Leseprobe Die widerwillige Braut des Dukes

Prolog

1835, Hampshire, England

»Ich verspreche dir, dass ich dich für immer lieben werde«, murmelte William James Astor, der Marquis of Lyon und Erbe des Herzogtums Wycliffe.

Er bewegte sich auf dem grünen Gras, um dem Mädchen, das sich in seine Arme schmiegte, einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Ihr Körper fühlte sich weich und zart an bei seiner Berührung. Miss Sophia Knightly war das süßeste, mutigste und respektloseste Mädchen … nein, Dame, die er je kennenlernen und lieben durfte.

Sein Herz krampfte sich zusammen, als ein sanftes, niedliches Kichern erklang, und er fand, dass dies das schönste Geräusch war, das man an diesem tristen Freitagnachmittag hören konnte. Der Himmel war bedeckt, die Sonne hinter großen, dunklen Wolken verborgen und eine kühle Brise wehte über das Land. Dennoch hatte das Ganze eine unbestreitbare Schönheit, insbesondere die Aussicht von dem Hang, auf dem sie ruhten. Unten erstreckte sich sanft geschwungenes Grasland mit hoch aufragenden Bäumen, und in der Mitte lag das charmante und recht idyllische Dorf Mulford.

»Für immer ist eine ziemlich lange Zeit«, stellte Sophia mit einem breiten Lächeln fest und spähte unter ihren unglaublich langen Wimpern hervor zu ihm auf. In dem trägen Lächeln, das sie ihm schenkte, lag ein Hauch von Geheimnis, von weiblichem Wissen. Sie drehte ihr Gesicht und drückte einen Kuss in seine Handfläche. »Und mir gefällt der Klang. Für immer mit dir, wenn das nur möglich wäre.«

Dies sagte sie mit schmerzlichem Verlangen und Bedauern. Als hätte sie vergeblich einen Wunsch geträumt und litte nun darunter. Eine Flut von Gefühlen überkam ihn – Liebe, verzweifelte Hoffnung, sein eigenes tiefes Bedauern und Verzweiflung. Eine volle Minute lang musste er all seine Willenskraft aufbieten, um die aufbegehrende Kraft in sich zu zügeln. »Ich verspreche, dass es so sein wird«, schwor er, beugte sich über sie, um ihr einen weiteren Kuss auf die Stirn zu drücken, und atmete ihren einzigartigen Duft von Jasmin und Rosen ein. »Meine Gefühle sind unveränderlich.«

»Ich brauche keine falschen Schmeicheleien und Versprechungen«, erklärte sie mit viel zu viel Abgestumpftheit für ein junges Mädchen von achtzehn Jahren. »Ich bin weder eigensinnig noch dumm genug, an eine Zukunft für uns zu glauben. Mama hat mir bereits gesagt, dass ein zukünftiger Duke aus einer Familie deines Ansehens und Vermögens niemals die Tochter eines Pfarrers heiraten könnte.«

Sie lagen unter der großen Buche im Wald, in dessen Nähe sich ein sanft plätschernder See befand, und er hatte gehofft, dass seine Eltern, seine Pflichten und der Rest der grausamen Welt es heute nicht schaffen würden, ihren Frieden und ihre Liebe zu stören. Es wurde erwartet, dass er eine junge Dame von Rang und Vermögen mit respektablen Beziehungen heiratete. Seine Mutter hatte sich bereits für eine Frau entschieden und rechnete damit, dass er ihr in der kommenden Saison einen Antrag machen würde. William konnte die Tochter des Marquess of Appleby nicht heiraten, da sein Herz unwiderruflich von Miss Sophia Knightly erobert worden war, der Tochter von Reverend Knightly und dem charmantesten und entzückendsten Mädchen, das er je kennenlernen durfte.

Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und er spürte das leichte Zittern, bevor sie ihre Hände fest zusammenpresste.

»Du hast durchaus Verbindungen«, beruhigte er sie. »Dein Vater ist der dritte Sohn eines Barons. Dein Onkel ist Baron Litchfield.«

Und er betete, dass diese Verwandtschaft ausreichen würde, damit seine Familie die Verbindung billigte, insbesondere da seine Geliebte keine Mitgift hatte und ihre Familie weder Vermögen noch gute Verbindungen besaß. Aber er liebte sie und William wusste, dass er keine andere Frau als sie heiraten würde. Als er sie vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, spielte sie im Wald. Ihr Haar war offen, ihre Füße waren barfuß, und ein Hund jagte sie. Sie war ein strahlendes Licht gewesen, das ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lachen anzog. Der Welpe, ein Schäferhund, hatte mit ihr herumgetollt, bis beide erschöpft ins dichte Gras gefallen waren. William hatte wie erstarrt auf seinem Pferd gesessen und seinen Wunsch, sie kennenzulernen, nicht unterdrücken können. Also trieb er sein Tier den kleinen Abhang hinunter und unterbrach ihren Schlaf.

»Hallo«, hatte sie gekeucht, war aufgesprungen und hatte sich Gras und Schmutz von ihrem weißen Tageskleid gewischt.

Er hatte geantwortet: »Darf ich Ihr Glück stören

Sie hatte geblinzelt, und dann hatten sich ihre Schmollmundlippen zu jenem breiten Lächeln verzogen, das er so lieben gelernt hatte. »Sie sehen tatsächlich ein wenig traurig aus. Ich teile meine Freude gern, wenn Sie Lust haben, in Ihrer schicken Kleidung im Gras herumzurollen.«

Er war von seinem Pferd abgestiegen und hatte sich verbeugt. Dann hielt sie die Ränder ihres Kleides fest und machte einen äußerst anmutigen Knicks.

»Ich bin William«, hatte er gesagt. Seinen vollen Namen und Titel hatte er nicht nennen wollen, damit ihre Reaktion nicht anders ausfiel, wie es immer der Fall war, wenn die Leute erkannten, dass er der zukünftige Duke of Wycliffe war.

Dann waren sie stundenlang in diesem Waldstück geblieben und hatten sich unterhalten, bis ihre jüngere Schwester gekommen war und nach ihr gerufen hatte. Irgendwann zuvor hatte er ihr seine Identität gestanden, und ihre Zuneigung war unverändert charmant und arglos. Seitdem hatten sie sich täglich getroffen, und als junger Mann von einundzwanzig Jahren und frischgebackener Absolvent der Universität hatten London und seine Frivolitäten in William wenig Interesse geweckt. Er hatte diesen Sommer mit Sophia verbracht, obwohl seine Mutter ihn dazu drängte, die Saison in der Stadt zu besuchen.

Er hatte diesen Impuls nie bereut.

Ihr tiefer Seufzer riss ihn aus den Erinnerungen.

Sie hob eine Hand und fuhr sanft mit einem Finger über seinen Kiefer. »Mama sagt, ich soll nicht so dumm sein und mir zu große Hoffnungen machen, denn sie würden mit Sicherheit zunichte gemacht.«

Sophia hatte wunderschöne grüne Augen mit goldenen Sprenkeln, und als sie ihn ansah, hatte sie sie weit aufgerissen, ihn anflehend, die Vorhersagen ihrer Mutter zu widerlegen. »Dukes heiraten angesehene und hochrangige Damen, nicht die Töchter von Pfarrern, selbst wenn sie ein paar Verbindungen haben.« In ihren Augen sah er Verzweiflung und solche Liebe, dass es ihm einen stechenden Schmerz durch den Körper jagte.

»Hörst du auf alles, was deine Mama dir sagt?«, fragte er etwas verärgert. Er hasste den Zweifel, den er in ihren Augen sah, besonders, als er spürte, wie dieser auch sein Herz bedrückte.

Unerwartete Belustigung trat in ihren Blick. »Natürlich! Mama und ich sind sehr gute Freundinnen.«

Er neigte sein Gesicht näher zu ihrem. »Und hörst du auf sie, wenn sie dich davor warnt, mit einem Gentleman allein zu sein, der so etwas tut?«

»Was –«

Den Rest ihrer Worte fing er in einem tiefen, langen Kuss ein. Mit einem süßesten Stöhnen schmiegte sie sich in seine Arme, löste den Griff ihrer verschränkten Finger, schlang ihre Hände um seinen Hals und hielt ihn nah an sich gedrückt. Lust schoss wie ein feuriges Brennen durch seine Adern und mit einem abgehackten Keuchen an ihrem sinnlichen Mund beugte er sich tiefer über sie, eingekuschelt zwischen die Weichheit ihrer einladenden Schenkel. Sein Herz raste und ein heißes, drängendes Verlangen wuchs in seinem Bauch. Er ließ seine Zunge über ihre Lippen gleiten und sich mit ihrer verflechten, während er ihren Kopf neigte und einen bereits viel zu intimen Kuss vertiefte.

Sie schnappte nach Luft, das Geräusch war zugleich alarmiert und auch sehr erregt. William berührte sie sanfter, indem er mit einer Hand ihre Wange umfasste und sich mit seinem Ellbogen über ihr abstützte. Ihre Lippen öffneten sich und ihr Atem ging unregelmäßig. Er atmete langsam, beruhigte sich und zwang seinen Körper, sich zu entspannen.

Noch nie zuvor hatte er sie mit einer derart verzweifelten, hungrigen Leidenschaft geküsst, stets hatte er auf ihre Empfindsamkeit und seine Ehre geachtet. Nun leuchteten ihre Augen vor Unschuld und dem ersten Aufkeimen von Unsicherheit.

»Mama hat mir gesagt, ich soll vor Wüstlingen weglaufen, die sich Freiheiten herausnehmen«, neckte sie und versuchte immer noch, wieder zu Atem zu kommen. »Aber du bist kein Wüstling.«

»Nein?«, murmelte er und drückte einen weiteren leidenschaftlichen Kuss auf ihren geschwollenen Mund. Er streifte leicht ihre Wange mit seinen Lippen und küsste sie sacht auf ihren Hals. Der sündhafte Drang, mehr mit ihr zu tun, durchströmte ihn, dunkel und lüstern.

»Haben Sie keine Angst, dass ich Sie verführe, Miss Knightly?« William presste einen sanften Kuss auf den Puls, der wild über ihrem Schlüsselbein raste, und knabberte dann an dem zarten Stück Fleisch. Sie schmeckte süß. Sophia zitterte heftig und ein leises Stöhnen der Lust entfuhr ihr.

»Vielleicht macht es mir nichts aus, wenn du mich verführst«, kam ihre atemlose Antwort.

»Liebst du mich?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Ja, mehr, als ich je für möglich gehalten hätte«, erwiderte sie mit einem schmerzerfüllten Flüstern.

Er küsste sie auf den Mundwinkel und sie schloss kurz die Augen, als würde sie die Berührung seiner Lippen auf ihrer Haut genießen. »Ich liebe dich, und ich werde keine außer dir heiraten.«

»Oh, William, ich wünschte –«

»Ich werde keine außer dir heiraten, Sophia.« Dann küsste er sie erneut. Noch tiefer als zuvor. Sinnlicher, als er sie normalerweise berührte. Er biss in ihre Unterlippe, und als sie die Lippen öffnete, tanzten ihre Zungen endlose Augenblicke lang auf lustvolle Weise miteinander. Als ihre Zähne gegeneinander klickten, lachten sie. William wünschte, er könnte sie ewig küssen, wünschte, er könnte sie hier, vor den Augen der Sonne und der Natur, ausziehen und mit ihr Liebe machen.

Aber sie hatte etwas Besseres verdient: eine Hochzeit und dann eine leidenschaftliche Nacht, an die sie sich bis zu ihrem Lebensende erinnern würden.

Und doch …

Er schlang seine Arme um sie und rollte auf dem Boden herum, bis sie ausgestreckt auf ihm lag.

»William«, rief sie empört und zugleich erfreut.

Zweige und Gras verfingen sich in ihrem Haar und er strich sie zärtlich beiseite. »Ich werde mit meinem Vater sprechen, sobald er mit meiner Mutter aus der Stadt zurückkommt. Ich werde mir ihren Segen sichern und dann den Pfarrer besuchen und um deine Hand anhalten.«

Die Hoffnung und Liebe, die in ihren Augen leuchteten, raubten ihm fast den Atem. Selbst mit seiner begrenzten Erfahrung mit dem anderen Geschlecht konnte er sich nicht erinnern, jemals eine Frau so sehr gewollt zu haben. Sie kam ihm auf halbem Weg entgegen und ihre Münder verschmolzen zu einem weiteren sengenden Kuss. Er verlor sich in ihr – in ihrem Geschmack, ihrem Geruch, den leisen Lauten erschrockener Lust, die sie von sich gab, als würde sie mit jedem Kuss etwas Neues und Aufregendes entdecken.

Mit einem stummen Fluch packte er sanft ihre Hüften und drängte sie, sich neben ihn zu legen. Der Beweis seiner Erregung würde sie erschrecken und in Verlegenheit bringen, und er musste seine Leidenschaft zügeln, bevor er etwas Dummes tat. Sie fragte nicht, warum er ihre innige Umarmung unterbrochen hatte; stattdessen glitt ihre Hand über das Gras zu seiner und verschränkte erneut ihre Finger.

Er bemerkte einen Faden am Saum seiner Reitjacke, die im Wind flatterte. William ließ sie los, packte und riss ihn aus seiner Jacke. Dann rutschte er herum, nahm ihre Hand zwischen seine und wickelte das Stück blaue Schnur dreimal um ihren Finger, bevor er das Ende zu einem Knoten band.

Ein wunderschönes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Und was ist das?«

»Mit diesem Ring verspreche ich dir mein Herz. Bitte warte auf mich, Soph.«

Sie starrte ihn mehrere Augenblicke lang an, ihre Augen wurden rot, und sie schluckte schwer. »Ich werde warten«, versprach sie heiser und mit einem wackeligen Lächeln. »Ich liebe dich, William.«

Er senkte seine Stirn auf ihre und sah ihr in die Augen. »Ich liebe dich. Wirst du mir vertrauen, wirst du mich heiraten?«

Ein süßes, schüchternes Lächeln umspielte ihre Lippen und dann nickte sie glücklich. »Das werde ich!«

Die Freude in ihren Augen erfüllte ihn mit Demut. Ich werde mich bemühen, dich zur glücklichsten aller Frauen zu machen. Dann hielt er sie endlose Stunden in seinen Armen, während sie lachten und plauderten.

Zwei Wochen später …

Die Stille im Salon pochte wie eine vereiterte Wunde, die nur darauf wartete, geöffnet zu werden, um den Schmerz endlich zu lindern. William schluckte das flaue Gefühl hinunter, das in ihm aufstieg, und wartete auf eine Antwort.

»Ich bitte um Verzeihung?«, wollte seine Mutter schließlich von ihrem Platz aus wissen, wo sie elegant und kerzengerade auf einem Ohrensessel neben dem prasselnden Feuer saß.

Bevor William etwas erwidern konnte, warf sie ihrem Mann einen empörten Blick zu. »Hast du auch gehört, dass unser Sohn uns um Erlaubnis zur Hochzeit mit …« Die Worte erstickten sie, als könnte sie es nicht ertragen, sie auszusprechen. »Bei Gott, ich kann solchen Unsinn nicht glauben!«

»Das habe ich«, sagte sein Vater in seiner nachdenklichen Art und heftete seine dunkelblauen Augen mit der Intensität eines Falken auf William. »Der Erbe all meiner Ländereien und meines ganzen Reichtums möchte die Tochter des örtlichen Pfarrers heiraten.«

Deutliche Enttäuschung und drohende Wut klangen in der Stimme seines Vaters mit. Er nahm ein Glas, das offenbar Brandy enthielt, und mit kalkulierter Gleichgültigkeit, die signalisieren sollte, dass er Williams Frage abtat, ging der Duke zu den raumhohen französischen Fenstern, die auf die sanften Hügel seines Anwesens hinauszeigten.

»Es wurde oft angemerkt, dass du zu oft in der Gesellschaft von Miss Knightly warst, aber ich hätte nie geglaubt, dass du so weit gehen würdest!«, rief die Duchess, und ihr Blick war voller Vorwürfe und Tadel.

Seine Mutter schloss die Augen und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Williams Brust wurde eng, er ging zu ihr hinüber und setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa.

Er straffte die Schultern. »Mutter, ich weiß, dass du hoffst, dass ich Lord Applebys Tochter heiraten werde. Aber ich liebe sie nicht –«

»Was weißt du schon von Liebe?«, blaffte sie und streckte ihm ihr Kinn entgegen. »Du bist dreiundzwanzig! Du hast kaum gelebt.«

»Ich habe genug von der Welt gesehen, um sicher zu sein«, sagte er leise. »So wie die Sonne jeden Tag untergeht und der Morgen anbricht, bin ich mir sicher, dass ich Miss Knightly liebe. Wenn du sie treffen würdest und …«

»Ich habe kein Interesse daran, ein Mädchen kennenzulernen, das dich von deinem gesunden Menschenverstand abgebracht hat, weil sie für sich und ihre Familie einen höheren Rang anstrebt«, erklärte die Duchess mit beißender Unhöflichkeit. »Die Menschen sollten ihren Platz in dieser Welt kennen und sich daran halten! Eine Heirat zwischen euch beiden ist nach den Maßstäben unserer Familie völlig undenkbar.«

Sein Vater riss seine Aufmerksamkeit schließlich vom Rasen los und wandte sich William zu. Seine Gesichtszüge waren streng und düster. »Deine Mutter hat recht, Sohn. Wir werden es nicht dulden, dass du deine Zukunft ruinierst, indem du auch nur daran denkst, dieses Mädchen zu heiraten. Wenn du Lord Applebys Tochter nicht heiraten möchtest, ist das in Ordnung«, sagte er mit einer abweisenden Handbewegung. »Wähle eine andere. Es gibt viele Schönheiten im ton mit entsprechender Mitgift und politischen Verbindungen.«

Eine gähnende Leere schien in William aufzusteigen und drohte, ihn zu verschlingen. Er erhob sich, starrte die Eltern an, die er liebte und respektierte, und wusste, dass er ihren Forderungen nicht gerecht werden konnte. »Habt ihr nur wegen ihrer Verbindungen Einwände?«, fragte er heiser.

Sein Vater ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nimm sie als deine Mätresse. Gegen eine solche Vereinbarung werden wir keine Einwände haben.«

William zuckte zusammen und löste sich aus der Umarmung. »Ich würde sie niemals auf diese Weise entehren, Vater. Sie ist …« Er schluckte schwer. »Sie besitzt eine innere Schönheit. Sie ist sanft, freundlich und eine junge Dame mit aufmerksamen und rücksichtsvollen Manieren.«

»Wie dem auch sei, sie ist nur für eine Rolle in deinem Leben geeignet.«

Eine Mätresse …

William drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Tür. Er liebte Sophia über seine Pflicht und seine Erwartungen hinaus. Das Bewusstsein darüber durchströmte seinen Körper und wärmte seine Seele. Er würde seine Versprechen nicht brechen, nur weil seine Familie nicht einverstanden war.

»Der Pfarrer wird ihr nicht erlauben, dich zu heiraten. Wenn er das tut, wird der Mann die volle Wucht meines Missfallens zu spüren bekommen und ich werde seine Familie ruinieren«, sagte der Duke mit unerbittlicher Stimme hinter William. »Und wenn du mit ihr durchbrennst und einen Skandal und Schande über unseren Familiennamen bringst, werde ich euch nicht so leicht davonkommen lassen.«

Das Versprechen seines Vaters knallte wie eine Peitsche durch die Luft. Er stockte und drehte sich zu ihm um. Seine Mutter stand seinem Vater zur Seite, ihre Einigkeit in dieser Entscheidung war offensichtlich.

»Ich habe Miss Knightly versprochen, sie zu heiraten«, sagte er leise.

»Ihre Familie würde es nicht wagen, wegen Wortbruchs zu klagen«, erwiderte der Duke arrogant. »Ich werde dafür sorgen, dass der Pfarrer sein Ansehen und sein Einkommen verliert.«

»Ich werde mein Versprechen nicht entehren oder Miss Knightly beschämen«, antwortete William.

Seine Mutter schwankte, hob eine Hand zum Mund und ihre Augen füllten sich mit ungeweinten Tränen. »Also willst du uns stattdessen beschämen? Siehst du nichts Anstößiges an dieser Verbindung?«

»Mama, Miss Knightlys Familie ist respektabel, auch wenn sie nicht reich ist. Ihr Vater ist der Sohn eines Barons und ihre Tante väterlicherseits heiratete einen Earl. Ihr beide habt über die Jahre hinweg eure Bewunderung und Liebe für mich bekundet, Vater, doch jetzt scheint ihr euch keine Gedanken über mein zukünftiges Glück zu machen. Wenn ich mit Miss Knightly gehen muss, soll es so sein, und wenn ich warten muss, bis sie volljährig ist, um frei zuzustimmen, werde ich das tun.«

Er ignorierte den erstickten Protestschrei seiner Mutter, verließ das Wohnzimmer und ging nach draußen in den Stall, wo er verlangte, dass sein Pferd gesattelt werde. Ein paar Minuten später ritt er in Richtung Dorf und zum Haus des Pfarrers. Das Erste, was William auffiel, war, wie ungewöhnlich ruhig es an diesem Tag auf den Straßen von Mulford war. Mehrere Geschäfte waren geschlossen und die normalerweise lauten und lebhaften Kinder fehlten. Ein Pferd raste auf ihn zu, und er verlangsamte seinen Galopp. Er lächelte, als er sah, dass es sein jüngster Bruder Simon war. Der baldige Dr. Simon Astor, korrigierte er sich und ein Anflug von Stolz durchfuhr seine Brust.

Sein Bruder hatte sich tapfer der Erwartung seiner Familie widersetzt, in den Priesterstand einzutreten, und zum Leidwesen seiner Mutter Medizin studiert. Er war erst vor Kurzem aus Edinburgh zurückgekehrt, wo er bei einem renommierten Chirurgen und Arzt lernte.

Sein Bruder verlangsamte sein Pferd und hielt neben William. Er runzelte die Stirn angesichts der Sorge, die Simons dunkelblaue Augen erfüllte.

»Alles in Ordnung?«

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. »Ich bin erschöpft und muss schlafen. Ich bin seit zwei Tagen wach und habe nur sporadisch geschlafen.«

In diesem Moment bemerkte William, wie eingefallen sein Gesicht war und die Müdigkeit, die wie eine zweite Haut an Simon zu haften schien. Er war erst zwanzig Jahre alt, ziemlich intelligent und sich seiner selbst und seines Platzes in der Welt sicher. William hatte ihn noch nie in einem solchen Zustand gesehen. »Erzähl mir, was passiert ist und wie ich helfen kann«, bot er an.

Ein kurzes, dankbares Lächeln huschte über das Gesicht seines Bruders und ließ ihn für einen Moment jünger wirken.

»Dr. Powell hat gestern einen Jungen zu mir geschickt, nachdem er gehört hatte, dass ich vor Kurzem von meinem Studium nach Hause gekommen bin.«

William blickte sich in den ruhigen Straßen um, und wieder einmal durchfuhr ihn ein beunruhigendes Gefühl. »Was wollte er von dir?«

Simon begegnete seinem Blick. »Es gibt eine Krankheit im Dorf. Dutzende Häuser sind betroffen und es gab einige Todesopfer.«

Der Schock versetzte William einen Schlag in die Magengrube, und er packte die Zügel fester. »Guter Gott, Mann! Sag, dass dem nicht so ist.«

»Es könnte Cholera sein.« Das sagte er mit grimmiger Fassung.

William sog scharf die Luft ein. »Cholera, hier in Mulford?«

Seit seiner Rückkehr von der Universität hatte er eng mit seinem Vater und einigen anderen Lords zusammengearbeitet, als diese Anträge entwarfen, die sie dem Parlament vorlegen wollten. Diese verheerende und unheilbare Krankheit hatte allein im vergangenen Jahr in London über sechstausend Menschenleben gefordert, und vor wenigen Monaten waren es in Paris angeblich zwanzigtausend weitere. Die in Russland gemeldeten Zahlen waren astronomisch und viele Ärzte glaubten, es handele sich um eine durch schlechte Luft verursachte Auszehrungskrankheit. Natürlich gab es auch andere Theorien, doch was den Duke beunruhigte, war die allgemeine Unsauberkeit Londons und die reale und beängstigende Möglichkeit, dass die schmutzigen und abwasserverseuchten Straßen dazu beitragen könnten, dass sich die schreckliche Krankheit von den Slums im Osten noch weiter in den Westen und schließlich in ganz England ausbreitete.

William war vom Gestank und der Umweltverschmutzung in London angewidert. In der heutigen modernen Zeit, mit all den jüngsten Entdeckungen, wirkte es so mittelalterlich. Er konnte nicht verstehen, wie die großen Geister der Zeit nicht erkennen konnten, dass dieser Dreck ungesund war. Er hatte von den verschiedenen medizinischen Theorien zur Erklärung von Krankheiten gehört und fand sie unzureichend. Im Dorf stank es wegen der Senkgruben und offenen Abwasserkanäle; sein Vater, der Duke, hätte etwas unternehmen sollen, um sicherzustellen, dass in Mulford alles in Ordnung war. Da die meisten Dorfbewohner seine Pächter waren, lag die Verantwortung beim Duke. Das Herzogtum war wohlhabend genug, um eine moderne Kanalisation zu bauen, doch sein Vater war nicht bereit gewesen, »Geld zu verschwenden, wenn es nicht nötig war«.

William hatte mit Simon über die Installation einer Kanalisation im Dorf gesprochen, und sie waren sich einig, dass diese notwendig sei, doch sein Vater hielt die Finanzen in der Hand. Aus irgendeinem Grund hatte er geglaubt, dass solche Krankheiten wie viele andere in den dicht besiedelten städtischen Gebieten, in denen Abfall und Müll wüteten, vorherrschen würden.

Dass es hier in Mulford Cholera gab, schien so unwahrscheinlich, und William erinnerte sich, dass es mehrere Theorien gab, denen zufolge die Krankheit von einem Patienten auf den anderen übertragbar sei. Furcht machte sich in ihm breit. »Bist du sicher, dass es Cholera ist? Ich muss Vater sofort informieren, um den Menschen in Mulford so viel Hilfe wie möglich zu sichern.«

»Es könnte auch Typhus sein«, sagte Simon müde. »Oder eine andere Krankheit, bei der wir uns nicht sicher sind. Einige der Gemeindemitglieder, die ich sah, hatten Fieber, starke nervöse Unruhe, einen schwachen Puls und im Extremfall von Reverend Knightly litten sie unter Durchfall.«

Eis prickelte auf Williams Haut. »Der Pfarrer ist krank?« Herrgott, wie kam Sophia mit der Krankheit ihres Vaters zurecht?

Simon rieb sich mit der Hand über das Gesicht und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich fürchte, seine ganze Familie ist erkrankt.«

Für einen endlosen Moment konnte William weder atmen noch denken, jeder Funke rationalen Verstands war wie ausgelöscht. Kalter Schweiß rann ihm unter dem Frack den Rücken hinunter und kostbare Sekunden lang brachte er kein einziges Wort hervor. Das Dröhnen in seinen Ohren wurde zu laut und obwohl Simons Lippen sich bewegten, konnte William seine Worte nicht verstehen. Schließlich lockerte sich das enge Band um seinen Hals und er fragte: »Sophia ist krank?« Er hatte sie seit etwas über einer Woche nicht gesehen, aber als er zu seinem Kurztrip in die Stadt aufgebrochen war, war sie bei bester Gesundheit gewesen.

Sein Bruder warf ihm einen scharfen Blick zu. »Miss Knightly … ja … Stehst du der Familie nahe?«

»Ja.«

Simon verzog das Gesicht. »Man muss leider sagen, dass sie zu den am schwersten getroffenen Familien hier zählen. Dr. Powell und ich haben wenig Hoffnung –«

William trieb sein Pferd zu vollem Galopp an und machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus. Er betete, während bereits tiefer Kummer schwer auf seinem Herzen lastete. Er hatte Dutzende von Berichten in der Bibliothek seines Vaters studiert und neben medizinischen Abhandlungen und Tagebucheinträgen über die tödlichen Auswirkungen der Krankheit auch Argumente und Forschungsergebnisse vorbereitet.

Wenn die Familie Knightly und die Menschen in Mulford tatsächlich unter einem Choleraausbruch litten, waren ihre Überlebens- und Genesungschancen sehr gering. William raste seiner Liebe entgegen und betete, wie er noch nie zuvor gebetet hatte. Doch keine Hoffnung erfüllte sein Herz, nur ein Gefühl der Trauer und der Angst, dass eine so schöne, lebendige Seele wie Sophia sterben könnte.

Bitte, Gott, rette sie!

Kapitel 1

Sechs Jahre und elf Monate später …

»Heirate mich.«

»Ja.«

Es war etwas mehr als eine Stunde vergangen, seit sein Bruder, Dr. Simon Astor, mit Williams Verlobter im Schlepptau den übergroßen Speisesaal von Hawthorne Park verlassen hatte. Ihre Mutter, die Duchess of Wycliffe, war noch immer damit beschäftigt, die hysterische Countess Langford zu beruhigen, die lautstark beklagte, dass ihre Tochter Lady Miranda die gesamte Familie und ihren Ruf ruiniert habe.

William gluckste freudlos, füllte sein Glas mit Whisky nach und führte es an seine Lippen. Ausgerechnet die Countess war es, die den Namen der Familie Cheswick in Verruf gebracht hatte, in dem Versuch, William mit ihrer Tochter in einen Skandal zu verwickeln, nur weil er der zwölfte Duke of Wycliffe war.

William hatte bei der Farce mitgemacht, da er wusste, dass er eine Frau brauchte. In wenigen Wochen würde er dreißig werden, und die Jahre, die er im Ausland verbracht hatte, hatten seine Taschen mit großem Reichtum gefüllt, doch sein Herz blieb eine leere Hülle. Er würde seine Pflicht gegenüber dem Titel niemals vernachlässigen und so war er schließlich aus Indien nach Hause zurückgekehrt, um sich eine Braut zum Heiraten zu suchen. Die absurde Angelegenheit, dass Lady Miranda in seinem Zimmer im Haus seines Bruders eingesperrt war, hätte William eigentlich davor bewahren sollen, sich durch den ton zu kämpfen, um eine geeignete zukünftige Duchess auszuwählen. Damals war es ihm wie ein Leichtes vorgekommen, sich der Entscheidung zu fügen. Die Tatsache, dass Lady Miranda zudem eine gefeierte Schönheit und die Tochter eines Earls war, ließ sie als durchaus akzeptable Braut erscheinen. William hatte geglaubt, er hätte mit der Wendung der Ereignisse großes Glück gehabt, bis sein Bruder Simon das Wort ergriffen hatte.

»Ich weiß, dass dir deine Ehre sehr wichtig ist, aber ich muss dir sagen, dass Lady Miranda meine Sophia ist.«

William rieb sich die schmerzende Mitte seiner Brust, die bei Simons Worten zum Leben erwacht war. Wenn William gewusst hätte, dass sein Bruder Lady Miranda liebte, hätte er ihr nie den Antrag gemacht. Er hob sein Glas auf das durchgebrannte Paar und bewunderte ihre Kühnheit und Tapferkeit angesichts der Erwartungen ihrer Familie und der Gesellschaft.

Es klopfte an der Tür zur Bibliothek. »Herein.«

Der Duft des Lavendelparfüms seiner Mutter eilte ihr voraus. Er wandte sich vom Fenster ab und beobachtete, wie sie sich durch den weitläufigen Raum bewegte. Seine Mutter war in der neuesten Mode gekleidet, auch wenn sie noch Halbtrauer trug. Ihr lavendelfarbenes Seidenkleid war mit feinen Biesen verziert, die sich dekorativ um ihre noch immer schmale Taille legten. Die weiten Ärmel gingen in zarte schwarze Spitzenmanschetten über. Der Ausschnitt und der Saum des weiten Rocks waren mit schwarzer Spitze verziert und mit opulenten schwarzen Schleifen besetzt. Sie trug trotzig Trauer, seit ihr Mann vor über sechs Jahren an Herzversagen gestorben war. William glaubte, dass seine Mutter weiterhin Schwarz getragen hätte, wenn sie gedacht hätte, dass es zu ihr passte, aber Grautöne und gedämpfte Lilatöne standen ihr sehr gut. Farben, die ihrer Meinung nach für eine Herzoginwitwe am geeignetsten war. Seine Mutter begab sich zum Kaminsims und schenkte sich zu seiner Belustigung eine ordentliche Menge Whisky ein. Die Duchess trank mehrere Schlucke, bevor sie leicht stammelnd sagte: »Der Skandal wird absolut schrecklich sein. Was hat sich dein Bruder nur dabei gedacht! Die Countess ist noch immer zutiefst betrübt über ihr selbstsüchtiges Handeln. Sie ist so enttäuscht, dass Miranda nicht deine Braut sein wird, und fürchtet sich vor der Peinlichkeit, die sich daraus ergeben wird. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um die Welle des Skandals einzudämmen!«

»Die Countess war abscheulich egoistisch, als sie versuchte, ihre Tochter zu zwingen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Es war genauso verdammt dumm von mir, bei ihrem Plan mitzumachen, obwohl ich Miranda lediglich attraktiv fand. Ich lag falsch, als ich dachte, es würde lediglich mein Leben vereinfachen und mir die mühsame Suche nach einer Ehefrau ersparen. Ich bedauere die entstandene Aufregung, aber ich kann es nicht bereuen, dass ich für Simons und Mirandas Glück beiseitegetreten bin. Simon und die Dame sind ihrem Herzen treu geblieben. Ich werde meine Pflicht tun und eine andere Braut finden.«

Seine Mutter blickte entsetzt in seine Richtung. »Du klingst, als würdest du ihr empörendes Verhalten bewundern!«

William lächelte kurz. »Das tue ich.« Vor vielen Jahren hatte William einmal darüber nachgedacht, mit dem Mädchen durchzubrennen, das er mehr liebte als Pflicht und Ehre. Er hatte sie verloren und es schmerzte ihn immer noch zutiefst. Hätte er nur nicht so lange getrödelt und versucht, seine Eltern davon zu überzeugen, ihre Heirat zuzulassen, würden sie jetzt ein erfülltes gemeinsames Leben führen. Stattdessen lagen ihre Knochen irgendwo in einem kalten, anonymen Grab. »Ich werde meinen ganzen Einfluss geltend machen, damit sie jedem Skandal entgehen.«

»Die Countess hat der Zeitung bereits eine Mitteilung über deine Verlobung mit Miranda geschickt. Jetzt wird die Welt wissen, dass du sitzengelassen wurdest.«

»Ich werde erklären, dass ich ein solcher Unmensch bin, dass die schöne Dame meine Gesellschaft keine Minute länger ertragen konnte.«

Seine Mutter runzelte die Stirn. »Das geht nicht. Dein Ruf würde es nicht aushalten, wenn man genauer hinsähe –«

»Ich bin sicher, dass er standhalten wird«, erklärte er rundheraus und mit beträchtlicher Arroganz. »Ich bin immerhin der Duke of Wycliffe.«

»Wie unbesorgt du bist«, schnaubte sie und nahm vorsichtig einen weiteren Schluck von ihrem Getränk. »Wahrscheinlich bist du bald schon wieder in der Stadt und suchst dir deine Vergnügungen und dann bekommst du die Quittung für das heutige Desaster. Allerdings muss ich dich warnen, dass es jetzt, wo die Saison zu Ende geht, nicht mehr viel zu tun gibt.« Seine Mutter beobachtete ihn aufmerksam.

William gab einen unverbindlichen Laut von sich, beinahe beunruhigt über das mangelnde Interesse, das er an der Aufregung und den Vergnügungen des ton empfand. Sein Herz und sein Verstand hingen an der Erinnerung an die lodernde Liebe, die in Lady Mirandas Augen für seinen Bruder geleuchtet hatte, und an dem Fehler, den er fast begangen hätte, indem er ihnen dieses Glück nehmen wollte. »Es wird genug für mich zu tun geben«, sagte er. »Und ich werde meine Pflichten im House of Lords bei dessen nächster Eröffnung übernehmen, und daher ist jetzt ein guter Zeitpunkt, mich wieder mit den Lords und Ladies des ton vertraut zu machen.«

»Und das tust du inmitten eines sich anbahnenden Skandals!«, rief sie mit vor Missfallen strotzender Stimme. »Lady Miranda war perfekt für dich! So schön und ausgeglichen.«

Aber viel perfekter für Simon.

Ein gereizter Seufzer entfuhr ihr. »Ich muss eine Liste der in Frage kommenden Damen für dich erstellen und vielleicht eine Gartenparty planen, damit du so viele wie möglich kennenlernen kannst. Ich glaube, Lady Vivian, die Tochter des Earl of Granville, wäre absolut perfekt für dich!«

William betrachtete seine Mutter und das angespannte Lächeln auf ihren Lippen. »Ich dachte, du würdest lieber so schnell wie möglich nach Bath fahren, um deinen Freund zu besuchen.«

Ihre Augen weiteten sich und sie trank mehrere Schlucke, als wolle sie ihre Fassung wiedergewinnen. »Du weißt über den Viscount Bescheid?«

»Simon hat mich über die Geschehnisse zu Hause auf dem Laufenden gehalten.« Damit gab er beiläufig zu, dass er von ihrer Affäre mit einem zehn Jahre jüngeren Mann wusste.

»Ich dachte, du würdest heftig gegen diese Vorstellung protestieren, William.«

»Ich war jahrelang fort, Mutter. Wer bin ich, dass ich mich jedem Wunsch widersetzen kann, den du in deinem Herzen hegst?«

Sie blickte kurz weg, bevor sie ihren Blick wieder auf ihn richtete. »Du bist der Duke, das Oberhaupt dieser Familie. Du hast endlich die Pflichten und Verantwortlichkeiten übernommen, die deinem Stand im Leben entsprechen. Es war immer dein Schicksal, Duke zu sein und deinen angemessenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der aller Anstand gewahrt werden muss, damit der Familienname makellos bleibt.«

William trank einen großen Schluck von seinem Whisky. »Bist du glücklich, Mutter? Macht er dich glücklich?«

»Immer wenn ich in Bath bin … bin ich außer mir vor Freude«, murmelte sie, und ihre elegant geschwungenen Wangenknochen wurden rot.

Seine Mutter war mit ihren achtundvierzig Jahren eine recht attraktive Frau, deren exquisites Gesicht weder von ergrautem Haar noch von Fältchen entstellt war. In ihrer Jugend galt sie als diejenige, die alle anderen Debütantinnen in den Schatten stellte, und die attraktiven jungen Männer des ton hatten eifrig um ihre Hand angehalten. Sein Vater war mehrere Jahre älter gewesen, aber sie hatte ihn offen und leidenschaftlich geliebt. William wusste, wie sehr sie der Tod seines Vaters erschüttert hatte. Wie lange sie getrauert hatte. Bedauern packte William am Herzen, als er daran dachte, dass er nicht da gewesen war, um sie während der Trauerzeit zu unterstützen. Er war nur wenige Monate nach dem Tod seines Vaters von der Küste Englands geflohen, weil auch er die Liebe seines Lebens verloren hatte und es ihm schwerfiel, dort zu bleiben, wo ihn jeder Anblick, jeder Geruch, jeder Geschmack und sogar der Regen an seine Sophia erinnerten.

Nun, da seine Mutter den Verlust seines Vaters überwunden hatte, wie könnte er da etwas gegen ihre Affäre einzuwenden haben. »Du hast beschlossen, aufzuhören zu trauern?«, fragte er leise.

»Vor ein paar Monaten wurde mir unerwartet klar, wie allein ich war und dass ich die Stadt und Bath kaum besucht habe. Ich habe eine neue Garderobe bestellt. Helle Farben«, sagte sie mit einem wackeligen Lächeln.

»Möchtest du den Viscount heiraten?«

Sie atmete scharf ein und ihre Hand bewegte sich zu ihrer Kehle. »Ihn heiraten?«

Sie fragte dies mit solcher Bestürzung, dass er erkennen konnte, dass ihr dieser Gedanke nie in den Sinn gekommen war. »Mehr brauchst du nicht zu sagen, Mutter. Du sollst nur wissen, dass du unseren Segen hast, falls du Viscount Bunbury heiraten möchtest.«

Laut Simon, der sich die Mühe gemacht hatte, Nachforschungen über ihn anzustellen, war der Viscount ein Mann mit solidem Charakter. Der Viscount genoss außerdem einen guten Ruf im ton und besaß ein Vermögen. Trotz des Altersunterschieds schien der Mann wirklich mit seiner Mutter zusammen sein zu wollen.

Sie starrte ihn einige Augenblicke an, bevor sie zu ihm ging und ihn umarmte. William schlang seine Arme um sie und hielt das Whiskyglas vorsichtig außerhalb ihrer Reichweite.

»Obwohl du mir oft geschrieben hast, habe ich dich sehr vermisst und bin sehr froh, dass du wieder zu Hause bist«, murmelte sie. Dann drückte sie ihn noch einmal, ließ ihn los und trat zurück. »Du hast die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten nie wirklich erkundet. Ich bleibe bei dir, bis eine geeignete –«

»Mutter, bitte kehre nach Bath zurück«, beharrte er sanft.

»Du warst so lange fort. Ganz sicher wirst du meine Hilfe brauchen, um dich in den Kreisen der feinen Gesellschaft zurechtzufinden und  –«

Er nahm ihre Hände zwischen seine und lächelte sie an. »Mutter, es wird mir gut gehen. Ich bin erfahren genug, um zu wissen, was ich mir von meiner Frau wünsche.«

Die Duchess dachte mehrere Minuten darüber nach. »Nun gut.«

Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange, ging dann zum Sideboard und füllte sein Glas mit Whisky nach. »Ich werde sofort Vorkehrungen für die Reise nach London treffen. Niemand wird bemerken, dass Lady Miranda und ich nicht mehr verlobt sind, bis ich den Heiratsmarkt betrete. Ich bin ziemlich sicher, dass sie niemandem mitteilen werden, dass sie durchgebrannt sind.«

Die Duchess nickte. »Ich flehe dich an, William, erinnere dich an deinen Eid gegenüber deinem Vater, dass du keine Dame von geringerem Rang, Vermögen und niedrigeren Beziehungen heiraten würdest.«

Das Glas, das er gerade an die Lippen führte, erstarrte in der Bewegung, als würde eine unsichtbare Kraft es zurückhalten. Er starrte seine Mutter an, ein seltsamer Schmerz durchfuhr ihn und durchbohrte die Taubheit, die er so lange mit sich herumgetragen hatte.

»Ich bin jetzt ein Mann von neunundzwanzig Jahren«, murmelte er. »Diesen Eid habe ich meinem Vater vor Jahren geschworen, bevor er starb.« Nur wenige Wochen, nachdem er Sophia und alle Hoffnungen, die er für ihre Zukunft gehabt hatte, verloren hatte.

Das Gesicht seiner Mutter nahm einen rebellischen Ausdruck an. »Und du musst dich daran halten. Um sein Andenken zu ehren. Dein Vater wollte selbst in seiner Krankheit nur den Ruf der Familie schützen – und das nur, weil du ihn für dieses Mädchen zum Fenster hinauswerfen wolltest, und –«

»Genug«, sagte er mit schneidender Präzision. »Ich erinnere mich noch ganz genau an deine Einwände gegenüber einem Mädchen, das ich vergöttert habe. Ich lasse mich nicht länger von Gefühlen oder Herzensangelegenheiten leiten und versichere Ihnen daher, Madam, dass ich bei der Auswahl der zukünftigen Duchess of Wycliffe meine Position und meine Umstände im Auge behalten werde.«

»Und dein Versprechen an deinen Vater«, beharrte sie stur.

Mit einem stillen Fluch bemerkte er die Anspannung um ihre Lippen und erinnerte sich daran, dass Simon erwähnt hatte, er habe einen seltsamen Herzschlag gehört, als er sie auf Melancholie untersucht hatte. Allein der Gedanke, seine Mutter durch eine schwere Krankheit zu verlieren oder sie mit seinen Bemerkungen ins Krankenbett zu treiben, brachte ihn mehr aus der Fassung als alles andere.

»Ich werde an meine Pflicht denken, Mama«, murmelte er, hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. »Und an mein Versprechen an meinen Vater.«

Die Anspannung in ihren Schultern ließ etwas nach.

»Und versprich mir, William«, forderte sie grimmig, »versprich mir, dass die Frau, die du wählst, eine junge Dame von Rang und Namen sein wird, die ich mit Stolz meine Tochter nennen würde, ebenso wie ihre Familie die meine.«

Seine Mutter war nie eine, die die Gelegenheit verpasste, sich in etwas festzubeißen, sobald sie Schwäche witterte. Es wäre kein Problem, dieses Versprechen zu geben, denn er hatte nicht die Absicht, ein Bündnis auf der Grundlage zarter Gefühle anzustreben. Dies würde eine Ehe auf Basis gegenseitigen Nutzens, Respekts und gegenseitiger Ehrerbietung werden. William war es wirklich egal, ob er seine Frau jemals lieben würde oder nicht, und er dachte auch nicht übermäßig über seine Apathie gegenüber zärtlichen Gefühlen nach. Seiner Ansicht nach könnte dies mit jeder Dame des tons, aus einer angesehenen Familie, erreicht werden.

»Ich verspreche es«, sagte er und runzelte die Stirn, als ein kalter Stich des Unbehagens ihn bei diesem Schwur durchfuhr.

Was wäre, wenn …

Mit einem stummen Knurren lehnte er den bloßen Gedanken ab. Er hatte sie bereits geliebt und verloren. Es noch einmal zu tun, könnte er nicht ertragen. Es gäbe kein ›Was wäre wenn‹ … nur die einfachen Transaktionen eines Heiratsvertrags mit einer jungen Dame, die geeignet wäre, seine Duchess zu sein. Als er sein Gespräch mit seiner Mutter beendet hatte und die prächtige Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg, konnte er den heimtückischen Gedanken, der sich durch sein Herz schlängelte, nicht unterdrücken.

Was wäre, wenn …

***

Währenddessen in Hertfordshire …

Sophia lachte, als sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke der Gassen bog und ihr Pferd zur Ziellinie trieb. Sie zog an den Zügeln und verlangsamte das Tempo ihrer kastanienbraunen Stute. Sie grinste, als der junge Tommy, Lord Portman, sein Reittier ebenfalls anhielt.

»Du hast betrogen«, beschuldigte er sie und starrte sie an. »Bevor ich drei erreichte, bist du wie ein wildes Ding davongestürmt!«

»Sie haben meine Ehre angezweifelt. Darf ich da nicht eine gewisse Genugtuung verlangen, Mylord?«, fragte sie mit einem Augenzwinkern.

Tommy gluckste bei ihrer absichtlichen Unverschämtheit. »Es gibt keine Hoffnung für dich, meine liebe Sophia, und es ist kein Wunder, dass Mutter verzweifelt versucht, einen Ehemann für dich zu finden.«

Sophia wurde ernst und blickte in Richtung des wunderschönen Anwesens, das in der Ferne auf dem Hügel thronte. »Wir alle wissen, dass der Grund, warum ich noch keine Partie gemacht habe, nichts mit …«

»Deiner burschikosen Art und deiner mangelnden Begeisterung zu tun hat?«, fragte er und wiederholte damit ein altes Klagelied seiner Mutter, der Countess von Cadenham, das sie über die Jahre immer wieder angestimmt hatte. »Du hast mich zu einem Rennen herausgefordert und bist dann in Hosen aufgetaucht! Du musst den Dienstboteneingang benutzen und dich in dein Zimmer schleichen, damit Mama dich nicht sieht.«

»Ich wage zu behaupten, dass meine Unfähigkeit, einen Ehemann zu finden, eher mit meinem Mangel an Beziehungen, Vermögen und Familie zu tun hat als mit meinen Eskapaden.« Sie seufzte schwer und hob ihr Gesicht den letzten Strahlen der untergehenden Sonne entgegen.

Er zuckte zusammen, und Scham schoss durch sie hindurch. »Tommy, vergib mir! Ich wollte nie andeuten, dass du nicht zur Familie gehörst.«

»Ich weiß«, sagte er nach ein paar Herzschlägen. »Mir ist klar, dass wir niemals in der Lage sein werden, das zu ersetzen, was du verloren hast, Sophia.«

Sie konnte kein Wort hervorbringen, zu eng saß der Knoten aus Emotionen in ihrer Kehle. Die schmerzhafte Erinnerung an all das, was sie verloren hatte, erfüllte sie stets mit überwältigenden Gefühlen. Vor einigen Jahren hatte eine Seuche das verschlafene und idyllische Dorf Mulford heimgesucht und ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Vater mit einem grausamen, herzzerreißenden Schlag dahingerafft. Irgendwie hatte Sophia die Krankheit überlebt, nachdem sie tagelang gegen Fieber, Schmerzen und Delirium gekämpft hatte. Wie sie geschrien und sich an den Haaren gerissen hatte, als der Arzt ihr den Verlust ihrer Familie mitteilte. Immer noch geschwächt war sie ohnmächtig geworden und als sie aufwachte, saß sie mit ihrer Cousine Lydia und ihrem Cousin Tommy in einer Kutsche, und ihre Tante Imogen war bei ihr gewesen. Sie hatten sie aus Mulford und der unerträglichen Last all dessen, was dort geschehen war, fortgebracht.

Alles Glück war aus Sophias Herzen gewichen und sie kannte seit sehr langer Zeit nur Trostlosigkeit. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis sie sich vollständig erholt hatte, und sobald es ihr möglich war, machte sich Sophia auf den Weg zurück nach Mulford. Die Erinnerung daran, meilenweit nach Hardwick Park zu dem Mann gelaufen zu sein, den sie mit jeder Faser ihres Seins geliebt hatte, nur um abgewiesen zu werden, trieb den Schmerz noch weiter in ihr Herz und entfachte ihn zu brennender Qual.

»Ich wollte dich nicht in eine düstere Stimmung versetzen«, sagte der Viscount.

Sie verdrängte die Erinnerungen und vergrub die Gefühle tief unter der Oberfläche ihres Herzens. »Bitte mach dir keine Gedanken darüber, Tommy, mir geht es gut.« Dabei zitterte das Lächeln auf ihren Lippen.

»Wirst du morgen in die Stadt reisen? Meine Schwester will sich den Ball von Lady Pemberley auf keinen Fall entgehen lassen. Ich weiß, dass solche Veranstaltungen nicht nach deinem Geschmack sind, aber Lydia möchte unbedingt teilnehmen – und ohne dich als Anstandsdame wird es Mama schwerfallen, die ganze Zeit über durchzuhalten.«

Lydia war Sophias beste Freundin und Tommys Zwillingsschwester. Sie vermutete, dass er seinen eigenen Vergnügungen woanders nachgehen wollte und sich nicht die Mühe machen wollte, seine Schwester zum Ball zu begleiten. In den letzten paar Saisons war es ihre Pflicht gewesen, die Gesellschafterin und Anstandsdame ihrer Cousine zu sein, und sie hatte nicht protestiert. Das war vor allem ihrer Tante zu verdanken, die sie nach der Tragödie ohne viel Aufhebens und ohne Fragen aufgenommen hatte. Sophia nickte und trieb ihr Pferd in Richtung Stall.

»Meine Reisetaschen und mein Koffer sind bereits gepackt. Ich werde mit Lydia und dir in die Stadt fahren, Tommy«, sagte sie mit sanfter Belustigung. »Ich bin sicher, Tante Imogen erwartet trotzdem, dass du uns zum Ball begleitest.«

»Ich habe andere Pläne.« Er zwinkerte ihr zu. »Mit einer entzückenden Witwe, die …«

»Tommy!«, rief Sophia errötend, da sie wusste, was der Schurke hatte sagen wollen.

»Ist das etwa mädchenhafte Zurückhaltung, die ich da bemerke – bei einer Lady von fünfundzwanzig, die fechtet, kühn im Meer badet, in Hosen reitet und, wie ich genau weiß, im vergangenen Jahr genau in diesem Garten Lord Sanderson geküsst hat?«

Sie starrte ihn finster an, bevor sie lachte. Immer und immer wieder war Sophia den Erwartungen kläglich nicht gerecht geworden, denn sie lebte, als könnte jeder Tag der letzte sein.

»Wenn ich alt bin, möchte ich im Meer schwimmen«, hatte ihre dreizehnjährige Schwester Henrietta wehmütig gesagt, als sie eines Sommers auf die tosenden Wellen der Küstenstadt Brighton gestarrt hatte.

»Ich glaube, ich würde eines Tages gern rittlings in Hosen reiten!«, hatte ihre Mama glucksend gesagt, als sie die Abenteuer aufzählten, die sie erleben würden, wenn da nicht die Erwartungen der Gesellschaft und die letztendliche Kritik wären, »und sogar meine Bilder verkaufen

Das hatte sie mit einem Ausdruck verzweifelter Sehnsucht gesagt. Ihre Mutter hatte ein Talent, das nur wenige erreichen konnten, doch Papa empfand es als undamenhaft und vulgär, ihre Arbeiten tatsächlich zu verkaufen. Was würden die Leute sagen? Dieser Satz war ein häufiger Tadel aus seinem Mund.

Sophias Vater hatte nachsichtig und mit einem Lächeln zugesehen und sie alle mit der Aussage schockiert: »Ich würde an einem Pferderennen mit den Besten von allen teilnehmen. Vielleicht ein Kutschenrennen mit den Wüstlingen und Schurken von London

»Und ich möchte Lord Lyons heiraten«, hatte Sophia kühn gesagt, zum völligen Schock ihrer Eltern und zur Freude ihrer Schwester.

Sophia hatte ihre Tante beunruhigt, weil sie versucht hatte, ein freies Leben zu führen, alle Herzenswünsche ihrer Familie zu erfüllen und ihre Abenteuer für sie zu erleben. Nachdem sie jedes Ziel erreicht hatte, lag sie im Gras, starrte in den Himmel und flüsterte: »Mama, Papa, Henrietta … Ich habe es geschafft …« Dann nahm sie sich einige Stunden Zeit, mit ihrer verstorbenen Familie zu sprechen.

Während sie ihr Leben am Rande der gesellschaftlichen Missbilligung verbrachte, war ihr Herz von Einsamkeit erfüllt. Jedes Mal, wenn ihre Tante versuchte, das Thema Ehe und passende Ehemänner anzusprechen, wich sie dem Gespräch aus. Sie hatte den Gedanken, jemals eine so dauerhafte Bindung aufzubauen, verworfen. An Heirat und Familie war für sie nicht mehr zu denken. Sie hatte ihre Familie vor Jahren verloren, und Sophia ertrug die Vorstellung nicht, jemanden je wieder so nahe an sich heranzulassen – aus Angst, einen derart grausamen Verlust und Schmerz noch einmal durchleben zu müssen.

Aber sie wollte das Leben und alles, was es zu bieten hatte, in vollen Zügen genießen. Sie musste zugeben, dass sie in letzter Zeit über die Freuden des Fleisches nachgedacht hatte, und ihre Wangen röteten sich schuldbewusst. Und es hatte viel mit der leidenschaftlichen Umarmung zu tun, in der sie Tommy im vergangenen Jahr bei einer ländlichen Abendgesellschaft mit einer seiner Liebsten erwischt hatte. Eine Welle der Sehnsucht hatte ihr Herz erfüllt und Tränen waren ihr beim Anblick in die Augen gestiegen. Dann hatte sie sich abgewandt, weil sie ihnen etwas Privatsphäre geben wollte.

Die Erinnerungen daran, wie sie in Williams Armen gelegen hatte, verfolgten sie die ganze Nacht hindurch, und als Lord Sanderson sie auf die Terrasse und weg von neugierigen Blicken geführt hatte, erlaubte sie ihm einen Kuss. Nichts war in ihrer Brust erwacht, und voller Schock hatte sie sich von dem Mann losgerissen. Als William sie geküsst hatte, war sie in seiner Umarmung entflammt. Konnte es sein, dass Kummer und Schmerz alle Wünsche in ihrem Herzen und Körper getötet hatten?

Sophia trieb ihr Pferd zum Galopp an und fragte sich ernsthaft, ob sie den völlig ungehörigen Gedankengängen weiterhin folgen konnte, in die sie ihre Fantasie so vergnügt geführt hatte. Eine Affäre. Eine von äußerster Diskretion, bevor sie ihren aufregendsten Plan in die Tat umsetzte. Sie würde von Englands Küste aus nach Europa aufbrechen, um dort ein weiteres großes Abenteuer zu erleben. Oder vielleicht sollte sie warten, bis sie Versailles erreichte, und sich dann einen Liebhaber suchen.

Völliger Wahnsinn, schalt sie sich selbst und trieb ihr Pferd in Richtung Stall an. Das Einzige, worauf sie sich im Moment konzentrieren musste, war, ihrer lieben Lydia eine wundervolle Zeit in London zu bereiten und ihr zu helfen, bis zum Ende der Saison eine passende Partie zu finden.

Nichts weiter.

Im Vorhof angekommen, stieg sie ab, übergab das Pferd einem Stallburschen und schlich sich schnell hinein. Der Butler, Mr Ormsby, zeigte keine Reaktion auf ihre Art der Kleidung. Sophia eilte den langen Flur entlang und dann die Wendeltreppe hinauf, als die Stimme ihrer Tante sie aufhielt.

»Sophia?«

Sie schloss kurz die Augen, bevor sie sich umdrehte und nach unten blickte. »Ja, Tante Imogen?«

Tante Imogen hielt eine Vase mit Blumen – Dahlien – in der Hand. Der Blick ihrer Tante glitt über die Hose, die Halbstiefel und das weiße Hemd, das sie trug. Ihre Stirn runzelte sich für einige Sekunden vor Missbilligung, bevor sie seufzte.

»Und wessen unerhörten Traum lebst du heute aus?«

Sophia hatte einen Kloß im Hals und wäre am liebsten die Treppe hinuntergerannt, um sich in die Arme ihrer Tante zu werfen. Vor Jahren, als einige ihrer Nachbarn ihr Verhalten als wild und ungehörig bezeichnet hatten, hatte Sophia ihrer Tante unter Tränen erklärt, dass sie jeden Traum ihrer Familie leben wollte, sich aber nicht getraut hatte, ihn zu verwirklichen. Ihre Tante hatte Mühe, das zu verstehen, doch auch sie hatte ihren Bruder schrecklich vermisst und Sophia ihre Exzentrizitäten gestattet. Sophia hatte ihr Bestes getan, um diskret zu sein, wenn es angebracht war, und hatte sogar angeboten, mit dem Erbe von fünfhundert Pfund ihres Vaters ihr eigenes Cottage zu mieten, um dem Haushalt ihrer Tante mit ihrem extravaganteren Auftreten nicht zur Last zu fallen. Ihre Tante hatte sich geweigert, aber noch nie zuvor so viel Verständnis gezeigt.

»Es war der von Mama«, gab sie zu, nachdem sie tief durchgeatmet hatte. »Sie … sie hatte es schon einmal erwähnt, als wir am Meer waren, aber in ihrem Tagebuch sprach sie oft davon, frei über die Moore zu jagen, den Wind im Gesicht zu spüren, während das Pferd donnernd unter ihr dahinpreschte.«

Ihre Tante wirkte nachdenklich, als sie Sophia betrachtete.

»Na dann, ich bin froh, dass du das erlebt hast. Ich bitte dich aber dringend, daran zu denken, dass wir Gäste haben.« Schließlich lächelte sie und ging weiter in Richtung Salon.

Lächelnd eilte Sophia in ihr Zimmer und zog Hose und Hemd aus. Dann stand sie in ihrer knielangen Unterhose, ihrem Korsett und ihrer Chemisette da. Sie läutete nach Hilfe beim Korsett und der abgebundenen Brust, doch es war Lydia, die erschien.

»Mama hat erwähnt, worin sie dich erwischt hat«, sagte Lydia mit einem breiten Lächeln und schlenderte herüber, um an den engen Bändern zu ziehen.

Sophia stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sich das Korsett aus Walfischstäbchen lockerte und die Brustbinden entfernt waren. Es war verlockend gewesen, keine einengende Kleidung zu tragen, aber ihre Brüste waren zu üppig, um ohne diese Unterstützung durch das ganze Land zu galoppieren. Das wäre schockierend und skandalös gewesen und möglicherweise hätte sogar Tommy ihr Verhalten gerügt.

Lydia setzte sich auf die Chaiselongue am Fenster, ihre ausdrucksstarken braunen Augen leuchteten hell. »Ich bin furchtbar aufgeregt, morgen nach London zu gehen. Dies ist meine zweite Saison und ich hoffe, dass sie erfolgreicher wird als meine erste! Ich bin schon so lange verschwunden; ich wage zu behaupten, dass alle Verehrer, die so vielversprechend waren, nicht mehr auf dem Heiratsmarkt sind.«

Lydia war dreiundzwanzig, begann aber aufgrund einer langwierigen Lungeninfektion erst ihre zweite Saison. Tante Imogen hatte sie vor etwas mehr als zwei Jahren aufs Land mitgenommen, damit sie frische Luft schnappen und sich erholen konnte, und Lydia freute sich schon sehr darauf, in die Stadt zurückzukehren und sich wieder mit der Eleganz und Frivolität des Stadtlebens vertraut zu machen. Sophia war in den letzten Jahren ihre Gefährtin und Freundin gewesen, und obwohl ihr die Angebote des ton nicht gefielen, war sie doch ganz gern da, um ihre Freundin zu unterstützen.

»Ich werde versuchen, als Anstandsdame nicht zu sehr auf dich aufzupassen«, sagte sie neckend. »Vielleicht bekommst du endlich den Kuss, von dem du geträumt hast.«

Lydia errötete erwartungsgemäß und strich sich eine Strähne ihres leuchtend roten Haares hinter die Ohren. »Nur wenn Lord Jeremy Prendergast noch unverheiratet ist! Ich mochte ihn sehr, als wir uns trafen. Aber wenn nicht, dann werde ich mich sicher nicht zum Narren machen und mein Herz auf der Zunge tragen. Ein anderer passender Lord wird es auch tun, denn ich bin fest entschlossen, mir bis zum nächsten Monat eine wundervolle Partie zu sichern!«

Sophia zog ein hellblaues Tageskleid aus dem Schrank und spähte um das Kleid herum zu Lydia. »Innerhalb eines Monats?«

»Ja«, rief Lydia in gespieltem Entsetzen. »Ich bin dreiundzwanzig, eine richtige alte Jungfer.« Dann zog sie ihre Pantoffeln aus und legte ihre Füße auf die Chaiselongue. »Möchtest du nicht heiraten, Sophia? Ich kann nicht glauben, dass du dich nicht nach einem eigenen Mann sehnst … und nach Kindern … und am allerbesten danach, die Herrin deines eigenen Hauses zu sein!«

Ich träume nicht mehr.

Aber sie wagte es nicht, es auszusprechen, denn sie hasste es, irgendetwas zu tun, was den Glanz aus Lydias Augen nehmen würde.

»Wenn sich jemand Geeignetes melden würde, würde ich es vielleicht in Betracht ziehen«, sagte sie mit einem leichten Lachen. Für eine Affäre … mehr nicht.

Das versetzte Lydia in Aufregung – sie sprang auf, packte Sophias Hand und zog sie zum Bett. Sophia verbrachte die nächste Stunde lachend und erstellte mit Lydia eine Liste der Herren, die in Frage kommen könnten.

Keine Schurken. Nicht einmal reformierte.

Er darf nicht älter als zweiunddreißig sein.

Muss einen nennenswerten Titel haben.

Sophia hatte darüber die Augen verdreht, und Lydia hatte bemerkt, dass für ihre Mutter nichts weniger als ein Viscount in Frage käme.

Seine Küsse müssen angenehm sein.

Und damit hatte Sophia Lydia gleichermaßen schockiert wie erregt, als sie erklärte: »Wenn dich der Kuss deines Verehrers nicht erzittern lässt und Flammen aus deinem Innersten entfacht … dann ist er nicht der Richtige.«

Als Lydia mehr wissen wollte, lehnte Sophia ab, doch in dieser Nacht träumte sie zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder von Williams Küssen.