Leseprobe Drei Schwestern | Ein fesselnder Psychothriller, der unter die Haut geht

1

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein so schreckliches Geheimnis, dass Sie es niemandem erzählen können. Niemals. Denn wenn Sie die Worte tatsächlich laut aussprechen, würde die Welt sehen, wer Sie wirklich sind.

Damals war es mir nicht klar – keiner von uns wusste es –, aber diese kalte Winternacht im West End von Glasgow sollte unser aller Leben unwiderruflich verändern. Es sollte das letzte Mal sein, dass die drei Kennedy-Schwestern zusammen waren. Der Anfang vom Ende unserer Familie.

Wenn ich gewusst hätte, wohin der Weg mich führen würde, was hätte ich anders gemacht? Das kann ich beantworten. Alles. Aber ich konnte nicht in die Zukunft sehen, und die Entscheidungen, die ich traf, waren meine eigenen. Alles meine. Jetzt muss ich mit ihnen leben.

Wir kamen aus dem Òran Mór in die Byres Road, kicherten ausgelassen und hielten uns aneinander fest, während wir die Steinstufen der ehemaligen Kelvinside Parish Church hinunter auf die Straße liefen. Wir waren nicht betrunken, aber beschwipst und merkten nicht, dass uns die eisige Luft in die Wangen stach. Selbst für Glasgower Verhältnisse war es ein verdammt kalter Winter. Auf dem eisigen Bürgersteig zeigte Molly anklagend mit einem Finger auf Sam.

„Du hast es vermasselt, Mädchen. Der Typ stand auf dich. Du hättest mit ihm verschwinden können. Wir hätten es Colin nicht gesagt, oder, Alex?“

Sam wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Als ob mein Selbstwertgefühl nicht schon gering genug wäre.“

Molly fragte: „Was war falsch an ihm?“, was uns mal wieder auf die Palme brachte.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?“

„Natürlich meine ich das ernst. Du mochtest schon immer etwas grobe Typen. Streite es nicht ab.“

„Da gibt es nichts abzustreiten. Das ist nicht wahr. Colin ist nicht grob.“

„Colin ist die Ausnahme. Alle anderen waren Tiere. Absolute Kotzbrocken. Alex sieht das sicher auch so.“

Ich habe es bewusst vermieden, darauf einzugehen. „Du vergisst was, Molly, Sam ist glücklich verheiratet. Was ihren Verehrer angeht, den fand ich eigentlich ganz nett.“

„Ganz nett? Er hatte sich so aus dem Leben geschossen, dass er kaum stehen konnte.“

„Okay, aber abgesehen davon war er nett.“

Das brachte sie zum Lachen. Als sie aufhörte, schüttelte Molly den Kopf über ihre Zwillingsschwester. „Ich vertraue darauf, dass du deine moralische Überlegenheit behältst. Deine Ansprüche waren schon immer unglaublich hoch. Wie schafft es dein armer Mann nur, diesem gerecht zu werden? Es muss die Hölle für ihn sein.“

Sie hatte sich auf gefährliches Terrain begeben, und ich versuchte, sie zu besänftigen.

„Vorsicht, Molly, du wirst persönlich.“

Ihre Antwort war gnadenlos. „Das musste einmal gesagt werden.“

„Nein, musste es nicht. Du bist unmöglich. Reiß dich zusammen.“

Sam nahm es besser auf als ich, wollte die Bemerkung aber nicht unkommentiert lassen. „Entscheide dich verdammt nochmal, Molly. Vor einer Minute warst du noch der Meinung, dass ich auf grobe Typen stehe. Glaubst du ernsthaft, es ist ein hoher Standard, jemanden abzuschleppen, der sternhagelvoll ist?“

„Auf jeden Fall. Was weißt du über ihn?“ Molly beantwortete ihre eigene Frage.

„Nichts. Du hättest dich fragen können, warum er stockbetrunken war. Was hat ihn dazu getrieben? Hat er heute Nachmittag seinen Job verloren? Vielleicht musste er seinen Hund einschläfern lassen. Oder sein Vater hat eine Glatze und er hat gerade gemerkt, dass es ihm genauso ergehen wird. Es gibt hundert Gründe, aber was auch immer es ist, er ist offensichtlich in schlechter Verfassung. Möglicherweise wurdest du geschickt, um ihn zu retten.“ Sie blickte mit gespielter Ehrfurcht auf den Schnee, der vom dunklen Himmel fiel. „Sam, das Weihnachtswunder.“

Ich spürte Sams wachsende Gereiztheit und unterbrach das Geplänkel. „Du bist ein Dummkopf, Molly, das weißt du doch, oder? Und da du so starke Gefühle hast, rette du ihn doch.“

Wir hakten uns beieinander ein und schlenderten zur U-Bahn-Station Hillhead, ohne die Blicke der Passanten zu beachten. Für uns war es normal, Aufmerksamkeit zu erregen. Das war unser ganzes Leben lang so gewesen. Dass wir uns in der Woche vor Weihnachten trafen, Zeit miteinander verbrachten und uns sogar ein wenig betranken, begann, als wir noch zur Uni gingen und uns nur in den Semesterferien sahen. Nach dem Tod unserer Eltern hatte diese Tradition an Bedeutung gewonnen und uns vor allem als Freundinnen, aber auch als Schwestern zusammengeschweißt.

Mit dreißig Jahren wurde ich Witwe. Ich verlor meinen Mann, Freddy, achtzehn Monate nach unserer Hochzeit an den Krebs. Sein Tod war niederschmetternd gewesen. Irgendwie hatte ich es überstanden. Doch abgesehen davon, dass ich zur Arbeit ging und meine Schwestern traf, wann immer ihre hektischen Zeitpläne es zuließen, zog ich mich in eine kleine, einsame Welt zurück.

Samantha und Molly waren Zwillinge, zwei Jahre jünger als ich und so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Sam, dunkelhaarig, ernsthaft und zielstrebig, verheiratet mit Colin, einem erfolgreichen Immobilienmakler aus der Stadt, der in einem Fünf-Zimmer-Haus in Newton Mearns lebte. Molly, respektlos und ungebunden, eine geborene Rebellin, vulgär und sehr witzig, die Guinness trank, Fußball und Rugby schaute und eine umfangreiche Sammlung von Perücken besaß. Ich konnte nicht mehr sagen, wie viele.

Sie trug sogar eine blau-weiße Perücke, wenn Schottland spielte. Verrückt! Aber so war sie eben. Heute Abend trug sie einen silber-violetten Bob, der nach Aufmerksamkeit schrie und ihr Gesicht perfekt umrahmte. Meine Schwestern hatten die gleichen hohen Wangenknochen wie unsere Mutter. Ich hatte flachere Züge und eine Adlernase geerbt. Molly zog mich immer damit auf, dass ich adoptiert worden sei.

Wir gingen in einer Reihe, ich auf der Innenseite, Sam in der Mitte, Molly am nächsten am Bordstein. Ich stellte Sam eine harmlos gemeinte Frage. „Wartet Colin auf dich?“

„Nein, er wird schon ins Bett gegangen sein.“

„Weck ihn auf.“

Eine Schneeflocke landete auf ihrer Wimper, sie blinzelte sie weg. „Glaub mir, das habe ich vor.“

Ich runzelte die Stirn. „Zu viel Info, vielen Dank.“

Molly lehnte sich herüber. „Zu viel Info über was?“

Sam und ich antworteten gleichzeitig. „Das geht dich nichts an.“

„Wenn das so ist, dann möchte ich es gar nicht wissen. Es ist verdammt kalt, nicht wahr?“

Sam warf ihr vor: „Geschieht dir recht, wenn du dich wie ein Teenager anziehst. Diese Tage sind vorbei, sieh das ein und lass sie gehen. Mach weiter, verdammt noch mal.“

Molly schoss zurück. „Und so aussehen wie du? Eine alte verheiratete Frau. Ist es das, was du meinst?“

„Nein, ich meine, du solltest Röcke tragen, die zumindest über den Hintern gehen, Molly. Und was deine neueste Perücke angeht … Himmel, was soll das denn?“

„Ich habe nicht erwartet, dass du das verstehst. Es ist ein Statement.“

„Alles klar. Was heißt das? Ich brauche Hilfe?“

Ich schaltete mich als Schiedsrichter ein. Die Rolle, die ich schon mein ganzes Leben lang spielte. „Kurze Auszeit, Schwestern. Neutrale Ecken. Molly, sei nicht so empfindlich. Sam, behalte deine Meinung für dich.“

Wir gingen weiter, ohne zu sprechen. Plötzlich verloren meine Füße auf der eisigen Oberfläche den Halt und ich rutschte weg. Meine Finger suchten in der Luft nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, und fanden Sam. Sie zog mich hoch.

Als ich wieder sicher auf den Beinen war, erschüttert, aber unverletzt, meinte ich: „Mein Gott, diese Bürgersteige sind tückisch. Passt auf, wo ihr hintretet. Ich hätte mir den Knöchel brechen können. Und es wäre meine eigene Schuld gewesen, weil ich diese Schuhe angezogen habe. Ich bin so ein Tollpatsch.“

Sam beruhigte mich. „Keine Chance. Du bist unerschütterlich und außerdem hatte ich dich.“

An der Ecke zur Cresswell Street hielten wir an, um ein Taxi vorbeizulassen. Das Schild mit der Anzeige, dass es frei war, leuchtete. „Wenn ich es angehalten hätte, wäre ich in zwanzig Minuten zu Hause gewesen“, stellte Molly fest.

„Warum hast du es nicht getan?“

„Weil ich – Kälte hin oder her – lieber hier bei euch bin.“

Sam drückte die Hand ihrer Schwester. „Das ist aber lieb von dir. Das habe ich Colin auch gesagt, als er spät nach Hause kam. Schon wieder.“

„Dass du lieber bei uns wärst?“

„So ähnlich.“

In diesem Moment klingelte Mollys Handy und sie blieb stehen, um den Anruf entgegenzunehmen, was mir die Gelegenheit gab, mit Sam zu sprechen. „Habt ihr euch gestritten?“

Die grelle Straßenbeleuchtung ließ Sams Gesicht blutleer erscheinen und erinnerte mich an Freddy in den letzten Monaten, als ich zusah, wie seine Kraft jeden Tag ein wenig mehr schwand, bis nichts mehr von ihm übrig war. Er war mutig gewesen, mehr um mich besorgt als um sich selbst. Das Ende zog sich endlos. Und sein Mut zum Kampf hatte nicht ausgereicht.

Sam wählte ihre Worte sorgfältig. „Wir streiten nicht. Dazu müssten wir im selben Raum sein. Mein Mann ist zu sehr damit beschäftigt, neben anderen Dingen dem Geld nachzujagen. Er hat nie lange genug Zeit, um einen richtigen Streit zu führen, dafür sorgt er schon.“

„Was dann?“

„Der nächste Schritt im Zermürbungskrieg, den wir Beziehung nennen.“

„Du hast doch gerade gesagt, du würdest ihn aufwecken. Ich dachte, du meintest für Sex.“

Sam musterte mich. „Du warst schon immer ein Rätsel, das weißt du, oder?“

„Was zum Teufel soll das denn heißen?“

„Du bist klug und gleichzeitig unglaublich naiv. Das war ein Scherz, ein bisschen festliche Ironie. Wenn du es genau wissen willst, wir hatten seit Monaten keinen Sex. Und wenn doch hat es nur etwa zwei Minuten gedauert.“ Sie seufzte. „Sieben Monate, eine Woche und vier Tage. Aber wer zählt schon mit?“

Ich ignorierte ihre Einschätzung über mich, nicht sicher, ob sie vielleicht der Wahrheit entsprach. „Das werdet ihr auf jeden Fall hinkriegen.“

„Warum bist du dir so sicher?“

„Weil es um dich und Colin geht. Ihr habt immer eine Lösung gefunden. Natürlich bekommt ihr das hin.“

Sams Unterlippe zitterte. „Bekommen wir nicht. Es ist zu spät.“

„Sei nicht albern. Die meisten Paare machen schwierige Phasen durch. Das ist doch ganz normal, oder?“

„Ist es das? Ich wette, bei dir und Freddy war es anders.“

Sie hatte etwas Falsches gesagt und bemerkte es sofort. „Oh, Alex, wie dumm von mir. Ich habe nicht …“

Ich schob ihre Ungeschicklichkeit beiseite. „Mach dir keine Gedanken. Wir waren nicht lange genug verheiratet, als dass es schlimm hätte werden können. Manchmal, wenn ich morgens aufwache, kommt es mir wie ein schrecklicher Traum vor. Dann bricht die grausame Realität über mich herein und ich kann mich nur mit Mühe aus dem Bett schleppen.“

Nun kamen mir die Tränen, die Weihnachtszeit kann schwierig sein. Die Leute erinnern sich an Dinge, die zu vergessen weniger schmerzhaft gewesen wäre. Die fröhliche Stimmung war ins Gegenteil umgeschlagen. Sam versuchte sie zu retten.

„Was mit Freddy passiert ist, war schrecklich. Ich habe keine Ahnung, wie du es geschafft hast damit fertigzuwerden. Aber du hast es geschafft.“

Ich lächelte. Ein halbes, trauriges Lächeln. Wer war jetzt naiv? „Nur in der Öffentlichkeit. Ich glaube nicht, dass du dir das vorstellen kannst. Nicht wirklich. Das Beste, worauf man hoffen kann, ist, einen Grund zu finden, um weiterzumachen. Entweder das oder man versinkt unter der schrecklichen Last des Todes. Wenn Menschen sterben, stellen wir sie auf ein Podest, was es noch schwieriger macht, sie gehen zu lassen. Irgendwie hilft es mir, das zu wissen. Ergibt das einen Sinn?“

„Völlig logisch.“

„Ich habe Freddy geliebt, aber er war kein Heiliger. Niemand ist das.“

Molly hörte auf, mit ihrem Telefon herumzuspielen, und lehnte sich vor. „Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich bin es.“

Ich lachte. „Träum weiter, Schwesterherz.“

Am Bordstein türmte sich der Schnee, die Streufahrzeuge hatten Salz gestreut. Eine Aufgabe, die noch nicht beendet war und es laut Vorhersage auch nicht so bald sein würde. Die Temperatur, die den ganzen Tag über im einstelligen Bereich gelegen hatte, sank, und der harte Frost auf der Byres Road glitzerte wie Millionen Sterne am schwarzen Himmel.

In der Nähe des Eingangs zum The Curlers Rest, der ältesten Kneipe in diesem Teil von Glasgow, blieb ich stehen, um einem Obdachlosen Geldscheine in seinen Plastikbecher zu werfen. Ein struppiger Bart und ein wuscheliger Schnurrbart, die sein Gesicht bedeckten, machten es unmöglich zu sagen, ob er jung oder alt war. Er saß im Lotussitz – ich hatte es in meinem Yogakurs nie geschafft, mich darin wohlzufühlen – auf einem Stück zerrissener Pappe, mit dem Rücken an die weiß getünchte Wand des Pubs gelehnt, und trug eine Tarnjacke und mehrere Pullover, die an den Handgelenken herausschauten. Seine Wangen waren kreidebleich und hohl unter einer marineblauen Wollmütze, die er sich über die Ohren gezogen hatte. Auf dem Boden vor ihm lag ein Schild – mit Bleistift bekritzelt und kaum lesbar – mit der Aufschrift ‚Hungrig und obdachlos‘. Aber er war nicht allein, er hatte einen Begleiter, einen braun-weißen Mischling, der besser versorgt schien als er selbst. Der Hund schaute mich fröhlich an, legte den Kopf schief. Und ich war hin und weg. Ich kniete mich hin und strich mit den Fingern durch sein Fell. Er wedelte mit dem Schwanz. Ich sprach mit seinem Besitzer, erhielt aber keine Antwort. Der Mann starrte aus rotgeränderten Augen teilnahmslos vor sich hin, ohne das Geld oder mich zu beachten. Ich vermutete, dass er auf irgendeiner Droge war. Natürlich war er das. Wie sonst könnte er die eisige Kälte und das Elend seiner Situation ertragen?

Ich werde mich für den Rest meines Lebens an den Schrei erinnern.

Das Kreischen der Bremsen, die auf der vereisten Straße nicht richtig griffen, ließ mich von meinem einseitigen Gespräch mit dem Bettler aufblicken und sehen, wie Molly unter die Räder eines roten Autos geriet. Als ich auf dem Bürgersteig ausgerutscht war, hatte meine Schwester mich aufgefangen. Diesmal reichte Sams ausgestreckte Hand nicht und ich begann zu rennen.

2

Lewis sah die Frau zu spät, um ihr auszuweichen. Von einer Sekunde auf die andere stand sie plötzlich vor ihm. Seine Reaktion erfolgte sofort. Er trat auf die Bremse und spürte, wie der Wagen ins Schleudern geriet und sich drehte. Nach einer Verzögerung, die ihm ewig vorkam, hörte er einen dumpfen Aufprall, gefolgt von zwei kurz aufeinander folgenden Stößen, die ihm die unangenehme Wahrheit verrieten: Er hatte sie überfahren.

Nicht einmal, sondern zweimal.

Er saß mit den Händen auf dem Lenkrad da, zu betäubt, um sich zu bewegen, und nahm nur ein Rauschen in seinen Ohren wahr, als wäre er unter Wasser. Das Auto war neu – kaum sechs Monate alt – und der Airbag hatte nicht ausgelöst, was er erst viel später bemerken würde. Die Tür flog auf, eine Hand griff über ihn, um die Musik auszuschalten, und eine tiefe Männerstimme fragte: „Alles okay? Geht es Ihnen gut?“

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er mit ihm sprach.

Der beherzte Mann half ihm aus dem Fahrzeug. Lewis sah einen Schuh mit einem abgebrochenen Absatz auf der Straße liegen und kurzes blondes Haar, das mit Blut verklebt war. Zum Glück war das Gesicht abgewandt, sodass ihm der ganze Schrecken erspart blieb. Zwei Personen beugten sich über das Opfer, während die Menge ihn schweigend, mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung im Gesicht, beobachtete.

Noch vor wenigen Minuten war er ein Geschäftsmann auf dem Heimweg von der Weihnachtsfeier gewesen. Eigentlich hätte er stundenlang den Angestellten zuhören müssen, die ihm mit einer halben Flasche Prosecco intus, erklärten was er falsch gemacht hatte und sich über alles beklagten. Ein Ereignis, das er nur überstand, indem er seinen Alkoholkonsum auf ein Glas Rotwein beschränkte, an dem er die meiste Zeit des Abends nippte. Dieses Jahr war es anders. Dafür sorgte Damian.

Auf dem Gehweg in der Byres Road versuchte Lewis zu sprechen, brachte jedoch kein Wort heraus. Schließlich gelang es ihm, zu flüstern: „Ich habe sie nicht gesehen. Ich habe nicht gesehen …“

„Bleiben Sie ruhig, die Polizei ist auf dem Weg.“

„Die Polizei?“

„Ja, sie werden gleich hier sein. Wenn Sie schlau sind, sagen Sie zu niemandem etwas. Haben Sie verstanden? Zu niemandem.“

„Ja … Ja, ich verstehe. Was ist passiert … Haben Sie es gesehen?“

Der Mann an seiner Seite war um die vierzig, mit gütigen Augen und einem struppigen, graumelierten Bart. Er kam näher. „Hören Sie, wenn ich Ihnen sage, dass Sie mit niemandem sprechen dürfen, meine ich, mich eingeschlossen. Sie stehen offensichtlich unter Schock. Warten Sie, bis Sie sich wieder im Griff haben.“

Das war ein guter Rat. Lewis ignorierte ihn. „Haben Sie es gesehen?“

„Nein.“

„Hat es irgendjemand gesehen?“

„Keine Ahnung, Bruder. Wahrscheinlich. Ich war auf der anderen Straßenseite. Als ich das Quietschen der Bremsen hörte, wusste ich, dass es schlimm sein musste, und rannte los.“ Er nahm Lewis am Arm, führte ihn über die Straße und setzte ihn auf den vereisten Bordstein.

„Die Polizei wird sich darum kümmern. Bis dahin schließen Sie die Augen und atmen Sie tief durch. Dann wird es Ihnen besser gehen.“

Lewis presste sich die geballten Fäuste an die Schläfen, führte Selbstgespräche und versuchte verzweifelt, sich an etwas festzuhalten, das ihm entglitten war. „Sie stand plötzlich vor mir. Ich habe gebremst, aber …,“ murmelte er.

Der Mann legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. „Es ist das Beste, wenn Sie ruhig bleiben, wirklich. Um Ihrer selbst willen.“

Lewis hob den Kopf, Tränen standen ihm in den Augen. „Ist sie tot? Sie ist tot, nicht wahr?“

„Ich weiß es nicht, Kumpel.“

3

Ich beugte mich über meine Schwester und flüsterte immer wieder ihren Namen. Wir hatten auf der Kirchentreppe über den betrunkenen Kerl in der Bar gelacht, der auf Sam stand. Die Kennedy-Mädchen, die in der Weihnachtsnacht zusammen ausgingen. Jetzt lag Molly bewusstlos und verletzt auf der Straße, ihre Arme und Beine waren unnatürlich abgewinkelt und überall war Blut. Die lila-silberne Perücke hatte sich gelöst und lag etwas entfernt in einer Lache aus Eiswasser. Die Realität war zu viel. Ich konnte es nicht fassen. Zwei Passanten halfen mir, einer rief einen Krankenwagen, der andere gab Molly eine Herz-Lungen-Massage. Der Mann war offensichtlich geübt. Als sie nicht reagierte, begann er von vorne, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und ging methodisch vor. Ich kniete neben ihm und kämpfte gegen den Drang an, sie zu packen und wach zu rütteln. Stattdessen flehte ich meine Schwester an, ihre Augen zu öffnen. „Molly. Molly. Tu uns das nicht an. Bitte, tu das nicht.“

Das Gespräch mit dem Bettler war ein Fehler gewesen, den ich für den Rest meines Lebens bereuen würde. Ich war die Älteste, die große Schwester, eine Verantwortung, die ich immer ernst genommen hatte. Schuldgefühle meldeten sich, flüsterten mir heimtückisch ins Ohr und sagten mir, ich sei schuld. Wäre ich bei ihnen geblieben, anstatt anzuhalten und einem Fremden Geld zu geben, hätte das nicht passieren können.

Ich hätte es nicht zugelassen.

Sam war von der Menschenmenge auf dem Gehsteig umringt. Sie und Molly standen sich näher, als es ihnen selbst manchmal bewusst war. Neun Minuten auseinander geboren, stritten sich die Zwillinge, seit sie sprechen konnten, um alles. Als sie noch klein waren, ging es um Süßigkeiten und Spielzeug. Als sie aufwuchsen, verehrten sie dieselben Popstars und plünderten ihre Kleiderschränke, ohne um Erlaubnis zu fragen. Mehr als einmal hatten sie sich gegenseitig die Freunde ausgespannt, weil sie es konnten. Doch hinter der Rivalität verbarg sich ein Band, eine genetische Verbindung, die nicht zu brechen war. Als ihre Schwester bewusstlos auf der Straße lag, starrte Sam wie in Trance vor sich hin.

Ich war mir des blinkenden Blaulichts nicht bewusst, bis ein Polizist mich sanft wegführen wollte. Molly zu verlassen, kam mir wie ein Verrat vor. Ich wollte nicht gehen. Eine weibliche Polizistin nickte ihm zu, er solle es ihr überlassen, und ich brach an sie gelehnt zusammen und schluchzte unkontrolliert.

„Sie ist meine Schwester. Ich muss bleiben. Sie braucht mich.“

Ein zweites Polizeiauto kam aus Richtung Partick Cross und parkte in der Mitte der Straße, gefolgt von einem Krankenwagen, der hinter dem roten Wagen zum Stehen kam. Zwei Sanitäter sprangen heraus, rissen die hinteren Türen auf und begannen sofort mit der Arbeit. Molly bewegte sich nicht. Es war herzzerreißend und unwirklich zu sehen, wie sie sie auf eine Trage hoben. Ich konnte nicht länger zuschauen und wandte mich ab. Meine Sinne schienen gleichzeitig geschärft und abgestumpft zu sein. Die Farben waren so grell, dass ich meine Augen abschirmen musste. Stille dröhnte in meinen Ohren und ich registrierte, dass es aufgehört hatte zu schneien.

Sam bahnte sich einen Weg durch die Menge, wollte aber nicht näher kommen. Sie stand mit aschfahler Miene da, die Arme hingen hilflos an ihren Seiten. Sie wirkte so verloren wie niemand, den ich je gesehen hatte.

Auf der anderen Straßenseite saß ein Mann auf dem Bordstein, den Kopf in den Händen. Instinktiv wusste ich, dass er der rücksichtslose Mistkerl war, der Molly überfahren hatte. Bevor die Polizistin mich aufhalten konnte, riss ich mich los und stürzte mich auf ihn. Er hielt die Hände hoch, wehrte sich aber nicht, selbst als ihm Blut aus der Nase spritzte.

Zwei Polizisten zogen mich weg und sprachen mit ihm. „Gehört der rote Golf Ihnen?“

Er wischte das Blut mit seinem Ärmel ab und nickte.

„Haben Sie heute Abend getrunken?“

„Ja … nein … nicht wirklich.“

Ich schrie ihn an. „Nicht wirklich! Nicht wirklich! Sie sind besoffen!“

Ich war hysterisch, doch das bedeutete nicht, dass ich falsch lag. Der Polizist gab seinem Kollegen ein Zeichen, mich beiseitezuschaffen, holte einen Alkoholtest hervor und sprach mit dem Fahrer. „Ich muss Sie bitten, für mich in dieses Gerät zu pusten.“

„Ich bin nicht betrunken.“

„Das sage ich ja auch nicht. Ich bitte Sie, einen offiziellen Atemtest zu machen.“

„Und ich sage Ihnen, das ist nicht nötig.“

Der Beamte sah zu seinem Kollegen, der versuchte, mich zurückzuhalten.

„Weigern Sie sich, den Test zu machen?“

„Natürlich nicht. Ich habe vor drei Stunden ein halbes Glas Wein getrunken.“

Der Polizist reichte ihm den Alkoholtester. „Dann haben Sie ja nichts zu befürchten, oder?“