Prolog
„Denk nicht mal daran, mir jetzt den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Du steckst zu tief mit drin.“
„Ich mag keine Drohungen“, knurrte er.
„Das ist keine Drohung. Das weißt du so gut wie ich.“ Das Bellen eines Fuchses ließ sie zusammenzucken. Typisch Stadtmensch, dachte er. „Du schuldest mir was.“
„Und ich habe bezahlt.“
„Bei Weitem nicht genug.“
Sie grinste, sich ihrer Überlegenheit bewusst, und etwas in ihm zerriss. Ein roter Nebel aus Wut ließ Flecken vor seinen Augen tanzen und trübte seine Sicht. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, packte er sie am Hals. Sie wehrte sich mit aller Kraft, schlug mit den Fäusten auf seine Brust und versuchte verzweifelt, nach ihm zu treten, während er rücksichtslos ihre Luftröhre zusammendrückte. Er beobachtete leidenschaftslos, wie sich ihr Gesicht verzerrte, und spürte, wie seine Wut langsam nachließ.
Ein kleiner Rest von Vernunft ermahnte ihn, aufzuhören. Er war kein Mörder. Sie konnte seinen Angriff nicht der Polizei melden, ohne die Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Schandtaten zu lenken. Oh ja, er wusste, was sie früher getan hatte – und manchmal immer noch tat. Was würde dieser skandalöse Klatsch ihrem jungen Geschäft in einem so kleinen Dorf antun? Warum war er nicht früher darauf gekommen? Es gab keinen Grund, sie zu töten. Er konnte es ihr mit gleicher Münze vergelten.
Plötzlich ließ er sie los, und sie ging in die Knie. Ihre Brust hob und senkte sich, sie keuchte und hustete, die Hände auf ihre gebeugten Knie gestützt.
„Du Mistkerl!“
Schneller als erwartet kam sie wieder zu Kräften und stürzte sich auf ihn. Instinktiv versuchte er, sie mit seinem ausgestreckten Arm abzuwehren. Dabei stieß er sie mit beträchtlicher Wucht von sich. Ein dumpfes Geräusch ertönte, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug. Unter ihrem Kopf breitete sich eine Blutlache aus. Da war viel zu viel Blut. Sie stöhnte und bewegte sich nicht mehr. Er tastete ihr Handgelenk nach einem Puls ab – vergebens.
Das passiert, wenn man weich wird, dachte er. Er hatte sie am Leben lassen wollen, doch sie hatte sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Seine Gedanken drehten sich nun um sich selbst. Er konnte sie nicht hier zurücklassen, doch ihm blieb noch genug Zeit, um seine Spuren zu verwischen. Es gab keinen Grund zur Panik.
Ruhig und methodisch legte er sie über seine Schulter. Auf seinem Quad festgeschnallt, baumelte sie wie eine Stoffpuppe. Er fuhr zu einer abgelegeneren Stelle und hob eine flache Grube aus. Nachdem er die Leiche in eine alte Decke gewickelt hatte, warf er sie kurzerhand in ihre letzte Ruhestätte, voller Erleichterung, die Bedrohung, die sie darstellte, ein für alle Mal los zu sein. Schweißgebadet füllte er die Grube wieder mit Erde auf und verstreute anschließend Blätter und Zweige darüber.
„Ruhe in Frieden“, sagte er sarkastisch, bevor er wieder auf sein Quad stieg und nach Hause zurückkehrte, wo ein starker Drink und ein warmes Bett auf ihn warteten.
1
Alexis Absätze hallten auf den Dielen ihrer Wohnung wider, als sie ein letztes Mal Ausschau nach zurückgelassenen Besitztümern hielt. Der Raum wirkte seelenlos und wartete darauf, dass ihm jemand seinen Stempel aufdrückte. Draußen ließ ein Frühlingsnieselregen London schwarz-weiß erscheinen. Das Wetter spiegelte Alexis eigene triste Stimmung wider. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, das ihr vor dem Hintergrund des verregneten Himmels entgegenblickte. Ihr eigener trotziger Anblick ließ sie erschaudern, und sie wandte sich ab. An der Wohnungstür hielt sie kurz inne, um sich innerlich von ihrem alten Leben zu verabschieden.
„Okay, Cosmo, lass uns …“
Alexis schwarzer Kater rieb seinen Kopf an ihrer Wade und stolzierte ihr voraus.
In der Tiefgarage verstaute Alexi ihren Koffer im Kofferraum des MINI und stellte ihre Laptoptasche hinter dem Beifahrersitz ab, auf dem Cosmo bereits Platz genommen hatte. Alexi befestigte Cosmos Leine am Sicherheitsgurt. Die Polizei konnte ungehalten reagieren, wenn Haustiere ungesichert in Autos mitfuhren. Cosmos Eigenheiten spielten für die Gesetzeshüter keine Rolle.
Es gab Katzen, und dann gab es Cosmo, dessen Eigenheiten Alexi selbst noch zu begreifen versuchte. Außerdem war eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz das Letzte, was sie brauchte.
Alexi kletterte auf den Fahrersitz, verstaute ihre Handtasche und drehte den Schlüssel im Zündschloss um. Besorgnis, Wut und Erleichterung kämpften um die Vorherrschaft, als sie sich in den fließenden Verkehr auf der Battersea Road einfädelte und ihr altes Zuhause im Rückspiegel kleiner werden sah.
Zwanzig Minuten später fuhren sie auf dem Westway in Richtung M4. Die Musik dröhnte aus dem Radio, und die Scheibenwischer waren im Dauereinsatz. Der leichte Nieselregen spiegelte Alexis Gemütszustand wider. Automatisch nahm sie ihren Fuß vom Gas, als sie ein Blitzer-Warnschild sah. Immer in Eile, trat Alexi das Pedal erneut durch, sobald die Gefahrenzone hinter ihr lag, nur um fast sofort wieder vom Gas zu gehen.
„Weißt du was, Cosmo“, sagte sie, „wir müssen eigentlich nirgendwo hin. Zum ersten Mal seit Menschengedenken habe ich keine Deadline.“
Cosmos Ohren zuckten.
Alexi spürte, wie ein aufkeimender Optimismus ihre Wut und Unsicherheit verdrängte. Wann hatte sie das letzte Mal keine dringende Aufgabe gehabt? Wann hatte sie sich das letzte Mal Zeit für sich selbst genommen, anstatt sich, wie immer, nur um ihre Karriere zu kümmern?
Sie hatte es geschafft, oder zumindest dachte sie das. Durch harte Arbeit und Beharrlichkeit konnte sie sich den Respekt einiger ihrer schärfsten Kritiker erarbeiten. Doch jetzt lag ihre berufliche Laufbahn in Trümmern. Alles, was ihr geblieben war, war … nun ja, Cosmo und zwei Taschen voller Besitztümer. Es war nicht viel, was sie für all ihren Ehrgeiz vorweisen konnte.
Vielleicht war es an der Zeit, die Situation neu zu bewerten.
Alexi seufzte, als das Klingeln ihres Handys sie aus ihren Träumereien riss. Immer noch ganz die Journalistin, wollte sie den Anruf annehmen, ohne die Nummer zu überprüfen. So, wie sie es immer tat. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie keine Journalistin mehr war – zumindest keine erwerbstätige – und schaute nach, wer sie erreichen wollte.
„Patrick“, murmelte sie und drückte den Anruf weg.
Sie war endgültig über den hinterhältigen Intriganten hinweg. Patrick hatte immer noch seinen bequemen Job beim Sunday Sentinel, mit tollen zusätzlichen Aufgaben – die früher ihre Aufgaben gewesen waren. Er hielt an seiner Behauptung fest, dass er sie liebte, hatte aber genau von den anstehenden Veränderungen bei der Zeitung gewusst, ohne sie vorzuwarnen. Das war in Alexis Augen keine Liebe. Sie stieß die Luft aus und schlug mit dem Handballen gegen das Lenkrad. Cosmo öffnete ein Auge.
„Ich hätte erkennen müssen, dass etwas nicht stimmt, als du ihm in die Knöchel beißen wolltest“, sagte sie zu ihrem Kater.
Cosmo warf ihr einen „Ich-hab’s-dir-ja-gesagt“-Blick zu und schlief weiter.
Alexi summte das Lied im Radio mit, während andere Autos an ihr vorbeirasten. Mit jedem Kilometer, mit dem sie sich von London entfernte, fühlte sie sich beruhigter. Langsam zu fahren, war befreiend. Wer hätte das gedacht? Die Autobahn führte sie über offene Landschaften, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie beschloss, die viel befahrene Straße ein paar Ausfahrten vor ihrem Ziel zu verlassen. Der Nieselregen hatte aufgehört, und einige schwache Sonnenstrahlen versuchten, durch die Wolkendecke zu brechen. Die Getreidefelder Berkshires wogten sanft im Wind, während sie durch kleine Dörfer fuhr. Auf der Straße nach Lambourn, einem hübschen Städtchen inmitten der Kreidehügel, drosselte sie ihr Tempo, um die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht zu überschreiten. Ein großes Schild hieß sie willkommen und ermahnte sie, vorsichtig zu fahren. Die Gegend war geprägt von großen Häusern und Ställen, die Felder von Lattenzäunen umgeben; kaum ein Blatt fehl am Platz. Alexi konnte das Geld fast riechen. Ein paar langbeinige Pferde grasten auf einer Weide, die meisten davon schienen aber ungenutzt zu sein, so wie auch die Straßen. Es war friedlich, unberührt und unheimlich still.
„Ich hoffe, du magst frische Luft und Pferde, Cosmo“, sagte Alexi, als ihr Kater sich endlich rührte und ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. „Und denk dran, worüber wir gesprochen haben. Nicht Cheryls Hund attackieren!“
Cosmo krümmte den Rücken und warf ihr einen abschätzenden Blick aus seinen stechenden haselnussbraunen Augen zu.
***
Alexi folgte den Anweisungen des Navigationssystems. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie den Weg zu ihrer besten Freundin nicht alleine finden konnte. Deren Haus hatte sie seit Cheryls Hochzeit vor zehn Jahren nicht mehr betreten. Zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, ihre Karriere anzukurbeln, doch in ihrer Stunde der Not würde die von ihr vernachlässigte Freundin sie mit offenen Armen empfangen.
Es war demütigend.
Alexi fuhr nach Upper Lambourn, vorbei an einem Pub namens Malt Shovel, dessen Name ihre Neugier weckte. Woher er wohl stammte? Sie bog links ab und fuhr dann nach rechts durch die gemauerten Torpfosten, an die sie sich noch erinnerte. Ein unauffälliges Schild wies sie darauf hin, dass sie ihr Ziel erreicht hatte:
Hopgood Hall
Boutique Hotel
Die Gärten entlang der Kiesauffahrt sahen makellos aus. Alles, was Alexi über Gartenarbeit wusste, hätte man auf die Rückseite einer Briefmarke schreiben können, aber selbst sie erkannte Narzissen und Tulpen. Nach dem Nieselregen in London war hier eine kühle Brise aufgekommen, die die Wolkendecke wegfegte und die ländliche Umgebung in ihrem besten Licht erstrahlen ließ.
Das alte Herrenhaus hatte eine Fassade aus honigfarbenem Stein, an der Glyzinien hochrankten. Die herabhängenden lilafarbenen Blüten verströmten einen berauschenden Duft, den Alexi tief einatmete. Ihr Auto war das einzige auf dem Besucherparkplatz. Doch bevor sie entscheiden konnte, ob das ein böses Omen war, flog die Haustür auf und Cheryl stürmte die Stufen hinunter. Ihre zerzausten blonden Locken flogen ihr um das Gesicht.
„Du bist da!“, rief sie und warf sich schwungvoll in Alexis Arme. „Und du siehst wirklich fantastisch aus.“
„Du siehst auch echt gut aus“, erwiderte Alexi und fragte sich, wie sie etwas so Belangloses wie die Arbeit ihrer Freundschaft im Weg hatte stehen lassen können. Die Wärme ihres Empfangs ließ die vergangenen Jahre regelrecht von ihr abfallen, und sie wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, hierherzukommen, um sich trösten zu lassen. „Danke für die Einladung.“
„Wohin sonst würdest du in deiner Stunde der Not gehen?“
Alexis Wiedersehen mit ihrer alten Freundin wurde durch eine Reihe empörter Miaus aus ihrem MINI unterbrochen.
„Ich lasse ihn lieber raus, bevor er die Pferde erschreckt“, erklärte Alexi.
Cheryl spähte ins Auto, nur um angefaucht zu werden. Der Kater schien sie jedoch nicht zu beunruhigen. „Wow, so einen riesigen Kater habe ich noch nie gesehen.“
„Ich habe dich gewarnt.“ Seit sie Cosmo aufgenommen hatte, wurde Alexi mit allen möglichen Beschreibungen von ihm überhäuft, vom Panther bis zum Waschbären. Oder verschiedenen Kombinationen davon. „Bist du dir ganz sicher, dass er hier willkommen ist? Ich wünschte, ich könnte sagen, dass seine schlechte Laune nur gespielt wäre, aber das ist sie nicht.“
„Wir kommen bestimmt gut miteinander aus.“
Alexi zuckte mit den Schultern, kreuzte die Finger einer Hand hinter ihrem Rücken und löste mit der anderen Cosmos Leine. Ihr Kater streckte sich noch einmal langsam, den Blick nachdenklich auf Cheryl gerichtet. Alexi verkrampfte sich, als Cheryl eine Hand ausstreckte, und wartete auf das Drama – das jedoch ausblieb. Stattdessen genoss Cosmo Cheryls Zuwendung und stolzierte dann hoheitsvoll in ein nahe gelegenes Gebüsch.
„Mein Gott, er hat sich benommen. Das ist mal was Neues.“
Sie sahen zu, wie sein hoch aufragender Schwanz tiefer im Gestrüpp verschwand. Alexi schnappte sich ihre Handtasche und hakte sich bei Cheryl unter. „Ich will alles wissen. Was gibt es Neues bei dir? Wie lange ist es her, dass wir uns das letzte Mal getroffen haben?“
Cheryl rümpfte die Nase. „Vor über zwei Jahren in London, als ich bei dir gewohnt habe. Komm, Drew hat gerade Wasser aufgesetzt. Jetzt gönnen wir uns ein Gläschen. Wenn deine Ankunft kein Grund ist, den Sekt auszupacken, dann weiß ich es auch nicht. Oh!“ Cheryl schlug sich die freie Hand vor den Mund. „Ich und mein loses Mundwerk. Du bist wohl nicht in Feierlaune.“
„Ich bin immer in Sektlaune.“
„Gutes Mädchen!“
Sie gingen in eine große, gemütliche Küche im hinteren Teil des Hauses, wo ein Bär von einem Mann behutsam mit Teegeschirr hantierte. Er erblickte Alexi, stieß einen Freudenschrei aus und nahm sie fest in seine Arme.
„Gott sei Dank bist du da“, sagte er. „Cheryl hat den ganzen Tag die Verkehrsnachrichten gehört und war bei jeder Unfallmeldung davon überzeugt, dass du verunglückt sein musst.“
„Na ja, du warst schon immer eine eher rücksichtslose Fahrerin“, protestierte Cheryl.
„Ich bin verantwortungsbewusster geworden.“
Cheryl unterdrückte ein ungläubiges Lachen. „Also, erzähl. Was ist passiert?“, fragte sie, und ihr Lächeln verschwand. „Du hast so hart gearbeitet. Ich verstehe wirklich nicht, warum jetzt alles in sich zusammengefallen ist.“
„Lass die arme Frau erst mal ihren Tee trinken, bevor du sie verhörst, Liebes“, ermahnte Drew sie milde.
Cheryl zuckte mit den Schultern. „Ich habe nie viel von diesem Patrick gehalten. Du verdienst Besseres als diesen Egozentriker.“
„Ja, also … Oh nein!“
Ein ersticktes Heulen aus dem Garten ließ Alexi von ihrem Sitz aufspringen, da sie bereits die Ursache des Lärms erahnte. Cosmo stellte sich auf dem Rasen einem kleinen Terrier entgegen.
„Cosmo, was habe ich dir gesagt?“, rief Alexi, ging nach draußen und stemmte die Hände in ihre Hüften.
Cosmo wich zurück und musterte Alexi mit einem unschuldigen Blick. Mit hoch aufgerichtetem Schwanz näherte er sich dem zitternden Toby und rieb seinen Kopf an dessen Körper.
„Das gibt’s doch nicht“, staunte Drew kopfschüttelnd.
Cheryl grinste. „Sie scheinen die Hackordnung geklärt zu haben“, sagte sie. „Komm rein und trink deinen Tee, Lexi, und dann gönnen wir uns endlich eine Flasche. Oder gleich ein Sixpack.“
Alexi rührte sich nicht. Stattdessen starrte sie auf die Reihe hässlicher Fertighäuser, die einen großen Teil des Gartens einnahmen. Sie waren ein ganzes Stück weit von dem Haupthaus entfernt, weshalb Alexi sie vorher nicht durch die Fenster gesehen hatte.
„Was ist passiert?“, fragte sie verwundert.
„Komm rein, dann erzählen wir es dir“, sagte Cheryl und verzog das Gesicht.
Cosmo ging voran und miaute nach Futter. Toby folgte ihm und bellte unterstützend.
Drew lachte laut auf. „Die zwei sind schon ein verrücktes Duo.“
Grinsend griff Alexi in ihre Tasche und holte einen Beutel mit Trockenfutter heraus, den sie in weiser Voraussicht griffbereit aufbewahrt hatte. Cheryl nahm ihr den Beutel ab und schüttete den Inhalt in eine Plastikschüssel.
„Gut“, sagte Alexi, als sie um den vernarbten Kiefernholztisch saßen und Earl Grey tranken. „Erzähl.“
„Wir hatten einfach nicht genügend Buchungen, um das Hotel über Wasser zu halten“, antwortete Drew. „Hier ist alles saisonbedingt. Wir sind auf wohlhabende Leute angewiesen, die mit der Elite der Rennwelt verkehren wollen. Das Problem ist nur: Bei schlechtem Wetter reisen sie in sonnigere Gefilde.“
„Außerdem werden in der Gegend gerade viele günstigere Hotels gebaut“, fügte Cheryl hinzu.
„Gibt es hier keine Pferdebesitzer oder andere gehobene Pferdefreunde?“
Drew zuckte die Schultern. „Die Pferdebesitzer bleiben entweder bei ihren Ausbildern oder kommen nur für einen Tag vorbei.“
„Wir machen einen Großteil unseres Geschäfts in der Bar und im Restaurant“, sagte Cheryl in einem fröhlich-angespannten Ton.
„Wir haben einen Primadonna-Koch, der sich seines Wertes bewusst ist und mehr Probleme verursacht, als er löst“, sagte Drew. „Aber wenigstens zieht er Kunden an. Ausbilder, die potenzielle Käufer beeindrucken wollen und so.“
„Aber diese … äh … Nebengebäude?“, fragte Alexi verwirrt. „Wie passt das zu eurem vornehmen Image?“
„Wir brauchten eine zusätzliche Einnahmequelle. Auf keinen Fall hätte ich es zugelassen, dass Drew sein Elternhaus verliert“, verteidigte sich Cheryl.
Cheryl und Drew hatten sich während Alexis und Cheryls letztem Studienjahr in einem Pub kennengelernt. Die beiden verstanden sich auf Anhieb und heirateten gleich, nachdem Cheryl ihren Abschluss in Hotelmanagement gemacht hatte. Drew hatte einen Bankkredit aufgenommen, um seinen Geschwistern ihre Anteile am Familienhaus abzukaufen, das er in ein gehobenes Hotel umwandeln wollte.
„Das hast du mir vorenthalten“, sagte Alexi stirnrunzelnd zu ihrer Freundin.
„Hochmut kommt vor dem Fall“, erwiderte Cheryl und stützte ihr Kinn in die Hände. „Ich wollte meiner Freundin, einer Star-Journalistin, nicht gestehen, dass wir es vermasselt haben.“
„Ach, Cheryl.“ Alexi beugte sich nach vorn und umarmte sie. „Ich hätte dir doch geholfen. Unsere Reiseabteilung hätte einen Artikel über euch schreiben können. Ich habe euer Hotel in meinen Texten mehrmals erwähnt, aber meine Leser suchen normalerweise nicht nach Reisetipps … suchten.“
„Sorry, Liebes.“ Cheryl drückte Alexis Hand. „Kümmere dich nicht um mich. Ich bin in letzter Zeit ständig nervös.“
„Du hast es ihr nicht erzählt?“, fragte Drew.
„Was erzählt?“ Ein Blick auf ihr süffisantes Grinsen, und Alexi begriff, was ihr eigentlich sofort hätte auffallen müssen, als sie Cheryls Schwangerschaftsbauch sah. Sie sprang so schnell auf, dass sie ihren Tee auf dem Tisch verschüttete, und umarmte die beiden. „Wurde auch Zeit. Herzlichen Glückwunsch!“
„Danke“, sagte Cheryl.
„Wann kommt das Baby?“
„In vier Monaten“, erwiderte Cheryl und verzog das Gesicht.
„Also ein Spätsommer-Baby. Junge oder Mädchen?“
„Wissen wir noch nicht“, antwortete Drew. „Wir sind altmodisch und lassen uns überraschen.“
„Ich möchte meine schlechte Freundschaft wiedergutmachen, indem ich das Baby von hinten bis vorne verwöhne.“
„Du musst dich hintenanstellen“, warnte Cheryl. Sie nickte ihrem Mann zu, der immer noch albern grinste. „Wie auch immer, wir hoffen, dass du die Patenschaft für unser Kind übernehmen möchtest.“
„Gerne, obwohl ich mir nicht sicher bin, welchen spirituellen Beistand ich dem Kind geben kann.“
„Du hast einen starken inneren Kompass, und nur das zählt“, bekräftigte Cheryl.
„Diese … äh, was auch immer das im Garten sind“, erinnerte Alexi ihre Freundin. „Du hast mir noch nicht erzählt, was es damit auf sich hat.“
„Wir vermieten sie an Pferdepfleger, Bereiter und angehende Jockeys aus einem örtlichen Stall“, gab Drew zu. „Ich weiß, wir hatten am Anfang große Ideale.“ Er zuckte die Schultern. „Aber das ist die Realität, und es muss sein.“
„Sonst wären wir bankrottgegangen“, fügte Cheryl schroff hinzu.
„Die meisten Ausbilder haben eigene Personalunterkünfte oder kümmern sich vor Ort um die nötigen Vorkehrungen.“ Drew rieb sich das Kinn. „Aber im letzten Winter brannte es bei einem der wichtigsten Ausbilder …“
„Graham Fuller“, sagte Alexi. „Ich erinnere mich, dass es darüber viele Spekulationen gab.“
„Stimmt. Die Umstände waren verdächtig“, sagte Drew. „Fuller stand mit einem anderen Ausbilder auf Kriegsfuß. Er soll einen seiner Züchter abgeworben haben, und der Streit eskalierte.“
„Hat Fuller nicht Brandstiftung vermutet?“, fragte Alexi. Ihr Interesse war geweckt.
„Ich glaube, meine Freundin wittert eine Geschichte“, sagte Cheryl grinsend.
„Berufliche Neugier. Ich kann sie nicht abstellen, nur weil ich arbeitslos bin.“
„Na ja. Ich glaube nicht, dass wir jemals erfahren werden, was wirklich passiert ist. Graham besucht oft unsere Bar und das Restaurant und erzählte mir von dem Problem mit der Unterbringung seiner Jungs. Cheryl und ich beschlossen also, in den sauren Apfel zu beißen.“
„Ich verstehe, warum ihr das getan habt, aber ich bin überrascht, dass ihr eine Baugenehmigung bekommen habt.“
„Es war nicht einfach“, gab Drew zu. „Aber Graham hat großen Einfluss im Gemeinderat. Ich weiß nicht, welche Fäden er gezogen hat, und ich will es auch nicht wissen. Wir haben die Einheiten an der Außenseite des Grundstücks aufstellen lassen, damit die Gäste im Haupthaus sie nicht sehen müssen.“
„Was uns nicht klar war, als wir zustimmten, Graham einen Gefallen zu tun …“
„… und uns selbst zu retten …“, fügte Drew hinzu.
Cheryl winkte ab. „Wir wussten nicht, dass es unseren Fünf-Sterne-Status beeinträchtigen würde.“
„Habt ihr deswegen einen Stern verloren?“
„Wir haben keine Tennisplätze mehr“, erklärte Cheryl. „Keiner unserer Gäste hat sie je benutzt, aber anscheinend sind sie wichtig. Wie dem auch sei, die Nebengebäude sind über das ganze Jahr belegt. Die Bewohner müssen sich selbst versorgen, und wir schicken wöchentlich Reinigungskräfte in die Unterkünfte, damit Fullers Leute die Häuser nicht völlig verwüsten.“
Alexi konnte sehen, dass Cheryl und Drew gute Miene zum bösen Spiel machten. „Ich bin froh, dass diese Abmachung euer Geschäft gerettet hat, und ich verspreche, nie wieder ein Wort über das Aussehen der Hütten zu verlieren.“
„Wenn sich unsere Lage bessert oder Graham seine eigenen Personalunterkünfte wieder aufbaut, können wir sie wieder abreißen lassen“, sagte Cheryl.
„Im Moment kommen wir gerade so über die Runden.“ Drew seufzte und stand auf. „Komm, Alexi, holen wir deine Sachen. Dann bringe ich dich nach oben. Du hast das große Zimmer vorn in der Mitte.“
„Aber das ist dein bestes Zimmer“, protestierte Alexi. „Cosmo und ich erwarten keine Sonderbehandlung.“
„Im Moment ist niemand sonst im Haupthaus, obwohl wir für das Wochenende ausgebucht sind“, erwiderte Cheryl. „Du verdienst es, verwöhnt zu werden, zumindest bis dahin.“
„Na gut, aber ich bestehe darauf, den üblichen Preis zu zahlen.“
„Willst du mich beleidigen?“, fragte Drew entrüstet.
Alexi weigerte sich, nachzugeben. „Du bist Geschäftsmann“, erinnerte sie ihn.
„Wir finden schon eine Lösung“, sagte Drew barsch. „Komm, wir quartieren dich ein, dann trinken wir vor dem Abendessen noch etwas, und du kannst uns erzählen, was es Neues bei dir gibt.“
„Ich kann nichts trinken“, sagte Cheryl, tätschelte ihren Bauch und schmollte. „Aber ich kann den Duft inhalieren und mich morgens, wenn ihr beide höllische Kopfschmerzen habt, total anständig fühlen.“
Alexi lachte. „Das ist es wert.“
„Hörst du“, sagte Cheryl zu ihrem Bauch. „Du bist es so was von wert.“
„Denk dran“, sagte Drew, während er Alexis Tasche die Treppe hinaufschleppte. „Du kannst so lange bei uns bleiben, wie du möchtest. Nimm dir Zeit, überlege, was du tun willst. Cheryl wird sich über deine Gesellschaft freuen.“
Alexi, die knallharte, unabhängige Journalistin, die niemanden brauchte und nie Gefälligkeiten annahm, blickte aus dem Fenster. Sie starrte auf die Frühlingswolken über den Hügelkuppen. Ohne ersichtlichen Grund trieb ihr dieser Anblick die Tränen in die Augen.
2
Cosmo stolzierte mit ihnen die Treppe hinauf, Toby folgte zwei Schritte hinter ihm.
„Die zwei sind ein richtiges Paar“, sagte Drew und lachte über Tobys Ausdruck der totalen Bewunderung.
„Wenn Cosmo jemanden mag, begegnet er ihm mit bedingungsloser Hingabe. Meistens mag er Menschen nicht und ist ihnen gegenüber misstrauisch …“
„Er ist eine Wildkatze, richtig?“
„Ja.“
„Na ja, hat er wohl gelernt, wählerisch zu sein. Es ist eine Überlebensstrategie. Aber ich muss sagen, das ist der größte Kater, den ich je gesehen habe. Vor allem, weil er kein Gramm Fett auf den Rippen hat.“
„Ich weiß nicht, warum er so schlank ist. Er frisst mich arm.“
Drew öffnete die Tür zu Alexis Zimmer und stellte ihren Koffer ab. Er kicherte, als Cosmo mit hoch aufgerichtetem Schwanz gebieterisch in seiner vorübergehenden Unterkunft umherstreifte. „Warum hast du dir eine Wildkatze zugelegt?“
„Vor ein paar Jahren habe ich einen Beitrag über die Obdachlosen unter der Waterloo Bridge gedreht. Cosmo war da und hielt sowohl Menschen als auch Nagetiere auf Trab. Er war ein wilder Kater im wahrsten Sinne des Wortes, aber aus irgendeinem Grund mochte er mich. Als ich das dritte Mal dort hinunterging, folgte er mir zurück zu meinem Auto, sprang auf den Beifahrersitz und fauchte jeden an, der sich ihm näherte.“ Alexi zuckte die Schultern. „Was sollte ich tun?“
Cosmo sprang auf das Himmelbett, setzte sich hin und putzte sein Gesicht, wobei er Alexi und Drew gelegentliche Blicke zuwarf.
Drew lachte. „Er muss mal eine Hauskatze gewesen sein, wenn er Autos mag.“
„Das dachte ich mir auch. Und ich glaube, er hat mir verziehen, dass ich ihn zum Tierarzt gebracht habe …“
Drew zuckte zusammen. „Pech gehabt, Cosmo.“
„Hey, Safer Sex sollte nicht nur Menschen vorbehalten sein. Cosmo ist wahrscheinlich schon für eine ganze Menge streunender Miezen verantwortlich. Er sollte die Straßenkatzen-Population nicht noch vergrößern.“
Drew streckte die Hand aus, um Cosmo am Kopf zu kraulen. Alexi verkrampfte sich, entspannte sich aber wieder, als der Kater seinen Kopf an Drews Hand schmiegte. Toby sprang auf und kuschelte sich an Cosmos Körper.
„Ich bin wirklich froh, dass du hier bist, Alexi. Cheryl hat sich Sorgen um dich gemacht.“
„Je netter ihr zu mir seid, desto schlechter fühle ich mich, weil ich euch nicht öfter besucht habe.“
Drew zuckte die Schultern. „Das Leben hat die unangenehme Angewohnheit, Freundschaften im Weg zu stehen.“
„Das ist keine Entschuldigung.“
„Du bist hier, und nur das zählt. Hast du alles, was du brauchst?“
„Das ist Luxus.“ Alexi blickte sich in dem hohen Zimmer um, dessen bodentiefe Fenster auf die Hügel hinausgingen. An den Fenstern hingen geblümte Vorhänge, die zur Tagesdecke passten. Darunter standen ein bequemes Sofa, ein Stuhl und ein Schreibtisch, auf dem sie ihren Computer abstellen konnte. Endlich. Sie spähte in das geräumige Badezimmer mit einem Ständer voller flauschiger Handtücher und einem Korb mit Toilettenartikeln. „Was könnte mir denn hier fehlen?“
„Okay, leb dich erst einmal ein. Komm runter, sobald du fertig bist, dann trinken wir ein Bier.“
„Du hast ein Date.“
***
Als Drew gegangen war, packte Alexi schnell ihren Koffer aus und hing ihre Kleidung in den Schrank. Dann zog sie sich aus und duschte ausgiebig. Eine halbe Stunde später fühlte sie sich erfrischt. Sie zog eine Baumwollhose und ein leichtes Top an, bürstete sich die Haare, tupfte sich einen Hauch Lipgloss auf und strich sich mit der Mascara-Bürste über die Wimpern. Hund und Kater begleiteten sie wieder die Treppe hinunter, und sie folgte einem verlockenden Duft in die Küche.
„Hey.“ Cheryl blickte auf, während sie gerade etwas in einem Topf verrührte. Küchen machten Alexi Angst. Sie hatte in London von Essen zum Mitnehmen gelebt und hätte Schwierigkeiten gehabt, ein Rührei zubereiten zu müssen. Cheryl hingegen hatte schon immer gerne gekocht.
„Kann ich etwas tun? Ich kann schneiden, schälen oder würfeln, ohne etwas kaputtzumachen.“ Alexi zuckte zusammen. „Glaube ich.“
„Schon gut. Setz dich. Ich bin gleich fertig.“ Cheryl grinste. „Aber wenn ich es mir recht überlege, wette ich darauf, dass du immer noch mit einem Korkenzieher umgehen kannst.“
„Her damit, Schwester!“
Mit einem Glas Wein für Alexi und Orangensaft für Cheryl setzten sich die Freundinnen an den Küchentisch und stießen an. Cosmos offensichtliche Versuche, Cheryl etwas zu fressen zu entlocken, scheiterten. Er warf ihr einen verletzten Blick zu und rollte sich in Tobys Korb zusammen. Toby sprang direkt zu ihm hinein und wedelte mit dem Schwanz, während er den wenigen Platz einnahm, den Cosmo ihm ließ.
„Nochmals herzlichen Glückwunsch“, sagte Alexi. „Ich freue mich so für dich. Ich weiß, dass du geschäftlich gerade eine schwierige Phase durchmachst, aber du und Drew scheint immer noch unzertrennlich zu sein.“
Cheryl grinste. „Ja, was das betrifft, haben wir Glück. Und zum Thema Beziehungen: Können wir über Patrick reden?“
„Über wen?“
„Lexi!“
„Was soll ich sagen?“ Alexi rang ihre Hände. „Du hattest recht. Er ist ein Stinktier. Er behauptet, er sei zur Verschwiegenheit verpflichtet gewesen und konnte mir deshalb nichts über die Umstrukturierungen bei der Zeitung erzählen. Hätte er das getan, wäre mir klar gewesen, dass ich gefeuert werde. Das hätte mir Zeit verschafft, einen Gegenzug vorzubereiten.“ Alexi seufzte. „Wenn man jemanden liebt, stehen die Gefühle an erster Stelle, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete Cheryl knapp. „Immer. Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest, aber ich muss sagen, du hast Besseres verdient als Patrick. Du wirst den Richtigen finden. Wahrscheinlich dann, wenn du es am wenigsten erwartest.“
„Im Moment habe ich keine Lust auf Männer und suche auch nicht.“ Alexi beugte sich nach vorne und umarmte Cheryl. „Die Zeitung arbeitete ineffizient und verschwendete Geld. Es war offensichtlich, dass sich etwas ändern musste. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es mich betreffen würde – ich war mit dem Politikredakteur liiert, der mich nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen konnte, zumindest nicht ohne Vorwarnung.“ Sie brachte ein ironisches Lächeln zustande. „Das war ein ziemlicher Schlag fürs Ego.“
„Du hast hervorragende, aufschlussreiche Artikel geschrieben“, sagte Cheryl ermutigend.
„Was anscheinend mein Untergang war. Wenn etwas nicht die Sensationsgier der Leute bedient, wollen sie nichts davon wissen.“
„Du warst einfach zu gut. Der Sentinel macht einen Fehler, wenn er auf die Veröffentlichung von Sensationsberichten umsteigen will. Sie scheinen dort zu vergessen, dass es immer noch Menschen gibt, die tatsächlich über funktionierende Gehirnzellen verfügen und sich eine begründete Meinung wünschen.“
„Heutzutage kaufen nicht mehr so viele Leute Zeitungen. Ehrlicherweise ist das Teil des Problems.“ Alexi stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn in ihre Hand. „Alles ist sofort online abrufbar.“ Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. „Jedenfalls macht Patrick jetzt eine vereinfachte Version meiner früheren Arbeit. Er schien zu glauben, dass ich mich darüber freuen würde, so etwas wie eine politische Klatschkolumne zu schreiben.“
Cheryls Brust schwoll vor Empörung an. „Dieser Saftsack!“
„Na ja, ich habe ihn anders genannt.“
„Das alles ist erst letzte Woche passiert, und trotzdem hast du schon deine Wohnung vermietet und bist zu uns abgehauen.“ Cheryl grinste. „Deine Art gefällt mir.“
„Ich habe Patrick auch nicht mehr gesehen oder ihn gesprochen, obwohl er ständig anruft.“
„Hast du einen Plan, wie es jetzt weitergehen soll?“
„Nein.“ Alexi trank einen kräftigen Schluck Wein. „Es ist auf eine beängstigende Art befreiend.“
„Du hast keinen Job, kein Zuhause, und deine Mutter ist kürzlich gestorben. Ich würde das nicht als befreiend bezeichnen. Eher wie aufeinanderfolgende Schläge ins Gesicht.“
„Es hat mich aus meiner Komfortzone gezwungen, was in gewisser Weise auch gut ist. Ich steckte in meinem Alltagstrott fest. Und zum Glück habe ich keine finanziellen Sorgen. Tut mir leid“, fügte Alexi hinzu, als Cheryl zusammenzuckte. „Ich habe Mamas Eigentum verkauft, ihr Aktienportfolio geerbt und außerdem eine Abfindung vom Sentinel bekommen. Nicht, dass die bezahlen wollten. Sie meinten, sie hätten mir eine andere Stelle angeboten, und ich hätte mich durch meine Ablehnung selbst gefeuert.“
Cheryl stieß die Luft aus. „Geizhälse.“
„Zum Glück bin ich meinen Vertrag genau durchgegangen und habe eine Klausel gefunden, die besagt, dass sie mich nicht ohne triftigen Grund degradieren durften. Also drohte ich ihnen mit rechtlichen Schritten, falls sie es versuchen würden. Ich habe auch angedeutet, dass ich über die Art und Weise schreiben könnte, wie sie mich behandelt haben, und das ihren Konkurrenten anbieten würde … Es hat funktioniert. Sie haben bezahlt, also kann ich die Dinge in Ruhe auf mich zukommen lassen und dich für mein Zimmer bezahlen.“ Sie hob eine Hand, um Cheryls Protest im Keim zu ersticken. „Ich habe ein paar Angebote von Londoner Zeitungen bekommen, aber es ist nichts dabei, was mich reizen würde. Vielleicht ist es an der Zeit für einen kompletten Richtungswechsel.“
„Was, du willst aus London wegziehen?“ Cheryl riss die Augen auf. „Ich dachte immer, du bist durch und durch ein Stadtmädchen. Hast du überhaupt Gummistiefel?“
Alexi lachte und spürte, wie der Wein seine Wirkung entfaltete. „Haben die zehn Zentimeter hohe Absätze?“
Die Hintertür öffnete sich, und Drew trat ein. Cosmo, scheinbar resigniert, dass er so bald nichts zu essen bekommen würde, schritt hindurch, mit seinem treuen Freund Toby dicht hinter ihm.
„Glück gehabt?“, fragte Cheryl.
„Tut mir leid, Liebes, keine Spur.“
„Keine Spur von was?“, fragte Alexi, die ihre gemeinsame Sorge spürte.
„Es geht um Cheryls Freundin Natalie.“ Drew schenkte sich ein großzügiges Glas Wein ein und füllte Alexis Glas wieder auf. „Sie ist verschwunden. Wir machen uns Sorgen um sie. Ich bin gerade bei ihrem Haus vorbeigefahren, aber seit gestern war niemand mehr da.“
„Wer ist das?“, fragte Alexi.
„Natalie ist vor ein paar Jahren nach Lambourn gezogen. Sie ist Floristin. Sie macht Sträuße, Tischdekorationen für Hochzeiten und so. Wir haben ihr mehrmals Aufträge für unsere Blumendekoration erteilt, und so sind wir Freunde geworden.“
„Wie lange ist sie schon weg?“
„Seit drei Tagen.“
„Zu kurz, um sich Sorgen zu machen, oder?“
„Sie ist zwar ziemlich oft weg, aber nie, ohne uns vorher Bescheid zu geben“, erklärte Drew. „Wir haben ihre Schlüssel und passen auf das Haus auf.“
„Das ist überhaupt nicht ihre Art“, sagte Cheryl, deren Stirnrunzeln die dunklen Ringe unter ihren Augen betonte. Entweder machte sie sich große Sorgen um ihre Freundin, oder diese sichtbaren Anzeichen von Stress rührten von ihren finanziellen Problemen her.
„Natalie geht nicht ans Handy und beantwortet keine E-Mails, und das ist einfach nicht ihre Art. Sie führt ein Geschäft und muss mit ihren Kunden in Kontakt bleiben.“
„Was ist mit ihren anderen Freunden? Ihrem Ehemann. Männerfreunden.“
„Sie ist geschieden“, antwortete Cheryl. „Ohne Partner. Keine Kinder. Die Wahrheit ist, dass sie einsam ist, aber nie viel Glück mit Männern zu haben scheint. Sie nutzen sie aus … nun ja, ich schätze, sie will so verzweifelt geliebt werden, dass sie die falschen Männer anzieht.“
„Natalie hat ein schönes Haus, fährt ein schickes Auto und sieht gut aus. Sie achtet auf sich. Sobald die Versager, mit denen sie ausgeht, das erkennen, denken sie bestimmt, sie hätten das große Los gezogen“, sagte Drew finster. „Ihr Auto steht in der Garage, aber ihr Laptop, ihr iPad und ihr Handy sind weg, genau wie ihre Handtasche.“
„Das kommt mir seltsam vor“, erwiderte Alexi, und ihre journalistischen Antennen schalteten sich ein. „Wart ihr bei der Polizei?“
Cheryl verdrehte die Augen. „Die wollten nichts davon wissen. Natalie ist über vierzig und verreist oft, weshalb sie wohl nicht viel tun können. Als Drew gestern zu unserer Teilzeit-Polizeistation ging, haben sie ihn dort fast ausgelacht.“
„Ich weiß, dass du das nicht hören willst“, sagte Alexi, „aber sie können wahrscheinlich wirklich nichts unternehmen. Solange es keine eindeutigen Beweise für ein Verbrechen gibt, hat die Polizei Wichtigeres zu tun. Sie legen eine Akte an, leiten ein paar Ermittlungen ein, und das war’s.“
„Das haben sie mir mehr oder weniger auch gesagt, als ich die Vermisstenmeldung aufgegeben habe“, sagte Drew und drückte seiner Frau tröstend die Hand. „Sie haben angedeutet, sie hätte sich ein sündiges Wochenende gegönnt.“
„Ich kenne ein paar Leute“, sagte Alexi. „Ich könnte jemanden bitten, ihr Handy zu orten.“
Cheryls Gesichtsausdruck hellte sich auf. „Könntest du das machen? Ich hatte gehofft, vielleicht …“
„Dann hätten wir eine Vorstellung davon, wo sie ist. Falls sie sich in einer Stadt aufhält, könnten wir ihren Standort bis auf etwa fünfzig Meter eingrenzen. Aber in einem dicht besiedelten Gebiet sind fünfzig Meter immer noch ein großer Bereich. Auf dem Land hingegen können die Funkstationen kilometerweit voneinander entfernt sein. Dann wäre es unmöglich, ihren genauen Standort zu bestimmen.“
„Ich habe ihr gesagt, dass es ein Fehler war …“
„Was war ein Fehler?“, fragte Alexi, als Cheryls Worte verstummten und sie schaudernd einatmete.
„Natalie hat sich bei einer Dating-Plattform angemeldet“, erklärte Drew.
„Oh.“
Cheryl seufzte. „Was, wenn sie von irgendeinem Proll gestalkt wurde? Das frage ich mich die ganze Zeit.“
„Wenn es eine der besseren Plattformen ist … Was zum Teufel ist das für ein Lärm?“, fragte Alexi, als erst durchdringende Schreie und dann raues Gelächter ihr Gespräch unterbrachen.
„Die Bereiter kommen nach Hause“, sagte Drew. Er stand auf und schaute mit einem breiten Lächeln aus dem Fenster. „Ich glaube, dein Kater stellt das Empfangskomitee.“
„Oh Gott, das tut mir leid! Cosmo faucht jeden an.“
„Das entschädigt uns für all die Male, als sie uns mit ihren Partys gestört haben, die sie eigentlich nicht hätten veranstalten dürfen“, sagte Cheryl.
„Wenn eines ihrer Pferde gewinnt, bekommt der Bereiter normalerweise etwas Geld von den Besitzern des Pferdes“, erklärte Drew.
„Ah, ich verstehe. Wenn es noch mehr Probleme mit euren Bereitern gibt, sagt Bescheid, und ich werde Cosmo dazu bringen, seine Bemühungen zu intensivieren.“
„Hey, Mrs H.“ Ein attraktiver junger Mann winkte durch das Fenster. „Können Sie Ihre Wachkatze zurückrufen?“
Lachend stand Alexi auf, öffnete die Hintertür und rief nach Cosmo. Cheryl folgte Alexi zur Tür hinaus.
„Gute Katze“, sagte der junge Mann und sah Alexi an, nicht Cosmo. „Für Sie, Mrs H. Der Boss hat mich gebeten, Ihnen das zu geben.“
„Danke, Tod.“ Cheryl nahm den Umschlag entgegen, den er ihr hinhielt.
„Wollen Sie uns vorstellen?“
„Alexi, das ist Tod Naismith, Graham Fullers Chef-Bereiter und selbsternannter Anführer dieser kunterbunten Truppe.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung der Nebengebäude. „Tod, das ist meine gute Freundin Alexi Ellis.“
Alexi schüttelte Tods ausgestreckte Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte sie.
„Mich auch.“ Tod wackelte mit den Augenbrauen. „Haben Sie vor, länger zu bleiben?“
„Sie spielt nicht in Ihrer Liga, Tod“, sagte Cheryl lachend, als sie mit Alexi zum Haus zurückkehrte. „Tut mir leid“, fügte sie hinzu und schloss die Tür. „Ich hätte dich vor Tod warnen sollen. Er ist unverbesserlich.“
„Er scheint lustig zu sein.“ Alexi zuckte beim Geräusch zuschlagender Türen zusammen. „Oder auch nicht.“
„Graham hat uns einen Scheck über die Summe geschickt, die er uns schuldig ist“, sagte Cheryl und reichte Drew den Umschlag.
„Endlich!“
Der Lärm ließ allmählich nach, aber Alexi konnte erkennen, welchen Schaden die Bereiter dem Hotelbetrieb zufügten. Leute, die für eine hochwertige Unterkunft tief in die Tasche griffen, erwarteten Ruhe und Frieden, und die Anwesenheit von Fullers Personal würde sie wahrscheinlich nicht zu weiteren Buchungen anregen.
„Wie auch immer“, sagte Alexi und kehrte zu ihrem ursprünglichen Gesprächsthema zurück. „Wenn sich deine Freundin bei einer der seriöseren Dating-Plattformen angemeldet hat, würde ich sagen, dass sie sicher ist. Diese Seiten verbergen die E-Mail-Adressen ihrer Mitglieder und veröffentlichen keine persönlichen Daten.“
„Ja, aber was ist, wenn sie jemanden kennengelernt und ihm diese Dinge erzählt hat?“, fragte Cheryl. „Ich habe Natalie vor den Gefahren des Online-Dating gewarnt. Sie hat mir versprochen, aufzupassen, aber wenn sie einen Mann wirklich mag und ihm vertraut …“
„Weißt du, ob sie schon mal ein Date hatte?“, fragte Alexi.
„Anfangs haben wir uns über einige der Männer, die sie kennengelernt hatte, lustig gemacht. Im richtigen Leben sahen sie ganz anders aus als auf der Website.“ Cheryl wurde nachdenklich. „Aber in letzter Zeit war sie ziemlich schweigsam, was das betraf. Sie wirkte abgelenkt, und ich hatte gehofft, dass sie jemanden Nettes kennengelernt hatte.“
„Sie hat uns versprochen, sich nur an öffentlichen Orten mit ihren Dates zu treffen“, fügte Drew hinzu. „Bars, Restaurants und so. Für den Fall, dass sie jemanden zu sich einladen sollte, versprach sie, uns seine Daten zu geben.“
„Aber das hat sie nicht getan?“
„Nein.“ Cheryl schüttelte den Kopf. „Natalie ist eine gute Geschäftsfrau, aber im Privatleben würde ich ihr durchaus ein schlechtes Urteilsvermögen zutrauen. Ein charismatischer Typ müsste ihr nur eine gute Geschichte erzählen, und sie würde darauf hereinfallen.“
„Vielleicht ist es gar nicht so schlimm“, erwiderte Alexi, obwohl die Umstände ein ungutes Gefühl in ihr auslösten. „Zwischen einem Viertel und der Hälfte aller Beziehungen beginnen heutzutage online. Wusstet ihr das?“ Cheryl und Drew schüttelten den Kopf. „Willkommen im Cyber-Zeitalter. Online-Dating hat einen zweifelhaften Ruf …“
„Aus gutem Grund“, sagte Drew.
„Es ist wie mit allem: Kriminelle finden einen Weg, das auszunutzen, aber bei den meisten Leuten geht es gut, wenn sie vorsichtig sind.“
Die Weinflasche war nun leer. Drew öffnete schnell eine neue, während Cheryl das Essen auftischte.
„Oh Gott, ich bin verliebt!“, rief Alexi stöhnend, während sie einen Bissen von Cheryls selbst gemachter Lasagne nahm. „Ich hatte ganz vergessen, was für eine gute Köchin du bist.“
„Jetzt weißt du, warum ich sie geheiratet habe.“
Cosmo, vermutlich vom Essensgeruch angezogen, erschien im offenen Küchenfenster. Tobys klägliches Bellen von draußen brachte alle zum Lachen, und Drew stand auf, um ihn hereinzulassen.
„Meinst du, wir machen uns umsonst Sorgen um Natalie?“, fragte Cheryl.
„Welche Dating-Plattform hat sie genutzt?“
„Heart Racing“, antwortete Cheryl und kicherte über den Namen, der implizierte, dass es sich dabei um einen Treffpunkt für pferdebegeisterte Singles handelte. „Anscheinend ist Online-Dating jetzt auf gemeinsame Interessen ausgerichtet.“
Alexi grinste. „Was ist nur aus der Anziehung von Gegensätzen geworden?“
„Heutzutage haben die Leute keine Zeit mehr für richtige Beziehungen“, erwiderte Cheryl. „Wie du gerade gesagt hast, alles ist virtuell. Dating-Plattformen konzentrieren sich mittlerweile darauf, Gleichgesinnte zusammenzubringen.“
„Ich habe mich mit Heart Racing in Verbindung gesetzt“, erklärte Drew. „Ich wollte Cheryl beruhigen, aber sie weigern sich, irgendetwas über Natalies mögliche Dates zu offenbaren. Sie haben mir die ganze Geschichte über Vertraulichkeit erzählt und nicht einmal bestätigt, dass sie bei ihnen registriert ist.“ Drew blickte finster zur Wand. „Sie haben mir überhaupt nichts gesagt, nicht einmal, als ich der hochnäsigen Frau dort erzählte, wie besorgt wir um Natalie sind. Und ihnen mit einem Besuch der Polizei drohte.“
„Sie könnten verklagt werden, wenn sie Kundendaten herausgeben, nehme ich an.“
„Selbst wenn sie einen Verbrecher in ihrer Kartei haben?“, fragte Cheryl hitzig.
„Wahrscheinlich haben sie eine Ausstiegsklausel, wenn es um Kriminelle geht“, sagte Alexi in einem vergeblichen Versuch, die Stimmung aufzulockern.
Alle möglichen Fragen schwirrten durch Alexis journalistisches Gehirn, doch schwangere Frauen mit Geldsorgen brauchten keinen Stress, also ließ sie das Thema fallen. Während Drew den Geschirrspüler einräumte und die Kaffeemaschine anschaltete, ging Alexi im Geiste die Schritte durch, die sie unternehmen würde, wenn dies ein Auftrag wäre.
Natalies Handy orten, ihren E-Mail-Account hacken und prüfen, mit wem sie kommuniziert hatte. Ihr Bankkonto einsehen und sicherstellen, dass es nicht abgeräumt wurde. Ihre Social-Media-Profile überprüfen, um zu sehen, wie sie sich online darstellte. Falls sie sich bei Heart Racing unter ihrem richtigen Namen angemeldet und ein ehrliches Bild von sich hinterlegt hatte, wäre es für einen Cyberstalker ein Kinderspiel gewesen, all ihre persönlichen Daten herauszufinden, ohne Natalie aufdringliche Fragen stellen zu müssen. Noch beunruhigender war die Tatsache, dass ein Betrüger Natalie danach loswerden wollen würde, um einer Identifizierung zu entgehen. Aber eine einzige Frau hätte nicht so viel Geld, um ihn fürs ganze Leben zu versorgen, also würde er es wieder tun. Und wieder. Was bedeutete, dass er sich an reiche, bedürftige Frauen wenden würde.
An Frauen wie Natalie.
3
Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, hatte Alexis Neugier sie übermannt. Sie schaltete ihren Computer an, nur um zu sehen, was eine kurze Recherche über Natalie zutage fördern würde. Alexi hatte, was die alten Schreiberlinge als „Riecher“ für Geschichten bezeichneten, und gerade zuckte ihre Nase, als wäre Heuschnupfenzeit.
Es konnte nicht schaden, ein bisschen herumzuschnüffeln.
Die Ruhe und Stille von Lambourn – kein Verkehrslärm, keine Sirenen, keine Hektik einer Stadt auf Steroiden – erschwerte Alexi die Konzentration. Sie schaltete die Fernsehnachrichten an und drehte sie leise. Die Hintergrundgeräusche halfen ihr, sich darauf zu konzentrieren, was mit Natalie passiert sein könnte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass die Frau noch lebte.
Davon ausgehend, dass sie ins Visier eines Glücksritters geraten war, hatte der Mann Natalie wahrscheinlich an einen exotischen Ort gelockt und ihr erzählt, er wolle sie ganz für sich haben. Womöglich hatte er sie dazu überredet, sich von der Außenwelt abzuschotten. Er würde sie umsorgen, ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und sie mit dem Besten von allem verwöhnen.
Alexi wusste, dass solche Männer immer charismatisch waren. Sie wählten ihre Opfer sorgfältig aus und setzten auf ihr eigenes Aussehen und ihren Charme, um ihr Ziel zu erreichen. Dabei nutzten sie das verzweifelte Bedürfnis der Frau nach einem Mann, der es ernst meinte, aus. Nachdem er Natalies Vertrauen gewonnen hatte, wäre es für einen computerversierten Mann vergleichsweise einfach, auf ihr Online-Banking zuzugreifen. Alexi fiel wieder ein, dass sämtliche elektronischen Geräte Natalies fehlten. Sofern der Betrüger Natalie hinterher nicht aus dem Weg geräumt hatte, würde sie wahrscheinlich den Schlag einstecken; zu beschämt, um Anzeige zu erstatten.
„Okay, Cosmo, wo fangen wir an?“
Cosmo beendete seine Reinigung und rollte sich dann in der Mitte des Bettes zusammen. Er warf Alexi einen herablassenden Blick zu, bevor er die Augen schloss.
„Du bist eine große Hilfe“, tadelte sie ihn.
Alexi checkte schnell ihre E-Mails. Da war ein langes Schreiben von Patrick, das sie nicht lesen wollte.
Sie las es doch.
Es tue ihm leid, und er könne alles erklären. Wo war sie? Er liebe sie und wollte sie nur beschützen. Außerdem habe er ein Jobangebot für sie; bei einer Firma, die ihren Sitz in ihrer Straße hatte, und das finanziell lukrativer wäre als die Arbeit beim Sentinel.
„Ja, klar“, murmelte Alexi und löschte die E-Mail mit lediglich einem leichten Anflug von Bedauern über das, was sie einmal gehabt hatten.
Cheryl wusste nicht, welches Bild Natalie von sich auf der Heart Racing-Website verwendet hatte. Alexi konnte auch nicht darauf zugreifen, es sei denn, sie hackte sich in die Website ein oder registrierte sich. Letzteres hatte sie nicht vor. Ersteres war durchaus möglich.
Natalies Firmen-Website war benutzerfreundlich und professionell aufgebaut. Sie zeigte das ansprechende Bild einer attraktiven Frau Anfang vierzig mit blondem, gepflegtem Bob und einem offenen, freundlichen Lächeln. Es gab ein Kontaktformular, um weitere Informationen zu Natalies Dienstleistungen anzufragen. Für jemanden, der sich mit Computern auskannte, wäre es ein Kinderspiel, die IP-Adresse herauszufinden. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie auf Natalies Unternehmen und damit auf ihre Privatadresse registriert war.
„Ach, Natalie“, murmelte Alexi kopfschüttelnd.
Natalie war auf Facebook, Twitter, LinkedIn und einem halben Dutzend weiterer Plattformen aktiv. Ihre offenherzigen Facebook-Posts verrieten genug über ihren Tagesablauf, um einem Stalker eine gute Vorstellung von ihren Interessen zu geben. Natalie mochte Pferde, was angesichts ihres Wohnortes nicht überraschend war. Sie dachte darüber nach, sich an einem Rennpferd zu beteiligen, was Alexi, die hörbar aufstöhnte, neu war. Außerdem hatte sie eine Leidenschaft für Wandern, Blumen und Fotografie. Ein potenzielles Date könnte problemlos ähnliche Interessen vortäuschen.
Als Alexi ihren ersten Ausflug in Natalie Parkers Leben beendet hatte, machte sie sich genauso viele Sorgen um sie wie Cheryl. Ihre Augen begannen zu ermatten, was Alexi überraschte, da sie normalerweise erst nach der Geisterstunde zur Höchstform auflief. Sie vermutete, dass die Überdosis an sauberer Landluft ihre Lungen, die an ungesunde Mengen Kohlenmonoxid und Passivrauchen gewöhnt waren, durcheinandergebracht hatte. Dann waren da noch die körperlichen und emotionalen Erschütterungen sowie das üppige Essen und der Wein.
„Sehen wir es ein, Cosmo“, sagte sie mit einem ironischen Lächeln. „Ich vertrage Alkohol nicht mehr so gut wie früher.“
Sie wusch sich schnell, schlüpfte in ein Tanktop und Boxershorts und kroch zwischen die frischen Baumwolllaken. Cosmo schlich zu den Kissen hoch und schmiegte sich um ihren Kopf, ein bisschen wie eine pelzige Nachtmütze. Er schnurrte wie ein Trecker.
„Sei still, Baby“, murmelte Alexi und schlief fast augenblicklich ein.
***
Alexi wurde zu einer unchristlichen Zeit geweckt: vermutlich die Bereiter auf dem Weg zur Arbeit. Sie fühlte sich bemerkenswert ausgeruht, schlug die Decke zurück und streckte sich ausgiebig. Nach einer schnellen Dusche zog sie ihre alten Lieblingsjeans und ein Sweatshirt an. Cosmo rührte sich erst, als sie ihre Schuhe anzog. Das klägliche Gejammer vor ihrer Tür deutete darauf hin, dass Toby sich nach seinem neuen Kumpel sehnte.
„Na dann komm“, sagte sie zu Cosmo. „Ich glaube, ich rieche gebratenen Speck.“
Toby sprang herein, als Alexi ihm die Tür öffnete, wedelte mit dem Schwanz und sprang vor lauter Freude über Cosmo hinweg. Cosmo gab Toby einen sanften Kopfstoß, und die beiden gingen zusammen die Treppe hinunter.
„Morgen“, sagte Drew und drehte sich vom Herd um, wo er den Speck briet, dessen Duft Alexi in die Küche gelockt hatte. „Hast du gut geschlafen?“
„Wie ein Murmeltier. So tief schlafe ich in London nie.“
Drew rümpfte die Nase. „Zu viel los in der großen, bösen Stadt.“
„Eigentlich ist es hier so ruhig, dass ich dachte, ich kriege kein Auge zu.“
„Setz dich. Gleich gibt’s Frühstück.“
Alexi öffnete den Schrank, in dem sie Cosmos Essen verstaut hatte, und holte ein Päckchen heraus. Er schmiegte sich an ihre Beine, während sie seine Schüssel auf den Boden stellte.
„Wo ist Cheryl?“
„Steht gerade auf. Ich musste sie fast festbinden, damit sie schläft …“
Alexi wehrte ihn mit erhobenen Händen ab. „Zu viele Informationen.“
Drew lachte. „Sie ist endlich vernünftiger geworden. Hast du dir Gedanken über Natalie gemacht? Mir wäre es lieber, wenn du es mir zuerst erzählst, besonders wenn es keine guten Neuigkeiten sind.“
Alexi klärte ihn über ihre Online-Recherche auf. „Das war nur eine kurze Suche, und ich weiß schon eine Menge über ihr Leben.“ Sie runzelte die Stirn. „Deshalb ist dieses sogenannte Social-Media-Zeitalter so gefährlich. Warum hatte sie das Bedürfnis, der ganzen Welt zu erzählen, dass sie in eine Beteiligung an einem Rennpferd investieren möchte? Das ist teuer und lockt alle möglichen zwielichtigen Gestalten.“
Drew legte den Pfannenwender beiseite und widmete Alexi seine volle Aufmerksamkeit. „Glaubst du, Natalie wurde manipuliert?“
„Möglich, aber ziehen wir keine voreiligen Schlüsse. Ich hätte nichts dagegen, später mal bei ihr zu Hause vorbeizuschauen, um ein besseres Gefühl für sie zu bekommen. Dann entscheiden wir, wie es weitergeht.“
„Wohin können wir gehen? Ich meine, die Polizei interessiert sich nicht groß dafür, bei der Dating-Plattform werden sie uns wohl nichts sagen, und …“
„Ich könnte einen Blick auf ihre E-Mails werfen. Nachsehen, mit wem sie kommuniziert hat.“
„Kannst du das?“
„Das gehört dazu.“ Alexi lachte über Drews entsetzten Gesichtsausdruck. „Ich habe mal einen Artikel über Computersicherheit geschrieben. Ein Meisterhacker hat mir die Grundlagen seiner Arbeitsweise beigebracht, um zu zeigen, wie einfach es im Grunde ist. Aber greifen wir nicht vor. Was auch immer du jetzt denkst, ich mache es mir nicht zur Gewohnheit, online in die Privatsphäre anderer einzudringen, nur weil ich es kann. Es ist ein letzter Ausweg.“ Na ja, normalerweise.
„Tut mir leid, aber wir können nicht mitkommen.“ Drew stellte Alexis Frühstück vor sie hin, und sie machte sich darüber her. „Wir haben diesen Sonntag ein Mittagessen für zwanzig Personen und müssen hierbleiben, um mit unseren Kunden zu sprechen. Das wäre eigentlich nicht nötig, aber ich glaube, sie sind wie erstarrt vor Ehrfurcht und bestehen darauf, Marcel kennenzulernen.“
„Marcel?“
„Unseren Koch. Ich hoffe, dass er sich benimmt. Es ist unmöglich, das vorherzusagen. Er ist ein bisschen wie dein Kater. Wenn er jemanden nicht mag, kann er unglaublich unhöflich sein.“
„Ah, so einer.“ Alexi verdrehte die Augen. „Danke. Das Frühstück war großartig, wie du siehst.“ Sie nickte in Richtung ihres leeren Tellers. „Dann gehe ich mal. Gib mir die Adresse und Natalies Schlüssel, dann finde ich es schon.“
***
Der Garten des Sundial Cottage erzählte seine eigene Geschichte. Er strotzte vor Blumen, die nach Farben geordnet waren. Dessen Besitzer hatte offensichtlich einen grünen Daumen und ein Talent dafür, Blumen zum Blühen zu bringen. Jack erkannte alle üblichen Verdächtigen dieser Jahreszeit – Narzissen, Tulpen, Primeln –, aber das war auch schon alles. Buntes Kraut wucherte über eine Mauer, und im Beet darunter wuchs ein großer weißer Fleck. Eine alte Sonnenuhr stand mitten auf einem gepflegten Rasen. Die Vorhänge waren halb zugezogen, und schon bevor er klopfte, wusste er, dass niemand zu Hause sein würde.
Zeit für eine gründliche Schnüffelei.
Er spähte durch das Wohnzimmerfenster und sah nichts, was sein Interesse geweckt hätte. Keine Anzeichen eines Handgemenges oder eines hastigen Aufbruchs. Alles war ordentlich aufgeräumt. Er musste sich im Haus genauer umsehen. Seufzend ging er am Cottage vorbei und suchte nach einem unauffälligeren Zugang. Das Haus lag in einer ruhigen Straße mit wenig Durchgangsverkehr und ohne unmittelbare Nachbarn, aber trotzdem war Vorsicht geboten.
Neben dem Cottage parkte ein neuer, marineblauer MINI Cooper mit einem grellpinken Dach, der von der Straße aus nicht zu sehen gewesen war. In Gedanken versunken, übersah er beinahe den riesigen schwarzen Knäuel, der wie eine Rakete aus den Ästen eines Baumes schoss.
„Hey!“
Instinktiv hob er die Arme, um sein Gesicht zu schützen. Das Geschoss landete vor seinen Füßen und fauchte, als wäre es ihm böse. Es war ein Kater. Der größte, eleganteste und wütendste Kater, den er je gesehen hatte. Er hatte sich offensichtlich im Baum versteckt und schien nun abzuwägen, ob er Jack angreifen sollte.
„Hey, Mieze.“ Er streckte eine Hand aus, und der Kater schnüffelte an seinen Fingern. Er fragte sich, woher ein so seltsam aussehendes Wesen gekommen war.
Anstatt Jack anzugreifen, rieb der Kater schließlich seinen großen Kopf an seiner Jeans.
„Gut, dass wir das geklärt haben“, sagte Jack und griff nach unten, um die Ohren des Katers zu kraulen. „Wem gehörst du, Großer?“
„Wer zum Teufel sind Sie?“
Eine Frau mit einem Gartenrechen in der Hand kam um die Hausecke. An ihrem feindseligen Blick erkannte er, dass sie gleich dort weitermachen würde, wo ihr Kater aufgehört hatte.
„Ms Parker?“, fragte er, ungemein erleichtert, dass Natalie Parker zu Hause war, gesund und munter, wenngleich sie etwas aufgebracht wirkte, weil ihre Privatsphäre verletzt worden war.
„Ich habe zuerst gefragt.“
„Jack Maddox.“ Er griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte heraus. Sie streckte die Hand aus und nahm sie ihm mit einer Hand ab, hielt den Rechen aber mit der anderen fest umklammert.
„Privatdetektiv.“
„Detektiv? Was suchen Sie?“
„Wir haben einen Bericht erhalten, dass Sie möglicherweise Schwierigkeiten mit einem Mann haben, mit dem Sie sich getroffen haben.“
„Wer hat das gemeldet?“
„Hey, kein Grund, so defensiv zu sein.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Ich bin auf Ihrer Seite.“
Sie sah ihn mit offenem Misstrauen an, und Jack begriff, dass er wahrscheinlich die falschen Schlüsse gezogen hatte. Das Bild von Natalie Parker, das man ihm gegeben hatte, zeigte eine gut zehn Jahre ältere Frau mit blondem Bob und sanftgrauen Augen. Diese Frau hier war größer, mindestens 1,73 Meter, ohne ein Gramm überschüssiges Fett. Sie hatte schlanke Beine, die in engen Jeans gut aussahen. Über ihre Schultern fiel ein Wasserfall aus brünettem Haar. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine kecke kleine Nase, einen breiten, vollen Mund und große, fesselnde, silbergrüne Augen. Augen, die nun misstrauisch auf ihn gerichtet waren, während er sie musterte. Sie kam ihm bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gesehen, wusste aber nicht, wo.
„Sie sind nicht Natalie Parker, oder?“
Ohne zu antworten, zog die Frau ein iPhone aus ihrer Tasche, lehnte den Rechen an die Wand, wo er in Reichweite war, und begann zu tippen. Jack vermutete, dass sie ihn überprüfte. Kluge Dame.
„Fenton-Maddox Investigations in Newbury“, sagte sie, als spräche sie zu sich selbst.
„Das bin ich.“
„Ich weiß. Ich schaue mir gerade Ihre Website an.“ Sie blickte zu ihm auf, dann wieder auf ihr Handy. „Sie sehen aus wie auf diesem Bild, nur mit etwas längeren Haaren.“
Er zuckte die Schultern, weil er nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Anscheinend war sein Schweigen genau richtig, denn sie schien einzusehen, dass er kein Axtmörder war, und reichte ihm ihre Hand.
„Alexi Ellis“, sagte sie. „Natalies Freunde machen sich Sorgen um sie. Sie haben mich geschickt, um ihr Haus zu überprüfen.“
„Sie sind die Journalistin“, sagte Jack langsam. „Daher kenne ich Sie. Ich habe Ihr Bild oft über Ihrem Namen gesehen.“
„Stimmt.“ Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, schloss aber ihren Mund wieder.
„Ich nehme an, Sie haben einen Schlüssel zum Cottage.“
Sie nickte. „Für wen arbeiten Sie?“
Alexi Ellis könnte in diesem Fall der Durchbruch sein, auf den Jack gehofft hatte. Sie war Journalistin, wahrscheinlich einer heißen Story auf der Spur, und er war sich nicht sicher, ob er ihr vertrauen konnte. Aber wenn er ihr nichts über sich erzählte, würde er vermutlich auch nichts von ihr erfahren.
„Für die Dating-Plattform Heart Racing.“
Ihre Miene hellte sich auf. „Ah, die nehmen das also ernst. Gab es noch mehr Probleme?“
Jack schüttelte den Kopf. „Das wissen Sie doch besser.“
Sie lächelte verständnislos. „Einen Versuch war es wert.“
„Was haben Sie da drin gefunden?“
„Rein gar nichts“, erwiderte sie achselzuckend. „Aber da ich nicht davon ausgehe, dass Sie mir glauben, kommen Sie doch einfach rein und überzeugen sich selbst.“
Jack folgte ihr in ein hübsches Häuschen. Der modrige Geruch im Inneren deutete darauf hin, dass es schon länger verschlossen war. Es gab ein kleines Wohnzimmer, eine Wohnküche und zwei Schlafzimmer im Obergeschoss. An den Wänden waren Bücher, die hauptsächlich von Blumen, Fotografie und Pferden handelten, in Regalen aufgereiht. Nichts wirkte fehl am Platz.
„Es fehlen nur ihr Laptop und ihr Handy. Ich nehme an, sie hatte ein iPad, aber das kann ich auch nicht finden.“
„Wann haben Ihre Freunde sie das letzte Mal gesehen?“
„Vor vier Tagen. Mit wem hat sie sich getroffen? Kommen Sie schon, Jack“, drängte sie ihn, als er zögerte.
„Schauen wir uns erst den Rest des Hauses an“, erwiderte Jack, um Zeit zu gewinnen. „Was ist das für ein Gebäude da hinten?“
„Ich wollte gerade nachsehen, als Cosmo Sie aufgespürt hat.“
„Cosmo?“ Jack zog eine Augenbraue hoch. „Süßer Name.“
Diesmal war Alexis Lächeln ungekünstelt. „Ich habe schon viele Adjektive gehört, die Cosmo beschreiben, aber süß ist definitiv eine Premiere.“
„Er mag mich“, erwiderte Jack und beugte sich vor, um ihm noch einmal die Ohren zu kraulen, nur um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. „Nehmen Sie ihn immer zu Ihren Ermittlungen mit?“
Alexi grinste. „Seien wir mal ehrlich, er ist unglaublich effizient. Er hat Ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt.“
„Fliegende Katzen mit viel Temperament sind mir neu, und ich dachte, ich hätte schon alles gesehen.“
„Sie sind nicht der Erste, der das erwähnt“, sagte sie, als Cosmo zwischen ihnen zum Nebengebäude trottete.
Er gluckste. „Das glaube ich Ihnen sofort.“
Alexi probierte die Schlüssel durch und fand einen, der ins Schloss passte.
„Das muss Natalies Arbeitsplatz sein“, sagte sie, als sie eintraten. Vor ihnen erstreckte sich eine lange Arbeitsfläche mit Vasen, Bändern, Drähten und anderem Kram, den Jack nicht zuordnen konnte. Alles war ordentlich unter einem großen Fenster angeordnet. In einer Ecke stand ein Schreibtisch mit einem Telefon, dessen Nachrichtenleuchte blinkte. Alexi bemerkte es vor Jack und drückte die Wiedergabetaste.
Die erste Nachricht stammte von jemandem namens Cheryl.
„Ihre Freundin?“, fragte Jack.
Alexi nickte. Auch die zweite Nachricht kam von Cheryl, gefolgt von mehreren geschäftlichen Anfragen, bevor Cheryls Stimme erneut erklang, diesmal besorgter. Dann ertönte eine panische Stimme.
„Ms Parker, ich habe Sie heute Morgen mit dem Kranz für die Beerdigung meines Mannes erwartet. Wie konnten Sie mich in einer solchen Situation im Stich lassen? Ich bin sehr enttäuscht.“
Jack und Alexi tauschten einen Blick.
„Nach allem, was Cheryl mir erzählt hat, würde Natalie nicht einfach so einen Auftrag platzen lassen“, sagte Alexi. „Ich dachte eigentlich nicht, dass ihr etwas passiert ist, aber jetzt sehe ich die Sache anders.“ Sie musterte Jack mit einem finsteren Blick. „Ihre Kunden müssen das auch denken. Sonst hätten sie nicht Sie eingeschaltet.“
„Rufen wir die Dame zurück und hören uns an, was sie zu sagen hat“, antwortete Jack. „Dann reden wir darüber.“
4
Alexi hinterließ eine Nachricht für Mrs Dixon, Natalies verärgerte Klientin, und wandte sich dann Jack zu. Sie fragte sich, ob er schon eine Idee hatte, was sie als Nächstes tun sollten. Er stand näher bei ihr, als sie gedacht hatte, und beobachtete sie. Was zum Teufel? Glaubte er etwa, Mrs Dixon könnte etwas über Natalies Aufenthaltsort wissen und dass Alexi diese Information nicht preisgeben würde? Sie hasste dieses Alphamännchen-Gehabe, das sie in ihrer Branche ständig erlebte. Am liebsten hätte sie Jack gesagt, dass sie in der immer noch überwiegend männlichen Domäne des Journalismus keine fünf Minuten überlebt hätte, wenn sie die großen Jungs nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen könnte.
Sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte, dass sie Jack begegnet war, und noch weniger, ob sie ihm vertrauen konnte. Allein zu arbeiten und ihre Quellen zu schützen, war für Alexi selbstverständlich, aber sie erinnerte sich daran, dass sie dieses Mal keine Angst haben musste, entdeckt zu werden. Die Sache war viel ernster. Natalies Leben könnte auf dem Spiel stehen.
Alexi war froh, dass diese Dating-Plattform die Sache ernst nahm. Zwei Köpfe waren besser als einer, besonders wenn Jack Zugriff auf die Datenbank der Plattform hatte. Alexi spürte, dass er ihr nicht ganz vertraute. Er würde sich mit ziemlicher Sicherheit auf Datenschutzbestimmungen berufen und versuchen, sie im Dunkeln zu lassen, wenn es für seinen Auftraggeber schlecht aussah. Viel Glück damit, Kumpel.
Jack Maddox war mindestens 1,88 Meter groß und viel zu attraktiv, und Alexi nahm an, dass er das wissen musste. Sie hatte Männern abgeschworen, aber sie war nicht blind. Sein markantes Profil konnte sie genauso schätzen wie jede andere Frau, ohne dass sein gutes Aussehen ihr Urteil beeinflusste.
Dachte sie.
Er hatte dichte, dunkle Locken, die über intelligente, schokoladenbraune Augen fielen, ein markantes Kinn mit Bartstoppeln, eine hohe Stirn und Gesichtszüge, die eigentlich nicht so symmetrisch sein sollten. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, schien Cosmo ihn zu mögen. Alexi wollte verdammt sein, wenn ihr Kater nicht Gefahr lief, ein geselliges Wesen zu entwickeln. Diese Veränderung führte sie auf die frische Landluft zurück, die sowohl Cosmos als auch ihren eigenen Stoffwechsel durcheinanderbrachte. Sie würden beide wieder normal werden, sobald sie zurück in London waren.
Falls sie überhaupt zurückkehrten.
Wow, seit wann bestand daran Zweifel? Alexi hatte sich bislang nicht viele Gedanken über ihre Zukunft gemacht, sondern angenommen, sie würde wieder im Londoner Journalismus landen, wo die Musik spielte. Warum hast du dann deine Wohnung vermietet?
„Lassen Sie uns von hier verschwinden“, sagte sie knapp. „Sie müssen mir einiges erklären.“
„Kennen Sie das Café Lambourn in der High Street?“
„Ich werde es finden.“
„Okay, wir sehen uns gleich.“
Alexi sah ihm nach, als er in einen mehrere Jahre alten BMW stieg und davonfuhr. Sie und Cosmo schlossen das Haus sorgfältig ab und ließen sich Zeit, in den MINI einzusteigen, während Alexi über die neuesten Entwicklungen nachdachte. Ein Teil von ihr wollte sofort zur Polizei gehen und sie auffordern, etwas zu unternehmen. Aber sie musste erst herausfinden, was Jack wusste und warum Heart Racing ihn auf den Fall angesetzt hatte. Außerdem war sie Jack einen Schritt voraus. Bevor er aufgetaucht war, hatte sie Natalies Sachen durchsucht und unter einem Stapel Pullover in ihrem begehbaren Kleiderschrank Kontoauszüge von zwei Bankkonten gefunden. Hatte Natalie sie versehentlich oder absichtlich dort verstaut? Ein Teil der Auszüge betraf Natalies Privatkonto, der andere war geschäftlich. Beide Konten verfügten über ein hohes Guthaben, zumindest zu dem Zeitpunkt, als Natalie das letzte Mal Papierauszüge erhalten hatte. Die waren ziemlich alt, also war sie wahrscheinlich auf Online-Banking umgestiegen. Immerhin wusste Alexi jetzt, bei welcher Bank Natalie war.
In den Schubladen eines kleinen Schreibtisches im Wohnzimmer war Alexi auf Ordner mit Kassenzetteln und dem üblichen Kram gestoßen, fand aber nichts, was ihr mehr über Natalies Finanzen verriet. Seltsam, dachte Alexi. Noch seltsamer war es, dass sie in der kurzen Zeit, die ihr bis zu Jacks Eintreffen zum Suchen geblieben war, nichts Persönliches gefunden hatte. Keine Geburtsurkunde, kein Scheidungsprotokoll, keine alten Briefe, keine Fotos … nichts, nada, null. Die Dame schleppte keinerlei emotionalen Ballast mit sich herum.
Alexi fuhr langsam nach Lambourn zurück und kam zu dem Schluss, dass Jack kein besonders guter Privatdetektiv wäre, hätte er nicht daran gedacht, im Cottage nach Natalies Bankunterlagen zu suchen. Es sei denn, er wollte ihr etwas vorenthalten und plante, später allein zurückzukehren.
„Das werden wir sehen, Cosmo.“ Sie nahm eine Hand vom Lenkrad und streichelte ihrem Kater den Kopf. „Häng dich nicht zu sehr an deinen neuen Kumpel. Er mag hübsch sein, aber er wird vielleicht nicht lange bei uns bleiben. Zuerst müssen wir nett sein und herausfinden, auf wessen Seite er steht.“ Cosmo legte den Kopf schief und musterte sie skeptisch. „Ja, das dachte ich auch.“
Das Café war leicht zu finden. Alexi parkte ihr Auto neben Jacks Wagen. Sie kurbelte ein Fenster herunter und forderte Cosmo auf, an Ort und Stelle zu bleiben. Er blinzelte zu ihr auf und schlief weiter.
Jack stand direkt hinter der Cafétür und wartete auf Alexi.
„Was möchten Sie?“, fragte er.
„Einen Skinny Latte, bitte, und … Äh, sind die Blaubeermuffins frisch?“
„Heute Morgen selbst gemacht“, sagte eine mütterliche Dame hinter der Theke.
„Dann ja, bitte.“
Jack lachte überlegen und bestellte nur einen schwarzen Kaffee. Männer! Alexi weigerte sich, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie sich so kurz nach dem großen warmen Frühstück einen Muffin gönnte. Sie war im Urlaub. Irgendwie.
„Okay, Maddox, reden Sie“, sagte sie, nachdem sie sich an einem ruhigen Ecktisch niedergelassen hatten. „Wie lange arbeiten Sie schon an diesem Fall, und was haben Sie herausgefunden?“
„Damit Sie es in Ihre Zeitung schreiben können?“ Er schüttelte gereizt den Kopf. „Ich glaube nicht.“
„Das hat nichts mit meiner Arbeit zu tun. Ich mache das nur, um meinen Freunden einen Gefallen zu tun.“
„Leute in Ihrer Branche können nicht abschalten.“
Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu. „Sie haben keine besonders hohe Meinung von mir.“
„Nicht von Ihnen persönlich, sondern von Ihrem Berufsstand. Nehmen Sie es nicht persönlich.“
Alexi ließ ihren Ärger an ihrem Latte aus und rührte heftig darin herum, obwohl sie keinen Zucker hinzugefügt hatte. Sie hatte den Appetit verloren und stocherte geistesabwesend mit ihren Fingern in ihrem Muffin herum.
„Nichts für ungut“, sagte sie in süßlich-sarkastischem Ton. „Was haben wir Journalisten Ihnen getan, dass Sie so schlecht von uns denken?“
Er schwieg so lange, dass sie nicht mehr mit einer Antwort rechnete. Alexi warf ihm verstohlene Blicke zu, um den wahren Menschen hinter seinem attraktiven Äußeren zu ergründen. Sie war stolz auf ihre gute Menschenkenntnis und vermutete, dass dieser Kerl mehr zu bieten hatte als seine äußeren Vorzüge.
„Ich schätze, Sie werden mich bei der ersten Gelegenheit gründlich unter die Lupe nehmen“, sagte er und durchbrach damit das unangenehme Schweigen, das zwischen ihnen entstanden war.
Alexi nickte. „Verlassen Sie sich darauf.“
„Dann werden Sie es früh genug erfahren, also können Sie es genauso gut von mir hören.“ Mit geistesabwesendem Gesichtsausdruck hielt er inne. Was auch immer er sagen wollte; sie spürte, dass es ihm nicht leichtfiel. „Ich war bis vor ein paar Jahren Detective bei der Met. Die Presse hat eine Hexenjagd veranstaltet, als ein Drogendealer, den wir verhaftet hatten, Polizeigewalt beklagte.“ Er seufzte. „Man sollte meinen, dieses Gejammere wäre inzwischen altbacken, aber ich schätze, es war ein Tag ohne Nachrichten. Jedenfalls war ich das Bauernopfer.“
„Ich glaube, ich erinnere mich daran. Die Boulevardpresse machte eine große Sache daraus, weil der Junge einen kämpferischen Anwalt hatte, der sich für ihn starkmachte.“ Sie neigte den Kopf, während sie ihn weiter beobachtete, und senkte die Stimme. „Wenn es Sie tröstet: Diejenigen von uns, die objektiv berichten, anstatt auf Populismus und Sensationslust zu setzen, dachten, Sie hätten ein schlechtes Geschäft gemacht.“
„Na ja, ich wurde ermutigt, zu gehen, bevor man mich feuern konnte. Nicht dass es viel Ermutigung gebraucht hätte. Ich hatte genug. All diese Vorschriften, die unmöglich zu erreichenden Ziele, der endlose Papierkram und der ganze andere Mist, der uns an unserer eigentlichen Arbeit hindert: die Straßen für den Durchschnittsbürger sicher zu halten.“ Er hob die Schultern, und diese beiläufige Geste stand im Widerspruch zu seinem angespannten Gesichtsausdruck. „Ich verstehe nicht, warum heutzutage überhaupt noch jemand Polizist werden will, wenn die Chancen so stark zugunsten der bösen Jungs stehen.“
„Wie sind Sie dazu gekommen, Privatdetektiv zu werden?“
Alexi nahm einen Bissen von ihrem sündhaft leckeren Muffin und schloss die Augen. Sie stöhnte auf, als sie den Zuckerschub in sich aufnahm. Als sie ihre Augen wieder öffnete, beobachtete Jack sie aufmerksam. Alexi schüttelte den Kopf, entschlossen, sich nicht zu ihm hingezogen zu fühlen. Sie war sich nicht sicher, welcher Art sein Interesse an Natalie war.
„Schien eine logische Richtung zu sein. Ich hatte einen Kumpel …“
„Mr Fenton?“
„Ihnen entgeht auch nichts.“ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Es kostete sie einige Anstrengung, nicht darauf zu reagieren. „Eigentlich ist es Ms Fenton. Cassie Fenton.“
„Ihre bessere Hälfte?“
Jack gluckste. „Nicht ganz.“ Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und brachte sein Gesicht näher an ihres. „Jetzt sind Sie dran. Was macht eine Spitzenjournalistin hier?“
Alexi öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ihn das überhaupt nichts anging. Fünf Minuten später wusste er alles. Wie sie von dem Unternehmen, das sie seit ihrem Universitätsabschluss beschäftigte, über den Tisch gezogen worden war. Wie sie sich die Karriereleiter hochgekämpft und doppelt so hart wie ihre männlichen Kollegen gearbeitet hatte, sich unter Aufopferung ihres Privatlebens bewiesen hatte, nur um letztlich fallen gelassen zu werden. Er war ein guter Zuhörer und unterbrach sie nicht.
„Ich verstehe nicht, warum ich Ihnen das alles erzählt habe“, sagte sie verlegen und starrte auf ihre Hände.
„Die Leute erzählen mir ständig was.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Klingt, als wären wir beide zu groß für die Organisationen geworden, aus denen wir hervorgegangen sind. Was werden Sie jetzt tun?“
Alexi zuckte die Schultern. „Ich bleib noch eine Weile hier und leck meine Wunden. Tu mir selbst leid.“
„Und versuchen, Natalie Parker zu finden?“
„Ich kann wohl nicht anders.“ Sie trank einen Schluck von ihrem schnell abkühlenden Kaffee. „Warum hat Heart Racing Sie engagiert?“
„Sie bekamen Besuch von der örtlichen Polizei und sorgten sich um ihren guten Ruf …“
„Die Polizei unternimmt also wirklich etwas wegen Drews Vermisstenmeldung. Meine Freundin wird erleichtert sein.“
„Das bezweifle ich. Es ist nur Formsache, weil sie sich absichern wollen.“
„Na ja, Sie müssen es ja wissen.“ Alexi blickte ihn finster an, denn das, was er gerade gesagt hatte, ärgerte sie wirklich, auch wenn es sie nicht überraschte. „Vermutlich hat die Polizei von der Dating-Plattform nichts erfahren, was ihnen verdächtig vorkam.“
„Nein.“
„Aber die Dating-Plattform hat Ihre Detektei eingeschaltet, also müssen sie sich Sorgen machen.“ Alexi hielt inne, um darüber nachzudenken. „Ich nehme an, nicht nur die Polizei sichert sich ab. Wenn Natalie etwas passiert ist, werden sie als unkooperativ und gleichgültig in Bezug auf das Wohlergehen ihrer Klienten wahrgenommen.“ Alexi verdrehte die Augen. „Typisch. Leute mit so einer Einstellung verdienen es, von der Presse verurteilt zu werden.“
„Nicht diese Firma“, erwiderte er mit scharfer Stimme.
„Natürlich sagen Sie das. Die bezahlen Ihre unverschämten Honorare.“
„Eigentlich nicht. Ich mache das hier unentgeltlich.“
„Warum?“, fragte Alexi bissig. „Sagen Sie mir nicht, dass Sie Schwierigkeiten haben, ein Date zu finden.“
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte sie mit einem durchdringenden Blick. „Meine Schwester Katie ist die Inhaberin der Firma.“
„Oh.“ Alexi blieb der Mund offen stehen, und ihre Wangen liefen rot an. „Ich schätze, das wirft ein anderes Licht auf die Sache. Tut mir leid, wenn ich mich unpassend geäußert habe.“
„Alles in Ordnung, und ja, es ändert die Dinge.“
***
Jack verstand nicht, warum er Alexi von Katie erzählt hatte. Er traute ihr nicht über den Weg. Wie auch? Sie war Journalistin, und Journalisten hatten ihn öffentlich vorverurteilt, ohne auch nur den geringsten Beweis für ihre Hysterie vorzubringen. Nein, er vertraute ihr nicht, aber sie gefiel ihm.
Sie verband ein gemeinsames Ziel: Sie hatten beide ihre Gründe, Natalie zu finden. Wenn Alexi hinterher zur Zeitung ginge, würde er dafür sorgen, dass die Firma seiner Schwester mit intaktem Ruf dastünde. Das war er Katie schuldig, und noch viel mehr.
„Verdächtigt Ihre Schwester einen der Männer, mit denen Natalie ausgegangen ist?“ Alexi beugte sich nach vorne und beobachtete ihn aufmerksam.
„Nein.“
„Vermutlich haben Sie eine Liste der Männer, mit denen sie über das Internet kommunizierte oder ausgegangen war. Sie müssen doch Nachforschungen angestellt haben.“
„Seien Sie nachsichtig mit mir.“ Jack rang seine Hände. „Das ist mein erster Arbeitstag. Katie hat mich gestern Abend angerufen und mir von den Vorhaltungen Ihres Freundes Drew und dem Besuch der Polizei erzählt. Ich habe zugesagt, heute vorbeizukommen und mich mal umzusehen.“
„Ah, klar.“
„Katie hat ihre Firma vor fünf Jahren aus dem Nichts aufgebaut. Sie hat alles, was sie besitzt, hineingesteckt, einschließlich der Umschuldung ihres Hauses. Jetzt hat sie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn herauskommt, dass sie unnötigerweise vertrauliche Informationen weitergegeben hat, ist sie erledigt. Wenn nicht, und einer ihrer Kunden Natalie etwas angetan hat, kann sie sich auch von ihrem Geschäft verabschieden. Sie hat zwar eine Haftpflichtversicherung, wird aber trotzdem an Glaubwürdigkeit verlieren.“ Jack verlagerte seine Position und seufzte. „Das macht ihr riesengroße Sorgen. Sie will das Richtige tun, aber …“
„Die Firma ist in Berkshire ansässig?“
„Genau. Katies Meinung nach sind die Leute heutzutage zu beschäftigt, um sich einfach so zu verabreden, also gehen sie online und lernen sich durch gemeinsame Interessen kennen. Katie wohnt hier in der Gegend. Wir sind in der Pferderennsportregion, also …“ Er rang seine Hände und vermied es, das Offensichtliche auszusprechen.
„Machen Sie sich manchmal Sorgen, dass Computer unser Leben bestimmen?“, fragte Alexi nachdenklich. „Als ich klein war, spielten wir draußen, kletterten auf Bäume, fielen von Fahrrädern und, Gott bewahre, gingen sogar zu Fuß zur Schule. Wir schnappten frische Luft, bewegten uns und tauschten uns persönlich mit Gleichaltrigen aus.“ Sie lächelte reumütig. „Ich klinge wie eine alte Schachtel, aber verstehen Sie, was ich meine?“
„Ich stimme Ihnen zu, Oma, aber die Zeiten ändern sich.“
„Nicht immer zum Besseren.“
„Wollen Sie die Welt verbessern oder sich darauf konzentrieren, Natalie zu finden?“
Alexis verletzter Gesichtsausdruck ließ ihn bedauern, so ungeduldig geklungen zu haben. Sie hatten sich ganz normal unterhalten und fast die Gesellschaft des anderen genossen, aber jetzt sträubten sich ihr die Nackenhaare.
„Entschuldigung.“
Sie warf ihm einen Blick zu. „Sie haben recht. Natalie ist alles, was zählt.“
„Also gut, wie ich schon sagte, viel beschäftigte Berufstätige wollen Gleichgesinnte mit ähnlichen Interessen kennenlernen und nicht kreuz und quer durchs Land reisen, um jemanden zu treffen. Also dachte Katie, es wäre eine gute Idee, hier eine Dating-Plattform zu eröffnen. Sie ist sich der Gefahren bewusst. Die Vereinigung der Betreiber von Online-Dating-Plattformen …“
„Die was?“
Jack kicherte und widerstand der Versuchung, den Seitenhieb auszusprechen, der ihm gerade in den Sinn kam, nämlich dass Alexi sich nicht ausreichend informiert hatte. „Sie haben einen Verhaltenskodex, den Katie befolgt. Sie tut alles, um die Interessen ihrer Kunden zu schützen. Über die Jahre hat sie sich einen guten Ruf erarbeitet. Deshalb kann sie einen Skandal wirklich nicht gebrauchen.“
„Ich verstehe, aber …“
„Betrachten Sie es mal aus der Sicht der Kunden.“ Jack unterbrach Alexis Einwand. „Sie sind ein ganz normaler Typ, dem es vielleicht peinlich ist, für ein Date das Internet nutzen zu müssen. Aber dann treffen Sie nette, normale Leute, gewöhnen sich an den Gedanken, und plötzlich werden Sie von Leuten wie uns bedrängt, die Ihnen Dinge vorwerfen, die Sie wahrscheinlich nicht getan haben. Wenn ihre Kunden sie verklagen, verliert Katie alles, wofür sie gearbeitet hat.“
„Die Kunden würden nicht erfahren, dass wir sie beobachten, es sei denn, wir stoßen auf etwas, das unseren Verdacht erregt. Auf diese Weise können wir das Internet für uns arbeiten lassen.“
„Katie weiß das. Deshalb hat sie mich angerufen. Sie ist besorgt, weil sie Natalie nicht erreichen konnte. Natalie hatte ein Date vereinbart, und der Typ hat Katie kontaktiert und sich beschwert, dass Natalie nicht aufgetaucht sei.“
„Wann war das Date?“
„Gestern Mittag.“
„Sie stehen Ihrer Schwester sehr nahe, nicht wahr?“, fragte Alexi nach einer kurzen Pause.
„Sie hat mich vor der Selbstzerstörung bewahrt, als ich die Polizei verließ. Das hat mich meine Ehe und meine Selbstachtung gekostet. Ich habe für eine Weile aufgegeben und die Welt durch ein Schnapsglas betrachtet. Katie kam und verpasste mir einen wohlverdienten Tritt in den Hintern. Jedenfalls habe ich von Cassie gehört, dass sie ihr Geschäft ausbauen wollte und einen Teilhaber brauchte. Das war vor einem Jahr.“
„Ich kann das nachvollziehen, denn ich stecke auch gerade in der ‚Was soll’s?‘-Phase.“
„Lassen Sie sich von den Mistkerlen nicht unterkriegen.“ Er grinste sie an. „Nun, das sage ich jetzt, nachdem ich aus einer tiefen Depression als Sieger hervorgegangen bin.“
„Haben Sie Kinder?“
„Wie bitte?“
„Sie sagten, Sie waren verheiratet. Ich habe mich gefragt, ob Sie Vater sind.“
„Meine Ehe hat die Zeit nicht überstanden, also nein, keine Kinder.“ Er starrte in die Ferne und staunte über ihre Fähigkeit, ihm private Informationen zu entlocken. „Grace und ich haben nie wirklich zusammengepasst. Sie wollte nicht die Frau eines Polizisten sein, und ich wusste schon vor unserer Hochzeit, dass sie mit meiner Berufswahl nicht glücklich war. Das hätte mir eigentlich alles sagen sollen. Wie auch immer, wir sind jetzt gute Freunde. Sie hat einen neuen Mann, und ich wünsche ihr alles Gute.“
„Ich bin nicht die Richtige, um über Beziehungen zu sprechen. Fragen Sie lieber Cosmo.“
Er lächelte sie an. Vermutlich dachte sie an den Typen von der Zeitung, dessen Namen sie schon mehrmals erwähnt hatte. Jack spürte ihren Wunsch, das Thema zu wechseln, was ihm nur recht war. Das Ganze wurde viel zu persönlich.
„Erzählen Sie mir, was Sie über Natalie wissen“, bat er sie.
„Das meiste habe ich gestern Abend online herausgefunden. Den Rest weiß ich von Cheryl und Drew. Natalie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau ohne enge Bindungen, die online öffentlich erklärt hat, dass sie überlegt, sich an einem Rennpferd zu beteiligen.“ Jack zuckte zusammen. „Ja, das war auch meine Reaktion. Ich habe den Eindruck, dass sie emotional bedürftig ist und unbedingt eine Beziehung will.“
„Ideales Futter für Kriminelle.“
Alexi sah ihn mit ernstem Blick an. „Wir wissen doch beide, dass ihr etwas zugestoßen ist, oder?“
Er nickte. „Es sieht so aus, aber wir müssen noch weiter recherchieren, bevor wir uns sicher sein können.“
„Über ihre Dates?“
„Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich etwas herausgefunden habe.“
„Oh nein! Wir stecken da zusammen drin, Kumpel. Sie wollen Natalie finden und das Geschäft Ihrer Schwester retten. Ich will Natalie finden und meine Freunde beruhigen.“ Sie musterte ihn mit Verärgerung. „Wie macht uns das zu Feinden? Oh, ich verstehe“, fügte sie hinzu, bevor er antworten konnte. „Glauben Sie, ich verkaufe das an die Konkurrenten des Sentinel, weil ich der nachtragende Typ bin, der seinem früheren Arbeitgeber eins auswischen will?“
„Sind Sie das?“
„Das könnte ich sowieso tun.“ Sie beugte sich nach vorn, die Arme auf dem Tisch verschränkt, und ihre Augen strahlten Entschlossenheit aus. „Ich bin über unsere Zusammenarbeit nicht glücklicher als Sie, aber ich werde versuchen, genug über Natalie herauszufinden, damit die Polizei der Sache nachgeht, mit oder ohne Ihre Hilfe. Es erscheint mir albern, dass wir beide dasselbe Feld beackern. Ich kann Ihnen versichern, dass ich keinen einzigen Absatz schreibe, bis wir Natalie gefunden haben, und vielleicht nicht einmal dann.“ Sie streckte die Hand aus. „Haben wir eine Abmachung?“
Jack gab nach. Was sie sagte, ergab Sinn. Außerdem war sie klug und würde ihm definitiv eher eine Hilfe als ein Hindernis sein. Er nahm ihre Hand fest in seine. „Abgemacht“, stimmte er zu. „Und im Sinne einer ehrlichen Partnerschaft sollten wir uns als Erstes Natalies Finanzen ansehen.“
Alexi holte die Kontoauszüge, die sie im Cottage gefunden hatte, aus ihrer Tasche und wedelte damit vor Jacks Nase herum. „Ich habe mir die genommen.“
„Wahnsinn, Sie sind gut!“
„Normalerweise würde ich Ihnen zustimmen, aber ich hatte einfach Glück.“ Sie erklärte, wo sie die Auszüge gefunden hatte und wie seltsam sie es fand, dass Natalie ihre Bankunterlagen nicht in einem Ordner abgelegt hatte.
Er zuckte die Schultern. „Seltsam, da stimme ich Ihnen zu, aber nicht ungewöhnlich.“
„Was das Gutsein angeht, habe ich meine Grenzen. Ich bin mir nicht sicher, wie man sich in Bankkonten hackt.“
„Wer hat was von Hacken gesagt?“
„Nun, ich dachte …“ Alexi rang ihre Hände. „Wie sonst können wir …?“
Jack nahm ihr die Dokumente ab. „Natalies Bank ist hier in Lambourn. Warum gehen wir nicht zum Manager und fragen, ob es auf ihren Konten ungewöhnliche Transaktionen gab?“
„Er wird uns nichts sagen.“
„Nein, aber wenn wir erklären, dass Natalie vermisst wird und eine Vermisstenmeldung aufgegeben wurde, könnte ihn das ermutigen, etwaige Unstimmigkeiten der Polizei zu melden.“
Alexi schmollte. „Sie denken wie ein Polizist. Sie sind es gewohnt, Antworten zu verlangen. Ich hingegen denke wie eine Journalistin, die daran gewöhnt ist, Türen vor der Nase zugeschlagen zu bekommen und einen Hintereingang suchen zu müssen. Genau darin liegt der Unterschied zwischen uns.“
„Oh, ich weiß nicht.“ Er ließ seinen Blick träge über ihren Körper gleiten; zumindest über den Teil, den er sehen konnte, da der Tisch sie trennte. „Mir fallen da noch ein oder zwei andere ein.“
„Denken Sie nicht so dreckig, Maddox.“
Er grinste sie verlegen an. „Tut mir leid.“
„Okay, rufen wir erst die Bank an. Dann sehen wir uns die Typen an, mit denen Natalie ausgegangen ist. Kein Hacken nötig, da Sie uns die legal besorgen können.“ Alexi nahm ihre Tasche. „Wo wohnen Sie?“
„Nirgends. Ich bin nur für einen Tag aus Newbury hergefahren. Ich hatte vor, abends zurückzukehren.“
„Nun, verstehen Sie mich nicht falsch, aber wenn wir das gemeinsam machen, wäre es vielleicht sinnvoll, wenn Sie in Lambourn bleiben.“
Er warf ihr einen langen, nachdenklichen Blick zu. „Was haben Sie vor?“
„Offensichtlich nicht das, was Sie denken.“
Er zuckte die Schultern. „Schade.“
„Cheryl und Drew haben ein Hotel mit freien Zimmern. Ich werde ein gutes Wort bei den beiden einlegen“, sagte sie grinsend. „Vielleicht kann ich sie überreden, Ihnen einen Rabatt zu geben.“
5
„Warum folgen Sie mir nicht auf dem Rückweg?“, schlug Alexi vor.
Er schenkte ihr wieder sein umwerfendes Lächeln. „Klingt nach einem Plan.“
Unglaublich, dachte Alexi, als sie in ihren MINI stieg, den Motor startete und das Gaspedal durchtrat. Warum muss er nur so ein unwiderstehliches Lächeln aufsetzen?
„Er verschwendet seine Zeit, Cosmo“, sagte sie zu ihrem Kater. „Ich bin immun gegen alle seine Spielchen.“
Sie nutzte die kurze Fahrt zurück nach Hopgood Hall, um über die getroffene Vereinbarung nachzudenken, und fragte sich, ob das wirklich eine gute Idee war. Sie könnte einfach mit ihrem Wissen zur Polizei gehen und ihre Presselizenz nutzen, damit sie Natalies Verschwinden ernster nahmen. Was wusste sie schon von Ermittlungsarbeit? Wenn sie hier unten im Tal des Rennpferdes die Nancy Drew spielte, dabei wirkte wie eine Stadtbewohnerin auf einem Ausflug, könnte sie Natalies Leben in Gefahr bringen.
Vorausgesetzt, sie lebte noch.
Angesichts solch ernüchternder Überlegungen, die Alexi durch den Kopf gingen, beruhigte sie der Gedanke, Jack Maddox auf ihrer Seite zu haben, ein wenig. Er wusste, wie man Ermittlungen durchführte. Während sie abwarteten, ob die Bank etwas unternahm, konnte Alexi so tun, als wäre sie voll und ganz auf Jacks Seite. Dann würde sie auf legalem Wege erfahren, mit wem Natalie ausgegangen war. Es verschaffte ihr auch Zeit, um einen Blick auf Natalies E-Mails zu werfen, was einen einfachen Hack erforderte. Hoffentlich konnten sie genügend Beweise sammeln, um die Polizei zu überzeugen, ihre Bemühungen zu intensivieren, und zugleich den Schaden für das Unternehmen von Jacks Schwester so gering wie möglich zu halten. Es überraschte Alexi, wie sehr sie einer Frau helfen wollte, die sie noch nie zuvor getroffen hatte.
„Stell dir das mal vor“, murmelte sie, als sie zwischen den Torpfosten von Hopgood Hall einbog.
Jack parkte, stieg aus seinem Auto und beschattete seine Augen mit der Hand, während er sich das Haus ansah. Sobald Alexi Cosmo losgelassen hatte, ging er direkt auf Jack zu und rieb seinen Kopf an seinen Beinen. Toby kam die Treppe heruntergesprungen und stürzte sich auf Cosmo. Jack lachte, als er Kater und Hund bei ihrer Begrüßungszeremonie beobachtete.
„Cosmo hat eine Identitätskrise“, sagte er.
Alexi verdrehte die Augen. „Erzählen Sie mir etwas, das ich nicht weiß.“
„Schönes Haus.“ Jacks Blick verweilte auf dem eleganten alten georgianischen Gebäude.
„Es ist seit mehreren Generationen in Drews Familie.“
„Und wir halten uns hier. Irgendwie“, bemerkte Drews Stimme.
Alexi drehte sich um und sah ihn und Cheryl auf der Treppe stehen, während die beiden Jack neugierig beäugten. Alexi übernahm die Vorstellung und erklärte, wie sich ihre Wege gekreuzt hatten.
„Schön, Sie kennenzulernen, Jack. Ich bin so froh, dass sich noch jemand Sorgen um Natalie macht“, sagte Cheryl. „Kommen Sie doch herein und erzählen Sie uns mehr.“
„Eigentlich braucht Jack ein Zimmer für ein oder zwei Nächte“, sagte Alexi. „Ich sagte, du könntest ihm helfen.“
„Ich denke, wir finden einen Besenschrank für Sie“, sagte Drew mit einem schiefen Lächeln und deutete auf den Besucherparkplatz, der bis auf ihre beiden Fahrzeuge leer war.
Sie folgten Cosmo und Toby in die Küche, wo Cosmo einen mordsmäßigen Lärm veranstaltete und nach Essen verlangte. Alexi gab nach und gestand ihrem Kater einen Imbiss zu. Auch für ihn war es ein aufregender Morgen gewesen.
Am Tisch sitzend, befragte Cheryl Jack eingehend. Alexi wusste nicht, ob sie eher verärgert oder amüsiert darüber war, wie er ihre Fragen beantwortete, ohne viel über sich selbst preiszugeben.
„Ich habe Natalies Kontodaten herausgefunden“, sagte Alexi und erklärte, was sie mit dieser Information vorhatten.
„Guter Gedanke.“ Drew nickte zustimmend.
„Da die Polizei bei Heart Racing bereits ein paar grundlegende Fragen gestellt hat“, fügte Alexi hinzu, „können sie neue Informationen nicht ignorieren.“
„Rufen wir die Bank an“, sagte Cheryl und zappelte ungeduldig.
„Gleich“, antwortete Alexi. „Und während die Bank entscheidet, was zu tun ist, werden Jack und ich uns die Hintergründe aller Männer ansehen, mit denen Natalie möglicherweise ausgegangen ist. Mal sehen, was ihr E-Mail-Postfach zutage fördert.“
Cheryl hob die Augenbrauen. „Kannst du auf ihre E-Mail-Adresse zugreifen?“
„Es ist einfacher, als Sie vielleicht denken“, sagte Jack. „Es geht nur darum, ihr Passwort zu knacken, und dafür gibt es jede Menge Programme, die man online kaufen kann.“
„Zumindest in diesem Fall dient es einem guten Zweck.“
„Können wir den Gästeraum nutzen, um unsere Laptops dort aufzustellen?“, fragte Alexi.
„Betrachte das Zimmer als deinen persönlichen Arbeitsbereich, zumindest bis wir am Wochenende ausgebucht sind“, antwortete Drew. „Ich zeige Jack sein Zimmer, und er kann zu dir kommen, sobald er sich eingerichtet hat.“
Sobald Drew und Jack gegangen waren, machte sich Alexi auf eine Flut von Fragen gefasst.
„Nur du könntest einen einfachen Auftrag annehmen und mit ihm zurückkommen“, sagte Cheryl grinsend.
„Mach dir nicht zu viele Gedanken. Seine Loyalität gilt in erster Linie seiner Schwester.“
Cheryl schüttelte den Kopf. „Wenn du damit sagen willst, dass er lieber zulassen würde, dass Natalie etwas passiert, als dass der Ruf seiner Schwester beschädigt wird, oder dass er versuchen würde, eine Beteiligung ihrer Organisation zu vertuschen, dann ist das nicht stichhaltig. Er hat viel zu viel Integrität.“
„Wie kannst du dir da nur so sicher sein?“
„Eine Mutter spürt so etwas instinktiv“, erwiderte Cheryl hochtrabend.
Alexi lachte laut auf. „Du bist noch eine Mutter in Ausbildung.“
„Trotzdem.“
„Du lässt dich von seinem hübschen Gesicht beeinflussen.“
Cheryl musterte Alexi mit einem wissenden Blick. „Und das tust du nicht?“
Alexi zuckte mit den Schultern. „Ich war noch nie in einer solchen Situation, in der es um Leben und Tod geht. Ich brauche Unterstützung.“
Die Andeutung, dass Natalie in Gefahr war, ließ das Lächeln von Cheryls Lippen verschwinden.
„Keine Sorge.“ Alexi umarmte ihre Freundin schnell. „Wir finden sie.“
***
Jack stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als Drew ihn in das Zimmer direkt gegenüber Alexis führte.
„Daran könnte ich mich gewöhnen“, sagte er. „Aber wirklich, ihr braucht mich nicht, um eure besten Zimmer zu blockieren.“
„Da Sie uns auf Umwegen einen Gefallen tun, können Sie es sich genauso gut bequem machen.“
„Na dann, danke.“ Jack warf seine Reisetasche aufs Bett, mit dem Gedanken, dass es groß genug für vier Personen war. Zwei konnten sich richtig austoben. Lass das!
„Wie hoch sind die Chancen, Natalie lebend zu finden?“, fragte Drew unverblümt.
Jack zuckte die Schultern. „Momentan ist das schwer zu sagen, aber ihr ist definitiv etwas zugestoßen. Das lässt sich nicht beschönigen. Hoffentlich können wir die Polizei bald dazu bringen, Ermittlungen einzuleiten, aber wir brauchen mehr, als wir jetzt haben, damit sie ihrem Verschwinden Priorität einräumen.“
„Zum Beispiel eine Leiche“, sagte Drew und verzog das Gesicht.
Jack klopfte ihm auf die Schulter. „Denken Sie doch nicht gleich ans Schlimmste. Wenn Natalie noch lebt, finden wir sie.“
„Dann lasse ich Sie machen.“ Drew blieb in der offenen Tür stehen. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.“
„Mache ich.“
Jack saß noch eine Weile auf der Bettkante, nachdem Drew gegangen war, und dachte darüber nach, wie schnell diese Ermittlung eskaliert war. Seine Partnerin wäre nicht glücklich darüber. Die Detektei hatte gerade viel zu tun, dieser Auftrag war nicht bezahlt, und bezahlte Arbeit war die einzige, die Cassie annahm. Jack musste ihr klarmachen, dass er Katie nicht einfach im Stich lassen konnte.
Hoffentlich konnten er und Alexi Katies Klientin von jeglicher Beteiligung freisprechen, bevor die Polizei ihre Ermittlungen aufnahm. Es schien immer unwahrscheinlicher, dass Heart Racing sich aus dem Fall heraushalten konnte. Trotz allem, wovon er Drew gerade erzählt hatte, war Jack nicht optimistisch, eine harmlose Erklärung für Natalies Verschwinden zu finden. Wenn sie einen weiteren Anhaltspunkt in Natalies Leben – privat oder beruflich – finden konnten, der ihr Verschwinden erklärte, würde das Katie entlasten.
Er zog sein Handy aus der Tasche und rief seine Schwester an. Sie ging gleich beim ersten Klingeln ran.
„Hey, was hast du herausgefunden?“
„Guten Morgen auch.“
„Tut mir leid, Jack, aber du weißt, wie besorgt ich bin.“
„Ja, das weiß ich.“
Er erzählte Katie, wo er war, mit wem er zusammenarbeitete und warum.
„Eine Journalistin?“ Katies Stöhnen hallte durch die Leitung. „Du hasst Journalisten. Außerdem dachte ich, du würdest mir helfen, die Sache unter Verschluss zu halten und nicht, dass meine Probleme ins Rampenlicht gezerrt werden.“
„Sie ist sowieso dran, Schwesterherz. Besser, wir arbeiten zusammen, dann behalte ich die Kontrolle darüber, was sie öffentlich macht. Außerdem glaube ich, dass sie mehr daran interessiert ist, die Freundin ihrer Freunde zu finden, als Schlagzeilen zu machen.“
„Na ja, das ist schon mal was“, sagte Katie zweifelnd. „Und du hast recht. Natalies Wohlergehen steht an erster Stelle. Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst, und halt mich auf dem Laufenden.“
„Mach ich.“
Jack dachte einen Moment lang nach, bevor er seinen nächsten, schwierigeren Anruf tätigte. Er wusste, dass Cassie Fenton, ein paar Jahre älter als er, geschieden und attraktiv, in jeder Hinsicht darauf aus war, seine Partnerin zu werden. Jack mochte Cassie. Er bewunderte ihre schnelle Auffassungsgabe und ihre harte, sachliche Art. Er schätzte ihre Freundschaft, aber mehr wollte er nicht von ihr. Sie würde sich ärgern, weil er noch etwas länger in Lambourn bleiben musste. Das war schon schlimm genug, aber wenn er Alexi erwähnte, würde Cassie eins und eins zusammenzählen und auf siebenundneunzig kommen.
„Hey, Cas“, sagte er, als sie abnahm. „Wie läuft’s?“
„Hektisch. Wann kommst du zurück?“
„Äh, deshalb rufe ich an. Es gab einige Entwicklungen. Sieht so aus, als wäre diese Frau definitiv verschwunden, und die Firma meiner Schwester steht in der Schusslinie. Ich muss bleiben, noch ein bisschen nachforschen und Schadensbegrenzung betreiben.“
„Verdammt! Es tut mir leid wegen deiner Schwester und der vermissten Frau, aber wir stecken hier bis über beide Ohren in Arbeit.“
„Mir tut es auch leid, Cas, aber ich muss das tun. Hol Larry, damit er dir hilft“, sagte er und meinte damit einen ehemaligen Polizisten, den sie manchmal einschalteten, wenn sie viel zu tun hatten. „Ich melde mich so schnell wie möglich.“
„Ja, alles klar.“
„Oh, und, Cas, kannst du ein paar Dinge für mich überprüfen?“
Sie seufzte. „Okay, denke ich. Was brauchst du?“
„Schau mal, ob du Natalies Handy orten kannst.“ Er gab ihr die Nummer durch. „Es ist unwahrscheinlich, dass es funktioniert. Ich vermute, es ist entweder ausgeschaltet oder liegt in einem Gebiet mit schlechtem Empfang, aber wir müssen es versuchen.“
„Okay, bin schon dabei. Sonst noch was?“
„Nun ja. Natalie hat sich mit drei Typen getroffen.“
Ein langer Seufzer hallte durch die Leitung. „Ich nehme an, du willst von allen eine Hintergrundüberprüfung.“
„Nur das Nötigste“, erwiderte er in seinem überzeugendsten Tonfall und gab ihr die Einzelheiten durch. „Oh, und wenn du schon dabei bist, schau doch mal, was du über die vermisste Frau, Natalie Parker, herausfinden kannst.“
„Nur das Nötigste, was?“
„Sarkasmus steht dir nicht“, sagte er glucksend.
„Überlass das mir. Ich melde mich bei dir.“
„Danke, Cas.“
Jack beendete das Gespräch, nahm die Tasche mit seinem Laptop und machte sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum der Gäste.
„Schön“, sagte er und sah sich in dem hellen, luftigen Zimmer um, das geschmackvoll renoviert und mit scheinbar echten Antiquitäten eingerichtet worden war. Alexi saß an einem Sekretär aus Walnussholz unter einem Fenster, das einen angenehmen Blick auf die Gärten bot.
„Diese Möbel sind seit Generationen in Drews Familie“, sagte Alexi, in etwas an ihrem Computer vertieft. Sie blickte nicht auf, als er näher kam.
Er spähte ihr über die Schulter. „Was machen Sie da?“
„Ich führe ein Programm aus, um Natalies E-Mail-Passwort zu knacken.“
Jack stellte seinen eigenen Computer auf einem Tisch neben ihrem Schreibtisch ab und erzählte ihr, was er gerade besprochen hatte.
„Gut.“ Endlich blickte sie auf und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit. „Ich denke, es wäre besser, wenn Sie die Bank anrufen“, sagte sie. „Wenn ich meinen Namen sage, könnte eine Verbindung zur Zeitung hergestellt werden, was nicht immer zu meinem Vorteil ist.“
„Wobei Privatdetektiv zu sein einem alle möglichen Türen öffnet“, entgegnete er leichthin.
„Ich habe die Nummer der Bank hier.“ Alexi las sie vor. Jack tippte die Ziffern in sein Handy. „Schalten Sie den Lautsprecher ein.“
Jack hob eine Augenbraue und kam ihrer Bitte nach. Er wurde mehrmals verbunden und schließlich zum stellvertretenden Geschäftsführer, einem Mann namens Cole, durchgestellt. Jack stellte sich vor und erklärte den Grund seines Anrufs.
„Ich kann Ihnen nichts über das Konto einer Kundin sagen“, erwiderte Cole knapp.
„Sie ist verschwunden“, wiederholte Jack. „Wir erwarten nicht, dass Sie uns Details nennen, aber wir wissen, dass sie sowohl auf ihrem Geschäfts- als auch auf ihrem Privatkonto ein hohes Guthaben hatte.“
„Das kann ich nicht bestätigen.“
Jack stieß die Luft aus und bemühte sich um einen geduldigen Tonfall. „Wir haben uns gefragt, ob es ungewöhnliche Kontobewegungen gab. Ein Transfer großer Geldsummen, solche Dinge. Wenn ja, wäre die Polizei sehr interessiert.“
„Die Polizei war noch nicht bei uns. Wenn sie vermuten, dass Ms Parker wegen ihres Geldes ins Visier genommen wurde, sollten wir ihre erste Anlaufstelle sein.“
„Es ist noch zu früh, und die Polizei geht davon aus, dass sie wieder auftaucht.“
„Nun, ich …“
„Wenn Sie Bedenken hinsichtlich der Kontobewegungen haben, können Sie sich in Verbindung setzen mit …“ Jack zog die Karte aus seiner Tasche, die der Polizist seiner Schwester überlassen hatte. „PC Taylor ist unter dieser Nummer erreichbar.“ Er las sie vor. „Besorgte Freunde haben Ms Parkers Verschwinden bei der Polizei von Lambourn gemeldet, aber wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die Dienststelle nur zeitweise geöffnet. PC Taylor weiß alles über den Fall und ist jederzeit unter der Nummer erreichbar, die ich Ihnen gerade durchgegeben habe.“
Nachdem er Cole das Versprechen abgenommen hatte, sich gegebenenfalls bei PC Taylor zu melden, beendete Jack das Telefonat.
„Man könnte glauben, ich hätte ihn nach dem Code für den Banksafe gefragt“, sagte Jack, während er sein Gesicht vor Abscheu verzog. „Wenn Natalie etwas passiert, weil er gezögert hat, mache ich ihm das Leben zur Hölle.“
„Glauben Sie, er ruft bei der Polizei an?“
„Falls es ungewöhnliche Transaktionen auf Natalies Konten gab, wird er es tun. Ansonsten würde er sich selbst in die Bredouille bringen, falls ein Betrugsfall ans Licht kommt. Ich habe das Gespräch aufgezeichnet, damit er es nicht leugnen kann.“
„Sehr vertrauensvoll.“ Alexi grinste. „Mir gefällt Ihre Arbeitsweise.“
„Cole interessiert sich nur für seine Karriere.“ Jack ließ seine Ungeduld erkennen. „Wie auch immer, Taylor ist nur ein Polizist aus der Gegend. Ich wette, er hat Natalies Verschwinden eine Fallnummer gegeben, ein paar oberflächliche Nachforschungen angestellt und es dabei belassen. Aber wenn er konkretere Hinweise erhält, die auf ein Verbrechen hindeuten, muss er den Fall an die Thames Valley Police weiterleiten.“ Jack streckte sich und lächelte sie an. „Okay, dann schauen wir uns Natalies Traumdates an.“
„Wie viele sind es?“
„Drei.“
„Und sie hat sich mit allen dreien getroffen?“
„Mit zwei nur einmal. Mit einem dreimal.“
Alexis Gesichtsausdruck hellte sich auf. „Der dreifache Gewinner klingt vielversprechend.“
„Schauen wir uns das mal an.“ Jack rief die Heart Racing-Website auf und verschaffte sich Zugang zum geschützten Bereich. „Ach, die Macht“, sagte er grinsend.
Alexi stellte sich hinter ihn und legte ihre Hand auf die Stuhllehne. Sie duftete leicht nach Blumen und Kräutershampoo. Er mochte ihren Geruch. Ihm gefiel alles an ihr, was ihn wahnsinnig ärgerte. Reporter bedeuteten nichts Gutes. Sie waren dafür verantwortlich, dass er unter Verdacht aus der Polizei gejagt wurde.
„Nehmen Sie Platz“, sagte er gelassen.
„Sie haben auf die Liste der weiblichen Kunden zugegriffen“, erklärte Alexi ihm. „Suchen Sie ein Date?“
„Ich wollte sehen, was Natalie über sich selbst offenbart.“
„Oh, richtig. Gut gedacht.“
Mehrere Bilder von Natalie waren zu sehen: beim Blumenbinden, beim Spielen mit einem Hund, beim Spaziergang auf einem Feldweg.
„Sie sehen aus, als wären sie echt“, sagte Alexi. „Ich glaube nicht, dass sie bearbeitet wurden, aber Cheryl kann es uns sagen.“
„Was sagen?“, fragte Cheryls Stimme vom Flur. Sie steckte den Kopf durch die Tür. „Ich wollte euch sagen, dass es Zeit fürs Mittagessen ist, und habe meinen Namen gehört.“
„Das sind die Bilder, die Natalie von sich auf der Dating-Seite gepostet hat“, erklärte Alexi. „Sieht sie im wirklichen Leben so aus?“
Cheryl blickte ihnen über die Schulter. „Ganz genau so“, sagte sie.
„Eine hübsche Dame“, sagte Jack und druckte ein paar der besseren aus.
„Ja, das ist sie.“ Cheryl seufzte. „Wir essen in der Bar zu Mittag, falls ihr Lust habt, euch uns anzuschließen.“
Beide standen auf.
„Klingt gut“, sagte Jack. „Ich könnte ein Pferd … Na ja, wahrscheinlich mache ich mich hier nicht besonders beliebt, wenn ich das so sage.“
„Bleib, Cosmo“, sagte Alexi zu dem Kater, der zusammen mit Toby aus dem Garten gekommen war, um sich ihnen anzuschließen. „Ich bringe dir etwas mit.“
Cosmo warf ihr einen prüfenden Blick zu und rollte sich dann an einer sonnigen Stelle am Fenster zusammen. Toby sprang auf und gesellte sich zu ihm.
Cheryl lachte, als sie die Treppe hinuntergingen. „Du musst bei uns bleiben, Alexi. Toby wird untröstlich sein, wenn sein neuer bester Freund wieder geht.“
„Führe mich nicht in Versuchung.“
***
Ein breiter Torbogen führte von der gewölbten Eingangshalle zu einer einladenden, geschmackvoll eingerichteten Bar, deren Wände mit Rennsport-Erinnerungsstücken geschmückt waren.
Jack kannte sich mit teuer renovierten Häusern aus und erkannte, dass in dieses ein Vermögen investiert worden war. Die ursprüngliche Feuerstelle war restauriert worden, ein riesiger Spiegel füllte den Raum über dem Marmorkamin, und ein Ledersitz umgab das polierte Messingschutzblech. An den Wänden standen Regale mit alten Büchern, und seine Füße sanken in einen teuren, dicken Teppich ein. Die Bar selbst schien gut bestückt zu sein. Sie wurde von einer attraktiven jungen Frau bedient, die sich mit einem halben Dutzend Jockeys unterhielt, die auf den umliegenden Hockern saßen und alle magere Half Pints tranken. Weniger als die Hälfte der Tische war besetzt, allesamt von Männern, die in ihre Gespräche vertieft schienen und sparsam aßen und tranken. Jack vermutete, dass sie den Laden nutzten, um Eindruck zu machen, aber offensichtlich zögerten, Geld auszugeben. Er war wenig optimistisch, dass sich Drews Investition bald auszahlen würde.
An einem Ende der Bar lagen geschlossene Doppeltüren, über denen ein Schild darauf hinwies, dass sich dahinter das Restaurant befand.
„Wir öffnen das Restaurant mittags nicht“, sagte Drew und folgte Jacks Blick. „Das ist nicht wirtschaftlich. Wochentags gibt es Bar-Essen.“
„Sieht gut aus“, erwiderte Jack und warf einen Blick auf ein prall gefülltes Sandwich, das gerade einem Gast am Nebentisch serviert wurde.
„Also, worauf hätten Sie Lust?“, fragte Cheryl und reichte ihm eine Speisekarte.
Jack blätterte sie durch und bemerkte eine raffinierte Kombination aus traditionellen Sandwiches und Suppen, dazu Sushi, Tapas und exotische Salate. Vermutlich das Werk des temperamentvollen Kochs, von dem er schon gehört hatte. Er entschied sich für ein Roastbeef-Sandwich.
„Ich nehme einen Caesar-Salat“, sagte Alexi. „Heute habe ich schon mehr gegessen als sonst. Ich kann nicht glauben, dass ich schon wieder Hunger habe.“
„Also“, sagte Drew, nachdem er die Getränke geholt hatte. „Wie laufen die Ermittlungen?“
Alexi erzählte ihnen von Jacks Anruf bei der Bank.
„Nach dem Mittagessen sehen wir uns die Männer an, mit denen Natalie ausgegangen ist“, fügte sie hinzu.
„Meine Partnerin überprüft ihren Hintergrund“, sagte Jack, trank einen gierigen Schluck von seinem Bier und nickte zustimmend. „Oft liefern die Dinge, die im Verborgenen liegen, die Hinweise.“
„Überprüft die Firma Ihrer Schwester ihre Kunden nicht?“, fragte Cheryl und spielte mit dem Stiel ihres Glases.
„Sie versucht es, aber man kann nur bis zu einem gewissen Grad nachforschen, ohne die Privatsphäre eines Klienten zu verletzen.“
„Es muss wohl eine Grenze geben, mit wie vielen Lügen man durchkommen kann“, merkte Alexi an.
„Genau. Wenn jemand ein Date hat und feststellt, dass die Person, mit der er sich trifft, über etwas Wichtiges gelogen hat, wie … sagen wir, ihren Beruf, wenn sie eindeutig viel älter ist als angegeben, oder sich unangemessen verhält, dann geben Katies Leute dem Missetäter so etwas wie eine gelbe Karte. Passiert das ein zweites Mal, wird sein Profil von der Plattform gelöscht. Wie ich Alexi bereits sagte, hat die Vereinigung der Betreiber von Online-Dating-Plattformen einen Verhaltenskodex, den Katies Firma strikt befolgt.“
Ihr Essen kam, und alle schwiegen für ein paar Minuten.
„Erzählen Sie mir mehr über Natalie“, forderte Jack Cheryl auf. „Meine Partnerin untersucht ihren Hintergrund, aber …“
„Warum?“, fragte Cheryl abwehrend. „Natalie hat sich nicht selbst entführt.“
„Nein, aber ich möchte mir ein besseres Bild von ihrem Privatleben machen. Das könnte uns helfen, herauszufinden, was mit ihr passiert ist. Hat sie eine kranke Schwester, Tante, Cousine, Nichte … ich weiß nicht, jemanden, der ihr so viel bedeutet, dass sie alles stehen und liegen lässt und der Person sofort zur Hilfe eilt, ohne jemandem etwas zu sagen?“
„Ich habe keine Familienfotos in ihrem Cottage gesehen“, sagte Alexi.
„Ich glaube nicht, dass Natalie Familie hat“, sagte Cheryl nachdenklich. Sie warf Drew einen Blick zu. Der schüttelte den Kopf. „Komisch, aber wir haben nie wirklich darüber gesprochen, was sie gemacht hat, bevor sie hierherkam. Sie sagte, sie sei eine Zeit lang verheiratet gewesen, aber es habe nicht geklappt, und dass sie keine Kinder habe. Es war, als wollte sie nicht über ihre Vergangenheit sprechen. Sie lenkte das Gespräch immer auf ihr Geschäft oder ihre Hobbys …“
„Fotografieren und Wandern?“, fragte Alexi.
„Ja.“
„War sie Mitglied bei einem Fotoclub oder einer Wandergruppe?“, fragte Jack.
Cheryl und Drew tauschten erneut einen Blick und schüttelten gleichzeitig den Kopf.
„Wenn ja, hat sie uns nie davon erzählt“, erwiderte Cheryl.
„Wir müssen zurück zu ihrem Cottage“, erklärte Alexi. „Uns ihre Unterlagen genauer ansehen. Natürlich erst, nachdem wir ihre E-Mails gelesen haben. Dort erfahren wir am ehesten mehr.“
„Es tut mir leid, dass ich nicht mehr über Natalies Leben weiß“, gab Cheryl zu. „Ich bin eine furchtbare Freundin.“
„Willst du mir den Rang ablaufen?“, fragte Alexi.
Cheryl schüttelte den Kopf. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine Familie hatte. Ich erinnere mich, dass sie mir erzählte, sie sei Einzelkind und ihre Eltern seien beide tot.“
„Also“, sagte Jack nachdenklich, „woher hat eine Frau mittleren Alters, die allein lebt und ein kleines Geschäft in ihrem Garten betreibt, so viel Geld?“
„Scheidungsvereinbarung?“, vermutete Drew.
„Möglich. Wenn das der Fall ist, wird es bei Cassies Hintergrundüberprüfung herauskommen.“
„Wir wissen nicht, wie viel Geld Natalie wirklich hat“, warf Alexi ein.
„Nein, aber vor zwei Jahren, als sie hierherzog und einen Kontoauszug von ihrer Bank erhielt, verfügte sie über eine Viertelmillion Pfund auf ihrem Sparkonto und verschiedene Geldanlagen. Und sie hat keinen Geschäftskredit aufgenommen, um ihren Laden zu eröffnen.“
Drew und Cheryl sahen verblüfft aus.
„Na ja“, sagte Drew, der sich als Erster von dieser Neuigkeit erholte. „Wir haben uns schon gefragt, wie sie sich eine Beteiligung an einem Rennpferd leisten kann. Jetzt wissen wir es wohl.“
„Aber nicht, woher das Geld kam“, sagte Cheryl. „Das ist eine Menge Kleingeld.“
„Hat Natalie viel über Pferde geredet?“, fragte Jack.
„Ständig“, sagte Cheryl und nickte. „Sie war regelrecht besessen davon.“
„Viele Leute sind das. Deshalb kaufen sie Anteile. Damit sie zu den glamourösen Rennen gehen, im Besitzergehege sein können und so weiter“, sagte Drew.
„Hatte Natalie irgendwelche Lieblingsausbilder? Oder ein Pferd, für das sie sich ernsthaft interessierte?“
Drew und Cheryl sahen sich an und schüttelten den Kopf. „Falls sie ein Pferd gefunden hat, hat sie uns nichts davon erzählt“, sagte Cheryl.
„Dasselbe gilt für die Ausbilder“, fügte Drew hinzu.
„Hatte sie noch irgendwelche anderen Freunde im Dorf?“, fragte Jack.
„Nicht wirklich“, antwortete Cheryl. „Natalie war zu allen freundlich, aber auch sehr zurückhaltend. Ich glaube, ich war ihre einzige Freundin. Sie hatte gelegentlich Dates, aber es gab niemanden Besonderen. Deshalb begann sie mit Online-Dating. Sie sagte, gute Männer seien seltener als ehrliche Politiker.“
Jack lächelte. „Interessanter Vergleich. Okay, wir müssen abwarten, was Cassie herausfindet.“
Drew stand auf, um mit einer Gruppe Anzugträger an einem anderen Tisch zu sprechen, die ihn zu sich winkte.
„Das passiert ständig“, sagte Cheryl. „Es ist nervig, aber wenn wir erfolgreich sein wollen, haben wir nie frei.“
„Wir müssen auch wieder an die Arbeit“, sagte Jack, legte seine Serviette beiseite und trank den Rest seines Bieres aus. „Danke fürs Mittagessen, Cheryl. Setzen Sie es auf meine Rechnung.“