass er auf eine obskure Art und Weise seinen Standpunkt klarmachen wollte.
„Wolltest du mir dafür danken, dass ich all dies hier organisiert und dem Hotel ein Vermögen eingebracht habe?“
„Nein, ich meine, warum bist du hier? Du leitest eine Zeitung, keinen Fernsehsender.“
„Ich dachte, ich könnte einen Artikel über das Meet-and-Greet schreiben.“
Alexi warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Das war eine Aufgabe für einen Junior-Reporter. „Der Fall der Mächtigen“, sagte sie. „Aber es überrascht mich, dass du an Cosmo vorbeigekommen bist.“
„Ah, ich habe ihn ausgetrickst.“
Alexi schüttelte Patricks Arm ab, den er um ihre Taille gelegt hatte, und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Wenn du meinen Kater verletzt, bist du tot, Vaughan.“
Der Produzent, Evan Southgate, stieg auf die Bühne, und es wurde still im Raum. Er stellte Marcel dem Moderator vor, einem Mann namens Paul Dakin, dessen künstliche Sonnenbräune, das gegelte, füllige Haar und die blendend weißen Zahnimplantate sofort ins Auge stachen. Alexi war bereits in den zweifelhaften Genuss gekommen, Paul kennenzulernen, und hatte ihn auf den ersten Blick nicht ausstehen können. Sein plastischer Charme beeindruckte sie nicht im Geringsten, genauso wenig wie sein unechtes Lächeln. Paul Dakin war zweifellos selbst sein allergrößter Fan. Alexi gähnte sogar, als er zehn Minuten lang fast nur über sich selbst sprach. Für einen Artikel im Sentinel erschien er ihr nicht interessant genug.
Alexi lächelte, als Marcel vor der Kamera damit prahlte, wie viel Leidenschaft er für alles im Leben empfand, wobei Essen nur eines davon war.
„Seinetwegen werden alle Frauen einschalten, selbst die, die Kochen hassen“, flüsterte Cheryl. „Die Kamera liebt ihn, und sein französischer Akzent ist das Sahnehäubchen. Ich verstehe, warum die Produzenten ihn unbedingt engagieren wollten. Gut, dass du die weise Voraussicht hattest, ihn vertraglich an uns zu binden. Andernfalls …“
„Da kommen die Kandidaten“, sagte Alexi und beugte sich nach vorne. Sie war neugierig darauf, zu sehen, wie sie so waren. Nähere Einzelheiten waren noch nicht veröffentlicht worden, und bislang wusste sie nur, dass es sich dabei um zwei Männer und zwei Frauen handelte.
Das Publikum verstummte. Es bestand aus einer Auswahl von Teammitgliedern und Anzugträgern von Far Reach – der Produktionsfirma, die Patrick so gerne beeindrucken wollte – und einem Aufgebot lokaler Größen, einschließlich des Bürgermeisters.
„Verdammt noch mal!“ Drew sog die Luft ein, als die erste Kandidatin, eine Frau namens Juliette Hammond, in hohen Absätzen und einem Rock, der als Gürtel hätte durchgehen können und wenig der Fantasie überließ, auf die Bühne stöckelte. Sie war heißer als die Temperaturen in Marcels Küche, und gemessen an ihrer selbstbewussten Art wusste sie das auch. Ein anerkennendes Raunen ging durch das gesamte männliche Publikum. Alexi verstand, warum sämtliche Männer aufrecht dasaßen und die Köpfe reckten. Die Frau war klein, drall und feminin bis in die manikürten Fingerspitzen. Lange, blonde Haare fielen wie ein Wasserfall über ihre Schultern, und sie hatte verdächtig grüne Augen. Vermutlich trug sie farbige Kontaktlinsen. Meine Güte, sogar Alexi dachte schon wie ein Buchmacher.
Sie sah Ms Hammond das dicke Make-up nach, das sie wahrscheinlich in der Maske erhalten hatte. Bedeutete das, dass die Kandidaten die ganze Zeit über Make-up tragen mussten, selbst wenn sie nicht „spielten“? So viel dazu, dass sie in ihrer Freizeit natürlich rüberkommen sollten. Juliette war von schlanker Gestalt, aber dennoch kurvig und voller Sexappeal. Selbst Marcel wirkte für einen Moment sprachlos, was nach Alexis Erfahrung ohne Beispiel war.
„Ich frage mich, ob sie überhaupt kochen kann“, murmelte Cheryl.
„Wen kümmert’s“, erwiderte jemand vom Filmteam, während bereits die nächste Kandidatin hereinkam.
Greta Reid war das genaue Gegenteil von Juliette: groß, übergewichtig und völlig unscheinbar. Die beiden männlichen Teilnehmer, John Shelton und Anton Heston, schienen ebenfalls unterschiedlichen Spezies anzugehören. Anton hatte die karamellfarbene Haut eines Mannes von den Westindischen Inseln, mit einem Kopf voller Dreadlocks und einer entspannten Haltung. John war von kleiner Statur, litt an Haarausfall und befand sich auf der hässlichen Seite der vierzig. Jeder von ihnen hielt seine Ansprache für die Kamera; sie redeten über ihre Erfahrungen im Catering, ihre Vorliebe für alles, was mit Essen zu tun hatte, und was es ihnen bedeutete, bei diesem Wettkampf dabei zu sein.
„Der Himmel steh dem Sieger bei“, murmelte Drew, in dem Wissen, dass er oder sie ein Jahr lang in Marcels Küche arbeiten durfte, falls sie seine Launen so lange ertrugen. Dabei würden sie das Handwerk von Grund auf erlernen, unter Marcels nicht gerade sanfter Anleitung. Der Sieger würde einen hohen Geldbetrag erhalten – und die Möglichkeit, in einer regelmäßig ausgestrahlten Kochshow aufzutreten. Als Dakin ihn nach seiner Meinung über die Kandidaten befragte, strafte Marcel die vier mit einem verächtlichen Blick, wobei er die herausgeputzte Juliette in seine Missachtung einschloss. Er antwortete, dass er mit seiner Beurteilung warten würde, bis er herausgefunden hatte, ob einer der vier tatsächlich kochen konnte. Falls Juliette eine Vorzugsbehandlung erwartet hatte, die ihr dank ihres Aussehens normalerweise bei Männern sicher war, würde sie eine Enttäuschung erleben. Nach Alexis Erfahrung brauchten gut aussehende, charismatische Menschen wie Marcel keine Konkurrenz. Die Zeit würde es zeigen.
Paul erinnerte die Kandidaten daran, dass sie von nun an alle von der Kamera aufgezeichnet würden. Alles, was sie sagten und taten, wurde für die Nachwelt festgehalten … oder besser gesagt, zur Erbauung des Publikums. Die Worte klangen noch in ihren Ohren, als der Produzent „Cut!“ rief und damit die Live-Sendung abschloss. Die Kandidaten wirkten unsicher, was sie nun mit sich anfangen sollten. Sie gingen umher, tranken Champagner und unterhielten sich mit besorgten Mienen.
„Der Lack ist schon ab“, murmelte Drew.
„Sag das nicht“, antwortete Cheryl. „Ich werde Marcel erwürgen, wenn er uns das vermasselt, nur weil er zu … na ja, zu sehr er selbst ist.“
„Er braucht diese Gelegenheit genauso sehr wie die Kandidaten“, sagte Alexi in der Hoffnung, dass sie damit recht hatte.
Alexi und ihre Freunde wollten gerade gehen, als ein protestierendes Kreischen aus einem der Kandidaten herausbrach, genauer gesagt, aus Juliette.
„Das hast du mit Absicht gemacht, du Miststück!“, schrie sie, während sie verschütteten Champagner von ihrer Brust abtupfte.
„Tut mir leid“, sagte Greta unaufrichtig. „Das war ein Versehen.“
„Bleib mir bloß vom Leib. Weiß Gott, warum du hier bist. Die Kameras werden dich wie einen Haufen Schweineschmalz aussehen lassen. Hast du denn gar keinen Respekt vor dir selbst?“
„Meine Güte“, sagte Cheryl, als sie sich mit den anderen dem Hauptgebäude des Hotels zuwandte. Cosmo und Toby tauchten auf und begleiteten sie auf dem Rückweg. „Wo wir gerade vom Überreagieren sprechen. Juliette scheint mir wirklich selbstverliebt zu sein. Es gab überhaupt keinen Grund für ihre heftige Reaktion auf etwas, das so offensichtlich ein Versehen war.“
„Sie steht gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nehme ich an“, antwortete Alexi, die Juliette auf Anhieb nicht ausstehen konnte. „Ich habe den Eindruck, dass sich alles um sie drehen muss. Von dieser Sorte habe ich mehr als genug in meinem Berufsleben getroffen.“
„Zumindest sind sie für die Dauer der Sendung hier eingesperrt“, sagte Drew und deutete über seine Schulter in Richtung des Nebengebäudes, „und wir können auf Abstand bleiben. Wenn Juliette ein Drama veranstalten und ihre Konkurrenten beleidigen will, müssen wir uns das zumindest nicht anhören.“
„Außer, dass die Kameras vermutlich alles aufnehmen werden“, antwortete Cheryl.
Alexi vermutete, dass bei vier so unterschiedlichen Kandidaten, die auf engstem Raum zusammenlebten und arbeiteten, die Fetzen fliegen würden. Darauf zählte der Fernsehsender natürlich, der seine Einschaltquoten verbessern wollte.
„Mit wem geht Juliette wohl ins Bett?“, fragte Patrick. „Nimmt jemand Wetten an?“
„Hier gibt es keine Wette“, erwiderte Drew. „Marcel entscheidet, wer gewinnt, also wird sie ihn ins Visier nehmen.“
„Eigentlich glaube ich, dass sie sich an Paul heranschmeißen wird“, sagte Alexi nachdenklich. „Als Moderator hat er mehr Einfluss bei Far Reach Productions. Und natürlich Evan, der Produzent. Aber vielleicht tun wir ihr Unrecht, und sie will sich wirklich als Köchin beweisen. Der Rock und die Absätze waren vielleicht die Idee des Senders, um das Interesse zu steigern.“
„Und mein Baby schläft nachts vielleicht durch“, antwortete Cheryl und verdrehte die Augen.
„Darf ich dich zum Mittagessen einladen?“, fragte Patrick Alexi in einem ruhigen Moment.
Alexi zögerte. „Warum?“, fragte sie. Sie hatte überhaupt kein Bedürfnis, mit Patrick essen zu gehen, fragte sich aber, ob mehr hinter dieser Einladung steckte als einfach nur das Bedürfnis, sich wieder gut mit ihr zu stellen.
„Wir müssen uns mal über deinen nächsten Artikel unterhalten“, erinnerte er sie.
Alexi nickte. Die Idee für diese Geschichte war ihr aufgrund ihrer Beteiligung an Natalie Parkers Fall gekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass Natalie von ihrem Adoptivvater missbraucht worden war, was letztlich zu dem Mord an ihr geführt hatte. Dieser Vorfall hatte Alexi dazu inspiriert, sich eingehender mit dem Minenfeld des elterlichen Missbrauchs zu beschäftigen. Der Artikel, den sie darüber geschrieben hatte, war eine ihrer besten Arbeiten, und Patrick stimmte ihr zu. Die Anwälte der Zeitung hatten jedoch ihre Bedenken. Wann hatten sie die auch nicht?
„Es wäre ein Geschäftsessen, und du kannst es in deine großzügige Spesenabrechnung aufnehmen?“
„Natürlich“, erwiderte er, mit selbstgefälligem Gesichtsausdruck.
2
Jack Maddox öffnete eine Bierdose und schleuderte seine Schuhe in den Raum. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und trank einen großen Schluck. Er gluckste, als die Eröffnungscredits der zweiten Episode von What’s for Dinner? erschienen, die wöchentlich zur besten Sendezeit im Kabelfernsehen lief. Trotz des langweiligen Namens stand die Sendung bereits an der Spitze der Einschaltquoten. Man konnte nicht einmal mehr den Fernseher anschalten oder die Zeitung aufschlagen, ohne irgendeine faszinierende Neuigkeit über einen der Kandidaten zu erfahren.
Jack freute sich ehrlich für Cheryl und Drew, und insbesondere für Alexi, obwohl es ihm sauer aufstieß, dass Alexis Ex-Freund Hopgood Hall diesen lukrativen Auftrag verschafft hatte. Persönliche Animositäten beiseite lassend, verstand er einfach nicht, was an Reality-TV so toll war, dass die ganze Nation davon mitgerissen wurde.
Jack musste zugeben, dass Marcel ein erstklassiger Koch war. Er hatte auch tonnenweise Charisma, und die Kamera war sein bester Freund. Seine Missachtung für die Bemühungen der vier Kandidaten teilte er gerecht unter ihnen auf – in seiner Küche gab es keine Lieblinge. Die Szenen, die ihn mit der sexy Blondine außerhalb seiner Küche zeigten, sprachen jedoch eine andere Sprache. Man konnte regelrecht spüren, dass die Chemie zwischen ihnen stimmte. Es gab viele berührend gefühlvolle Momente, und Jack vermutete, dass die Nation bereits Wetten darauf abschloss, ob Marcel sich irgendwann zu einer privaten Verkostung in ihr Schlafzimmer schleichen würde.
Marcels beißende Kritik an den Kandidaten grenzte an Unanständigkeit. Die andere Kandidatin, Greta, hatte er bereits mehrmals beinahe zum Weinen gebracht. Warum ließen sich manche Menschen dermaßen demütigen, und das für fünfzehn Minuten Ruhm? Entweder wollten sie unbedingt in der Welt der Kulinariker erfolgreich sein, oder sie spekulierten darauf, ein Z-Promi zu werden.
Im Falle der Blondine fand Jack es schwierig, eine Entscheidung zu treffen.
Es war Tatsache, dass Marcel sich für die Kameras nicht verstellen musste. Jack wusste zufällig, dass er jeden seiner Mitarbeiter mit derselben Verachtung behandelte. Dennoch strömten die Möchtegern-Köche in Scharen zu ihm, wann immer er eine freie Stelle zu besetzen hatte. Das musste man sich mal vorstellen.
Als Alexi als Investorin in Cheryls Hotel eingestiegen war, hatte Jack ihr davon abgeraten, Marcel einen Vertrag mit Gewinnbeteiligung anzubieten. Er konnte ihr keinen vernünftigen Grund für seine Zweifel nennen, außer, dass sein Divengehabe immer schwierig zu kontrollieren sein würde. Es stand außer Frage, dass Marcel ein hervorragender Koch war. Aber er war auch temperamentvoll, unhöflich und arrogant.
War Jack eifersüchtig? Er glaubte das nicht. Soweit er wusste, hatte Marcel nicht versucht, bei Alexi zu landen. Nicht dass ihn das etwas anginge. Er hatte zaghaft sein Glück versucht, doch ihre Reaktion war kühl gewesen. Er nahm an, dass Alexi immer noch an ihrem früheren Chef hing und darunter litt, wie er sie behandelt hatte. Sie war gerade arbeitslos geworden und aus ihrem gewohnten Umfeld weggezogen. Gleich darauf war sie in einen Mordfall gestolpert, der Schlagzeilen machte und die Nation schockierte. Das hätte jeden aus der Bahn geworfen.
Jack war sich nicht einmal sicher, ob er schon wieder eine feste Beziehung eingehen wollte. Deshalb hatte er sich für eine Weile zurückgezogen, um Alexi etwas Freiraum zu geben. Mehr Freiraum, als er beabsichtigt hatte. In den letzten Monaten hatte er sie nur selten gesehen. Ein schwerwiegender Fall von Industriespionage hatte ihn auf Trab gehalten, bis er ihn schließlich lösen konnte. Jack hatte Alexi anrufen wollen, sobald er den Fall abgeschlossen hatte, um sie zum Abendessen einzuladen. Doch dann kam sein neuester Fall. Seit zwei Wochen arbeitete er nun als Angestellter in einem Schmuckladen im Zentrum Newburys, der zugleich ein Pfandhaus war. Nun wusste er mehr über Ohrringe, Armreifen und den Goldpreis als je zuvor.
Der abschließende Punktestand erschien am Ende der Show, als Jacks Mobiltelefon klingelte. Er überprüfte den Anrufer und nahm den Anruf an.
„Hey, Cas, was ist los?“, fragte er seine Geschäftspartnerin.
„Wie geht’s meinem Lieblingsverkäufer?“
„Was ist der Unterschied zwischen dem Princess-Schliff und einem Pear-Diamanten?“
„Ich muss passen. Was ist denn der Unterschied?“
„Mehrere Hundert Pfund.“
„Meine Güte, nur wegen dem Schliff?“
„Offensichtlich.“ Jack seufzte. „Bitte sag mir, dass du etwas gefunden hast, das mich davor bewahrt, vor Langeweile zu sterben.“
„Gut möglich.“
„Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“
Jack hätte seine Worte am liebsten im selben Moment zurückgenommen, in dem er sie aussprach. Cassie war eine Freundin von Jacks Ex-Frau gewesen, doch als seine Ehe zerbrach, wollte sie mehr von Jack als nur Freundschaft. Jack war mit Freuden in ihre neu gegründete Privatdetektei eingestiegen, hatte aber kein Interesse an Dingen, die über ihre berufliche Kooperation hinausgingen. Frisch geschieden, wünschte er sich einen Neuanfang, nachdem er seinen Job als Detective bei der Met nach einem Skandal aufgegeben hatte. Auf dem Papier waren Jack und Cassie die perfekten Partner. Sie war ein Computerfreak und konnte sich in beinahe alles hacken. Jack war ein großartiger Detektiv und sehr gut darin, die Leute einzuschätzen. Er bemerkte sofort, wenn ihm jemand Lügen erzählte.
Doch Cassies Eifersucht war offensichtlich geworden, als Jack und Alexi zusammengearbeitet hatten, um das Verschwinden von Natalie Parker aufzuklären. Jack hatte Cassie erklärt, dass er sich nicht von ihr vorschreiben ließ, was er in seinem Privatleben zu tun und zu lassen hatte. Sie hatten ein offenes Gespräch über die Sache geführt, und nun schlichen sie auf Zehenspitzen umeinander herum. Sie vermieden es tunlichst, über ihre persönlichen Angelegenheiten zu sprechen.
Nicht dass Jack in letzter Zeit allzu viel Freizeit gehabt hätte. Sein neuester Fall drehte sich um eine Firma mit Hauptsitz in Newbury, die kurzfristige Kredite vergab. Es war eine kleine Organisation, die sich in Berkshire einen Namen machen und von den Großbanken abheben wollte. Der Senior Partner, Mick Bailey, hatte sich an Jack gewandt, weil seine Firma seit Kurzem für eine ganze Menge erschwindelter Darlehen geradestehen musste. Nun mussten sie zugeben, dass sie betrogen worden waren, und Mick war der Meinung, dass ein Konkurrent dafür verantwortlich war. Jack bezweifelte das. Cash Out war zu klein, um irgendwelchen Kredithaien Kopfzerbrechen zu bereiten.
Wenn jemand zum ersten Mal ein Darlehen aufnehmen wollte, konnte er einen der zwanzig Läden von Cash Out in und um Newbury aufsuchen. Die Kreditnehmer mussten sich ausweisen und ihren beruflichen Werdegang belegen. Alle Nachweise wurden dann elektronisch an Micks Büro geschickt, wo eine Überprüfung der Kreditwürdigkeit stattfand, und innerhalb von zehn Minuten erhielt der Laden eine Antwort, ob die Anfrage positiv oder negativ beschieden wurde. Dem Kreditnehmer wurde daraufhin ein laminierter Ausweis mit Foto ausgestellt, um weitere Kreditaufnahmen zu ermöglichen. Das Problem war jedoch, wie Cassie bei einem Testlauf schnell herausfand, dass sich jemand in Micks Datenbank gehackt und mehrere Ausweise kopiert hatte. Nun nahmen verschiedene Personen bei Cash Out Darlehen auf, indem sie ihre gefälschten Ausweise vorlegten. Mick war dadurch bereits ein Schaden von zwanzigtausend Pfund entstanden, und das innerhalb eines Zeitraums von nur zwei Monaten.
Wer immer auch dahintersteckte, verhielt sich schlau und nicht allzu gierig. Jedes Mal ging es nur um Summen im kleinen dreistelligen Bereich, die keinen Verdacht erregten. Noch dazu war jetzt Winter, wo die meisten jungen Leute Kapuzenpullis gegen die Kälte trugen und deshalb ihren Ausweisfotos nicht gerade ähnelten. Aber wer sah schon aus wie auf seinem Passbild? Jack dachte an sein eigenes Passbild und wie wenig es ihm ähnelte. Gott sei Dank.
Als sich herausstellte, dass definitiv etwas nicht stimmte, schickte Mick per E-Mail eine Warnung an alle Läden, mit der Bitte, besonders wachsam zu sein. Jack schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran, wie dumm das gewesen war. Wenn die Betrüger sich in die Datenbank gehackt hatten, konnten sie offensichtlich auch die E-Mails von Cash Out lesen und ihr Vorgehen entsprechend anpassen. Eine von Jacks ersten Anweisungen war ein Verbot, den Betrug in der elektronischen Kommunikation zu erwähnen. Alle weiteren Mitteilungen an die Leiter der Läden würden entweder persönlich oder am Telefon erfolgen – oder überhaupt nicht. Geschäftliche Meetings waren häufig unnötig und sogar kontraproduktiv, doch falls der Betrug bekannt wurde, würde Cash Out das Vertrauen der Kunden verlieren.
„Wenn wir die Schuldigen fassen wollen“, hatte er zu Mick gesagt, „müssen wir sie in dem Glauben lassen, dass wir nicht hinter ihnen her sind.“
Jack warf einen genaueren Blick auf die betrügerischen Transaktionen und stellte fest, dass der Großteil davon in dem Laden durchgeführt worden war, in dem er nun arbeitete. Die meisten Darlehen wurden zur Hauptgeschäftszeit abgeschlossen, und beinahe alle hatte ein Angestellter namens Dean Davis bearbeitet. Er war seit drei Jahren bei der Firma beschäftigt, wo er gleich nach der Schule angefangen hatte, lebte mit seiner Mutter in einem bescheidenen Haus in der Gegend und hatte keinerlei Vorstrafen. Er verhielt sich freundlich und zeigte nicht die Art von Nervosität, die Jack bei einem betrügerischen Mitarbeiter vermutet hätte. Über sein Privatleben erzählte er nur wenig und erwähnte nie irgendwelche Hobbys, eine Freundin oder Urlaubspläne: nichts von den Dingen, über die die anderen Mitarbeiter sprachen, wenn es im Laden ruhig war. Er begleitete seine Kollegen auch nie zu den After-Work-Drinks, sondern hatte immer eine passende Ausrede parat. Dagegen gab es keine Regel, doch Davis’ Verhalten kam Jack verdächtig vor. Aber vielleicht war Jack auch nur besonders misstrauisch.
Das war er definitiv.
Davis befolgte die Regeln genau. Die Darlehen hatte er an eine Reihe unterschiedlicher Kunden vergeben, von denen niemand verdächtig wirkte, wie Jack zugeben musste. Er hatte sich stundenlang Videoaufzeichnungen angesehen. Man konnte es Davis nicht zum Vorwurf machen, dass er den Betrug nicht erkannt hatte. Alle Kunden hatten Ausweise vorgelegt, die echt wirkten – Davis hatte sie für jeden Kreditnehmer kopiert, was Teil der Standardprozedur war. Es gab keinen Anlass, ihm etwas zu unterstellen. Noch nicht.
„Leider wird mein Fortschritt, soweit man ihn so bezeichnen kann, nicht ausreichen, um deine unsterbliche Liebe zu erringen“, sagte Cassie. „Ich rufe nur an, um dir zu sagen, dass ich einen Blick auf Davis’ Bankkonto geworfen habe. Jeden Monat verbringt er zwei Wochen damit, seine Bankgeschäfte zu machen, und die anderen zwei Wochen müssen sie ihn über Wasser halten.“
Jack grinste amüsiert über Cassies Beschreibung von Davis’ Überziehungskredit. „Also, falls er in die Sache verwickelt ist, ist er zu schlau, um seine betrügerischen Gewinne bei der Bank einzuzahlen.“
„Sieht so aus. Wenn er nicht der Schuldige ist, bin ich mit meinem Latein am Ende. Keiner der anderen Mitarbeiter im Laden wirkt verdächtig, und ich habe sie alle überprüft. Trotzdem hat Davis die meisten betrügerischen Anfragen bearbeitet, und das kann kein Zufall sein, oder?“
„Auf den Überwachungsvideos ist mir aufgefallen, dass ein paar Kunden getrödelt haben. Sie haben sich die Vitrinen und Waren angesehen, bis Davis wieder frei war, um sie zu bedienen. Die meisten Leute, die ein Darlehen brauchen, haben nicht das nötige Geld, um Schmuck zu kaufen, und wollen die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.“
„Dann sollten wir uns diesen Davis auf jeden Fall genauer ansehen“, sagte Cassie.
Jack seufzte. „Das heißt dann wohl, dass ich heute Abend noch mal rausmuss.“
„Heißes Date?“, fragte Cassie etwas zu beiläufig.
„Klar, Davis verfolgen, und das in diesem eiskalten Wetter.“
„Sei nicht so ein Weichei. Zieh deine Thermo-Unterwäsche an, und alles ist gut. Wohin fährst du überhaupt?“
„Keine Ahnung. Ich habe gehört, wie Davis heute im Pausenraum telefoniert hat. Er hat ein Treffen für heute Abend um neun vereinbart. Als er mich kommen hörte, hat er gleich aufgelegt, deshalb weiß ich nicht, wo oder mit wem. Könnte auch seine Freundin sein.“
„Sei vorsichtig, wenn du mit dem Motorrad fährst.“
Eine Fahrt mit dem Motorrad wirkte nicht gerade einladend bei diesem arktischen Wetter, aber es war die praktischste Möglichkeit, um jemanden zu verfolgen. Überraschenderweise nahmen die Menschen davon wenig Notiz. Jacks Helm war die perfekte Verkleidung, und das Motorrad wendig im Verkehr und einfach zu parken.
„Was tue ich nicht alles, um mein Geld zu verdienen.“
„Sei vorsichtig und halt mich auf dem Laufenden.“
„Mache ich.“
Seufzend nahm Jack Cassies Rat an und zog dicke Unterwäsche und seine Motorradkleidung an. In seinem Beruf musste man die Dinge nehmen, wie sie kamen, doch er wollte auch nicht erfrieren, falls das Warten länger dauerte.
Er wusste genau, wo Davis wohnte, und stellte sein Motorrad in einer gegenüberliegenden Gasse ab. Im vorderen Zimmer des Hauses brannte Licht. Hoffentlich traf er sich nicht zu Hause mit seinem mysteriösen Gesprächspartner. Als sich zwanzig Minuten später die Haustür öffnete, fühlte Jack sich bestätigt. Davis erschien, stieg in seinen zehn Jahre alten Vauxhall und fuhr davon, ohne zu überprüfen, ob ihm jemand folgte. Er wirkte kein bisschen geheimnisvoll. Das Licht im Haus war noch an, und Jack bemerkte eine Gestalt, die sich hinter den dünnen Vorhängen bewegte. Vermutlich Davis’ Mutter.
Davis’ Lebensumstände gingen Jack nichts an, doch wo er hinfuhr, war eine ganz andere Sache. Jack ließ ihm etwas Vorsprung, startete dann sein Motorrad und folgte ihm in sicherer Entfernung. Davis fuhr zielstrebig durch Newburys Einbahnstraßen und schlug schließlich den Weg nach Lambourn ein.
„Wo willst du hin?“, murmelte Jack in sich hinein.
Die Straßen wurden leerer, und Jack musste sich etwas zurückfallen lassen. Zum Glück gab es nur wenige Straßenlaternen, sodass er Davis’ Rücklichter problemlos im Blick behalten konnte. Um neun Uhr abends waren die Straßen in dieser Gegend so ausgestorben wie woanders um Mitternacht. Die Menschen im Pferdeland standen vor dem Morgengrauen auf, um sich um ihre Tiere zu kümmern. Hier tickten die Uhren anders.
Nach etwa fünfzehn Minuten blinkte Davis und fuhr in die Einfahrt eines großen Hauses. Jack fuhr weiter und parkte ein Stück von dem Anwesen entfernt. Er ging zu Fuß zurück und las den Namen des Hauses an dem gemauerten Torpfosten: Smithfield. Gemessen an dem, was die Außenbeleuchtung preisgab, musste es sich um ein weitläufigeres Anwesen handeln. Für die meisten Privathäuser in der Gegend wurden sieben- oder achtstellige Summen verlangt. Es wäre ein Leichtes, herauszufinden, wem es gehörte, aber warum ein schlecht bezahlter Ladenverkäufer um diese Zeit hier vorbeikam, war Jack nicht klar.
Nach zwanzig Minuten verließ Davis das Haus wieder und machte sich auf den Rückweg nach Newbury. Jack stieg auf sein Motorrad und fuhr zu Alexis Cottage. Wahrscheinlich war sie noch auf, und falls keine fremden Autos vor dem Haus standen, würde er ihr einen Überraschungsbesuch abstatten. Immerhin konnte er wahrheitsgemäß behaupten, in der Gegend gewesen zu sein. Vielleicht wusste sie sogar, wem das Haus gehörte, das Davis gerade besucht hatte.
Enttäuscht darüber, dass Alexis Cottage im Dunkeln lag und ihr Auto nicht zu sehen war, beschloss Jack, es gut sein zu lassen. Sein Heimweg würde ihn an Hopgood Hall vorbeiführen. Er konnte genauso gut auf ein Pint vorbeischauen und Drews Schwärmereien über die unzähligen guten Eigenschaften seiner kleinen Tochter zuhören. Jack lächelte bei dem Gedanken an die Taufe, der er vor einigen Wochen beigewohnt hatte: Da hatte er Alexi zum letzten Mal gesehen. Er hatte schon einige stolze Eltern erlebt, aber Drew und Cheryl waren eine Klasse für sich. Er beneidete sie ein wenig um ihr ruhiges, zufriedenes Leben und bedauerte es für einen Moment, dass er diese häusliche Harmonie nie erlebt hatte.
Selbst als Hopgood Hall kurz vor dem Bankrott stand, hatte Jack nie den Eindruck gehabt, dass die finanziellen Schwierigkeiten Drews und Cheryls Ehe belasteten. Das war mehr als außergewöhnlich. In seinem früheren Beruf hatte Jack eine ganze Reihe Ehen unter dem Druck zerbrechen sehen. Er war froh, dass Alexi etwas eingefallen war, um den Hopgoods zu helfen.
Schon bevor er die blinkenden Lichter und die Rettungsfahrzeuge sah, die den Weg zum Hotel versperrten, spürte Jack, dass etwas nicht stimmte.
„Was zum …?“
Er parkte sein Motorrad und ging zu Fuß weiter. Alexis’ unverwechselbarer MINI mit seinem grellpinken Dach stand auf dem Parkplatz. Sofort machte Jack sich Sorgen, dass ihr etwas passiert sein könnte, oder Cheryl und Drew. Ein uniformierter Constable stand am Haupteingang Wache. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Jack erkannte einen Detective, den er aus Reading kannte, und … Oh nein. Da stand der Wagen des Gerichtsmediziners.
„Sie können da nicht rein“, sagte der Uniformierte an der Tür, als Jack ganz selbstverständlich an ihm vorbeilaufen wollte. „Außer natürlich, Sie wohnen hier“, fügte er hinzu und sah auf sein Klemmbrett.
„Ich gehöre zu Ms Ellis“, erklärte Jack.
„Oh, sie erwähnte nicht …“
„Jack?“ Alexi rannte die Treppe herunter und schlang ihre Arme um ihn. „Ich war mir sicher, deine Stimme gehört zu haben. Ich bin so froh, dass du hier bist!“
„Was ist passiert?“, fragte er und fing sie auf.
„Oh, ich dachte, du weißt es schon.“ Sie blinzelte zu ihm auf. Jack konnte sehen, dass sie völlig neben der Spur war und nicht klar denken konnte. „Warum sonst solltest du hier sein?“
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für seine Ich-war-gerade-in-der-Gegend-Ansprache. Das grelle Licht auf der Veranda erhellte Alexis gespenstisch weißes Gesicht. Jack bemerkte, dass sie zitterte. Gerade sah sie so gar nicht aus wie die taffe, unabhängige Journalistin, die er während seiner Ermittlungen zu Natalie Parker kennen und schätzen gelernt hatte. Damals schien es, als könnte nichts Alexi umwerfen. Nicht einmal, dass Natalies Mörder sie beinahe erwürgt hatte.
„Sag’s mir“, meinte er und legte seine Arme beschützend um sie. „Alles wird gut.“
„Nicht für eine der Kandidatinnen in der Show“, entgegnete sie mit zitternder Stimme. „Cheryl hat mich angerufen, und ich bin gleich hergekommen. Ich war zur selben Zeit da wie die Polizei.“ Sie hielt inne und sah zu Jack auf. Er konnte den Schock in ihren Augen sehen. „Sie ist ermordet worden.“
3
„Es ist okay.“
Jack umfasste Alexis Rücken. Er hielt sie fest, bis sie aufgehört hatte zu zittern. Sie schloss ihre Augen und legte ihren Kopf auf seine Schulter, wohl wissend, dass die Dinge kein bisschen in Ordnung waren. Allein der Gedanke daran, wie viele Hindernisse sie nun überwinden mussten, erschöpfte sie. Ganz zu schweigen davon, dass ein Mörder frei herumlief. Trotzdem war sie froh, Jack bei sich zu haben. Seine punktgenaue Ankunft musste er ihr allerdings noch erklären. Sie fühlte sich irgendwie wohler bei dem Gedanken, dass mit ihm die Sache nicht völlig außer Kontrolle geraten würde.
Meine Güte, war sie egoistisch! Eine Frau war ums Leben gekommen, und Alexi dachte über Schadensbegrenzung für das Hotel nach.
„Gehen wir hinein. Dann kannst du mir alles erzählen.“
Jack legte seinen Arm um ihre Taille. Er unterschrieb auf dem Klemmbrett des diensthabenden Polizisten und durfte die Absperrung passieren. Alexi warf keinen Blick in die Bar, wo die verbliebenen Kandidaten, ein paar Leute von Far Reach Productions und Marcel auf ihre Befragung warteten. Stattdessen nahm sie Jacks Hand und führte ihn in Cheryls private Küche.
„Ich war zu Hause“, sagte sie, weil sie sich nicht erinnern konnte, ob sie ihm das bereits erzählt hatte. „Cheryl war völlig aufgelöst. Als sie mich angerufen hat, bin ich sofort hergekommen.“
„Du hättest mich anrufen sollen.“
„Warum?“ Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Egal. Jetzt bist du ja hier. Du musst wirklich einen Riecher für schlechte Nachrichten haben. In den letzten Wochen haben wir dich kaum gesehen, aber dann, aus heiterem Himmel …“
Als ihr auffiel, wie vorwurfsvoll sie klang, verstummte Alexi abrupt. Cheryl und Drew saßen am Tisch, als sie in die Küche eintraten. Cheryl sah genauso schockiert aus, wie Alexi sich fühlte. Drew versuchte, sie zu trösten.
„Jack“, sagten sie im Chor. „Was machen Sie hier?“
Cosmo und Toby lagen zusammen im Hundekörbchen. Cosmo blickte auf, sah Jack und machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Miauen und einem Schnurren klang. Mit katzenhafter Anmut sprang er direkt in Jacks Arme, und Alexi hätte schwören können, dass das verräterische Biest ein Lächeln auf dem Gesicht hatte. Wann immer er ins Hotel kam, war Cosmo mürrisch und griesgrämig, denn es war voller Leute, die er alle nicht ausstehen konnte. Auf Bitten des Produzenten durfte Cosmo nicht einmal in die Nähe des Nebengebäudes kommen. Alle hatten Angst vor ihm. Juliette hatte sogar versucht, nach ihm zu treten. Cosmos Reaktion auf Jack war ein sehnlichst erwarteter Moment der Erleichterung an einem sonst so nervenaufreibenden Abend.
„Hey, mein Großer“, sagte Jack und streichelte dem schnurrenden Kater über den Kopf. „Ich hab dich auch vermisst.“
Er setzte Cosmo ab, zog einen Stuhl für Alexi heraus und setzte sich neben sie.
„Glaub es oder nicht“, sagte Jack, „ich war wegen eines anderen Jobs in der Gegend. Eigentlich wollte ich auf ein Pint vorbeikommen, aber dann habe ich den ganzen Aufruhr gesehen und musste einfach wissen, was los ist.“
„Wir sind komplett am Ende, das ist los“, erwiderte Drew niedergeschlagen. „Der Star der Show ist tot. Erst wurde der Parker-Fall mit uns in Verbindung gebracht, und jetzt das. Niemand wird es riskieren, noch hierherzukommen, wenn diese Neuigkeit die Runde gemacht hat.“
„Marcel?“ Jack schüttelte den Kopf. „Aber ich habe ihn gerade noch gesehen …“
„Nein, nicht Marcel. Juliette, die Blondine.“
Jack schüttelte erneut den Kopf. „Sie habe ich auch gesehen. In der heutigen Sendung.“
„Die wurde vor zwei Tagen gedreht“, sagte Cheryl.
„Gerade habe ich etwas zu harsch geklungen“, seufzte Drew, „als ich mir über das Hotel Sorgen machte, obwohl Juliette tot ist. Ignoriert mich einfach. Das ist der Schock. Es war nicht immer einfach mit ihr, denn ihre Wutanfälle im Fernsehen waren nicht nur Show. Sie war nur darauf fixiert, den Wettbewerb zu gewinnen, und kümmerte sich nicht darum, wem sie auf die Zehen trat, um Aufmerksamkeit zu erringen. Damit hat sie sich nicht beliebt gemacht, aber niemand von uns hätte ihr den Tod gewünscht.“
„Wir sollten auch an das Hotel denken“, sagte Alexi. „Nennt mich eine Zynikerin oder eine furchtbar herzlose Person, aber das ist gut fürs Geschäft.“
„Und für die Einschaltquoten“, fügte Jack hinzu. „Vielleicht war es jemand vom Filmteam.“
„Es sind immer nur ein oder zwei von ihnen da, außer an Sendungstagen“, erklärte Cheryl. „Es gibt einen Ansprechpartner für die Kandidaten, wenn sie eine Beschwerde haben, und einer von ihnen hat immer einen Grund, sich zu beklagen.“
„Für gewöhnlich Juliette“, fügte Drew hinzu.
„Na ja, jetzt nicht mehr“, sagte Cheryl traurig. „Dann ist da noch ein Typ, der die Kameras überwacht und sich um die ganze Technik kümmert. Das ist alles. Am Tag, bevor sie die Episode zusammenstellen, bricht eine regelrechte Lawine von Filmleuten über uns herein. Dann ist hier die Hölle los.“
„Sie schauen sich die Kameraaufnahmen an“, erklärte Alexi, „und entscheiden, welches Material in dieser Woche ausgestrahlt wird. Ihr wisst schon, das Zeug, wo sich die Kandidaten gegenseitig an die Kehle gehen oder übereinander lästern. Oder von Marcel in seiner Freizeit. Er hat die vertragliche Verpflichtung, jeden Tag eine Stunde außerhalb der Küche mit den Kandidaten zu verbringen. Jedenfalls läuft die Sache ziemlich professionell ab.“
„Der Techniker hat die Leiche gefunden“, sagte Drew. „Die anderen drei Kandidaten haben sich etwas Freizeit gegönnt, aber Juliette war über irgendetwas verärgert und ging in ihr Zimmer. Also nichts Ungewöhnliches. Sie hat sich von Anfang an so verhalten. Jedenfalls bemerkte Gerry Salter, der diensthabende Techniker, dass die Kamera in Juliettes Zimmer aus war. Erst dachte er, sie hätte sie mit Kleidung verhängt, um sich etwas Privatsphäre zu verschaffen, während sie ihren Ärger abreagierte. Das hat sie schon einmal gemacht.“
Cheryl seufzte. „Aber nicht diesmal.“
Drew legte seine Hand auf die seiner Frau. „Gerry fand sie nackt auf ihrem Bett liegend, mit einem Küchenmesser in der Brust.“
„Autsch!“ Jack schauderte.
„Genau.“ Drew nickte mürrisch. „Wir haben die Polizei gerufen, sie kamen mit dem vollen Aufgebot, und wir müssen hier warten. Und das“, fügte er hinzu, „war vor über einer Stunde.“
„Wer könnte einen Grund haben, Juliette umzubringen?“, fragte Jack. „Irgendwelche Ideen?“
„Also, sie war nicht gerade beliebt, wie wir schon gesagt haben“, erklärte Alexi. „Ich hätte sie mit Freuden selbst ermordet, als sie versucht hat, meinen Kater zu treten. Ich hasse Tierquälerei. Wir sind deshalb aneinandergeraten. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie aus der Show werfen lasse, wenn sie so etwas noch einmal macht. Sie machte sofort einen Rückzieher und entschuldigte sich sogar. Sagte, dass sie schon immer Angst vor Tieren hatte. Sie machte einen ganz netten Eindruck, wenn die Kameras aus waren.“
„Wer ist der verantwortliche Ermittler?“, fragte Jack.
„Weiß ich nicht“, erwiderte Alexi. „Ist das nicht egal?“
„Es wäre hilfreich, wenn es jemand ist, den ich kenne. Dann erfahre ich vielleicht eher, was hier los ist.“
Alexis Mobiltelefon klingelte. „Oh Gott“, sagte sie mit einem Blick auf das Display. „Das ist Patrick. So viel dazu, dass schlechte Neuigkeiten sich schnell verbreiten.“
Jack verdrehte die Augen. „Ignorier ihn einfach.“
„Ich höre mir besser an, was er will, sonst kreuzt er noch persönlich hier auf.“ Sie nahm den Anruf an. „Patrick.“
„Was zum Teufel ist bei dir los?“, fragte er.
„Mir geht’s gut, danke. Und dir?“
„Tut mir leid, Süße. Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich stand völlig neben mir, als ich hörte, dass eine Frau tot im Hotel aufgefunden wurde. Ich dachte, vielleicht … dass es vielleicht …“
„Es ist Juliette.“
„Verdammt, geht’s dir gut? Du hast sie nicht gefunden, oder? Was machst du überhaupt dort?“
„Woher weißt du, dass ich im Hotel bin?“, fragte sie, seine Fragen ignorierend. „Es ist noch nicht in den Nachrichten, sonst würde die Presse uns jetzt die Tür einrennen.“
„Beim Sender haben sie gehört, dass etwas nicht stimmt. Sie haben mich gefragt, ob ich etwas darüber weiß.“
Ah, dachte Jack, der Patricks Stimme hören konnte, obwohl Alexi nicht auf Lautsprecher gestellt hatte. Der Techniker hatte mit Sicherheit zuallererst im Studio angerufen.
„Wir wissen noch nichts.“
„Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“
„Das heißt dann wohl, dass die Show abgesetzt wird.“ Alexi warf Jack einen spöttischen Blick zu, als er verächtlich schnaubte.
„Das kann man noch nicht sagen“, erwiderte Patrick ausweichend. „Der Sender schickt ein paar Leute aus der Rechtsabteilung her, um seine Interessen zu vertreten. Sie wollen bei den polizeilichen Befragungen der Kandidaten dabei sein.“
„Ich glaube, sie werden gerade befragt.“
„Sag ihnen, dass sie nichts aussagen sollen.“
„Ich bezweifle, dass sie irgendetwas wissen, Patrick. Außerdem lässt die Polizei mich nicht in ihre Nähe. Ich war nicht einmal hier, als die Leiche gefunden wurde. Cheryl hat mich angerufen, und ich bin sofort hergekommen.“
„Ich komme so schnell wie möglich zu dir.“
„Wozu?“
„Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du in einen Mordfall verwickelt wirst.“ Er hielt kurz inne. „Schon wieder. Du warst sicherer hier in der Stadt, wo du hingehörst.“
„Das war billig, Vaughan, und nicht besonders hilfreich.“
„Tut mir leid, aber du musst zugeben … Mist, ich bekomme auf der anderen Leitung einen Anruf. Da muss ich rangehen. Ich lege jetzt auf. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“
Alexi beendete das Gespräch und warf ihr Telefon auf den Tisch. „Glaubst du nicht, dass der Sender die Show absetzt?“, fragte sie und wandte sich Jack zu. „Ich weiß, dass es schlecht aussieht, aber nichts davon ist unsere Schuld. Und die arme Juliette hatte es nicht verdient, zu sterben, trotz all ihrer Fehler.“
„Amen“, sagte Cheryl und neigte ihren Kopf.
„Ich bezweifle stark, dass sie die Show absetzen“, antwortete Jack. „Sie steht an der Spitze der Einschaltquoten. Soweit ich weiß, war das Publikum zweigeteilt. Die eine Hälfte hat Juliette geliebt, die andere hat sie gehasst. Und ich rede nicht über ihre Fähigkeit, dass sich ein Soufflé hebt.“
„Bei ihr haben sich auch noch andere Dinge gehoben“, sagte Drew, „und damit meine ich nicht Temperamente.“
„Könnt ihr Männer nur daran denken?“, fragte Cheryl. „Sogar jetzt, wo das arme Mädchen tot ist, bevor ihr Leben richtig angefangen hat? Eure schmutzigen Gedanken sind hier unangebracht.“
Drew hob abwehrend seine Hände. „Ich sage nur, wie es ist.“ Sein Gesichtsausdruck wurde nüchtern. „Oder war.“
„Na ja, so interessant die Show vorher auch war – jetzt könnt ihr darauf wetten, dass die Einschaltquoten durch die Decke gehen. Unterdessen denken die normalen Leute darüber nach, wer der Mörder ist. Die Sache wird viral gehen.“ Jack schnitt eine Grimasse. „Glaubt mir, nichts verkauft sich besser als schlechte Neuigkeiten. Insbesondere, und es tut mir leid, das zu sagen, Cheryl, wenn eine temperamentvolle Sexbombe einem brutalen Mord zum Opfer fällt.“
„Mein Gott.“ Drew stöhnte. Er stand auf und holte sich eine Flasche Brandy aus dem Schrank. „Das ist so deprimierend.“
Er goss jeweils eine beträchtliche Menge in drei Gläser. Cheryl stillte noch und trank deshalb keinen Alkohol, doch Drew nötigte auch ihr einen Schluck auf. „Ein kleiner Schluck kann nicht schaden“, sagte er zu ihr. „Es ist gut gegen den Schock.“
Noch bevor sie ausgetrunken hatte, kam ein Heulen durch das Babyfon.
„Die Kleine hat Hunger“, sagte Cheryl und stand auf.
„Ich komme mit und leiste dir Gesellschaft“, sagte Drew. „Entschuldigt uns einen Moment.“
„Klar.“
„Hey, wie geht’s dir?“, fragte Jack in die aufkommende Stille und griff nach Alexis Hand. „Ich habe dich vermisst.“
Alexi nickte und hätte ihn am liebsten gefragt, ob er schon von diesem neumodischen Ding namens Telefon gehört hatte. Sie hielt sich jedoch zurück. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, hatte ihr Jacks Verschwinden stark zugesetzt. Vor dem Hintergrund des brutalen Mordes an Juliette erschien ihr das jetzt geradezu belanglos. Alexi hatte Juliette nicht sehr gemocht – sie war in jeder Hinsicht zu offenherzig für Alexis Geschmack gewesen –, aber den Tod hatte sie ihr auch nicht gewünscht.
„Was genau ist heute Abend hier passiert?“
Als der Schock nachgelassen hatte, war Alexi in einer kämpferischen Stimmung, die Cosmo vor Neid erblassen lassen hätte. Nun konnte sie wieder in klaren Zusammenhängen denken. Ihr kam in den Sinn, dass sie mit ihrem Versuch, die Lage für Cheryl und Drew zu verbessern, das genaue Gegenteil bewirkt haben könnte. Super gemacht, Alexi. Sie verfiel in Schweigen.
„Wie lief die Show, bevor sich diese Tragödie ereignet hat?“
Alexi seufzte. Anschweigen funktionierte hier nicht, hauptsächlich, weil Jack sich davon nicht beeindrucken ließ. Falls es ihm überhaupt aufgefallen war. Und damit hatte er völlig recht. Sie war keine zehn mehr, und ihre eigenen kleinen Klagen hatten hier keinen Platz. Insbesondere, weil eine junge Frau unter so tragischen Umständen ums Leben gekommen war.
„Ehrlich gesagt“, setzte sie an, „war die Stimmung hier zum Schneiden. Ich dachte, die Kandidaten wurden ausgewählt, weil sie komplett gegensätzlich sind, aber dann ist mir aufgefallen, dass sie alle unbedingt gewinnen wollen. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist ihre Freude am Kochen. Die war nicht gespielt. Jeder Einzelne von ihnen wollte den Durchbruch in der Kulinarik …“
„Als Zuschauer hatte ich den Eindruck, dass Juliette nur den Durchbruch schaffen wollte.“
Alexi räumte dies mit einem Nicken ein. „Stimmt. Wusstest du, dass sie einen Agenten hatte?“
Jack starrte sie mit offenem Mund an. „Sie hatte was?“
„Ja, nachdem die erste Folge gesendet wurde und sie so viel Aufmerksamkeit erhielt, kamen die Agenten auf sie zu.“
„Eine Köchin hat einen Agenten?“
Alexi lächelte. „Marcel hat jetzt auch einen.“
„Gib mir Kraft!“
„Viele der Fernsehszenen sind aus dem Zusammenhang gerissen. In ihrer Freizeit kommen die Kandidaten einigermaßen miteinander aus oder ignorieren sich gegenseitig, trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere. Juliette explodierte beim allerkleinsten Anlass, aber keiner hat sie groß beachtet, weshalb sie ständig auf ihr Zimmer ging und beleidigte Leberwurst gespielt hat. Jedenfalls kommen die Typen vom Studio ab und zu vorbei, stellen ein paar kontroverse Fragen. Das, was du im Fernsehen siehst, ist das Ergebnis. Es spiegelt überhaupt nicht die Realität wider.“
„Wenn sie die Wahrheit wüssten, würden die Zuschauer wahrscheinlich vor Langeweile sterben. Es wäre so, als würde man Farbe beim Trocknen beobachten.“
„So ungefähr.“
„Wie war Juliette wirklich?“, fragte Jack neugierig.
„Sehr ich-bezogen, sehr selbstbewusst und, laut Marcel, eine halbwegs vernünftige Köchin. Aber, wie ich schon sagte, das sind sie alle. Ich habe ein paar von ihren Gerichten probiert, also weiß ich, wovon ich spreche. Juliette hatte eine sanfte Seite, wie wir alle, aber die hat sie nicht oft gezeigt. Ich glaube, ihr Agent hat sie ermutigt, ihre freche Art auszuspielen.“
„Gab es irgendwelche Streitigkeiten zwischen den Köchen?“
„Nicht dass ich wüsste. In der Restaurantküche ist Marcel der Einzige, der über die Stränge schlagen darf.“
Jack lächelte sie an. „Also alles wie immer.“
Als ob er seinen Namen gehört hätte, schob Marcel sich in die Küche. Er sah blass aus, mit zerzaustem Haar und Bartstoppeln; so gar nicht wie der autokratische Fernsehkoch, den das ganze Land entweder hasste oder begehrte.
„Jack. Ich habe gehört, dass Sie hier sind.“
„Meine Güte“, murmelte Jack, und Alexi begriff sofort, warum. Marcel zeigte wieder ganz sein normales Selbst – ein Cockney. Das war eine Seite an ihm, die er nur wenigen Menschen offenbarte und die auch Jack noch nicht kannte. Das zeigte Jack eindrücklich, wie erschüttert Marcel tatsächlich war, und das aus gutem Grund.
„Setzen Sie sich, Marcel, bevor Sie umkippen“, sagte Alexi und zeigte auf Cheryls freien Stuhl. „Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?“
„Ja, sie haben mich gerade gegrillt.“ Sein Gesicht versteinerte sich. „Oder sollte ich sagen, sie haben mich in heißem Öl gebraten?“
Jack nickte mitfühlend. Er konnte sich gut vorstellen, wie Marcel sich gefühlt haben musste, weil er früher selbst solche Befragungen durchgeführt hatte. Von Haus aus misstrauisch wusste Jack sehr gut, dass die ersten Stunden nach einem Mord entscheidend waren, weil da die meisten Hinweise auftauchten. Danach ließ der Schock bei den meisten Menschen nach, und sie hielten den Mund.
„So schlimm?“, fragte er.
„Die Polizei verdächtigt Sie bestimmt nicht ernsthaft, oder?“, fragte Alexi im selben Moment. „Ich weiß, dass sie in alle Richtungen ermitteln müssen, aber warum sollten Sie Ihre Chance auf Ruhm zur besten Sendezeit sabotieren?“
„Na ja, also …“ Marcel rieb sein Gesicht und sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. Er war nur noch ein Schatten seines normalen Selbst. „Nachdem eines meiner Messer in Juliettes Brust steckt, kann man es ihnen nicht verdenken, dass sie mich verdächtigen.“
„Mist!“, stieß Alexi hervor.
„Genau mein Gedanke. Ich wusste nicht einmal, dass das Messer weg war, bis die Polizei mich bat, das zu überprüfen.“
„In der Show haben Sie eine große Sache daraus gemacht, dass niemand das Messer eines anderen Kochs berühren darf“, erinnerte Alexi ihn. „Sie werden besser bewacht als das Rezept Ihrer Großmutter für Karamellkuchen … Ihre Worte.“
„Und niemand würde es wagen, meine Messer zu berühren. Zumindest, wenn sie alle ihre Finger behalten wollen.“ Er seufzte. „Aber irgendjemand hat es getan.“
„Wo bewahren Sie sie auf?“, fragte Jack.
„Meine Messer sind an einem Magnet an der Küchenwand befestigt, wo jeder sie erreichen kann. Meine reguläre Küchenhilfe und die Kandidaten bewahren ihre Messer in kleinen Beuteln auf ihren Plätzen auf, damit sie nicht herunterfallen oder verlegt werden.“
„In der Küche sind Kameras aufgestellt, die die ganze Zeit über laufen“, erinnerte Alexi ihn. „Wenn jemand das Messer mitgenommen hat, sollte die Polizei das auf den Aufzeichnungen sehen können.“
„Nicht unbedingt“, sagte Marcel mit düsterem Gesichtsausdruck. Er griff nach der Brandyflasche, die Drew auf dem Tisch stehen lassen hatte, schüttete eine großzügige Menge davon in Cheryls Glas und trank es mit einem Schluck aus. „Heute Nachmittag war es dort chaotisch. Wir waren zweimal fürs Mittagessen voll belegt, und überall sind Leute herumgeschwirrt. Jeder könnte das Messer genommen haben, ohne dass die Kamera es aufgezeichnet hat. Ich weiß nicht mehr, wann ich es zum letzten Mal gesehen habe, aber ich vermute, es war gegen Ende der Öffnungszeiten, sodass ich es nicht vermissen würde.“ Er warf Alexi den Schatten eines Lächelns zu. „Danke, dass Sie nicht glauben, dass ich sie getötet habe.“
Jack nickte. Er wusste, dass das Restaurant mittags wieder geöffnet hatte, was früher nicht profitabel gewesen war. Die Kandidaten kochten unter Marcels aggressiver Anleitung, gemeinsam mit seinen Küchenhilfen, die die einfachen Arbeiten erledigten. Man konnte die Vollzeitköche im Hintergrund sehen, doch der Fokus lag auf den Kandidaten der Show. Womöglich waren sie darüber verärgert, weshalb einer von ihnen Juliette in einem Anfall von Eifersucht getötet haben könnte. Vermutlich hatte auch die Polizei diese Möglichkeit im Hinterkopf. Wie auch immer, zur Mittagszeit war das Restaurant nun durchgehend voll besetzt, weil das Mittagessen gefilmt wurde und jeder ins Fernsehen wollte. Alexi hatte dies für eine geniale Art und Weise gehalten, Rendite zu erzielen.
Ha, was wusste sie schon!
„Ich weiß, dass Sie sie nicht umgebracht haben.“ Alexi griff nach seiner Hand. „Wenn Sie es getan hätten, hätten Sie dafür nicht Ihr eigenes Messer benutzt. Außerdem sind Sie nur gut darin, den Ruf aufstrebender Köche zu töten.“
„Danke.“ Marcel schnaubte. „Glaube ich.“ Er seufzte. „Das ist alles nur Schauspielerei. Ich meine, Gordon Ramsay hat die Messlatte extrem hoch angelegt, und jetzt muss der Rest von uns zusehen, wie er ihn übertreffen kann. Alles, was ich will, ist kochen, aber das ist in der heutigen Zeit nicht einfach. Es gibt massenhaft gute Köche da draußen. Wenn man sich abgrenzen will, muss man irgendetwas Besonderes an sich haben, damit man Aufmerksamkeit erhält. Ich spiele mich als Franzose auf und bleibe dank meines skandalösen Benehmens im Gespräch.“
„Warum glaubt die Polizei, dass Sie Juliette umbringen wollten?“, fragte Jack. „Was hätten Sie für ein Motiv?“
„Wenn ich das nur wüsste, Mann.“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Die Einschaltquoten? Suche nach Aufmerksamkeit?“
„Das wäre aber eine drastische Vorgehensweise“, murmelte Alexi.
„Ein Streit unter Liebenden?“, fragte Jack.
„Was?“ Marcels Kopf schoss nach oben. Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn, und er sah eher verängstigt als abwehrend aus. „Woher wussten Sie das?“
Jack hob seine Schultern. „Glückstreffer. Ich habe gespürt, dass die Chemie zwischen Ihnen beiden stimmte, als Sie zusammen im Wohnzimmer saßen. Viel von dem Zeug, das in der Show gesendet wurde, war eindeutig gestellt, aber Ihre verliebte Art hat den Fernseher in Flammen gesetzt.“
„Na ja, das habe ich der Polizei nicht erzählt, aber sie werden es früh genug erfahren.“
Alexis Unterkiefer klappte herunter. „Sie hatten wirklich eine Affäre mit ihr?“
„Seit heute Abend. Da waren wir zum ersten Mal zusammen“, sagte Marcel, der ihrem Blick auswich. „Sie kam in meine Wohnung, die über der Küche liegt. Dort gibt es keine Kameras.“
„Wie konnten Sie nur so dumm sein?“, fragte Alexi wütend. „Dachten Sie wirklich, niemand würde es herausfinden? Sie haben die ganze Show aufs Spiel gesetzt, nur weil Sie nicht unparteiisch sein konnten! Außerdem haben Sie ein verdammt gutes Mordmotiv, wenn Sie mit Juliette geschlafen und Ihre Beurteilung der Kandidaten von ihr abhängig gemacht haben. Die Polizei wird das mit Sicherheit auch denken, und dass Sie diese Liaison nicht erwähnt haben, lässt Sie nicht gerade unverdächtig wirken.“
„Ich habe das nicht geplant. Es ist einfach passiert“, antwortete Marcel abwehrend.
„Oh mein Gott! Ist Ihnen klar, was Sie getan haben …?“ Alexi hatte ein Ventil für ihre Wut gefunden, doch Jacks Berührung auf ihrem Arm ließ sie innehalten.
„Bitte sagen Sie mir, dass Sie ein Kondom benutzt haben“, sagte Jack.
Alexi schlug eine Hand vor ihren Mund. „Oh, Mist!“, rief sie, weil Marcels niedergeschlagener Gesichtsausdruck ihr die Antwort offenbarte.
„Sie sagte, dass sie verhütet“, erwiderte er kleinlaut. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ihm der Ernst der Lage bewusst wurde. „Woher sollte ich wissen, dass sie ermordet wird?“
„Sie hätten es der Polizei erzählen sollen“, sagte Alexi. „Es wäre besser, ihnen diese Information freiwillig zu geben, anstatt darauf zu warten, dass sie es herausfinden. Was sie auch werden, wenn sie Ihr Sperma in ihr finden.“
„Wann ist der vorläufige Todeszeitpunkt?“, fragte Jack. „Und wie lange war Juliette bei Ihnen?“
„Das Restaurant war heute Abend geschlossen. Das ist unser einziger freier Abend pro Woche. Juliette kam gegen sechs zu mir und sagte, sie müsse mich etwas fragen.“
„Glauben Sie, das war ein Vorwand, um Ihnen näherzukommen?“, fragte Alexi. Marcel zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihr gesagt, dass ich keine Lieblinge in der Küche habe.“
Alexi schüttelte den Kopf. War er wirklich so naiv? „Und Sie kamen nicht auf die Idee, dass Juliette diese Beziehung vielleicht zu ihren Gunsten nutzen könnte? Damit sie am Schluss obenauf ist? Das sollte kein Wortspiel sein.“
„Es ist zu spät, Marcel darauf hinzuweisen, wie idiotisch er sich benommen hat“, sagte Jack. „Ich glaube, das hat er schon verstanden. Wir sollten lieber versuchen, ihn zu entlasten.“
Das ergab für Alexi Sinn. Solange das Hotel Marcel hatte, gab es noch Hoffnung, immer vorausgesetzt, dass er nicht der Mörder war. „Glaubst du, wir schaffen das?“
Jack wandte sich wieder an Marcel. „Sie sagen, Juliette kam zu Ihnen. Und Sie haben sie nicht eingeladen, telefonisch oder per Textnachricht, oder was auch immer?“
Marcel schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sich ganz sicher? Denn falls Sie auf diese Art in Kontakt standen, wird die Polizei es bald herausfinden.“
„Nein, bei Gott, ich habe nicht mit ihr gerechnet.“
„Okay, also kam sie zu Ihnen. Vermutlich hat sie irgendeinen Grund vorgeschoben, und Sie sind mit ihr im Bett gelandet.“
Marcel nickte.
„Wie lange war sie bei Ihnen?“
„Etwa eine Stunde, und sie war gesund und munter, als sie ging. Ich schwöre es beim Bouillabaisse-Rezept meiner Großmutter.“
Jack hob eine Augenbraue. „Ernsthaft?“
„Das ist Marcels Art zu sagen, dass er auf den Heiligen Gral schwört“, erklärte Alexi und verdrehte die Augen.
„Sagen Sie solche Dinge lieber nicht bei der Polizei“, riet Jack ihm. „Die werden denken, dass Sie die Sache auf die leichte Schulter nehmen, und das wird ihnen nicht gefallen. Überhaupt, wie sind Juliette und Sie auseinandergegangen? Gab es Streit? Irgendetwas, das wir wissen sollten? Eine Auseinandersetzung, die vielleicht jemand mitgehört hat und Sie dadurch in ein schlechtes Licht rücken könnte?“
„Nein, wir sind im Guten auseinandergegangen.“
„Aber?“, fragte Alexi. Sie spürte, dass da noch etwas war.
„Nun ja, mit Juliette gab es immer Drama. Sie konnte ganz lustig sein, aber sie war auch ein reiches, verwöhntes kleines Mädchen.“
„Wirklich?“ Jack wirkte überrascht. „Ein reiches Mädchen, das gerne gekocht hat?“
„Ja, das hat sie wirklich. Okay, sie wollte auch den Promi-Status, aber das Kochen war ihr genauso wichtig. Das Problem ist, dass sie es gewohnt war, alles einfach so zu bekommen, und sie war nicht besonders wählerisch, wenn es darum ging, sicherzustellen, dass es so weiterging.“
„Sie dachte, weil sie mit Ihnen geschlafen hat, gehörte der Titel ihr?“, fragte Jack.
„So ungefähr, aber ich habe dieses Missverständnis geklärt. Sie war nicht glücklich darüber, aber wir sind nicht in Streit geraten oder so. Sie hat geschmollt, so als ob sie nicht glaubte, dass es mir ernst war, und dachte wohl, am Ende bekommt sie, was sie will.“ Marcel zuckte mit den Schultern. „Natürlich hätte sie aufgrund ihrer Leistungen gewinnen können. Sie hatte das Talent dazu.“
„Sie waren wahrscheinlich einer der wenigen Männer, die ihr jemals die Stirn geboten haben“, vermutete Alexi und rümpfte die Nase. „Es überrascht mich, dass nicht Sie ermordet wurden.“
Marcel brummte missbilligend. Er füllte sein Glas wieder auf und genehmigte sich noch einen Schluck Brandy.
„Waren Sie mal in ihrem Zimmer, wo sie umgebracht wurde?“, fragte Jack.
„Nein, noch nie“, antwortete Marcel ohne Zögern.
„Dann wird die Polizei dort auch keine Fingerabdrücke von Ihnen finden?“, fragte Jack, um die Sache klarzustellen.
„Nein. Es könnten aber welche auf meinem Messer sein.“
„Als ob Sie so dumm wären, Juliette mit Ihrem eigenen Messer umzubringen und es dann zurückzulassen, damit die Polizei es findet“, sagte Alexi kopfschüttelnd, als sie Marcels vorherige Worte wiederholte.
„Das ist wohl der einzige Grund, warum sie mich nicht in Handschellen abgeführt haben.“ Marcel blickte finster drein. „Sobald sie wissen, dass ich mit ihr im Bett war, ändert das alles.“
„Wenn sie um sieben noch gelebt hat, um neun tot aufgefunden wurde und Sie das Grundstück nicht verlassen haben“, überlegte Alexi, „wo ist dann ihre blutige Kleidung? Man sieht immer so viel Blut bei Messermorden in CSI.“
„Ah, das habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Juliette wurde anscheinend nicht in ihrem Zimmer ermordet, sondern woanders. Die Leiche wurde erst hinterher auf ihrem Bett abgelegt, mit meinem Messer in ihrer Brust.“
„Mist!“, entfuhr es Jack.
„Ich brauche wohl einen Anwalt. Meine Agentin hat schon angerufen und angeboten, einen für mich zu finden. Sie ist auf dem Weg hierher.“
Marcel verzog das Gesicht. Offensichtlich hatte er damit zu kämpfen, ruhig zu bleiben, dachte Alexi. Selbst wenn er die Wahrheit sagte und Juliette gesund und munter gewesen war, als sie sein Zimmer verlassen hatte, würde das die Polizei nicht davon abhalten, ihn als ihren Hauptverdächtigen zu betrachten. Alle bekannten Indizien deuteten auf Marcel als Täter hin, und Marcel hätte ein Idiot sein müssen, wenn ihm das noch nicht in den Sinn gekommen wäre. Dies war die Realität, kein Reality-TV, und mit seinem Promistatus konnte er bei der Polizei keinen Eindruck schinden. Es wäre genau andersherum, was sich sogar zu seinem Nachteil auswirken könnte. Marcels Stern stieg, oder zumindest war das bis vor Kurzem der Fall gewesen. Wie weit würde er wohl gehen, um seinen Namen zu schützen, falls Juliette ihm mit einer Enthüllung über ihre Affäre gedroht hatte? Alexi würde sich solche Fragen mit Sicherheit stellen, wenn sie die Ermittlerin in diesem Mordfall wäre.
„Der Sender schickt seine Anwälte her“, sagte Alexi. „Am besten sprechen Sie mit denen.“
„Sie müssen der Polizei sagen, dass Sie Sex mit ihr hatten. Jetzt“, sagte Jack. „Wenn Sie wollen, begleite ich Sie bei Ihrer Aussage. Übrigens, wer ist der verantwortliche Ermittler?“
„Ein Mann namens Vickery von der Mordkommission in Reading“, antwortete Marcel. „Kennen Sie ihn?“
„Allerdings. Er spielt nach den Regeln, aber unterschätzen Sie ihn nicht. Er ist sehr clever.“